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Auf digitalen Kanälen wie Facebook, Twitter und Blogs entstehen serielle, scheinbar momenthafte, konzeptuelle Kurz- und Kürzesttexte. Jan Kuhlbrodt nimmt diese kleinen Formen essayistisch-biographisch unter die Lupe und stellt seine eigene auf Facebook entstandene Serie vor, einen Kurz-Roman, in der Bob Dylan ihm einen Filzstift zurückgibt, mit ihm Taschenkrebse tauscht und per Anhalter fährt. Die Stasi kommt vor, Stephan Porombkas Schaukelpferd, Stefanie Sargnagels digital detox-Überlegung und Christiane Frohmanns Madeleine-Moment. Und hätte nicht auch Friedrich Nietzsche heute eher gebloggt, als sein Notizheft vollzuschreiben und so lange auf Reaktionen zu warten, bis ein Buch mit Aphorismen erschienen wäre? Welche offenen Bühnen sind das, auf denen heute sowohl Text produziert als auch kommentiert wird? Und brauchen wir nicht ein komplett neues, also auch offeneres Literaturverständnis? Ein Essay über neue Formen des Schreibens und Lesens im Internet.


Jan Kuhlbrodt

Über die kleine Form

Schreiben und Lesen im Netz

ein mikrotext

Lektorat: Nikola Richter

E-Book erstellt mit Booktype

Coverfoto und -design: Lydia Salzer

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

www.mikrotext.de – info@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-57-4

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2017, Berlin

Jan Kuhlbrodt

Über die kleine Form

Schreiben und Lesen im Netz

0 Dylan, das Internet und der Nobelpreis

Morgens, wenn ich meinen Rechner starte, startet automatisch auch Facebook. Ein Ritual wie der erste und der zweite Kaffee. Für einen intensiven Facebook-User gibt es wenige Ereignisse, die einfach so an ihm vorüberziehen. Alles wird kommentiert, geteilt, mit Emojis garniert. Dabei wäre es falsch zu glauben, diese Ereignisse – runde Geburtstage von Showstars, Netzbetrügereien, Naturkatastrophen, Neuerscheinungen am Buchmarkt oder kurze literarische Texte – würden dem Netz selbst entspringen. Sie finden hier aber einen Ausdruck, eine Bühne und verwandeln sich in eine netzgemäße Information und beeinflussen als solche mein Weltbild. Und das Abbild ist in gleichem Maße real wie das Abgebildete.

Zum Beispiel versucht die (ich würde sie doch irgendwie verbrecherisch nennen) Autoindustrie ihre Dieselgiftschleudern durch ein Softwareupdate zu retten. Was nichts daran ändert, dass sie weiterhin Giftschleudern produziert, aber mit veränderter Software.

Das gehört beiläufig nicht hierher, und doch hat das was mit Bob Dylan zu tun, denn „The Times They Are a-Changin’“.

Das sang der junge Bob, als an das Internet noch gar nicht zu denken war, und man wollte dem Titel gern glauben. Wahrscheinlich ist das seither die Überhymne aller Protestbewegungen. Naja, und die Zeiten ändern sich ja wirklich. Wer hätte gedacht, dass der junge Mann, der so mitreißend eher nuschelte als sang, einmal einen solchen Preis wie den Nobelpreis zugesprochen bekommen würde; einen Preis also, der bis dato nur Dramatikern, Romanciers und Lyrikern vorbehalten war. Jetzt also ein Sänger. Und das in der Zeit, die man weithin als Computerzeitalter begreift.

„Der Tod des Sängers erschüttert mehr als der des Dichters, weil Gedichte und Erzählungen frei vom Körper dessen existieren, der sie geschaffen hat.“ Das schreibt der amerikanische Dichter Keith Waldrop in seinem Buch von 1997 The Silhouette of the Bridge. Vielleicht lösen sich ja jetzt auch die Lieder vom Körper des Sängers und kommen ohne dessen Stimme aus. Zur Preisübergabe sang Dylan schon nicht mehr selbst, wahrscheinlich hatte er keine Zeit. Und seine Dankesrede soll er, so zumindest die Legende, im Cut and Paste-Verfahren zusammengeschnipselt haben. Das ist allerdings zeitgemäß und wird den medialen Möglichkeiten gerecht. Dylan ist natürlich nicht gestorben.

Manchmal spielen sich in den Kommentarspalten der sozialen Medien regelrechte Meinungsorkane ab. Ironie, Witz, originäre Erregung. Man weiß es nicht, zuweilen sind die Positionen schwer zu entschlüsseln.

Die meisten großen deutschsprachigen Onlinemedien jedenfalls meldeten am 13. Oktober 2016, dass Bob Dylan den Literaturnobelpreis erhalten würde. Die Vorsitzende des Auswahlgremiums zu diesem hochdotierten Preis der Schwedischen Akademie, Sara Danius, sagte nach der Bekanntgabe, Dylan sei ein großartiger Dichter. „Seit 45 Jahren erfindet er sich immer wieder neu.“ Dylan schreibe, um mit seinen Werken aufzutreten, sagte sie. Nichts anderes habe der Dichter Homer vor einigen Jahrtausenden auch getan.

WOW, Bob Dylan! Und, naja, Homer sah sich ja auch eher als Sänger. „Jetzo kam auch der Herold und führte den teuren Sänger, / den von der Muse geliebten, dem Gutes und Böses verliehn war; / denn sie nahm ihm die Augen, doch gab ihm süße Gesänge.“ So klingt es in seiner Odyssee, 8. Gesang, Vers 62-64 in der Übertragung von Johann Heinrich Voß.

Letztlich schreibe auch ich, um mit meinen Werken aufzutreten. Und andere machen Fotos oder Filme, um mit ihren Werken aufzutreten. Sicherlich sind heute die Bühnen einfach andere und mehr geworden.

Der Berliner Literaturwissenschaftler, Professor und Internetkünstler Stephan Porombka zum Beispiel teilte einmal einen kleinen Film auf seinen digitalen Kanälen, in dem er auf einem Spielzeugpferd langsam quer durchs Bild ritt. Dieses Filmchen prägte sich mir ein, wie ein früher Dylantext.

Das Video findet sich noch immer auf Facebook, unter diesem Link: https://www.facebook.com/stephan.porombka/videos/vb.1323086792/10201778267921415/?type=2&theater

Wohl alle Meldungen der verschiedensten Onlineportale großer Zeitungen zur Causa Dylan wurden auf Facebook geteilt. In den Netzwerken überschlugen sich die Kommentare. Manche rieben sich verwundert die Augen, die Fans jubelten, und die Literaturpuristen waren eher verknarzt.