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www.lenos.ch

Kaouther Adimi

Steine in meiner Hand

Roman

Aus dem Französischen
von Regina Keil-Sagawe

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Die Autorin

Kaouther Adimi, geboren 1986 in Algier, lebt und arbeitet seit 2009 in Paris. Ihr erster Roman, Des Ballerines de papicha, erschien 2010 in Algerien und wurde 2011 unter dem Titel L’Envers des autres auch beim französischen Verlag Actes Sud aufgelegt; die Autorin wurde dafür mit dem Prix littéraire de la vocation und dem Prix littéraire de l’Association France-Algérie ausgezeichnet. Nach Des pierres dans ma poche, nominiert für den Prix de la Littérature Arabe, ist 2017 ihr dritter Roman, Nos richesses, bei Seuil erschienen.

Die Übersetzerin

Regina Keil-Sagawe, geboren 1957 in Bochum, arbeitete nach ihrem Studium der Romanistik und der Germanistik als Universitätsdozentin und Kulturjournalistin. Seit rund dreissig Jahren übersetzt sie maghrebinische Belletristik, u.a. von Boualem Sansal, Yasmina Khadra, Azouz Begag, Leïla Marouane, Albert Memmi, Driss Chraibi und Youssouf Amine Elalamy; Lyrik u.a. von Habib Tengour und Mohammed Dib. Als Mitglied der Weltlesebühne e.V. organisiert und moderiert Regina Keil-Sagawe Übersetzungslesungen und leitet Workshops zu literarischen Übersetzungen. Sie lebt in Heidelberg. www.keil-sagawe.de.

Die Übersetzung aus dem Französischen wurde vom SüdKulturFonds in Zusammenarbeit mit Litprom e.V. – Literaturen der Welt unterstützt.

Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Inhalt

Die Autorin

Die Übersetzerin

Steine in meiner Hand

Titel der französischen Originalausgabe:

E-Book-Ausgabe 2017

Für Nesrine

Seltsam, unglaubhaft; sie war nie so glücklich gewesen. Nichts konnte langsam genug gehen; nichts zu lange dauern. Nichts kam der Lust gleich, dachte sie, die Sessel zurechtrückend, ein Buch ins Regal stossend, die Triumphe der Jugend hinter sich gebracht zu haben, sich im Prozess des Lebens verloren zu haben, es wiederzufinden, mit einem Schock des Entzückens, wenn die Sonne aufging, wenn der Tag zur Neige ging.

Virginia Woolf, Mrs Dalloway

AUS DEM POLIZEIBERICHT. Eine Dreissigjährige ist wegen Mordes an ihrer Nachbarin verhaftet worden. Diese habe sie verhöhnt, indem sie ihr erklärte, sie werde nie im Leben einen Mann finden, der verrückt genug sei, sie zu heiraten. Die Mörderin habe mehrfach auf die alte Dame eingeschlagen und sie zuletzt mit ihrem Gürtel erwürgt, weil sie noch ein wenig geatmet habe.

Ich hätte es genauso gemacht.

Das allererste Mal.

Als ich das erste Mal, seit ich nach Paris gegangen war, nach Algier zurückkam, war ich fünfundzwanzig und konnte es kaum erwarten, meine Familie wiederzusehen.

Die Maschine war gerade auf dem Flughafen Houari Boumédiène gelandet.

Ich lächelte den schnauzbärtigen Polizisten freundlich an, der mit grimmiger Miene meine Papiere kontrollierte. Er hob den Kopf, musterte mich und blaffte: »Haben Sie ein Problem?«

Naiv wie ich war, nickte ich und begann ihm zu erzählen, wie nervenaufreibend die stundenlange Verspätung meines Fluges mit der nationalen Fluggesellschaft für mich war, wie beängstigend die unerhörte Zahl an Präsidentenporträts, die jeden einzelnen Reisenden zu überwachen schienen. Ganz zu schweigen von dieser Handvoll Männer, die träge an den Wänden lehnten, schlecht rasiert, mit gegeltem Haar und Kippe im Gesicht, dreckigen Schuhen, schmutzigen Gedanken und dreisten Sprüchen auf den Lippen. Auch wenn ich schneller ging, es änderte nichts – ihre penetranten Blicke deprimierten mich. Diese Männer: Vorspiel zum Algerien des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Als Vergeltungsmassnahme setzte der Schnauzbärtige eine seiner Kolleginnen auf mich an, die geschminkt war wie ein Transvestit, und bat sie, meine Handtasche einer gründlichen Inspektion zu unterziehen. Sie tastete mir honigsüss lächelnd und betont langsam den Busen ab, die Schlampe, es hätte ja ein Journalist, ein Schriftsteller oder ein Menschenrechtsaktivist dort untergekrochen sein können.

