- Das Rondell des Grauens -
Roman
SEVEN FANCY
Band 6
fabEbooks
In dieser Reihe sind bereits erschienen:
Band 1: BETTINA MÜLLER – Werwölfin mit Sexappeal, Mark Staats
Band 2: LET’S TALK, Alisha Bionda
Band 3: TUMORESKE, Wolfgang G. Fienhold
Band 4: CHILL & THRILL, Alisha Bionda & Tanya Carpenter
Band 5: MIT SCHUH, CHARME UND BISS, Tanya Carpenter
Band 6: FAST NICHTS ALS DIE WAHRHEIT, Rebecca Hohlbein
Das Buch:
Helga, selbsternannte Alleinherrscherin und Gottkönigin über einen friedlichen kleinen Ort irgendwo in Deutschland, treibt ihr Umfeld tagtäglich einen Zoll tiefer in die an Wahnsinn grenzende Verzweiflung – insbesondere die Ich-Erzählerin, eine junge Schriftstellerin, die sich zudem mit zwei eigenwilligen Kindern, einem volljährigen Findelkind und der unerwünschten Hochzeit ihres Bruders herumschlagen muss.
Mit einer ordentlichen Portion Ironie schildert Rebecca Hohlbein voller Witz und Charme den alltäglichen Irrsinn ihrer literarischen Heldin auf dem Weg zur Einsicht:
Jeder sollte eine Helga haben!
Die Autorin:
Rebecca Hohlbein wurde 1977 als Tochter des Schriftstellerehepaars Wolfgang und Heike Hohlbein in Neuss geboren, wo sie heute noch lebt. Seit dem Fachabitur publiziert sie erfolgreich Romane und Kurzgeschichten in verschiedenen Genres.
Hinweis: Diese Geschichte ist rein literarisch und frei erfunden. Wie auch immer geartete Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden Personen, lebend oder tot, Schauplätzen und Begebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Deutscher Fantasy Preis 2017
© 2. Auflage Fabylon Verlag 2017
vermittelt durch: Agentur Ashera
Herausgeberin: Alisha Bionda
Lektorat: Alisha Bionda
Redaktion: Uschi Zietsch
Coverlayout: Atelier Bonzai
eISBN 978-3-943570-96-0
Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten.
www.fabylon-verlag.de
Vorwort
Kapitel 1: Deichmann
Kapitel 2: Bitte lächeln!
Kapitel 3: Nicht ausgeloggt
Kapitel 4: Ausgesetzt
Kapitel 5: Feuer
Kapitel 6: Al-Qaida
Kapitel 7: Redebedarf
Kapitel 8: Ziviler Ungehorsam
Kapitel 9: Rock 'n' Roll
Kapitel 10: Gnade vor Recht
Kapitel 11: Ausgesetzt (reloaded)
Kapitel 12: Illuminaten
Kapitel 13: Unter Erwachsenen
Kapitel 14: Friede, Freude und ein Ei
Kapitel 15: Burn-out
Kapitel 16: Käsekuchen, Gottes Schutz und Hilfe von ganz oben
Kapitel 17: Sterbenskrank
Kapitel 18: Abschied nehmen
Kapitel 19: Freiheit
Kapitel 20: Hungersnot
Kapitel 21: Legend Hunters
Kapitel 22: Wahlfamilie
Kapitel 23: Schockstarre
Kapitel 24: Apokalypse
Kapitel 25: Der Tag danach
Kapitel 26: In Memoriam
Kapitel 27: Trümmertauchen
Kapitel 28: A52
Kapitel 29: Bis dass dein Tod uns scheidet
Kapitel 30: Es gibt Reis, Baby
Kapitel 31: Wieder alles im Griff
Epilog
Humoreske
Definition:
Die Humoreske in der Literatur
Der Begriff der Humoreske entstand im 1. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und (…) war anfangs eine kurze, heitere, harmlose, liebenswürdige, versöhnliche und humoristische Geschichte, die oft Begebenheiten aus dem bürgerlichen und etablierten Alltag aufgriff und daher in bürgerlichen Verhältnissen spielt. (…)
(Quelle: wikipedia.de)
Roman
Definition:
Langform der schriftlich fixierten Erzählung
Der Roman ist eine literarische Gattung, und zwar die Langform der schriftlichen Erzählung. Das Wort (…) löste im 17. Jahrhundert das Wort Historie ab (…).
Das Kriterium der Fiktionalität unterscheidet den Roman von faktualen Erzählungen – etwa denen der Geschichtsschreibung –, die ein getreues Abbild eines Geschehens darbieten wollen. (…)
(Quelle: wikipedia.de)
Hier ist sie endlich: Die Neuauflage von „Helga“, frisch aus der Presse, neu becovert und von fast allen Rechtschreib-, Satzbau-, Druck- und sonstigen Fehlern befreit.
Die größte Nachlässigkeit der ersten Auflage bestand wahrscheinlich darin, auf ein Vorwort zu verzichten und es bei einem kurzen Nachwort mit Danksagung zu belassen. Ich bin ja ein Mensch, der Bücher in aller Regel bis zum Ende liest, und wenn ich bis zum Ende sage, dann meine ich das genau so. Soll heißen: Ich habe Andreas Eschbach oft dafür gehasst, dass er wirklich keine seiner zigtausend Quellen, Berater und Unterstützer je unerwähnt lässt. Aber ich habe alle ihre Namen, Titel und Funktionen am Ende seiner Romane mitgelesen. Und bei aller Liebe zu Christopher Moore: William Shakespeare interessiert mich einen feuchten Kehricht. Aber allein aus Dankbarkeit für den grandiosen „Fool“ habe ich mich trotzdem durch die seitenlangen Hintergrunderklärungen am Schluss gekämpft.
Bis. Zum. Verdammten. Schluss.
Weil ich außerdem ein Typ bin, der gerne von sich auf andere schließt, hätte ich nie damit gerechnet, dass bereits wenige Kapitel von „Helga“ solche Wellen in meinem Umfeld lostreten könnten. Viele unschöne Folgen von chronischem Nur-die-Hälfte-lesen wären wohl mit einem einfachen Vorwort vermeidbar gewesen. Asche auf mein Haupt. Natürlich habe ich inzwischen längst neue Freunde gefunden, denn es liegen annähernd vier Jahre zwischen der Erstveröffentlichung und dem heutigen Tag. Aber ich bin traurig, dass mein Lieblingsbruder nach dem ersten Drittel der Lektüre nach Tunguska ausgewandert ist, wo er bis heute Kängurus züchtet. Es bestürzt mich, dass ich meine ehemalige Schwägerin nur noch ein einziges Mal sehen werde – und zwar vor Gericht. Die Unterhaltszahlungen für meine Kinder gehen ganz schön ins Geld, und dass ich jetzt Vollwaise bin, ist auch nicht schön.
Das ist natürlich alles gelogen.
