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Über dieses Buch:

Sie musste viele Gefahren überstehen, doch nun ist endlich Frieden eingekehrt, und die junge Prinzessin Lynn bereitet sich auf ihre Hochzeit mit Ulf vor. Doch eines Morgens ist ihr Geliebter spurlos verschwunden. Lynn kann nicht glauben, dass er sie verlassen hat, und mit jedem Tag, der ohne ein Lebenszeichen von ihm vergeht, wächst ihre Sorge, bis sie sich schließlich selbst auf die Suche nach ihm begibt. Auf ihrem gefahrvollen Weg begegnet sie Aneirin – ein Mann so mysteriös wie anziehend. Er behauptet, mehr über Ulfs Verschwinden zu wissen. Doch kann sie ihm vertrauen? Lynn trifft eine folgenschwere Entscheidung …

Über die Autorin:

Kaitlyn Abington ist das Pseudonym einer erfolgreichen Autorin. Nach ihrem Studium der Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte hat sie unter ihrem Klarnamen mehrere erfolgreiche Krimis, historische Romane und Kinderbücher veröffentlicht.

Bei dotbooks erscheint Kaitlyn Abingtons Romantic-Fantasy-Reihe »Wolfsbraut«, die folgende Bände umfasst:

»Der Traum« – Erster Roman
»Der Fluch« – Zweiter Roman
»Die Entscheidung« – Dritter Roman
»Das Geheimnis« – Vierter Roman
»Die Erfüllung« – Fünfter Roman

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Originalausgabe September 2017

Copyright © der Originalausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Vera Baschlakow

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Yuriy Thuravov

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96148-030-2

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Kaitlyn Abington

Wolfsbraut

Das Geheimnis
Vierter Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Lynn

Ich wachte mit einem überwältigenden Glücksgefühl auf und war dabei hundemüde, weil ich kaum zwei Stunden geschlafen hatte wie so viele Nächte seit der Siegesfeier. Was machte das schon! Irgendwann würde ich den Schlaf nachholen, aber nicht in der nächsten Nacht, denn diese Zeit war voller Süße und Leidenschaft und die Tage ein anstrengender Rausch.

So viele glückliche Tage lagen hinter mir – gewürzt mit kleinen Schrecknissen wie dem Auftauchen von Tante Siobhán ‒, und ich war gespannt, was uns dieser neue Tag bringen würde.

Ich wachte allein auf, denn Ulf hatte sich davongeschlichen, ohne mich zu wecken. Wie rücksichtsvoll. Lieber wäre es mir gewesen, er hätte mich geküsst, bis ich die Augen aufgeschlagen hätte, und dann hätten wir mit dem weitergemacht, womit wir vor nicht allzu langer Zeit aufgehört hatten, um endlich zu schlafen. Ulf war entzückt von meinem weichen, sauberen Bett, ich von der Sicherheit und Sorglosigkeit, die uns das Schloss bot, und so ließen wir Gedanken an Gefahren, Aufgaben, zukünftige Herausforderungen erst gar nicht aufkommen und widmeten uns mit größter Aufmerksamkeit nur dieser einen: uns mit allen Sinnen zu lieben. Jede Nacht band uns enger und unauflöslicher aneinander. 

Ich vermisste ihn schon jetzt. Es tat gut, diese ziehende Sehnsucht nach ihm zu spüren. Das machte mich geradezu schwindelig, ich war süchtig nach Ulf.

Es klopfte laut an der Tür.

Hatte ich ein erstes, leiseres Klopfen überhört?

Diese Aufdringlichkeit am frühen Morgen!

Unversehens knurrte mir der Magen, daher war ich gar nicht mehr so böse über die Störung. Mir wurde bewusst, dass ich hungrig war. Und wie hungrig! Wie spät war es überhaupt? Volles Tageslicht fiel durch die nur halb zugezogenen Fenster herein. So ganz früh konnte es nicht mehr sein.

Jetzt fühlte ich mich bereit, mich mit einem köstlichen Frühstück über Ulfs momentane Abwesenheit hinwegzutrösten und für die nächste Begegnung zu stärken. Nach jeder Trennung war das Wiedersehen ja umso leidenschaftlicher. Hatte er etwa geklopft? Einmal hatte er mir Kaffee ans Bett gebracht.

Wie spät mochte es sein?

Ehe ich mich räuspern konnte, trat Eadha mit einem klirrenden Tablett herein, warf einen vielsagenden Blick auf mein zerwühltes Bett, stellte ihre Last nahe beim Fenster auf einem Tischchen ab und wandte sich zum Gehen. Würde sie mir nicht einmal einen guten Morgen wünschen? Kurz vor der Tür blieb sie dann doch stehen und drehte sich zu mir um.

