Ein Troisdorf-Krimi
Heribert Weishaupt
Isabelle
Ein Troisdorf-Krimi
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Printbuch 978-3-96136-019-2
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Die Lüge tötet die Liebe.
Aber die Aufrichtigkeit tötet sie erst recht.
Ernest Hemingway
Gewalt birgt immer ein Element der Verzweiflung.
Thomas Mann
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Anmerkung und Dank
Er stellte den Rucksack am Wegesrand ab und kletterte behutsam, teilweise auf allen vieren, über die niedrigen Felsen in Richtung Schlucht.
Er wusste, welche Gedanken jetzt im Kopf seiner Frau kreisten: Was soll das? Immer wieder diese unnötigen Eskapaden. Musst du denn unbedingt mit auf dem Foto abgelichtet werden?
„Bleib doch hier am Weg stehen. Das Foto wird doch ohne dich genauso schön“, rief sie.
„Nein, nein. Wenn schon ein Bild mit dieser grandiosen Aussicht, dann soll ich auch mit auf dem Foto zu sehen sein.“
Er lachte.
„Aber was bringt es, wenn du bei dieser Aktion umknickst und dir den Fuß oder das Bein brichst?“, versuchte sie eine letzte Warnung.
Aber auch dieser Versuch misslang kläglich.
„Du immer mit deinen Ängsten.“
Er lachte wieder kurz auf. Dieses typische, lässige Lachen eines selbstsicheren Mannes.
Schon hatte er die Kante des steil abfallenden Hanges erreicht und richtete sich auf. Breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, stand er vor einer imposanten Kulisse und schaute in die Tiefe.
Rechts und links säumten kahle, zerklüftete Felsmassive die Schlucht. Unter ihm breitete sich das Tal von Sóller mit den unzähligen Oliven-, Zitronen- und Orangenbäumen aus. In der Ferne konnte er die Bucht des Hafens erkennen und dahinter spannte sich bis zum Horizont das blaue, glitzernde Meer. Welch ein Panorama.
Ruckartig drehte er sich um. Sein Gesicht zeigte ein zufriedenes Lächeln.
„So, du kannst jetzt den Auslöser betätigen“, forderte er seine Frau auf, die mit ausgestreckten Armen die Digitalkamera vor sich hielt und angestrengt versuchte, im Display etwas zu erkennen.
„Ich kann kaum etwas erkennen. Die Sonne scheint direkt auf das Display.“
„Schirm das Display mit einer Hand ab. Das hilft vielleicht. Das wird bestimmt eines der schönsten Fotos dieser Woche.“
Zu diesem Zeitpunkt konnte er nicht ahnen, dass es das letzte Urlaubsbild von ihm sein würde.
Ungeduldig verlagerte er sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Seine Euphorie ließ sein Gehör nur mit halber Kraft arbeiten. Daher vernahm er nicht, wie sich mehrere kleine Felsstücke von der Kante lösten und den Abhang herunterkullerten.
„Nun mach schon! Ich kann nicht ewig hier so stehen bleiben!“
Seine Ungeduld und der dadurch ausgelöste kleine Schritt rückwärts, war der verhängnisvollste Fehler in seinem Leben.
Mit den Armen wild rudernd, versuchte er, das Unaufhaltsame noch abzuwenden. Seine Füße rutschten nach hinten über den Grat und er fiel nach vorne auf die harte Felskante. „Hilfe! Hilfe!“, schrie er, dass seine Kehle zu platzen drohte.
Wie weggewischt war seine Euphorie und augenblicklich breitete sich stattdessen Panik aus. Seine Hände suchten hektisch nach einem Halt, aber das Gewicht seines Körpers zog ihn weiter in die Tiefe. Mit den Füßen versuchte er, einen festen Punkt im Felsgestein zu finden. Doch je mehr er mit den Beinen strampelte, desto tiefer rutschte er. Sein Gesicht befand sich bereits unterhalb der Felskante, auf der er vor wenigen Augenblicken noch gestanden hatte.
Die Finger seiner rechten Hand fanden endlich an der Kante ein Stück scharfkantigen Felsen, das etwas hervorstand. Er bot all seine Kräfte auf und krallte sich schmerzhaft daran fest. Der Sog, der seinen Körper in die Tiefe zog, ließ nach. Sofort suchte er mit der anderen Hand einen zusätzlichen Halt. Er schlug die Krallen der zweiten Hand so fest in die Felskante, dass Fingernägel brachen.
Wieder formten sich seine Lippen zu einem lauten, langen Schrei.
„Hiiiilfe!“
Nichts geschah. Wo blieb seine Frau? Sie musste doch gesehen haben, was geschehen war.
„Hiiiiilfe!“, schrie er erneut.
Stille. Totenstille! Nicht einmal der Laut eines Vogels war zu hören.
Wieso hört sie nicht meine Hilfeschreie und kommt hierher?, dachte der Mann verzweifelt.
Die Sonne stand am höchsten Punkt und brannte erbarmungslos auf ihn nieder. Schweißtropfen rannen ihm in die Augen. Er spürte, wie die Schwerkraft versuchte, ihn nach unten zu ziehen. Es war unerträglich. Er würde sich nicht mehr lange halten können. Mit seinen Füßen versuchte er noch immer, einen Halt zu finden. Allerdings wesentlich vorsichtiger als vorhin, denn jede unbedachte Bewegung könnte den Griff seiner Hände lösen – und was das bedeuteten würde, war ihm erschreckend klar.