Also: Fast gelogen. Ungefähr so viel und so wenig gelogen wie der Rest dieses Buches.
An dieser Stelle also zur Sicherheit vorweg, statt hinterher: Es handelt sich bei diesem Text keineswegs um eine Autobiografie, sondern um einen humoresken Roman (siehe Definitionen), der maximal autobiografisch angehaucht ist. Ja, ich lebe tatsächlich Tür an Tür mit meiner Großfamilie, ich habe zwei Söhne und auch die Anzahl meiner Brüder stimmt mit der der Protagonistin überein. Und sicher habe ich die eine oder andere Situation aus diesem Buch tatsächlich irgendwann erlebt. Allerdings habe ich jeden tatsächlich geschehenen Moment völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Außerdem habe ich übertrieben, wichtige Details ausgelassen, andere dazuerfunden, Personen, Namen, Orte usw. ausgetauscht und alles getan, was man sonst noch machen kann, um seine Leser zu unterhalten, nahestehende Menschen zu schützen und vor allem sich selbst in ein besseres Licht zu rücken. Kurz: Ich habe gelogen, dass sich die Balken biegen. Ich habe so exzessiv die Unwahrheit gesagt, dass letztlich nur noch ein paar Eckdaten der Wahrheit im Text verblieben sind – und dass ich mir nach dem Testlesen den Mund mit Seife auswaschen musste. Außerdem habe ich so ziemlich jede Peinlichkeit, jedes Fettnäpfchen und jede Dreistigkeit, die mir selbst oder Personen aus meinem Umfeld je unterlaufen ist, in eine einzige, vollkommen fiktive Figur komprimiert: Helga.
Falls sich irgendjemand in dieser Kunstfigur im Speziellen wiedererkennt, sei ihm versöhnlich nahegelegt, dass das voraussichtlich jeder tun könnte, den ich kenne. Auch und vor allem ich selbst, denn wenn wir ehrlich zu uns sind, müssen wir zugeben: Wir sind alle ein bisschen Helga. Besonders wir Rheinländer. Und auch über Helga hinaus hat keine der handelnden Figuren viel mit der Realität am Hut – schließlich wäre die Wahrheit viel zu langweilig, um ein Buch darüber zu schreiben.
Ich hoffe, dass dieses Mal alle, die mich kennen und mögen oder nicht mögen oder abgrundtief hassen oder denen ich so egal bin, wie mir William Shakespeare, wenigstens bis hierhin durchgehalten haben, und ich bitte euch nachdrücklich darum, kein Kapitel, keine Zeile, kein Wort und nicht einmal ein Komma persönlich zu nehmen. Ihr kommt in diesem Buch nicht vor.
Dennoch möchte ich meiner Familie und meinen Freunden dafür danken, dass sie mich jeden Tag aufs Neue zu verrückten Geschichten wie dieser inspirieren; jeder auf seine eigene, einmalige Weise. Auch wenn manche von euch mich hin und wieder wirklich auf die Schwelle zum Wahnsinn treiben (das Kapitel „Friede, Freude und ein Ei“ ist fast vollständig wahr).
Ich hab euch alle lieb.
Meistens.
„Die Liebe ist Deichmann und du bist ein Schuh“, erklärt mir mein Jüngster unvermittelt beim Frühstück. Obwohl – im ersten Moment bin ich nicht sicher, ob er wirklich mit mir spricht oder aber mit seinen Cornflakes, denn er hält den Blick gesenkt, während er redet. Seine volle Aufmerksamkeit scheint auf die letzte verbliebene Frühstücksflocke konzentriert. Er jagt sie mit einem Suppenlöffel durch die Milch wie ein Walfänger einen Meeressäuger.
„Wie bitte?“, erkundige ich mich. Es ist erst ein paar Tage her, dass ich mich von meinem letzten Lebensabschnittsgefährten getrennt habe. Obwohl man das eigentlich nie so nennen kann, denn ich bin ein regelrechter Beziehungsnomade. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass mich mein Leben im Rondell des Grauens voll und ganz ausfüllt. So nämlich nennen meine Geschwister und ich den Bereich um unseren Reihenhausblock herum, in dem wir in drei Generationen Tür an Tür leben.
Meine vier Brüder, deren Freundinnen und Kinder sowie meine Eltern – und natürlich Helga – halten mich ordentlich auf Trab. Dafür bietet mir aber auch immer irgendjemand die dankbare Option, ihn für die eine oder andere gescheiterte Beziehung verantwortlich zu machen, sodass mein Gewissen meist nahezu unbefleckt bleibt, während ich mein Lotterleben mit serieller Monogamie bereichere.
Jedenfalls lebe ich seit einer knappen Woche wieder allein mit meinen beiden Söhnen. Den jüngeren, der mir gegenüber am Frühstückstisch sitzt, betrachte ich nun stirnrunzelnd. Ich hoffe, mich verhört zu haben. Vielleicht ist die Liebe seltsam und ich bin eine Kuh. Mit dieser Aussage könnte ich mehr anfangen.
Mein Sohn wiederholt seinen Satz jedoch wortgetreu, während er Moby Crisp mittels Löffelspitze an den Rand der Cornflakesschüssel treibt. Nun liegt der Wal halb auf dem Trockenen, klebt in erbarmungswürdiger Haltung an der weißen Keramik und kann nicht mehr vor und nicht mehr zurück. Ein fieser Hinterhalt.
„Die Liebe ist Deichmann und du bist ein Schuh“, murmelt er und führt seine Feststellung um einen Atemzug weiter aus: „Vielleicht musst du Tausende Schuhkartons öffnen, um das passende Gegenstück zu finden. Das kommt auf den Laden an.“
„Oh“, antworte ich nichtssagend. Noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er mich doch nicht in sein Gespräch mit der Schüssel integrieren will. Ein Zustand, den es aufrechtzuerhalten gilt, denn wenn ich mich direkt angesprochen fühlte, wäre ich unsicher, wie ich reagieren sollte. Ich schelte mich schon dafür, überhaupt nachgehakt zu haben.
Ehrlich gesagt finde ich es toll, wieder die uneingeschränkte Vollmacht über die Fernbedienung zu besitzen – in der wenigen Zeit, die mir bleibt neben meiner Arbeit als erfolgloser Autorin und vor allem meiner unfreiwilligen Funktion als Dreh- und Angelpunkt in einem Pulk von einem knappen Dutzend blutsverwandter Irrer plus Helga von gegenüber. Auch, wenn ich jetzt keinen anständigen Fernseher mehr habe, weil ich den zusammen mit seinem formalen Besitzer vor die Tür gesetzt habe, sodass ich mich mit einer popeligen Bildröhren-Spende aus der Nachbarschaft begnügen muss, die reichlich verloren auf dem Pressholz-Board von POCO kauert. Für Letzteres habe ich immerhin einen saftigen Mitleidsrabatt ausgehandelt. Den dazu notwendigen Blick beherrsche ich nahezu perfekt. Um ihn zu lernen, habe ich viele Stunden vor dem Körbchen meines Hundes verbracht – mit mahnend erhobenem rechtem Zeigefinger, einem halben Pfund Rheinischer Schinkenwurst in der Linken und einem strengen „Bleib!“ auf den Lippen.