»In zwei Stunden gibt es Mittagessen, eigentlich lohnt sich’s gar nicht, dir ein Frühstück zu bringen, du Schlafmütze, aber deine neue Zofe steht sich im Ankleidezimmer die Beine in den Bauch und kaut auf ihren Fingernägeln vor Verzweiflung, weil sie nicht weiß, ob sie dich endlich wecken darf oder nicht. Ich habe ihr gesagt: ›Nein, ich mache das lieber selbst.‹ Das Mädchen ist ja noch ein unschuldiges Kind. Gott, bin ich froh, wenn die Hochzeit vorbei ist. Noch vier Wochen dieses ganze Theater, das hält kein Mensch aus. Deine Schneiderinnen sind Quälgeister, denn sie fragen ständig, wann sie dich zur Anprobe erwarten können. Von mir aus könntest du nackt heiraten.«

Dabei war ihr anzusehen, wie sehr sie den Hochzeitsrummel genoss. Seit sie mit Cam zusammen den gesamten königlichen Haushalt im Sommerschloss führte, bemühte sie sich um ein vornehmes Auftreten, das sie nur dann vergaß, wenn wir allein waren. Dann schlug sie gern den alten, rüden Umgangston an, und ich liebte sie dafür. Kyle und ich hatten sie und Cam auf diese Posten berufen, weil sonst keiner mehr dafür in Frage kam. Alle Bialowizen, die vorher die wichtigen Hofämter bekleidet hatten, waren entweder tot oder geflohen, wobei sie mir tot wesentlich lieber waren.

Cam und Eadha mit diesen Aufgaben zu betrauen, sollte eine vorübergehende Maßnahme sein, bis wir geeignetere Bewerber mit den nötigen Empfehlungen fänden, meinte Kyle zwar in seiner verdrossenen Art. Für mich stand aber fest, dass von ›vorübergehend‹ gar keine Rede sein konnte. Für all das, was die beiden für uns getan hatten, war es das Mindeste, sie mit anständigen Posten zu belohnen. Bessere hatten wir nicht zu bieten samt entsprechendem Gehalt, eigener Zimmerflucht im Schloss und – einer Erhebung in den Adelsstand, die aus Zeitgründen mit dem kleinstmöglichen Aufwand betrieben wurde. Ich diktierte Kyle die Adelsbriefe, er unterzeichnete und siegelte sie, und nach einer Zeremonie vor ein paar rasch zusammengerufenen Würdenträgern aus der Hauptstadt war die Sache erledigt. Anfangs hatten sich Eadha und Cam noch gesträubt, aber das Sträuben war mehr eine Formsache, und sobald wir das alles hinter uns hatten, waren die beiden in ihrem Eifer nicht mehr zu bremsen. Es war die richtige Entscheidung.

Loyalere Freunde – und das würden sie für mich immer bleiben ‒ als diese beiden würden wir nie finden, und was die neuen Aufgaben betraf: Die meisterten sie bisher mit Bravour. Alles, was sie als sinnlose Regelungen ansahen, schafften sie ab und konzentrierten sich auf das, was den Haushalt in Gang hielt. Mit einer schmerzhaften Ausnahme: Ulf und ich hatten offiziell getrennte Schlafzimmer, seines lag in gleichen Trakt wie das meines Vaters, also weit entfernt von meinem, der Schicklichkeit halber.

Ich warf ungeniert die Bettdecke von mir, es war mir gleichgültig, was sich Eadha beim Anblick meines nackten Körpers dachte, schließlich war das nichts Neues für sie. Es war erst zwei Jahre her, da hatte sie mich noch selbst in die Badewanne gesetzt, und ich hatte inzwischen eher weniger auf den Rippen als früher. Dass Ulf sich Nacht für Nacht heimlich zu mir schlich, war ihr nicht entgangen, was sie darüber dachte, teilte sie mir allerdings nicht mit. Sie wusste, dass Ulf und ich ein Paar waren, mit allem, was dazugehörte. Ich brauchte dennoch eine richtige Hochzeit mit Brief, Siegel und Bischof, aber damit konnte Ulf nicht viel anfangen. Gelegentlich regte ich mich schon darüber auf, mit welcher Selbstverständlichkeit er sein Lebensmodell für das einzig wahre hielt: Wölfe taten sich umstandslos zusammen, und das blieben sie bis ans Lebensende.

Kyle, der sich sonst nicht viel in unsere Angelegenheiten einmischte, hatte unnachgiebig auf getrennten Schlafzimmern bestanden, und nach einer knurrigen Auseinandersetzung mit ihm hatte Ulf klein beigegeben. So wütend hatte ich ihn schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen, als er aus meines Vaters Arbeitszimmer stürmte.