War das sein Ende? Sollte ihre Ehe nur von solch kurzer Dauer gewesen sein? Ja, er hatte einen Fehler begangen – einen riesigen Fehler. Er hatte ihn eingestanden und ihr die unverfälschte Wahrheit über alles, was geschehen war, gesagt. Sogar das, was er dabei gefühlt hatte. Seitdem lasteten dieser Fehler und sein Geständnis wie ein dunkler Schatten auf ihrer Beziehung. Der Urlaub sollte ein Neuanfang sein. Ein Neuanfang, der auch vielversprechend begonnen hatte. Bis jetzt – bis vor wenigen Augenblicken. In jedem Moment könnte er zu Ende sein.
Der Schotter oberhalb der Felskante knirschte. Waren das Schritte? Ja – unendlich langsame Schritte!
Das konnte nur seine Frau sein. Wieso ging sie so langsam? Wieso kam sie nicht zu ihm gerannt?
Er legte den Kopf vorsichtig etwas in den Nacken und blickte sehnsüchtig nach oben. Er sah lediglich einen braunen Wanderschuh mit einem hohen Lederschaft. Den Wanderschuh seiner Frau? Ohne Zweifel, es konnte nur der Fuß und der Schuh seiner Frau sein.
Sie wird mich retten! Sie ist stark! Sie kann das!, machte er sich Hoffnung.
„Fass mit beiden Händen einen Arm von mir und zieh mich hoch! Mit der anderen Hand versuche ich, mich abzustützen. Gemeinsam schaffen wir das!“, rief er der Person zu, die oberhalb der Felskante stand und seine Frau sein musste.
Er erhielt keine Antwort.
Dann hörte er eine Stimme, eine dunkle Stimme. Er verstand die Worte nicht, die die Stimme sagte. War das eine männliche Stimme? Ja – er fand keine Erklärung dafür.
Der Fuß mit dem braunen Wanderschuh hob sich vom Boden ab und senkte sich auf seine linke Hand hinab. Das Profil drückte sich in die Haut seiner Hand. Er war schockiert, als er begriff, was da gerade geschah. Sein Herz raste und sein Atem zischte fiebrig aus seiner Lunge.
„Hiiiilfe“, formten seine Lippen, aber nur ein undefinierbares Krächzen kam aus seinem Mund, das nur taube Ohren erreichte.
Erneut legte er den Kopf in den Nacken und schaute nach oben zur Felskante. Was er dort sah, grub sich tief in seine Gehirnwindungen ein, ließ sein Blut gefrieren und sein Herz brechen.
Er hörte nicht das Knacken, als die Knochen seiner Finger brachen. Er spürte lediglich den fürchterlichen Schmerz in seiner Hand und in seiner Seele, als er begriff.
Das Gewicht seines Körpers zog ihn gnadenlos in den Abgrund, während sich gleichzeitig seine Hand von dem Fels löste. Er hatte keine Kraft mehr, sich dem Unausweichlichen zu widersetzen. Weiter, immer weiter stürzte er in die Tiefe, in das schroffe, unwegsame Gelände.
Ein nicht enden wollender Schrei verließ seine Lippen und das Poltern des Gesteins begleitete ihn hinab bis zum Ende – zu seinem Ende.
Gestern Abend, ich war gerade zu Bett gegangen und konnte nicht einschlafen, da nahm ich mir vor, heute meine erste Wanderung durch die Wahner Heide zu unternehmen.
Ich öffne die Augen. Im Schlafzimmer ist es fast noch so dunkel wie in der Nacht. Mein Wecker auf dem antiquierten Nachttisch zeigt Montag, 24. Oktober 8:15 Uhr an. Ich habe gestern Abend die Weckfunktion nicht aktiviert, da ich endlich einmal ausschlafen wollte. Vielleicht habe ich auch die Uhrzeit nicht korrekt eingestellt und es ist noch wesentlich früher, und deshalb noch so dunkel. Oder liegt es an den dicken, bunten Vorhängen, die so gut wie kein Licht durchlassen?
Ich erhebe mich von der viel zu weichen Matratze. Das Bett quietscht fürchterlich. Einen Augenblick bleibe ich auf der Bettkante sitzen und resümiere, dass ich trotz der nicht optimalen Verhältnisse gut geschlafen habe. Ich stehe auf, gehe zum Fenster und ziehe die Vorhänge zur Seite. Was ich sehe, lässt mich meinen Entschluss bereuen. Die natürliche Tristesse eines rheinischen Herbsttages schaut mich an. Leichter Nebel, feucht und grau, wohin ich auch blicke. Als ich mich entschlossen habe, heute wandern zu gehen, konnte ich nicht ahnen, welches Schmuddelwetter mich heute Morgen erwarten würde.
Jetzt nehme ich auch die Kälte wahr, die im Schlafzimmer herrscht. Soll ich mich nochmals unter die Bettdecke verkriechen? Eine verlockende Versuchung. An solch einem Tag würde mir bestimmt nichts entgehen und Termine habe ich ohnehin nicht. Nein, ich entscheide mich dagegen. Stattdessen knipse ich das Licht an, lege mir eine Decke um die Schultern und gehe ins Wohnzimmer.