Neuerdings bestimme ich auf jeden Fall wieder allein über die Badetemperatur. Niemand schnarcht mich nachts um das bisschen Schlaf, das meine Familie mir lässt, oder brabbelt mich gleich morgens mit nervtötenden Belanglosigkeiten in diese spezielle Art von Wachkoma, ausgelöst durch einen Automatismus, der sich bei mir einschaltet, sobald Schlagworte wie Fußball oder Motorwäsche fallen. Ich entscheide allein, was am Abend auf den Tisch kommt. Ich koche selbst und ab und zu extra ungesund, aber dafür schmeckt es dann richtig gut. Wenigstens manchmal. Im Haus trage ich wieder Jogginghosen, Sport-BH und Wollpullover und in der Öffentlichkeit wieder eine entspannte Miene. Weil niemand neben mir herumsteht, mithört und keine Gelegenheit verpasst, seine Besitzansprüche auf mich zu erwähnen – und zwar mit einer Penetranz, die mich befürchten lässt, dass er mir gleich an den Knöchel pinkelt, um mich als sein Eigentum zu markieren.
Apropos markieren: Mein Hund darf wieder im Garten toben, ohne Gefahr zu laufen, ein Ohr an den sabbernden Rottweiler meines Ex zu verlieren. Ich spare eine Menge Zeit, weil ich nicht ständig hinter dieser dementen Töle hersaugen und -wischen muss. Zeit, die ich meinen konsequent wechselnden Hobbys, meiner Arbeit, meinen halbwüchsigen Söhnen und meinen Freunden widmen kann. Oder eben der Fernbedienung.
Theoretisch.
Mein jüngerer Sohn zeigt sich von all diesen Vorzügen völlig unbeeindruckt und versucht seit Wochen, mich an alles zu vermitteln, was menschlich und männlich ist: an langjährige Freunde, an den Bio-Bio-Leichtkost-Frost-Mann, den Postboten, den Paketzusteller, den Heizungsinstallateur, diverse Prominente, Lehrkräfte, Kassierer, den Tankwart …
Nicht nur in dieser Hinsicht ist er absolut kritiklos und sehr direkt, womit er mich schon einige Male in große Verlegenheit manövriert hat. Ich hoffe sehr, dass diese Phase bald vorübergeht.
Dass er nun den Kopf hebt und mich erwartungsvoll über seine Schüssel hinweg ansieht, während er den frisch erlegten Zerealienwal in seiner Mundhöhle zwischenlagert, beeinträchtigt meine Hoffnung darauf leider immens. Offenbar hat er sehr wohl mit mir gesprochen und wartet nun auf eine Antwort, obwohl er streng genommen überhaupt keine Frage gestellt hat.
„Muss ich die alle anprobieren?“, erkundige ich mich hilflos. Ich weiß, dass es eine blöde Frage ist. Schuhe probieren keine Schuhe an. Aber er übergeht meinen Logikfehler gnädig.
„Bei den meisten sieht man sofort, dass es nicht passt.“ Er winkt ab, wobei aus seiner Stimme die gesammelte Weisheit aus elf Jahren und drei Tagen Lebenserfahrung klingt. Dann runzelt er die Stirn, schiebt sich den Zeigefinger in den Mund und versucht, Moby Crisp, der sich verzweifelt an seinen Gaumen klammert, seinem Schicksal entgegenzuführen, während er hinzusetzt: „Es sei denn, man ist betrunken oder sehr verwirrt.“
„Oh“, wiederhole ich und transplantiere das Bild, das er mit seinen Worten malt, auf meinen Lebenslauf. Demnach war ich eindeutig zu oft bei Deichmann und zweimal sogar so verwirrt oder betrunken, dass ich den Laden schließlich mit fremden Schnürsenkeln verlassen habe. Mein erster Sohn ist vier Jahre älter als der Kleine.
Ich möchte das Thema nur ungern vertiefen und versuche verlegen, davon abzulenken. „Was machen wir denn heute?“, erkundige ich mich wie beiläufig, während ich meinen Toast mit drei Schichten Haselnusscreme bestreiche und sich der Zerealienwal unter Einsatz von ein wenig Geschick und etwas mehr Gewalt mit einem schnalzenden Geräusch von seinem rosigen Gaumen löst und – unhörbar, aber spürbar schreiend – mit der Fluke voran in seine Speiseröhre hinabstürzt. Jonas und der Wal sind quitt, denke ich.
„Keine Schuhe kaufen“, schlägt mein Schnürsenkel vor und schenkt mir ein schelmisches Grinsen. „In der SonderBar tritt heute dieser Siggi von Vote Deine Nummer Eins auf. Den würde ich mir gerne mal ansehen.“
„Einverstanden“, willige ich ein. Ich bin froh, dass das Schuhthema damit vorerst abgewendet ist. Als ich das tiefgründige Lächeln entdecke, das sich in seine eiswasserblauen Augen geschlichen hat, lange ich über den Tisch und nötige ihn, meinem eindringlichen Blick standzuhalten, indem ich ihn am Kinn packe und sein Gesicht weit in meine Richtung ziehe. „Aber ohne Verkupplungsversuche“, ermahne ich ihn.
Das Lächeln löst sich mit einem unhörbaren Plopp! und seine Schultern sinken einen Dezimeter tiefer.
„Ohne Verkupplungsversuche?“, wiederholt er enttäuscht. Offenkundig wirft diese Auflage seinen Freizeitplan ordentlich durcheinander.
„Keinen Einzigen“, bestätige ich. „Ich bin lesbisch.“
„Seit wann?“, entfährt es ihm perplex. Seine Überraschung wirkt aufrichtig. Ernüchternd, was mein Sohn mir so alles zutraut. Aber ich lasse mir den ohnehin nur leichten Schrecken nicht anmerken.
„Ab sofort“, erkläre ich. „Also?“
„Also gut“, willigt er niedergeschlagen ein, und während er kopfschüttelnd nach Milch und Kakao greift, ziehe ich mich an den Schreibtisch zurück.
Es ist Samstag und bis zum Abend habe ich nicht besonders viel vor. Ich kann vielleicht noch ein paar Zeilen in irgendeine Datei hacken, ehe ich in den zweifelhaften Genuss eines Kneipenauftritts eines übergewichtigen, wahrscheinlich nicht unerheblich übergeschnappten ehemaligen Superstar-Kandidaten gelange. Hatte ich erwähnt, dass ich – mit wechselndem Erfolg – leidenschaftliche Kinder- und Jugendbuchautorin bin? Bin ich jedenfalls.