»Wir sind längst verheiratet, aber er will es einfach nicht begreifen.«

»Sind wir nicht«, widersprach ich ihm freundlich und sah interessiert zu, wie eine Ader an seiner Stirn anschwoll. »Unter Wölfen vielleicht, aber nicht unter Menschen und schon gar nicht offiziell. Die Hochzeit einer Kronprinzessin ist ein Staatsakt und keine Privatangelegenheit, begreif das endlich. Bis wir in der Kathedrale vor höchst respektablen Zeugen vom Bischof zusammengegeben werden, sind wir bloß verlobt. Und ich finde es sehr schön, mit dir verlobt zu sein, und kann das genießen.« Natürlich zog ich ihn mit meiner belehrenden Erklärung auf.

Ulf schwieg und starrte angewidert aus dem Fenster, während ich mich über seinen Ärger amüsierte.

Von Streit konnte nicht wirklich die Rede sein, nur von Geplänkel. Dennoch fragte ich mich von Zeit zu Zeit, wie sich unser Zusammenleben in naher Zukunft gestalten sollte. Ulf würde mein Gemahl sein – und sonst?

»Wo ist Ulf?«, fragte ich Eadha. »Hast du ihn gesehen?«

Sie trat von der Tür zurück, nahm mein Nachthemd auf und warf es mir zu. »Ausgeritten, habe ich gehört. Besser, du machst jetzt, dass du fertig wirst.«

Sie ging wieder zur Tür.

Ich stutzte kurz. Der Grund sollte mir erst später aufgehen. Wichtig war mir im Augenblick nur, dass er das Haus verlassen hatte.

»Warte! Hat er gesagt, wo er hinwill und wann er wiederkommt? Heute Nachmittag findet erneut eine von diesen Zusammenkünften mit Vertretern der Provinzen statt.« Es waren erste Versuche für die Bildung eines Parlaments, das beim Erlassen von Gesetzen und bei allen Entscheidungen der Regierung ein gewisses Mitspracherecht haben sollte. Die Idee leuchtete mir zwar ein, aber ob so ein gewagtes System funktionieren würde und ob es mit dem Kronrat harmonierte, musste sich erst noch erweisen. Vielleicht fand sich nur eine große Gruppe von Schwätzern zusammen, von denen sich jeder gern reden hörte und die nie einer Meinung waren.

»Sagte ich nicht, dass ich ihn gar nicht gesprochen habe?«, unterbrach Eadha meine Gedanken. »Nur deine …«, sie machte eine Pause, bevor sie mit grimmiger Stimme fortfuhr, »nur Lady Siobhán hat mich eine Stunde lang festgehalten.«

Mit dieser Bemerkung verließ Eadha endgültig den Raum.

Kyles Schwester Siobhán war wie ein Verhängnis über uns gekommen, und niemand, vor allem mein Vater nicht, konnte ihr die Stirn bieten. Eadhas Miene nach zu schließen, hatte sie es immerhin versucht. Um was die Auseinandersetzung wohl diesmal gegangen war?

Kaum war die Tür hinter Eadha ins Schloss gefallen, lugte Muire zu mir herein, die die Tür zum Ankleidezimmer einen Spaltbreit aufgezogen hatte. Ihre Verpflichtung als meine Zofe hatte sich erst kürzlich ergeben. Eadha hatte darauf bestanden, jemanden für mich einzustellen. Nach eigenen Angaben war sie 15 Jahre alt, ich schätzte sie aber auf höchstens dreizehneinhalb. Sie war aber ein kleines bisschen größer als ich.

Muire trug die übliche Bedienstetenkleidung, ein schlichtes graues Kleid aus gutem Stoff, das mit einem runden weißen, spitzengesäumten Kragen und weißen Ärmelaufschlägen versehen war als Zeichen ihrer gehobenen Stellung. Das Kleid gefiel ihr offensichtlich. Ich hatte mehrmals gesehen, wie sie andächtig den Rock glattstrich und sich ein bisschen hin und her drehte, wenn sie Gelegenheit hatte, sich in meinem Ankleidespiegel zu betrachten. Ich nahm an, dass sie aus bescheidenen Verhältnissen stammte.

Zwei stramm geflochtene, braune Zöpfe standen ihr oberhalb der Ohren vom Kopf ab, ein fransiger Haarvorhang bedeckte ihre Stirn und hing ihr fast in die dunklen, blitzblanken Augen, die sie aber meist züchtig gesenkt hielt. Welche Referenzen die Kleine vorzuweisen hatte, wusste ich nicht. Mir gefiel sie aber auch ohne diese, denn sie gab sich redlich Mühe, es mir recht zu machen.