Auch hier mache ich zuerst einmal Licht und ziehe die Vorhänge zurück. Die gleiche graue Suppe wie vor dem Schlafzimmerfenster. Zum Glück habe ich gestern Abend nicht das Heizungsthermostat zurückgedreht. Daher ist es im Zimmer angenehm warm und gemütlich.
Na ja, Gemütlichkeit sieht in der Regel anders aus. Auf dem Tisch und in einigen freien Ecken stehen noch Umzugskartons, die ich gestern nicht geschafft habe auszupacken.
Was soll‘s, denke ich. Das hat Zeit bis später. Es ist warm und wenn ich geduscht, mir einen Kaffee aufgebrüht und ein Brötchen aufgebacken habe, beginnt der Tag doch recht positiv.
Auf meine erste Wanderung will ich auf keinen Fall verzichten – ich muss einfach raus. Nachdenken, was geschehen ist abhaken und einfach den Kopf frei bekommen.
Nach dem Frühstück ziehe ich mich warm und regenfest an und verlasse mein neues Zuhause.
Beim Verriegeln der Haustür fällt mein Blick auf das Namensschild an der Klingel: „Isabelle Kern“.
Der Vermieter hatte das bereits vor Tagen veranlasst. Glücklich bin ich nicht darüber, aber ich werde demnächst sowieso wieder meinen Mädchennamen annehmen. Dann wird auch der Name „Kern“ nur noch „Schall und Rauch“ sein. Gott sei Dank.
Nachdem ich den Ort hinter mir gelassen habe, orientiere ich mich an der Straße nach Troisdorf. Am Waldrand führt ein Weg parallel zur Straße. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich diesem Weg gefolgt bin. Irgendwann biege ich links ab in den Wald hinein. Mehrmals biege ich rechts und dann links in einen anderen Weg ein. Ich habe kein konkretes Ziel, nicht einmal eine geplante Richtung und eine Wanderkarte habe ich auch nicht dabei.
Im Laufe des Vormittags gesellt sich zu dem eintönigen Grau leichter Regen hinzu. Die Sicht wird dadurch noch schlechter. Aber ich habe nicht vor, mir den Wald und die Landschaft anzusehen – heute nicht. Ich will meine Sorgen und Gedanken im Kopf ordnen. Will meinen Kopf regelrecht ausmisten.
Ich ziehe meine Kapuze über und stopfe die Hände tief in die Taschen meiner Regenjacke.
Zu viele Gedanken schwirren unkontrolliert durch meinen Kopf, und je mehr ich nachdenke, desto verwirrender werden sie. Das hat zumindest den Vorteil, dass ich abgelenkt bin und den Regen und die Kälte nicht so spüre.
Immer wieder frage ich mich, wieso ich monatelang nichts bemerkt hatte. Macht Liebe wirklich blind?
Seltsamerweise spüre ich jetzt noch immer das Gefühl, das Gefühl der Geborgenheit. Keine Frage, ich habe Ronni geliebt.
Über vier Jahre lebten wir zusammen – glücklich zusammen. Damals in Duisburg hatten wir uns kennengelernt. Als ich dann in Bonn die Stelle in der Anwaltskanzlei antrat, hatten wir Zweifel, ob unsere Liebe diese Wochenendbeziehung überstehen würde. Ronni besuchte mich jedes Wochenende in meiner Wohnung in der Pension in Poppelsdorf. Ich weiß es noch so genau. Manchmal, wenn die Sehnsucht zu großwurde, kam er sogar für ein paar Stunden abends in der Woche nach Bonn. Diese wenigen Stunden waren meistens schöner und intensiver als ein ganzes Wochenende. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis Ronnis Versetzungsantrag nach Bonn stattgegeben wurde. Zu diesem Glück gesellte sich noch der Zufall, dass er wieder mit Frank Eisenstein zusammen arbeiten konnte, der bereits in Duisburg fünf Jahre sein Chef war.
Wie war ich doch selig, als er Weihnachten vergangenen Jahres endlich um meine Hand anhielt. Die standesamtliche Trauung fand im kleinen Kreis statt. Meine Eltern und meine jüngere Schwester, die Trauzeugin war, waren aus Spanien gekommen. Ronnis Eltern waren selbstverständlich auch da. Da er keine Geschwister hat, hatte er Frank Eisenstein gefragt, ob er Trauzeuge werden möchte. Natürlich sagte Frank gerne zu und ich freute mich ebenfalls. Schließlich kenne auch ich Frank seit Jahren und die beiden Männer sind gute Freunde, die die meiste Zeit des Tages beruflich miteinander verbringen und viel zusammen erlebt haben.
Im Juni feierten wir eine wunderschöne Hochzeit. Die Trauung in der kleinen Kirche, mein weißes, tief ausgeschnittenes Brautkleid und mein Mann im dunkelbraunen Anzug mit Fliege. Er sah so toll aus – mein Mann. Wie war ich doch stolz, erinnere ich mich etwas wehmütig.