„Was schreibst du denn gerade?“, verlangt mein Sohn schlürfend zu wissen.
Ich überlege kurz. Eigentlich arbeite ich gerade an einem Abenteuerroman, der um das Jahr 80 v. Chr. in Großbritannien spielt. Aber solange mein Jüngster noch frühstückt, werde ich mich kaum auf historische Zusammenhänge, keltische Lebensart und römische Arroganz konzentrieren können.
„Ich denke, ich schreibe ein Buch über uns“, entscheide ich spontan. „Eine Geschichte über das Leben mit deinem Bruder und dir im Rondell des Grauens.“
„Dann sind danach alle Leute beleidigt, die du kennst!“, gibt mein Sohn zu bedenken. „Allen voran die Helga!“
„Ich benutze Fantasienamen.“ Ich winke ab.
„Au ja“, freut sich mein Sohn. „Dann möchte ich bitte Cengiz heißen!“
„Schengitz?“
„Cengiz“, verbessert mich mein Sohn.
„Kein Mensch liest ein Buch über einen Jungen, der Schengitz heißt.“
„Aber …“ Er will protestieren, doch ich schneide ihm mit einer Geste das Wort ab. Ich kann sehr resolut sein.
„Kein Aber“, entscheide ich. „Du bist und bleibst mein Sohn, Sohn.“
„In Kunst durfte ich gestern übrigens eine Karikatur von meiner Lehrerin zeichnen“, berichtet mein Sohn, nachdem ich eine Open Office-Datei erstellt habe und gerade über einen passenden Titel nachdenke. „Jetzt wird sie in der Aula aufgehängt.“
„Frau Köster?“, staune ich.
„Nein. Die Karikatur“, verbessert er mich. „Ich habe sie gefragt, ob sie gerne Muskeln hätte und sie hat ja gesagt. Also habe ich ihr so nen Bizeps gemalt. Bing, bing! Dann habe ich sie gefragt, ob sie gerne eindrucksvoll wäre. Das wollte sie auch, darum habe ich ihr sehr beeindruckende Hörner gemalt. Solche: Tschunk-tschunk! Sie wollte sich auch gerne mal gegen alle Schüler durchsetzen können und total ernst genommen werden, darum bekam sie ein flammendes Schwert. Wusch! Und weil sie …“
Das fröhliche Liedchen, das der Plastiktweety auf unserem Looney Tunes-Telefon trällert, unterbricht seine ebenso lebhaften wie nervraubenden Ausführungen. Der kleine, gelbe Vogel mit dem absurd großen Kopf (der, sobald jemand anruft, von Sylvesters Pfote verdroschen wird und nichtsdestotrotz abwechselnd singt und The phone is for you! kreischt) hat seinen Dienst angetreten, nachdem meine Jungs meine Drohung, mir ein orangefarbenes Wählscheibentelefon mit Schnur zuzulegen, falls ich das Mobilteil des Funktelefons noch einmal mit leerem Akku in einer Bettritze finde, als nur so dahingesagt und völlig haltlos eingestuft haben. Der orangefarbene Apparat, den ich tatsächlich zuerst ersteigert habe, passte leider nicht an meine Buchse. Tweety war nur meine zweite Wahl, aber ich kam mir unglaublich witzig vor, während ich auf den Jetzt Bieten!-Button klickte.
Inzwischen muss ich mir jedoch eingestehen, dass ich mich mit dieser Investition in die Erreichbarkeit in erster Linie selbst bestraft habe, denn Tweetys Lied war nur ein paar Tage lang lustig. Inzwischen geht mir der Plastikvogel auf seiner dämlichen Schaukel tierisch auf den Sender. Außerdem habe ich auch mein Hauptziel um Meilen verfehlt, denn streng genommen ist das Gerät nur ein Scherzartikel mit Sammlerwert und funktioniert bloß sporadisch und nach Kriterien, die ich noch immer nicht durchschaue.
Aber dafür nehmen mich meine Kinder jetzt ein kleines bisschen mehr ernst.
Hoffe ich.
Ich tippe rasch „Das Rondell des Grauens“ als Arbeitstitel in die Datei. Tweetys Gesang erstirbt in einem heiseren Krächzen, als ich abnehme und Helgas Stimme aus der Leitung hallt, noch bevor ich die gezwirbelte Schnur entheddert habe und die schwarze Plastikmuschel mein Ohr berührt.
„Bisse auf, bisse wach?“, flötet es leicht blechern aus der Leitung. Doch ehe ich Helga daran erinnern kann, dass mein Telefon seit zwei Jahren fest mit einer Schnur verbunden ist, die kaum bis zum Esstisch reicht, äußert sie schon ihr Anliegen: „Kannste mal mit mir nach’m Aldi fahren? Ich brauch auch nicht viel. Und inne Apotheke. Können wir unterwegs mal anne Bank anhalten? Müssen uns aber ein bisschen beeilen, die ham nur bis zwölf Uhr auf. Hier liegt übrigens auch noch ein Paket für dich.“
Mein Sohn grinst mit einem frischen Kakaobart zu mir herüber.
„Helga?“, fragt er. Das wird er aus meiner Mimik gelesen haben, die sich gleichzeitig mit meinem Magen zu irgendetwas Knittrigem, Unflexiblem verformt hat.
Helga wohnt gleich gegenüber. Wenn ich selbst auf fünf vor zwölf hause, dann gehört ihr also die kurz nach sechs im Rondell. Bedauerlicherweise trennen bloß fünfzehn Schritte unsere beiden Domizile voneinander. Und all jenen, die behaupten, dass ich zu viel rede, wünsche ich einen einzigen Tag an ihrer Seite, um ihre Meinung über mich noch einmal gründlich zu überdenken. Helga redet nämlich nicht nur mehr als ich, sie redet sogar mehr als mein jüngerer Sohn und ich zusammen. Und das will etwas heißen, denn der quasselt von halb sieben in der Früh bis abends um halb zehn. Dann singt er sich in den Schlaf und im Schlaf redet er einfach weiter.
Aber die alleinstehende Frührentnerin und von sich selbst zur Gottkönigin über das gesamte Rondell plus Umgebung designierte Helga übertrifft uns beide mit Abstand. Wäre Quatschen eine olympische Disziplin, könnte sie ihr Bad mit Goldmedaillen kacheln. Oder kacheln lassen, denn Helga hat immer gute Ideen, wenn es um Aufgaben geht, die andere Leute für sie erledigen können, weil sie selbst, wie sie zu klagen pflegt, zu nix kommt. Oder es nicht kann. Im Zweifelsfall schiebt sie Arthrose oder ein anderes Altersleiden vor, gegen das bekanntermaßen nur ausgiebige Spaziergänge durch diverse botanische Gärten oder ganztägige Shoppingausflüge nach Belgien helfen. Mit irgendeinem von uns, versteht sich, denn so, wie sie sich selbst zur Alleinherrscherin gekrönt hat, hat sie meine Geschwister und mich einfach zu ihren Zivis bestimmt. Wir leben in einer Diktatur inmitten eines freien, demokratischen Landes. Der EU ist das egal und die Amerikaner haben akut zu viele andere offene Baustellen abzufertigen, als dass sie sich um uns kümmern könnten.