»Kann ich schon mal aufräumen? Oder Kaffee eingießen? Ich plempere diesmal auch bestimmt nicht«, erkundigte sie sich.

Natürlich musste sie noch einiges lernen.

»Nur zu«, antwortete ich.

Muire hüpfte mehr zum Kaffeetisch, als dass sie lief, und begann, halblaut zu singen, während sie mir Kaffee einschenkte und ein Brötchen viel zu dick mit Butter bestrich.

»Was soll ich herauslegen? Das rote Leinenkleid, das Sie so mögen? Oder etwas Schlichtes, Dunkles für die Sitzung?«

»Das sage ich dir gleich.« Ich war mit meinem Frühstück beschäftigt, als sie hinter mir aufzuräumen begann.

Es war Sommer, und durch ein angelehntes Fenster drangen die Düfte des Gartens herein. Ich kenne kaum einen schöneren als den von frisch gemähtem Gras, darin ist für mich der ganze Sommer enthalten. Ach, dachte ich, wenn Ulf und ich doch nur den Tag für uns hätten und durch die Wiesen oder den Wald streifen könnten wie früher – nur sorgloser.

»Soll ich das in den anderen Flügel hinübertragen?«

Verwundert drehte ich mich um.

Muire hielt die speckige Lederweste hoch, die Ulf am Abend zuvor getragen hatte, und sah an mir vorbei zum Fenster.

»Wo hast du die gefunden?« Ich wunderte mich, dass er sie nicht angezogen hatte. Ulf trug also nur seine Jacke, denn die lag hier nicht herum.

»Hinterm Stuhl am Bett, sie ist bestimmt heruntergefallen. Eigentlich lag sie schon unterm Bett.«

Vermutlich hatte Ulf im Dunkeln vergeblich nach ihr gesucht. Und noch etwas fiel mir auf. Muire hatte vom »anderen Flügel« gesprochen, also wusste sie, wessen Weste das war und wohin sie gehörte. Nur hatte Ulf offiziell mein Schlafzimmer nicht zu betreten, das untersagten die Anstandsregeln, aber er schlich sich heimlich nachts zu mir. Dennoch wunderte sich Muire keineswegs, dass die Weste hier herumlag. Muires Kammer befand sich hinter dem Ankleidezimmer, hatte aber eine Verbindungstür zu diesem, und selbstverständlich war das Ankleidezimmer mit meinem Schlafzimmer verbunden. Ziemlich spät fragte ich mich, was sie alles mitbekam.

»Prinz Ulf ist sehr früh aufgestanden«, sagte ich vage.

»O ja«, erwiderte das Kind mit sittsam gesenktem Kopf. »Ich habe ihn kaum gehört.«

Na, also. Und was wusste die Kleine sonst noch? Die Unschuld in Person war sie jedenfalls nicht.

»Er hat Olaghair genommen«, fuhr sie wispernd fort.

»Muire, schau mich an, wenn du mit mir redest. Woher weißt du das?«

Unbehaglich zog sie die Schultern hoch und presste die Weste an sich. »Werde ich jetzt ausgeschimpft?«

»Nein, ich habe dich nur etwas gefragt«, antwortete ich geduldig.

Jetzt endlich sah sie mich treuherzig an. »Ich war schon im Stallhof, Iogh hat’s mir gesagt. Und was mache ich mit der Weste?«

War sie Ulf nachgegangen, nachdem sie gehört hatte, wie er das Zimmer verließ? Im Stallhof hatte sie überhaupt nichts zu suchen. Da würde ich ihr wohl noch einiges erklären müssen.

»Lass sie hier, ich gehe hinüber ins Bad, und während ich bade, legst du mir frische Wäsche und Reitsachen heraus.«

Es war natürlich verrückt anzunehmen, ich könnte Ulf nachreiten und ihn finden. Aber in diesem Moment graute mir so sehr vor den endlosen Sitzungen und den meist anstrengenden Gesprächen mit zukünftigen Räten, die mich alle von ihren manchmal abwegigen politischen Vorstellungen überzeugen wollten, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte.

Zögernd faltete Muire die Weste zusammen und legte sie auf einen Sessel.

»Ist doch komisch, dass er Olaghair genommen hat, oder nicht?«

Das stimmte, aber auch das ging sie nichts an. Ich stand auf, nahm das angebissene Brötchen und ging eilig hinüber ins Badezimmer.

Im Stallhof waren ein paar Knechte damit beschäftigt, die noch vorhandenen Reitpferde zu striegeln. Der überwiegende Teil von ihnen ‒ vor allem Kutschpferde ‒ war an Bauern ausgeliehen, die keine eigenen mehr hatten und dringend ihre Felder bestellen mussten. Sehr viele davon hatten zwei Jahre lang brachgelegen und waren vollkommen verkrautet. Und diejenigen, auf denen das Stinkzeug kultiviert worden war, mussten besonders sorgfältig gerodet werden.