Es wurde ein riesiges Fest. Alle Verwandten aus meiner Heimat waren angereist. Viele Freunde von mir und von Ronni. Ich erinnere mich noch genau: Sogar Frank hatte mit mir getanzt – und sogar gut getanzt. Das hätte ich dem etwas linkisch wirkenden Hauptkommissar gar nicht zugetraut. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob er nicht vorher, extra für die Hochzeit einen Tanzkurs besucht hat.
Doch das ist jetzt alles überholt und Vergangenheit. Ich muss nach vorne schauen. Nur das Jetzt und die Zukunft zählen!
Als ich mit der Zunge über meine Oberlippe fahre, spüre ich einen salzigen Geschmack. Sind das Reste von Tränen? Habe ich geweint und es im Regen nicht einmal bemerkt?
Seltsam, dass mich nach all den Ereignissen der letzten Zeit unverhofft diese romantische Stimmung überkommt.
Gerade bin ich einem steilen Weg in ein Tal hinab gefolgt und erreiche eine Weggabelung. Ich schaue nach rechts, nach links und kann keinen Entschluss fassen, welche Richtung ich einschlagen soll. Wo bin ich hier? Irgendwo drüben zwischen den Bäumen scheint ein Bach oder Fluss zu fließen. Aber auch diese Erkenntnis ist für mich nicht hilfreich. Ich habe keine Ahnung, wo ich mich befinde. Theoretisch bleibt nur die eine Möglichkeit, den bisher zurückgelegten Weg zurückzugehen. Praktisch habe ich enorme Zweifel, den Rückweg wieder zu finden. Es ist kein Mensch zu sehen, den ich fragen könnte, was bei dem Wetter nicht verwundert. Intuitiv entscheide ich mich für den linken Weg durch das Tal.
An der rechten Seite des Weges, der Seite, wo der Bach fließt, ist der Waldboden mit ausgedehnten Wasserlachen überzogen. Blätterlose Äste und Ranken hängen wie abgestorben an den Bäumen. Aus den Wasserlachen ragen verrottete Baumstämme heraus. Ein modriger Geruch erfüllt den Wald. Die linke Seite des Weges bildet ein mit Bäumen und Sträuchern bewachsener Hang, der steil hoch in den grauen Dunst des „Hundewetters“ führt.
Trotz des Regens nehme ich hin und wieder ein Rascheln und das Geräusch brechender Äste hinter den Sträuchern wahr. Irgendwie machen mich diese Geräusche nervös. Grundsätzlich bin ich kein ängstlicher Mensch, aber ist es auszuschließen, dass mich jemand beobachtet? Zumindest bin ich mir sicher, dass bei diesen Witterungsverhältnissen niemand zufällig hinter irgendwelchen Sträuchern umherirrt. Falls da jemand sein sollte, kann er sich nur meinetwegen dort aufhalten. In mir besteht eine Anspannung, die ich nicht leugnen und ignorieren kann.
Ich beschleunige meine Schritte. Der Weg ist breit und ich versuche, möglichst viel Abstand zwischen mir und dem Hang zu halten. Unablässig suchen meine Augen die linke Seite des Weges und das Buschwerk ab.
Sollte tatsächlich jemand meinen neuen Aufenthaltsort herausbekommen haben? Und das bereits am ersten Tag? Eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen.
Plötzlich schießen zwei Rehe wie aus dem Nichts vom Abhang über den Weg und verschwinden zwischen den Bäumen auf der anderen Seite des Weges.
Wie angewurzelt bleibe ich stehen und schaue ihnen hinterher. Erleichterung breitet sich in mir aus, aber noch kein Aufatmen. Zu sehr hat mich der Gedanke beschäftigt, dass mir jemand auflauert. Aber wer soll das sein? Der Einzige, der vielleicht einen Grund dazu hätte, kann es nicht mehr.
Der Rest des Weges verläuft unspektakulär, trüb, grau und regnerisch. Alles wie gehabt.
Ich erreiche eine Straße, die aus dem Tal den Berg hinauf führt. Als ich auf dem Straßenschild den Namen „Rambusch“ lese, bin ich stolz auf meine Intuition, dass ich den richtigen Weg gewählt habe. Den Namen kenne ich und weiß, die Straße führt zum Heidedorf Troisdorf-Altenrath in der Wahner Heide, in dem ich seit gestern wohne.
Völlig durchnässt erreiche ich die Haustür zu meiner Wohnung. Ich streife die Kapuze vom Kopf und schüttle den Regen von meiner Jacke und damit auch die sentimentale Anwandlung und Ängste, die mich unterwegs überkommen hatten. Wieder zufrieden mit mir, öffne ich die Haustür.
Dabei zwinge ich mich, das Klingelschild nicht anzusehen.
Im Flur hänge ich meine nasse Jacke an die Garderobe und entledige mich ebenfalls der nassen Jeans. Im Wohnzimmer ist es gemütlich warm. Ich gehe auf direktem Weg zum Kühlschrank in die Küche, die sich in einem kleinen Raum befindet, der sich direkt am Wohnzimmer anschließt. Im Tiefkühlfach finde ich die letzte der beiden Pizzen, die ich gestern gekauft habe. Die muss für heute reichen. Morgen werde ich einen Großeinkauf machen und danach die restlichen Kartons auspacken.