Aber ich bin ein friedliebender Mensch, der sich stets bemüht, das Beste aus jeder noch so vertrackten Situation zu machen. Und seit Helga weiß, dass ich außerdem im Besitz eines gültigen Führerscheins bin und darüber hinaus an einem ausgewachsenen Helfersyndrom leide, nutzt sie all das gnadenlos aus.
„Schnauze!“, fauche ich meinem Sohn über die Schulter hinweg zu. Jetzt klingelt zusätzlich noch mein Handy.
„Was hast du gesagt?“, empört sich Helga.
„Bis eins“, lüge ich glatt. „Die Bank hat bis eins auf.“
„Ach so. Ich hab nämlich was anderes verstanden“, erklärt Helga mit nur halbherzig unterdrücktem Vorwurf in der Stimme. „Du denkst auch, mit den alten Leuten kann man alles machen, oder? Aber da denkste falsch. Ich will dir mal ein Geheimnis verraten: Im Alter wird man nämlich immer schlauer …“
„Ach, verdammt!“, entfährt es mir, weil mir das Mobiltelefon beim Versuch, an Tweetys Schaukel vorbeizuhangeln, heruntergefallen ist. Das Ladekabel hat sich hoffnungslos mit der Schnur des Festnetztelefons verheddert. Mein Sohn grinst.
„So schlecht ist das gar nicht“, schränkt Helga ein. „Du wirst ja auch noch alt. Du bist immerhin schon vierunddreißig. Aber lass das komische Kind zu Hause, ja? Das redet ununterbrochen.“
„Das meinte ich nicht“, ächze ich in den Hörer, den ich mir zwischen Wange und Schlüsselbein klemme, um beide Hände für Kabelsalat und Handy freizubekommen.
„Ich kann auch die Sabine fragen“, schlussfolgert Helga beleidigt. „Die fährt bestimmt mit der alten Helga nach’m Aldi.“
„Ich frag sie“, biete ich großzügig an, denn ich habe das Handy nun so weit durch den Kabelklumpen in der Schwebe operiert, dass ich auf dem Display erkennen kann, dass es tatsächlich meine Schwägerin in ewiger Lauerstellung ist, die mit ungeduldigem Klingeln nach mir verlangt. „Sie ruft gerade an.“
Mein Bruder und Sabine wohnen zwar gleich nebenan, aber Sabine hat eine schicke Flatrate und ruft lieber an, als sich ein Paar Schuhe anzuziehen und rüberzukommen, wenn der Boden draußen feucht ist. Helga hat keine Flatrate, dafür zu viel Geld.
„Sag doch einfach, dass ich dich nerve“, fordert mich Helga heraus. „Was ist jetzt eigentlich mit deinem Paket? Da sind CDs drinnen.“
„CDs? Was für CDs?“, wundere ich mich. Multitasking war meine Sache noch nie und ich zerre zunehmend ungehalten am Ladekabel des Handys herum.
„Super Natur!“, antwortet Helga. „Ist das was mit Blumen?“
„Supernatural“, verbessere ich automatisch. In Gedanken notiere ich mir, dass ich mich später unbedingt noch darüber ärgern muss, dass Helga meine Post öffnet und darin herumschnüffelt. Im Moment erfordert der Kampf mit den beiden Telefonen jedoch meine volle Konzentration. „Mit Geistern und Dämonen. Ohne Blumen“, sage ich.
„War ja klar, dass du dir keine normalen Sachen bestellst“, erklärt Helga hörbar enttäuscht. „So nen Quatsch guckst aber auch nur du …“
Ungehalten zerre ich das Handy vom Ladekabel und drücke die Taste mit dem kleinen, grünen Telefonsymbol, während ich „Ich komm gleich rüber“ in den Tweetyapparat stöhne.
Helga legt auf.
Sabine ebenfalls.
Ich schließe die Augen und zähle langsam bis fünfzehn, ehe ich den Hörer auf die Gabel schmettere, das Handy sehr tief in den Kabelklumpen schiebe und mich dann langsam zu meinem Sohn herumdrehe.
„Einkaufen?“, rät er und beginnt betont entspannt, eine Banane zu schälen. „Wo denn? Aldi, Tiermarkt, Töpferladen, Gärtnerei oder …“ Er schlägt seine Zähne herzhaft in das saftig-süße Fruchtfleisch. „… Schuhgeschäft?“, schließt er schmatzend.
Für einen kurzen Moment erwäge ich, ihn in seiner Kakaotasse zu ertränken oder ihm schlimme Dinge mit der Bananenschale anzutun. Meine Hemmschwelle sollte gering sein, ermutige ich mich. Immerhin hat er Moby Crisp getötet.
Aber dann rümpfe ich nur die Nase, schlüpfe in meine Jacke und stampfe aus dem Haus.
„Du bleibst hier“, bestimme ich, ehe ich die Tür ins Schloss krachen lasse, und rede mir ein, ihn damit tatsächlich irgendwie für irgendetwas zu bestrafen – und sei es nur für den Mord an der Walfischflocke. „Weil du nämlich ununterbrochen redest!“
„Franz hat zwölf Gramm zugenommen“, berichtet Helga, während sie in aller Seelenruhe ein penetrant riechendes Bröckchen Welpenfutter mit einer Gabel halbiert und ihrem Pekinesen die eine Hälfte davon über den Tellerrand zuschiebt. Der andere, kaum mehr als erbsengroße Teil ist für Sissi bestimmt – ihr zweites albernes verzogenes Löwenhündchen, das das Fleisch hastig verschlingt. Einen Moment später reißt die reinkarnierte österreichische Kaiserin die Augen bis zum Anschlag auf und würgt den Happen zwischen dem Teller und Helgas griffigem Oberschenkel auf das mit rotem Leder bezogene Rokokosofa. Himbeereis zum Frühstück, singen Hoffmann & Hoffmann leise im Hintergrund, Rock ’n’ Roll im Fahrstuhl …
Sabine und ich wechseln einen unauffälligen Blick, tun dabei aber weiter, was wir seit annähernd einer Dreiviertelstunde tun. Nämlich in touretteverdächtiger Manier nicken, während wir stumm lächelnd an Helgas Lippen kleben, die zum gefühlten zweihundertsten Mal erklärt: „Die fressen wie die Scheunendrescher. Das sieht nur immer so wenig aus, aber da musste ja auch das Größenverhältnis beachten, das darfste ja nicht vergessen. Die haben ja nur so kleine Mägelchen!“
Sie hält Daumen und Zeigefinger so weit auseinander, dass dazwischen kaum Raum für ein Reiskorn bleibt, und wiegt all ihre Kinne auf und ab, um ihrer Erklärung Nachdruck zu verleihen. Von außen betrachtet wirken meine Schwägerin, Helga und ich, wie wir da zeitgleich nicken und dabei sachte vor und zurück schwanken (was zumindest auf Sabine und mich zutrifft, denn inzwischen ist uns beiden schon ein wenig schwindelig von der ganzen Nickerei), wie eine Selbsthilfegruppe für Hausfrauen mit Wackeldackelfetisch.