Die Versorgungslage im Land war nicht gut nach dem Krieg. Wir waren gezwungen, Getreide aus dem Ausland zu kaufen und dafür Mittel aus dem Staatsschatz zu nehmen. Nur von Brot allein konnte keiner leben, auch weitere Lebensmittel waren knapp. Ich dachte an diese und andere Sorgen und hatte eine Szene vor Augen, die sich genau hier im friedlichen Stallhof vor nicht langer Zeit abgespielt hatte. Bei der Erinnerung überlief mich ein Schaudern. Iogh, der Stallbursche, der sich früher mit Gort abgewechselt hatte, mich auf Ausritten zu begleiten, bekleidete inzwischen den Posten eines ersten Stallburschen und blähte sich dabei mächtig auf. Er war ein hinterhältiger Bursche, den ich noch nie gemocht hatte. Am Tod Gorts war er sicher nicht ganz unschuldig gewesen. Wie gern hätte ich Cam gebeten, ihn zu entlassen, aber ich wollte nicht in die Befugnisse unseres frisch eingesetzten Oberhofmeisters eingreifen.

Als ich an diesem bestimmten Tag am Spätnachmittag in den Stallhof gekommen war, stand auf dem sandigen Aufsattelplatz ein Pferd, bei dessen Anblick mich sofort eine ungeheure Wut überkam. Dreck hing in Flocken im Fell, ob die Mähne oder der Schweif verfilzter war, konnte ich so rasch nicht erkennen. Auf einem Bein schien es zu lahmen, und es wirkte vollkommen verängstigt. Was hatten die Burschen bloß mit dem Tier angestellt? Wie konnte es in diesen erbärmlichen Zustand geraten? Sicher, wir hatten zu wenig Personal, jetzt nach dem Krieg, wo jeder einigermaßen kräftige Mann in der Landwirtschaft oder anderswo dringend zum Wiederaufbau benötigt wurde – aber diese Vernachlässigung ging eindeutig zu weit. Das Tier war eins von der störrischen Sorte, so, wie es den Kopf aufwarf und unentwegt schnaubte, aber das war kein Grund, es verwahrlosen zu lassen.

Iogh und ein anderer Stallbursche hielten es an langen Leinen und versuchten es zu bändigen; von der Seite näherte sich ein weiterer Mann, der eine Lederschürze trug. War er ein Schmied und sollte das Pferd beschlagen? Etwas blitzte an seiner Seite im Sonnenlicht grell auf, und der Lichtreflex machte das Pferd noch nervöser.

Es war ein Hengst, ein sehr großes, dunkles Tier mit kräftigen Beinen und breiten Hufen, von dessen Kruppe bei jedem Auskeilen Staub aufstieg. Mit vortretenden, blutunterlaufenen Augen und vorgerecktem Hals wieherte es laut vor Angst ‒ oder gar Wut? Mir fiel auf, dass ich das Pferd nicht kannte. Ein Neuzugang? Woher stammte es?

Die beiden Männer konnten es kaum halten. Mochte es auch verwahrlost sein, kraftlos war es keineswegs. Und zahm schon gar nicht.

»Ein Neuzugang?«, erkundigte ich mich laut genug, um das Pferd zu übertönen. »Ich wusste gar nicht, dass es noch Pferde zu kaufen gibt.« In den Ställen herrschte geradezu beklemmende Leere, nur wenige Verschläge waren noch mit Tieren besetzt. Da musste ein neues Pferd sehr willkommen sein. Es fragte sich aber wirklich, wo man es aufgetrieben hatte. Gerade stieg es vor meinen Augen, und die Burschen mussten sich anstrengen, um nicht selbst den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Die Männer waren so auf das Tier konzentriert, dass sie beim Klang meiner Stimme zusammenschreckten.

Iogh fasste sich als Erster. Devot versuchte er, eine Verbeugung hinzubekommen, ohne den Zug auf die Leine zu vermindern. »Wollen Sie ausreiten, Prinzessin?«

Über die Schulter nach hinten gewandt, schrie er einen Namen über den Hof. Fast augenblicklich trat aus dem Schatten einer Stalltür ein Junge hervor, der die Szene von dort aus sicherer Entfernung beobachtet hatte.

»Sattele der Prinzessin ein Pferd, aber rasch! Nimm die kleine Stute hinten, die mit der Blässe.«

Der Junge rührte sich nicht vom Fleck.

Wieder gab es einen Lichtblitz, der Hengst stieg erneut. Was hielt der Hufschmied bloß halb verborgen in der Hand?