Jetzt will ich erst einmal Siesta halten. Dazu verkrieche ich mich in mein quietschendes Bett und ziehe mir die Decke über den Kopf. In mir fließt nun einmal spanisches Blut und ich bekenne mich zu diesem sinnvollen Ritual. Sie gehört zu uns Spaniern wie Tapas, Flamenco oder Pablo Picasso. Nur eine ausgiebige Siesta kann die Menschen vor Verrohung und Aggressivität bewahren. Mich diesen Gefahren aussetzen, indem ich auf die wohlverdiente Siesta nach dieser anstrengenden Wanderung verzichte, will ich nun wirklich nicht.
Diese Gedanken sind das Alibi für meine Alltagsflucht ins Bett und ich schlafe darüber ein.
Unsere Hochzeit lag zwei Monaten hinter uns und war nur noch Erinnerung. Wobei die Erinnerung bei Ronni weiter entfernt schien, als bei mir.
Vielleicht lag es daran, dass Männer im Allgemeinen realistischer denken und fühlen als wir Frauen. Ein Ereignis, sei es auch noch so schön gewesen, das vorbei ist, wird bei ihnen einfach abgehakt. Ich bin dagegen romantischer und hänge den Erinnerungen in ruhigen Minuten noch lange nach. Das soll nicht bedeuten, dass Ronni die Hochzeit nicht genossen hat. Im Gegenteil. Ich bin mir sicher, dass der Tag unserer Hochzeit für ihn, genauso wie für mich, der schönste Tag im Leben war.
Damals waren wir beide ausgeglichen. Bei Ronni im Kommissariat ging es ruhig zu. Er hatte keine spektakulären Fälle zu lösen. Wie er mir erzählte, erledigte er überwiegend Schreibtischarbeit, die in der Vergangenheit liegen geblieben war.
Bei mir im Büro hielt sich der Stress ebenfalls in Grenzen. Natürlich hatten wir Frauen vor und nach der Hochzeit viel miteinander zu reden. Jeden Tag musste ich sie über den Stand der Vorbereitungen informieren und jede Kollegin sagte ihre Meinung dazu und gab ihre Ratschläge. Später dann, sowohl nach der standesamtlichen und insbesondere nach der kirchlichen Trauung verlangte man von mir, dass ich jedes Detail, und war es noch so unbedeutend, bis ins Kleinste schilderte. Als ich dann einige Tage später von den meisten Fotos Papierdrucke hatte anfertigen lassen, stürzten sie sich darauf und alles, was ich vorher bereits geschildert hatte, wurde nochmals allgemein erörtert.
Ich war unendlich stolz, dass alle Kolleginnen meinen Mann toll fanden und mich um ihn beneideten. Lediglich mein Juniorchef schaute mich seitdem recht misslich an. In der Vergangenheit hatten wir hin und wieder miteinander geflirtet – für mich harmlos und völlig unverfänglich. Trotzdem, mir hatte es Spaß bereitet und mein Selbstwertgefühl aufgewertet. Seinerzeit war ich mir nicht im Klaren darüber, ob es bei ihm auch nur Spaß war, oder ob bei ihm mehr dahinter steckte. Einige Male bemerkte ich, wie er mich beobachtete. Sein Gesichtsausdruck offenbarte jedes Mal Enttäuschung oder Resignation. War er frustriert, da ich mich für Ronni entschieden hatte? Es hatte den Anschein und mich freute es im Geheimen.
Es war an einem Sonntag, ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen. Es war schwül und es hatte den ganzen Tag über gewittert. Am Abend hatte der Regen aufgehört und wir saßen auf dem Balkon und ein neues Gewitter kündigte sich an. Wir sahen dem Zucken der Blitze in der Ferne zu. Der Donner war als leises Gemurmel zu vernehmen und schien noch weit weg zu sein. Von Minute zu Minute kam das Gewitter näher und das grollende Geräusch wurde lauter. Ronni hatte eine Flasche Rotwein von der Ahr geöffnet und wir flirteten wie ein frisch verliebtes Paar miteinander. Als sich der Wind mehr und mehr erhob, war es mit der Gemütlichkeit auf dem Balkon dahin. In Kürze würde das Gewitter über uns hereinbrechen. Wir nahmen unsere Gläser und die Flasche Rotwein und zogen ins Wohnzimmer um. Hier war es im Gegensatz zum Balkon stickig und schwül.
Es dauerte nicht lange, bis wir uns die Kleider abgestreift hatten und uns liebten. Draußen krachte der Donner und der Regen schlug gegen die Fensterscheibe.
Wenn ich daran denke, erschauere ich noch heute.
Als wir den Höhepunkt erreichten, stöhnte Ronni „Lisa“. Dieses Wort ließ mein Herz erfrieren. Ich versuchte aber, mir in diesem Moment nichts anmerken zu lassen.
Später lagen wir schweigsam nebeneinander. Ronni schien kurz vor dem Einschlafen zu sein. In mir ging alles drunter und drüber. Meine Gedanken, die ich nicht abstellen oder eindämmen konnte, hämmerten in meinem Gehirn. Ich rief mir immer wieder den Augenblick in Erinnerung- Hatte er tatsächlich „Lisa“ gestöhnt oder meinte er vielleicht mich und stöhnte „Liebste“? Ich fand keine Antwort.