Doch irgendetwas weckt Helgas Misstrauen; vermutlich wirkt das ehrfürchtige Lächeln, das ich tapfer zur Schau stelle, nicht authentisch genug. Ich sehe, wie sich der Speck unter ihrem geblümten Oberteil spannt.
„Aber das interessiert dich ja alles sowieso nicht. Für dich bin ich eh nur die olle Alte, die bloß Kappes quatscht“, faucht mich Helga an und wendet sich dann mit einem offenen Lächeln an meine Schwägerin in spe, die neben mir sitzt und ebenfalls darauf wartet, dass Helga doch bitte endlich in ihre Allwetter-Birkenstocksandalen schlüpfen möge, damit wir sie zum Aldi begleiten dürfen. Und inne Apotheke. Und auch noch mal kurz zum Anne-Bank-Anhalten.
Einmal mehr denke ich im Stillen darüber nach, was wir hier eigentlich tun. Niemand kann mit Sicherheit sagen, warum es so ist, aber die auf den ersten Blick unscheinbare, pummelige, wohlhabende und ewig alleinstehende Helga befehligt das Rondell seit eh und je. Ihre Herrschaft reicht wohl Jahrzehnte hinter Sabines und meine Geburt zurück, wurzelt sicher tief in grauer Vorzeit, als Twix noch Raider hieß und der Bundeskanzler nach Lust und Laune Saumagenpropaganda betreiben konnte, ohne Folter und Totschlag durch barbusige, kunstblutbesudelte PETA-Aktivistinnen befürchten zu müssen. Niemand in unserem kleinen Dorf kann sich an das Wie oder Warum ihrer Inthronisierung erinnern – oder daran, ob Letztere je infrage gestellt worden ist. Und falls doch, dann spricht man nicht darüber. Die erste unumstößliche Regel, die ich noch unter Kulturschock leidend verinnerlichen musste, als ich im Alter von neun Jahren mit meiner Familie aus der Stadt auf ein Dorf ins Rheinland zog, war: Et es wie et es un et kütt wie et kütt.
Sei still und mach, was Helga sagt, war gleich die zweite.
Meine Finger krallen sich fest um die Plastikhüllen der Supernatural-Staffel, die Helga bereits von der Schutzfolie befreit hat, damit ich es nicht mehr tun muss.
„Gucksu, wie der Franzi mampft, Sabine?“, gluckst Helga und schiebt dem Fellbündel auf dem Sofa das halb verdaute Häppchen seiner knapp fünftausend Gramm schweren Gefährtin Sissi mit einem ihrer reich beringten Finger zu. Ihr Schmuck ist das Einzige, was Helga als gutsituiert verrät. Ihre Klamotten stammen aus diversen Discountern.
Der Pekinese verschlingt das ausgewürgte Fleisch mit großem Appetit. „Ja, gucksu-gucksu-gucksu, Fränzchen …!“, macht Helga.
Sabine hat es einfach besser drauf, registriere ich einmal mehr mit einer Mischung aus Mitgefühl und Bewunderung. Bewunderung, weil Sabine die Kunst des Tiefkühllächelns beherrscht wie eine russische Domina Handschellen, Peitsche und Brandeisen. Mitgefühl, weil genau das dazu führt, dass Helga sie sogar noch mehr liebt als mich. Und sie darum eine Spur häufiger in die zivile Pflicht nimmt. Sie sieht aber auch wirklich zu schuld- und harmlos aus mit ihrem hüftlangen, blond gelockten Haar, das sie meist zu einem Bauernzopf geflochten trägt, ihren gerade fünfundsechzig Kilo Körpergewicht auf einen Meter siebzig Größe und ihren wachen, blaugrünen Augen. Außerdem trägt sie meist irgendetwas Rosafarbenes irgendwo am Leib, und wer sie nicht so gut kennt wie zum Beispiel ich, muss einfach denken, dass sie unablässig gut drauf ist, weil sie eben ohne Unterbrechung lächelt. Auch ich habe lange gebraucht, um die einzelnen Nuancen ihres zuckersüßen Lächelns zu unterscheiden: das freundliche Lächeln vom genervten, das traurige vom verärgerten, das aufmerksame vom gelangweilten. Tatsächlich hat Sabine sogar ein Lächeln in ihrem Repertoire, das bedeutet: Du wirst jetzt tun, was ich sage oder du wirst es nicht tun. Tust du es nicht, werden die Konsequenzen sehr, sehr weh tun. Und dem folgt ab und an das mordlustige Lächeln. Aber das kommt äußerst selten vor. Grundsätzlich ist Sabine ein sehr ruhiger und entspannter Mensch, weshalb ich mich auch nach zehn Jahren noch darüber wundere, dass sie sich ausgerechnet meinen Bruder Jan geangelt hat, der mit seiner aufbrausenden und unbeherrschten Art das genaue Gegenteil von ihr ist.
Weil Sabine und ich uns heute nicht einigen konnten, wem von uns die Arschkarte des Tages gebührt, fahren wir die elende Helga-Runde zusammen. So lässt sich die Tagestortour vielleicht auch ein bisschen leichter ertragen. Für mich jedenfalls, denn wenn ich hinterm Steuer sitze, kann ich vorgeben, mich voll und ganz auf den Straßenverkehr zu konzentrieren, während Sabine zuhört, nickt und lächelt. Solange sie nur das verdammte Lächeln nicht unterbricht – und das tut sie ja nie –, bin ich auf der sicheren Seite. Das jedenfalls ist mein Plan und trotz des kleinen Rückschlags, den ich gerade erlitten habe, bin ich noch immer überzeugt von seinem Potenzial.
„Es ist nur, weil du es eben noch so eilig hattest“, versuche ich die Wogen zu glätten, die da einmal mehr unvermittelt zwischen Helga und mir aufgeschlagen sind. „Du hast gesagt, dass wir uns beeilen müssen.“
„Und du hast gesagt, dass die Bank bis eins aufhat“, zischt Helga aus dem Mundwinkel, der in meine Richtung weist, ohne das Lächeln, das Sabine und den Pekinesen vorbehalten ist, dafür auch nur vorübergehend einzustellen. Doktor Jekyll und Mister Hyde, staune ich. Zeitgleich!
„Aber mit den Katzen, da muss man ja immer aufpassen“, sagt Helga. „Die fressen denen ja immer alles weg. So rücksichtslos! Da muss man halt dabei bleiben, ne, das sind ja noch so kleine Babys … Kutschikutschikutschi …“
Die chinesischen Palasthunde sind ausgewachsen.