»Hast du nicht gehört?«, schrie Iogh und wich im letzten Moment aus. Wäre er etwas langsamer gewesen, hätte ihn einer der herabdonnernden Hufe an der Schulter getroffen. »Halte das Pferd auf deiner Seite, du Armleuchter«, brüllte Iogh den Mann an, der die andere Leine straff halten sollte. »Sonst erschlägt uns das Vieh noch beide. Und du, stich endlich zu, worauf wartest du?«

Einen Mann hatte ich übersehen. Erstaunt bemerkte ich einen der Köche, der einige Meter entfernt in einer langen, schmutzigen Schürze dastand, halb in Deckung hinter dem Brunnen, der neben der Pferdetränke lag, neben sich einen großen Holzbottich. Er hielt mit beiden Armen einen Eimer umschlungen und drückte ihn gegen seinen Bauch.

»Was tust du hier?«, wollte ich gerade fragen, da sprang der Hufschmied vor, holte weit aus und stach nach dem Pferd mit einem ellenlangen, breiten Messer, das im Licht nur so funkelte.

Ich erstarrte und konnte mir keinen Reim darauf machen.

Dem Hengst gelang es, seitlich auszuweichen, sodass die Klinge ihn nur ritzte. Vielleicht auch nicht. Ein paar Dreckklumpen flogen durch die Luft.

Mir wurde heiß.

»Halt«, schrie ich. »Sofort aufhören!«

Nur zu gern wich der Mann zurück und verbarg das Messer hinter seinem Rücken. Dafür traute sich nun der Koch näher.

»Prinzessin«, winselte er. »Bitte, wir brauchen das Pferd.«

Der Hengst beruhigte sich ein wenig, keilte jedenfalls nicht mehr aus, tänzelte nur noch auf der Stelle, schnaubte aber sofort wieder, als der Mann das Messer erneut zückte und näher pirschte.

»Zurück, sofort zurück, und das Messer weg! Du machst dem Tier unnötig Angst.« Ich lief zu ihm und streckte gebieterisch die Hand nach dem Messer aus. Meine Güte, war ich dumm, ich hatte immer noch nicht begriffen, was vor sich ging! Betreten blieb der Mann vor mir stehen, behielt aber das Messer in der Hand.

»Prinzessin, wollten Sie nicht ausreiten? Lassen Sie sich nicht aufhalten. Wir kommen hier schon klar. Das Pferd ist nun ruhiger, mit etwas Geduld werden wir damit fertig«, schmeichelte der Koch.

Iogh schrie erneut den Jungen an. »Wo bleibt das Pferd für die Prinzessin? Was ist los? Sattele es endlich und bring’s her. Oder du fliegst hier schneller raus, als du bis drei zählen kannst.«

Ich schlug mir mit der Hand an die Stirn, als ich endlich begriff, was sich hier abspielte. »Ihr wollt das Tier töten! Warum?«

Der Hengst stand nun ganz still, seine Ohren drehten sich aber unruhig hin und her.

Plötzlich entdeckte ich Ulf. Er lehnte an der Stallmauer neben dem Jungen, sagte etwas zu ihm, das nicht bis zu mir drang, und schaute unbeteiligt dem Treiben auf dem Hof zu. Wir hatten uns hinter den Stallgebäuden verabredet, um zum Elfenteich zu laufen, dort zu schwimmen und einfach mal ein oder zwei Stunden für uns sein. Weg vom Hof, von allen Verpflichtungen, vor allem der, uns gesittet und geziemend zu benehmen. Man erwartete von uns, dass wir in der Öffentlichkeit miteinander umgingen, als wären wir uns erst gestern vorgestellt worden. Im Schloss wimmelte es schließlich Tag für Tag von Besuchern.

Ulf konnte mit Pferden nicht viel anfangen, er hielt sich zwar gut im Sattel, wenn er es unbedingt musste, war aber kein Freund dieser Fortbewegungsart. Das Gehoppel auf dem Pferderücken ginge ihm aufs Kreuz, wie er mir erklärt hatte. Das bedauerte ich, denn ich ritt ausgesprochen gern. Jetzt hätte er sich aber einmischen sollen, statt die Auseinandersetzung um das Pferd mir zu überlassen. Seine Unterstützung wäre mir sehr recht gewesen.

»Fleisch«, antwortete der Koch beinahe weinerlich. »Wir brauchen Fleisch, und ich weiß nicht mehr, wo ich’s hernehmen soll für all die vielen, die ich satt machen muss.«

»Wir sollen Pferdefleisch essen?«, fragte ich angewidert.

»Nun«, stotterte der Koch unglücklich und brach ab. Sein hilfesuchender Blick schweifte umher, fand aber nirgendwo Halt. Iogh starrte nur finster vor sich hin. Bestimmt wünschte er mich sonst wohin.