Die Eifersucht und das Misstrauen gegen Ronni wuchsen wie ein Geschwür in mir und meine Stimmung war verdorben. Es war jedoch nicht nur die Eifersucht, die an meiner Seele nagte. Die Tatsache, dass mir dadurch die Angst vor Augen geführt wurde, ihn zu verlieren, wog genauso schwer.
So, wie er den Namen gestöhnt hatte, empfand ich das als einen grausamen Schlag gegen mein Selbstbewusstsein. War doch bisher die lustvolle Nennung meines Namens ein sicheres Zeichen für seinen Höhepunkt gewesen. Und jetzt das.
„Lisa“ war natürlich nicht nur ein Name, für eine für mich völlig unbekannte Frau. Mit „Lisa“ verband ich sofort die vor einiger Zeit ermordete Kollegin meines Mannes.
War da mehr als eine berufliche Beziehung gewesen? Sicherlich, beide mochten sich, das war seinerzeit offensichtlich. Aber wieso stöhnte mein Mann ihren Namen, während wir uns liebten?, grübelte ich.
Hatte ich mich tatsächlich nur verhört oder war ich hysterisch?
Ronni schien meinen Schock nicht bemerkt zu haben. Womöglich lag es am Wein – er war eingeschlafen. Voller Ärger vernahm ich seine gleichmäßigen Atemzüge. War das ein Zeichen für sein ruhiges Gewissen oder lag es allein am Rotwein?
Wenn ich heute an die Nacht von damals denke, erinnere ich mich, dass ich in dieser Nacht keine Minute geschlafen habe.
Die Zeit, in der mein Mann mit Lisa Brenner zusammen gearbeitet hatte, flog als zusammenhanglose Bildfetzen an meinem inneren Auge vorbei. Manchmal waren die Bilder klar, manchmal verschwommen oder nur angedeutet. Ein Bild sprang mir dabei immer wieder vor Augen. Das Gesicht von Lisa Brenner – und dieses Bild war klar und deutlich. Manchmal, wenn mich die Müdigkeit überkam, lächelte mich das Gesicht hämisch an. Sofort war meine Müdigkeit verflogen und ich war wieder hellwach.
In dieser Nacht liefen in meinem Kopf nochmals Ronnis Ermittlungen mit Lisa Brenner im damaligen, nebligen Herbst ab.
Er hatte damals zwei Morde an Frauen aufzuklären, die grausam hingerichtet worden waren. Die erste Leiche wurde auf der Burg Blankenberg gefunden. Die zweite auf der Burg Windeck. Der Mörder hatte furchtbare Rituale aus dem Mittelalter für seine Tat verwendet. Lisa war gerade von Köln nach Bonn versetzt worden und Ronnis Chef hatte sie ihm zur Unterstützung an die Seite gestellt. Für sie war es der erste Mordfall und eine riesige Herausforderung. Im Laufe des Falles stellte sie sich überraschend als große Unterstützung für Ronni dar und er schätzte sie immer mehr als kompetente Kollegin und Partnerin. Da der Fall völlig undurchsichtig war und eine mögliche Aufklärung in weiter Ferne zu sein schien, hatte sogar Frank Eisenstein seinen vorgezogenen Ruhestand beendet. Für ihn, Ronni und Lisa war es unzweifelhaft: Der Täter hasste Frauen, die ihren Mann verlassen hatten. Er sah sich als legitimer Rächer der betrogenen und verlassenen Ehemänner. Auch Lisa hatte eine gescheiterte Beziehung hinter sich. Ihre Leiche fand man schließlich auf dem Burghof der Burg Wissem in Troisdorf. Als der Psychopath dann auch noch mich als Geisel in seine Gewalt bekam, brach für Ronni eine Welt zusammen. Gott sei Dank konnte er mich retten und den Mörder überwältigen, der dabei vom Dach eines Hochhauses stürzte. Mehr hatte ich auch später nicht erfahren. Wahrscheinlich wollte man mir aus Rücksicht auf meine damalige labile psychische Verfassung weitere Einzelheiten ersparen.
Für mich waren das seinerzeit die schlimmsten Stunden. Ich war noch nie einem Menschen so dankbar, wie Ronni. Er hatte mein Leben gerettet.
Doch was war das für ein Leben. Mein Leben war ziemlich aus den Fugen geraten. In mir herrschte nur noch Chaos und Angst. Viele Therapiestunden bei einer guten Psychologin brachten mich schließlich wieder in ruhiges Fahrwasser und zurück in ein normales Leben.
Einen Hinweis auf ein mögliches Verhältnis mit Lisa hatte Ronni mir in der gesamten Zeit nie geliefert.
Wenn ich heute hin und wieder an jene Zeit zurückdenke, erhebt sich in mir wieder das Gefühl der Angst und des Chaos. Doch heute kann ich mit diesem Gefühl umgehen und weiß, dass alles vorbei ist – endgültig.
Ronni unterstützte mich, wo er nur konnte. Lisa Brenner war kein Thema, obschon ich ihm anmerkte, wie sehr ihn ihr Tod getroffen hatte. Für mich war das nachvollziehbar, schließlich war sie eine Kollegin – eine ausgezeichnete, sympathische Kollegin.