Sabine lächelt.
„Gut. Dann gehe ich jetzt nach Hause und komme wieder, wenn du fertig bist“, schlage ich vor, weil ich finde, dass es an der Zeit ist, ein wenig Druck auszuüben. Eigentlich wollte ich den Tag zum Arbeiten nutzen. Außerdem schließt die Bank in fünf Minuten tatsächlich, obwohl wir uns kein bisschen beeilt haben. Ganz im Gegenteil harren wir seit annähernd einer Stunde zwischen Blumenkübeln und Plastikdekoration in rauen Mengen auf schreiend bunt restaurierten, antiken Möbeln aus und täuschen geduldig Aufmerksamkeit vor, wo unsere Synapsen in Wirklichkeit längst träge aneinander vorbeigrapschen – nur, um bloß keinen Krieg im Rondell zu verschulden. Denn statt Helga zu enttäuschen, zu verletzen oder lediglich zu ignorieren, kann man auch sämtliche Autoreifen auf dem Parkplatz zwischen den Häuserreihen aufschlitzen, zu nächtlicher Stunde mit rohen Eiern um sich schmeißen oder ein Hello-Kitty-Graffiti an eine der rustikalen Fassaden sprühen. Der Effekt ist der gleiche, denn Helga dominiert die Kaffeetische. Sie allein entscheidet über Krieg oder Frieden im Rondell. So heißt es zumindest.
Der heutige Tag droht einer derer zu werden, an denen ich es fast darauf ankommen lassen könnte. Aber mit Helga ist es ein bisschen wie mit der GEZ: Jeder nimmt sich dann und wann vor, dass man irgendwie dagegen vorgehen müsste. Mal sehen. Vielleicht morgen. Erst mal googeln und einen Bekannten fragen, der einen Bekannten hat, der Anwalt ist. Nur vielleicht doch nicht gleich morgen, denn da will ich Tatort gucken. Oder will einfach mal ausspannen …
Helga schießt einen mahnenden, abgrundtief bösen Blickblitz in meine Richtung ab. Doch als sich Sabine mit einem fröhlichen „Ich komme mit“ mit mir solidarisiert, lässt sie jäh die Schultern sinken und schiebt Sissi und Franz auf eines der Sofakissen, ehe sie sich mit leidiger Miene aufrappelt und in ihre Allwetterlatschen schlüpft.
„Na dann …“ Sie seufzt mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln zu ihrer nervtötend tickenden Kuckucksuhr hin. „Ihr habt ja auch wieder ganz schön getrödelt. Dann zeig ich euch jungen Puten jetzt mal, was in Helgas alten Knochen steckt. Ihr werdet sehen. Da staunt ihr nicht schlecht, was?“, setzt sie hinzu, während Sabine und ich tatsächlich staunen: Binnen zweier Lidschläge ist der Futternapf vor den gar zu gierigen Katzen verborgen und Helga steht mit dem Autoschlüssel klimpernd und in voller Montur im Flur. Zwischen ihrem originalgroßen Keramikkälbchen und der orientalischen Tausendschnörkelchenkommode mit der Winkekatze oben drauf. Sie wippt ungeduldig mit einem Fuß, als stünde sie seit einer halben Ewigkeit genau dort am Ausgang und hätte die ganze Zeit nichts anderes getan als auf uns zwei Trödeltanten zu warten.
Ich schneide eine Grimasse, nehme ihr den Schlüssel ab und trotte zum Auto. Zu ihrem Auto, wohlgemerkt, denn Helga hat zwar keinen Führerschein, dafür aber den größten und besten Wagen im ganzen Rondell.
Sabine lächelt.
Wir kommen trotzdem zu spät zur Bank. Aber noch ist nichts verloren, denn die Filialleiterin der Sparkassen-Volksbank ist gerade in ihre quietschgrüne Ente gestiegen und müht sich in diesen Sekunden einigermaßen unbeholfen rückwärts aus einer engen Parklücke.
Helga weist mich an, sie auszubremsen. Ich positioniere ihren monströsen Geländewagen quer hinter der Stoßstange des betagten Citroën. Während sich Helga behände vom Beifahrersitz schwingt und eine leidenschaftliche Diskussion mit Frau Gerber, der netten Bankfrau, beginnt, wendet sich Sabine von der Rückbank aus an mich.
„Und? Wie ist die Lage an der Front?“, erkundigt sie sich.
„Ich glaube, sie schafft es“, antworte ich, während ich fasziniert beobachte, wie sich Frau Gerber aus ihrer Ente müht. „Für Helga wird auch noch das Zeitschloss des Banktresors zurückgesetzt. Das gibt’s echt nur auf dem Dorf …“
„Natürlich schafft sie das.“ Sabine winkt ab. „Aber das meinte ich nicht. Ich meine, ob du schon was Neues schreibst. Oder zumindest planst.“
„Beides.“ Ich seufze. „Ich hatte ja gerade was Neues angefangen. Was Großes, total Episches, genau wie der Redakteur es wollte. Voll mit Abenteuern und tapferen Menschen und ein bisschen Magie. Und natürlich mit Liebe. Liebe ist immer gut für die Zahlen.“
„Aber?“, hakt Sabine nach, während Frau Gerber – Helga voran – zum Haupteingang der Sparkassen-Volksbank zurücktrottet. Dass sie sich wirklich auf die verdiente Mittagspause gefreut hat, ist ihr unschwer anzusehen. Vermutlich hat sie Kinder, denke ich, und eine Welle von Mitgefühl erfasst mich. Eine halbe Division von Kindergarten- und Grundschulkindern, die heute zum Mittagessen mit Käsebroten vorliebnehmen müssen, oder mit Dosenravioli, weil die Zeit, die Frau Gerber für die Küche eingeplant hat, nun an Helga verloren geht.
„Aber ich komm ja zu nix“, erwidere ich schulterzuckend. „Und dann dachte ich … also, wenn ihr mich schon alle jeden Tag vollbeschäftigt, als Schwester, potenzielle Schwägerin, Freundin, Haushaltshilfe, seelischen Beistand, Handwerker, Chauffeur, Mutter, Köchin, Putzfrau, Erziehungsratgeberin …“
„Übertreib’s nicht“, bremst mich Sabine. „Also was?“
„Na, ich dachte, wenn ihr alle mich schon die ganze Zeit erfolgreich daran hindert, in staubigen Kammern über Früh- und Vorgeschichtewälzern und Interpretationen keltischer Symbolik und Grabfunde zu hängen oder das eine oder andere Museum zu entern, dann mache ich eben euch zum Gegenstand meiner Recherche“, antworte ich.
Sabine ist skeptisch. „Was willste denn mit uns?“, wundert sie sich.