Ich besann mich. Es ging hier nicht um mich oder darum, ob ich Pferdefleisch mochte oder nicht.

Trotz meiner Freundschaft mit Arkas, Maral und den anderen stillte ich meinen Appetit nicht ausschließlich mit pflanzlicher Kost. Ich aß nach wie vor Fleisch, selbst Wild, wenn auch sehr bedacht und nicht sehr viel. Der Umgang mit meinen unterschiedlichen Freunden hatte mich Respekt vor diesem Nahrungsmittel gelehrt, und ich wusste sehr genau, dass es immer den Tod für ein Tier bedeutete. Das galt es zu akzeptieren und in Kauf zu nehmen.

Ja, wir benötigten Fleisch, und warum nicht ein Pferd schlachten, das offensichtlich nicht gezähmt war und viel Futter verbrauchen würde, bevor es zu irgendeiner Arbeit nütze wäre? Ich selbst musste schließlich nichts davon essen. Waren mir meine Überlegungen anzusehen? Der Koch fasste Mut.

»Der Klepper taugt eh nichts«, sagte Iogh. »Der frisst nur, und außerdem gehört er keinem. Er ist uns zugelaufen.«

»Das kann nicht sein«, widersprach ich. »Jemandem muss er gehören, das sollte geklärt sein, bevor ihr ihn tötet.«

Der Hengst wieherte, scharrte auffällig mit den Hufen und warf den Kopf auf. Wenigstens schlug er nicht mehr aus. Vielleicht gingen ihm die Kräfte aus. Wer wusste schon, wann er das letzte Mal genug zu fressen bekommen hatte?

»Wie kommt das Tier überhaupt hierher?«, fügte ich nach einer Pause hinzu.

Niemand antwortete, einer schaute den anderen an, schließlich ergriff Iogh das Wort. »Es stand vor dem Hoftor, da haben wir es reingeholt.«

»Es hatte sich in einer Schlinge verfangen, einer Drahtschlinge, die bekam es nicht vom Huf«, meldete sich der Junge neben Ulf. »Es ist verletzt.«

Und da hatte das Tier Hilfe bei uns gesucht? Das sollte ich glauben?

»Halt die Klappe«, fuhr Iogh auf.

Also stimmte hier etwas nicht. Ich wollte den Jungen gerade auffordern, mehr von dem zu erzählen, was er wusste, da trat er bereits vor und sprach von sich aus.

»Aber es ist wahr. Eine Drahtschlinge hinter dem Stall auf der Wiese, wo manchmal morgens Kaninchen drauf sind. Es hat laut gewiehert und gegen die Schlinge gekämpft. Wir haben es bis zu uns gehört, heute Morgen, ganz früh.« Die Stallburschen schliefen in kleinen Häusern hinter den Stallgebäuden.

Iogh legte also Drahtschlingen aus, um sich still und heimlich einen Braten zu sichern, und wollte nicht, dass jemand anders davon erfuhr. Pech für ihn, dass der Braten, den er gefangen hatte, zu groß war, um ihn heimlich beiseitezuschaffen.

Wie alle anderen sah ich zu dem Huf, auf den der Junge zeigte, um das Gesagte auf seinen Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Ich konnte das geronnene Blut mehr ahnen als erkennen. Und da hing noch etwas. Die Schlinge? Woran war sie befestigt gewesen? An einem der Obstbäume auf der Wiese? Wahrscheinlich. Hatte das Tier sich losgerissen? Nur gut, dass der Huf dabei nicht gebrochen war. Das sprach für die Stärke des Hengstes. Ein Zittern lief über seine Kruppe. Dem Zustand nach zu urteilen, musste er eine ganze Weile allein durch die Gegend gestreift sein, vielleicht handelte es sich tatsächlich um ein herrenloses Tier.

Mit Iogh und seiner Fallenstellerei sollte sich Cam auseinandersetzen, ich wagte es nicht, aus Furcht, dass meine Wut auf ihn so anschwoll, dass ich nicht mehr vernünftig reden konnte.

»Es gäbe viel Fleisch für die Küche, und wenn wir es zubereitet haben, merkt niemand mehr, dass es vom Pferd stammt«, traute sich nun der Koch wieder vor. »Es ist nicht das Erste, das ich verarbeite. Aus dem Blut und den Resten mache ich eine schmackhafte Wurst.«

Mir lief nicht gerade das Wasser im Mund zusammen. Den Männern anscheinend schon, denn da ich nichts entgegnete, deuteten sie mein Schweigen als Einverständnis. Auf einmal war einer der Männer dem Hengst wieder nahegerückt. Nur weil ich gerade den Kopf ein Stückchen zur Seite drehte, sah ich das Messer aufblitzen.