Doch mehr? Zuneigung oder Liebe?
Nie hätte ich daran einen Gedanken verschwendet.
Und in dieser Nacht, während das Gewitter tobte, stöhnte er im schönsten Augenblick ihren Namen!
Am nächsten Tag ging Ronni zum Dienst, als wäre nichts gewesen. Für ihn war natürlich auch nichts geschehen. Ich hatte mich bemüht, mir nichts anmerken zu lassen und ihn auch nicht zur Rede gestellt. Ich war unsicher und brauchte Zeit zum Nachdenken.
Nachdem er das Haus verlassen hatte, meldete ich mich im Büro krank. Ich konnte mich unmöglich mit gut gelaunten Kolleginnen umgeben und irgendwelche, für mich belanglose Arbeiten erledigen. Zuerst wollte ich mich ablenken und mir positive Gedanken machen, die vergangene Nacht vergessen. Wahrscheinlich waren meine Gedanken und Befürchtungen völlig abwegig und unbegründet.
Tatsächlich unbegründet? Da war sie wieder: Die Angst, die Eifersucht.
Ich holte das Fotoalbum von unserer Hochzeit aus dem Schrank. Langsam blätterte ich Seite für Seite um. Ich merkte, dass ich mir zwar die Bilder anschaute, sie aber nicht bis in mein Gehirn drangen. Das Umblättern wurde fahriger, bis ich das Fotoalbum zuschlug. Ich war wütend über mich selbst.
Den Tag über lief ich unruhig in der Wohnung auf und ab. Mehrmals versuchte ich es nochmal mit den Hochzeitsfotos. Aber sobald ich das erste Bild sah, auf dem mein Mann abgebildet war, schlug ich das Fotoalbum mit Wucht zu.
Ich war wütend und die Wut richtete sich mehr und mehr gegen Ronni, meinen Ehemann. Etwas war beschädigt worden, beschädigt in meinem Herzen.
Er rief an diesem Abend an, dass er mit Frank auf ein Bier in eine Kneipe in der Altstadt gehen würde.
Er kam spät nach Hause. Ich lag bereits im Bett. Ich wunderte mich über mich selbst, wie gefasst und ruhig ich kurz mit ihm sprechen konnte.
„Wie war es?“ – „Hattet ihr einen schönen Abend?“ – „Gibt es etwas Neues?“
Die üblichen Fragen, die eine Ehefrau stellt, wenn der Ehemann mit einem Freund unterwegs war und spät nach Hause kommt. Die Antworten waren dementsprechend knapp.
„Gut.“ – „Ja.“ – „Nein.“
Als er aus dem Bad ins Bett kam und mir einen Kuss gab, roch ich den Alkohol. Es war wohl mehr als ein Bier geworden. Er drehte sich um und schlief sofort ein.
Ich dagegen lag noch immer wach und ärgerte mich über seine Gleichgültigkeit und scheinbare Ruhe. Plötzlich erwachte ich. Ich musste wohl doch eingeschlafen sein. Die Uhr neben meinem Bett zeigte an, dass es zwei Stunden später war. Ronni wälzte sich neben mir unruhig von einer Seite auf die andere. Er schien zu träumen. Unverständliche Laute drangen aus seinem Mund.
Das sind die Folgen des zu reichlich genossenen Alkohols, dachte ich noch, als ich erschrak. Hatte ich richtig gehört?
Ich setzte mich auf und beugte mich über seinen Kopf. Er lag mit dem Rücken zu mir gewandt und ich musste mich
weit hinüberbeugen, um mein Ohr nahe an seinen Mund zu bringen.
Da, wieder. Ich hatte richtig gehört.
„Lisa“, war zwar nicht klar, aber unverwechselbar zu hören.
Nein, nicht schon wieder. Ich war außer mir. Ärger, Enttäuschung, Verletzung, alles überwältigte mich.
Ich schlug die Bettdecke zurück und rannte ins Wohnzimmer. Dort kauerte ich mich in die Sofaecke und schlang eine Decke um mich. Zuerst wollte ich die Tränen zurückhalten, aber ohne Erfolg. Dicke Tränen rannen über meine Wangen und ich schluchzte laut auf. Fassungslos, wütend, enttäuscht und gedemütigt fühlte ich mich.
Jetzt war ich überzeugt, nein, es stand fest: Ronni hatte eine Affäre mit Lisa!
Da war überhaupt nichts mehr zu beschönigen oder zu vertuschen. So war es einfach. Und ich dumme Kuh hatte nichts bemerkt. Noch viel schlimmer: Ich hatte ihn auch noch geheiratet.
Gefühlte drei Stunden saß ich auf dem Sofa, als sich die Schlafzimmertür öffnete. Ronni kam herein. Er setzte sich neben mich und schlang fast zärtlich den Arm um meine Schultern. Behutsam aber energisch drängte ich seinen Arm zurück.
„Wir müssen reden“, sagte ich zu ihm mit ernster Miene.
Er schaute mich verständnislos an. Wie sollte er auch verstehen, was mich erschütterte? Er hatte schließlich nicht bewusst Lisas Namen gestöhnt, als wir uns liebten. Mit Sicherheit konnte er sich auch nicht daran erinnern, dass er in dieser Nacht ihren Namen im Traum genannt hatte.