„Na, Geld verdienen. Ich schreib jetzt immer einfach alles mit“, erkläre ich geradeheraus und nicke mahnend in Richtung Geldinstitut, wo sich die Zwischentür hinter dem Vorraum, in dem die Automaten stehen, schon wieder öffnet. „Und jetzt sei lieber still“, ermahne ich sie, wobei ich versuche, die Lippen beim Sprechen nicht zu bewegen. „Wenn Helga sieht, dass wir uns in ihrer Abwesenheit unterhalten haben, denkt sie, wir hätten über sie gelästert.“
Helga ist nämlich nicht nur dick, fast alt und im Bedarfsfall krank, sondern auch ein kleines bisschen paranoid.
Nein, verbessere ich mich in Gedanken. Sie wird schlussfolgern, dass ich über sie gelästert habe. Sabine nicht. Sabine ist eine Nette. Ich bin nur die bessere Fahrerin.
„Niemand kauft ein Buch über das Rondell des Grauens.“ Sabine lacht. „Schreib lieber was über Sex. Sex verkauft sich immer. – Hat alles geklappt?“, erkundigt sie sich mit einem offenen Lächeln an Helga gewandt, die wieder zurück ist und stöhnend auf den Beifahrersitz klettert.
„Na, die stellt sich vielleicht an!“, giftet Helga und bedeutet mir mit einem Wink, den Motor zu starten und Frau Gerbers Ente aus der Geiselhaft zu entlassen. „Bauerntopf mit Hackbällchen … den Stress macht sie sich aber echt selbst. Dat jibbet auch aus der Dose. Habt ihr über mich gelästert?“
Auf meiner rechten Gesichtshälfte bilden sich spontan ein paar Frostbeulen unter der Kälte ihres Blicks.
„Nein“, beteuere ich ebenso fast wahrheitsgemäß wie energisch.
„Zur Apotheke!“, faucht Helga. „Jetzt mal ein bisschen dalli hier. Was will der denn da? Los. Überhol den mal … Penner!“, brüllt sie dem alten Mann in dem rostigen Ibiza zu, an dem ich gehorsam vorüberziehe. „Alte Opas mit Hut, echt mal … dass so was überhaupt noch auf die Straße darf. So Leute gehören doch ins Heim, verflixte Scheiße. Nee. Da lang!“, fährt sie mich an, als ich nach rechts abbiegen will. „In die andere Apotheke“, betont sie. „Die hier ist ja ma gar nix. Bei der kriegt man ja nie was geschenkt.“
Kommste noch mal an der Tanke vorbei?, will Sabine via Kurznachricht wissen, als ich mich am Abend kraftlos und noch immer ein wenig genervt auf einen ungepolsterten Hocker an einem der Bistro-Tische in der SonderBar plumpsen lasse. Ons Helga hat n Ketchup vergessen.
Die SMS, sinniere ich im Stillen, während ich Sry, bin betrunken zurücklüge, ist eine tolle Erfindung: Sie ermöglicht es demjenigen, der sie bekommt, sein Handy abzuschalten und sich Stunden oder Tage später mit ein paar sorgsam überlegten Silben zu entschuldigen. Akku war leer – hoffe, du hast dich von deinem Blinddarmdurchbruch erholt. Oder aber: Karte war leer … tut mir voll leid, das mit deinem Cousin und dem ICE …
Der Short Message Service eröffnet jedem Handybesitzer die überaus dankbare Option, ein sozialverträgliches Arschloch zu sein. Und obwohl ich schon jetzt ein schlechtes Gewissen habe, entscheide ich, wenigstens für heute Abend, ein solches zu sein. Soll Helga doch zusehen, wie sie an ihren Ketchup kommt. Wer braucht überhaupt Ketchup um halb zehn am Abend? Und wozu? Sprühsahne – das könnte ich ja noch verstehen, auch wenn ich es mir nicht vorstellen mag, weil es ja Helga ist, die das Zeug braucht. Oder Schokoladensirup.
Aber Ketchup? Das ist doch pervers. So etwas unterstütze ich nicht. Mir egal, was sich Sabine jetzt von Helga anhören muss, oder ob sie selbst fährt, oder ob Helga ihren Vorgarten anzündet, weil sich Sabine auch mit Samstagabendbesoffenheit rausredet, oder ob es morgen Krieg gibt im Rondell, weil Helga wirklich gelitten hat ohne ihren verdammten Ketchup und darum Fronten aufeinanderhetzt, wo es bis heute überhaupt keine Fronten gegeben hat. Ich bin fix und alle. Ich brauche eine Auszeit.
Mein Sohn winkt dem Kellner, der zurückwinkt und damit fortfährt, Biergläser und Pinten auf Hochglanz zu polieren. Mein Sohn seufzt tief und rollt die Augen. Ich sehe, dass es hinter seiner präpubertären Stirn arbeitet. Aber noch lässt er den Kellner gewähren und wendet sich, scheinbar resignierend, an mich.
„Wie war’s eigentlich mit Helga?“, erkundigt er sich. Ich sehe, dass er Mühe hat, sich ein hämisches Grinsen zu verkneifen, übergehe seine Gehässigkeit aber geflissentlich.
„Entspannt. Warum?“, lüge ich und winke dem Kellner ebenfalls. Er ignoriert das.
Wir haben uns verspätet, denn Nur-mal-kurz-anne-Bank-Anhalten, inne Apotheke und mit der alten Helga zum Aldi hat insgesamt sechs Stunden gedauert. Schließlich führt die notwendige Route auch an der großen Gärtnerei, am Bauernmarkt, am Baumarkt, am Klein-Elektro-Großhandel, an der Drogerie und am Schreibwarengeschäft vorbei. Lauter Chancen, die man unmöglich ungenutzt verstreichen lassen kann, wenn man Helga heißt, keinen Führerschein hat und vor dem nächsten Vormittag wieder garantiert ewig nirgends mehr hinkommt, weil sich ja keiner um ne alte Frau kümmert.
Als ich letztlich auch meine eigenen, notwendigsten Belange geklärt hatte, war es schon kurz vor acht gewesen. Nun ist es halb zehn, doch von Vote Deine Nummer Eins-Crazy Siggi ist weit und breit noch nichts zu sehen. Bis auf die Flyer. Ein Ozean aus zigarettenschachtelgroßen, knallbunten Flyern, die Pitty, der Veranstalter, großzügig verteilt hat.
Siggi rockt die SonderBar!, haben uns die Flugzettelwellen, durch die wir auf dem Weg hierher gestampft sind, in Neonlettern entgegengebrüllt, was den Fluten einen gewissen japanischen Charme verliehen hat. Überlebensgroße Darstellungen eines speckigen Crazy Siggi, den glasigen Blick leicht spöttisch in die Kamera gerichtet, waren zu unseren Seiten aufgeragt – die Gischt dieses Flugzettelmeeres. Schockgefrorener, wabbeliger Schaum mit neonfarbenen Blasen obendrauf. Fukushima im Winter.