Der Mann schlug rücklings hin, als sich das Pferd direkt vor ihm aufbäumte. In hohem Bogen segelte das Messer durch die Luft, drehte sich, fiel senkrecht herab und blieb mit der Spitze im Bein des Schlachters stecken. Vor Entsetzen und Schmerz schrie er auf. Alle standen wie erstarrt, selbst das Pferd hielt in der Bewegung inne, einen Wimpernschlag lang, zwei oder drei oder vier? Die Zeit lässt sich in solchen Momenten nicht mehr exakt messen, gefühlsmäßig jedenfalls nicht. Gefühlsmäßig standen wir wie für die Ewigkeit in Stein gemeißelt da. Das Pferd wirkte wie eine überlebensgroße Statue – wären da nicht das bebend aufgerissene Maul und das schrille, in den Ohren gellende Wiehern gewesen. Und dann hing mein Blick an diesen Hufen, die auf einmal nicht mehr in der Luft verharrten, sondern sich immer schneller auf den liegenden Mann zubewegten. Jetzt zermalmten sie ihn!

Nein, der Hengst sprang mit einem riesengroßen Satz über ihn hinweg und keilte mit wildem Kopfschütteln mit der Hinterhand aus. Noch zwei Sprünge und die Leinen glitten Iogh und dem anderen aus der Hand. Ich stand immer noch am Rand des Geschehens wie festgenagelt da. Der Hengst galoppierte nun auf mich zu und wich ganz knapp vor mir seitlich aus. Ich weiß nicht, wie es mir gelang, aber auf einmal fing ich eine der herumwirbelnden Leinen auf und hängte mich instinktiv hinein. Das hätte ich nicht tun sollen. Das Pferd zog mich einige Meter mit sich, meine Füße scharrten eine Spur in den Sand, ein Absatz löste sich von einem Schuh, und ich verlor beinahe den Halt. Abrupt blieb das Pferd stehen. Nur mit Mühe hielt ich mich aufrecht, stolperte aber noch zwei Schritte vorwärts. Über die Kruppe wandte mir der Hengst den Kopf zu, als wollte er sehen, mit welchem Gegner er es jetzt zu tun hatte und wie er diesen am besten erledigte. Sein Blick gefiel mir nicht. Ich will nicht sagen, dass ich Hinterlist daraus las, aber es lag etwas Beunruhigendes darin, das ich nicht verstand. Schwer atmend musterten wir uns gegenseitig. Hinter mir hörte ich die Stimmen der anderen. Anscheinend waren sie aus ihrer Erstarrung erwacht und kümmerten sich um den Verletzten.

Und ich hatte mich zu einer Entscheidung durchgerungen.

»Ganz ruhig«, sprach ich auf den Hengst ein. »Ich hab’s mir überlegt, du landest nicht in der Wurst. Aber nur, wenn du jetzt nicht noch mal auskeilst.«

Er blickte mich weiter an, als überlegte er, ob mir zu trauen sei.

Dann zog er nur sachte an der Leine und trat von einem Fuß auf den anderen, das brachte mir die Schlinge in Erinnerung. Irgendwie musste ich an den verletzten Huf herankommen, um sie zu entfernen.

»Wir machen die Schlinge ab, aber halt still dabei, ja?«

Es war wohl weniger mein Gerede, als der Sack mit kostbarem Hafer, der ihm auf mein Geheiß umgehängt wurde, der das Pferd etwas umgänglicher machte. Mit Hilfe des Jungen, der wie Muire erst kürzlich zum Schloss gekommen und sofort eingestellt worden war, knipste ich den Draht mit einer Zange durch. Danach war endgültig besser mit dem Tier umzugehen.

»Traust du dir zu, den Hengst zu striegeln?«, fragte ich den Jungen nach der Prozedur. Viel älter als zwölf oder 13 Jahre konnte er nicht sein. Sein Gesicht war noch weich und kindlich, aber er war groß und kräftig. Er war der Einzige, der sofort bereit gewesen war, mir zur Hand zu gehen. Iogh hatte den verletzten Mann zusammen mit dem Koch fortgebracht, um die Wunde ordentlich auszuwaschen und beim Verbinden behilflich zu sein.

»Behältst du ihn?«, fragte der Junge zutraulich. Vom Hofzeremoniell und der korrekten Anrede einer Prinzessin hatte er anscheinend noch nichts gehört. Ich fand, dass das kein großer Fehler war.

»Ich denke schon. Aber nicht als Mahlzeit«, sagte ich laut, damit alle mitbekamen, dass aus der leckeren Pferdewurst nichts wurde.