Trotzdem war ich wütend. Seine Unwissenheit machte es nichts besser, im Gegenteil, sie ärgerte mich maßlos. Mein Verdacht, dass er mich betrogen hatte, war einfach vorhanden. Ich hoffte inständig, dass er eine akzeptable und einleuchtende Erklärung vorbringen würde. Ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, wie ich bei einer Bestätigung meines Verdachts reagieren würde.
„Worüber müssen wir mitten in der Nacht reden?“, fragte er ahnungslos.
„Über Lisa!“, antwortete ich schnippisch.
„Über Lisa? Lisa ist tot. Du weißt, was geschehen ist. Was gibt es darüber noch zu reden?“
Er schaute mich fragend und irritiert an.
„Du hattest eine Affäre mit ihr!“, schleuderte ich im rücksichtslos und lauthals ins Gesicht.
„Als wir uns liebten, hast du im schönsten Augenblick nicht meinen Namen gestöhnt, sondern ihren. Und in dieser Nacht hast du von ihr geträumt und ihren Namen genannt. Das reicht doch bestimmt – oder?“, schrie ich außer mir vor Wut und Enttäuschung.
Mit einem Mal schien ihm klar zu sein, wie es um mich, um ihn und um uns stand.
Lange schaute ich ihm direkt in die Augen. Ich hatte nichts mehr zu sagen und konnte nur noch warten, wie er reagieren würde. Er konnte meinem Blick nicht standhalten und schaute vor sich zu Boden. War das bereits das Schuldeingeständnis? Angst kam in mir hoch – Existenzangst um unsere Beziehung.
Dann begann er zögernd zu reden. Immer wieder stockend erzählte er, wie er Lisa kennen und schätzen gelernt hatte. Dann stand er auf, ging zum Fenster und schaute in die Dunkelheit der Nacht hinaus. Immer mehr sprudelten die Worte und Sätze wie ein Wasserfall aus seinem Mund. Als hätten sie sich über Monate in ihm gestaut und nur auf ein Ventil zum Ablassen gewartet. Ich schaute nur seinen Rücken an und wollte nicht glauben, was ich hörte. Gleichzeitig war ich unfähig, ihn zu unterbrechen oder ein Wort zu sagen.
Manchmal fuhren seine Arme fahrig durch die Luft. Es schien, als hätte er mich völlig vergessen.
Bis ins kleinste Detail erzählte er:
Wie er Lisa aufgesucht hatte und das Nachtsichtgerät für ihren Einsatz gebracht hatte.
Wie sie ihm aus Versehen den Kaffee über die Hose geschüttet hatte.
Wie er sich im Badezimmer die Hose ausgezogen hatte und trocknen wollte.
Wie sie nach ihm geschaut und sich an ihm vorbeigedrängt hatte, um ihm ein Handtuch aus dem Schrank zu geben. Wie sie dabei vor ihm stehen geblieben war und sich an ihn gedrückt hatte.
Wie er schließlich die Kontrolle über sein Gleichgewicht und dann über sich selbst verloren hatte und sie beide in der Badewanne und später im Bett gelandet waren.
Er ließ bei seiner Schilderung noch nicht einmal aus, wie er sich gefühlt hatte und was er dabei empfunden hatte. Wie er Lisa in diesen Augenblicken gemacht und begehrt hattee.
Es schien, als wollte er mit der Vergangenheit abrechnen, reinen Tisch machen.
Aber geliebt, nein, das hatte er sie nicht. Lieben würde er nur mich. Seiner Meinung nach war es ein Ausrutscher gewesen. Er war von ihr verführt, übertölpelt worden.
Als er abschließend leidenschaftslos, fast nüchtern bemerkte, dass Lisa außerdem jetzt tot sei und sie keine Gefahr mehr bedeuten würde, stand ich wortlos auf, zog mich an und verließ das Haus. Mir fehlten die Worte. Ich konnte nichts dazu sagen, ich konnte ihn noch nicht einmal mehr ansehen. Planlos lief ich durch das nächtliche Bonn. Als es dämmerte, drehte ich den Schlüssel um und betrat wieder unsere Wohnung. Mein Mann saß noch immer auf dem Sofa und starrte die Zimmerdecke an und dann mich.
Keiner von uns sagte ein Wort. Ich ging ins Schlafzimmer und schloss mich dort ein. Als ich am nächsten Tag kurz vor Mittag ins Wohnzimmer ging, war Ronni nicht mehr da. Auf dem Tisch lag ein Zettel, auf dem stand lediglich, dass er zum Büro gefahren war und dass er mich anrufen würde.
Gegen Mittag klingelte das Telefon. Im Display erkannte ich die Nummer von Ronnis Büro und überlegte, ob ich abheben sollte. Ich entschloss mich, nicht abzuheben. Nach fünf Minuten klingelte es erneut. Es war wieder seine Nummer. Ich ließ es lange klingeln, nahm dann doch ab, ohne mich zu melden.
„Ich bin es“, begann er, als wenn ich das nicht wüsste.
„Können wir heute Abend noch mal darüber reden? Es tut mir wirklich so leid. Ich liebe dich doch.“