Ich war wieder daheim.

Eines Sonntagnachmittags in Paris hatte mich plötzlich das Heimweh gepackt. Ein tückischer Impuls, der mich daran erinnerte, wie viele Monate ich nun schon von zu Hause weg war.

Und selbst heute, nach all den Jahren, muss ich nur irgendwo eine jener roten Ameisen sehen, wie sie damals in rauen Scharen durch meine Kindheit wuselten, und schon fängt mein Herz an, wie wild zu schlagen, und ich halte hektisch nach einem Flugticket Ausschau, voller Angst, ich könne einen Teil meiner Seele in dieser europäischen Stadt verloren haben, in der ich inzwischen lebe. Ich muss an das Grab meines Vaters denken, das Lachen meiner Schwester, die Ängste meiner Mutter, und schon greife ich zum Hörer und rufe an.

»Ich komme nächste Woche nach Hause.«

»Für immer?«

»Aber nein … für ein paar Tage.«

»Und wann gedenkst du für immer zurückzukommen?«

»Ich weiss nicht … bald …«

Mit der nationalen Fluggesellschaft zu reisen, das gibt schon einen Vorgeschmack. Das heftige Zuknallen der Gepäckfächer, der Schweissgeruch, die schrillen Schreie der Kinder, die indiskreten Fragen der alten Mütterchen, die Aggressivität der Stewardessen und das Geleier der Koranverse, wenn der Flieger abhebt, alles Details, die dafür sorgen, dass ich mich meinem Zuhause schon ein bisschen näher fühle. Ich kann es kaum erwarten, wieder einen Fuss auf diesen Boden zu setzen, wieder umhüllt zu werden vom blendenden Licht.

Die erste Rückkehr nach Algier also, nach sechs Monaten in Paris. Die Angst, jemand anderes geworden zu sein. Der Drang, Anzeichen einer möglichen Veränderung zu unterdrücken.

Auch ein Polizist, der unter einem Nichtraucherschild eine rauchte, verlangte meine Papiere zu sehen. Ich hielt ihm meinen algerischen Pass und meine französische Aufenthaltserlaubnis hin. Er gab sie mir blicklos, mit verächtlicher Miene zurück. Ich stammelte ein dickes Dankeschön. Meine komplette Schulzeit hindurch, vom fünften bis zum achtzehnten Lebensjahr, hatte ich einmal pro Woche mit meinen Klassenkameraden im Schulhof die Nationalhymne gesungen. Mit frisch gebügelter, bis zum Kinn zugeknöpfter rosa Bluse stand ich da, mit properem Gesicht, kurzgeschnittenen Nägeln, die Hand auf dem Herzen, und schaute zu, wie die algerische Flagge kühn bis zur Mastspitze hochgezogen wurde. Roter Halbmond und Stern auf grün-weissem Grund vor blauem Himmel. Ich hatte Männer in Uniform gezeichnet, die tapfer dem Feind trotzten. Ich hatte Preisgedichte auf unsere ruhmreiche Armee und unsere mutigen Polizisten auswendig gelernt. Sie waren tapfer, sie waren heldenhaft, wir schuldeten ihnen ewigen Dank.

Gegenüber der Obrigkeit fühle ich mich verpflichtet, danke zu sagen.

Der Polizist geruhte nicht zu reagieren. Hier mag man die, die drüben leben, nicht. Man siedelt uns zwischen den Vaterlandsverrätern und den Anhängern der Opposition an. Leute, die Probleme machen. Die keine ehrlichen Absichten haben. Ich nehme das nicht persönlich. Früher war ich genauso. Vor ein paar Jahren, als ich noch in Algier lebte, konnte ich diese Leute auch nicht ausstehen, die ihr Land ohne jede Reue für ein Leben drüben aufgaben und dann für ein paar Tage in meiner Heimat einfielen, weil das berühmte Heimweh sie eines Sonntagnachmittags jäh überfallen hatte. Sollen sie doch krepieren, dachte ich damals. Soll sie doch krepieren, wird der Polizist sich wohl sagen, während er meinem Blick ausweicht. Ich habe ihn angelächelt, um das Versprechen zu halten, das ich Amina, meiner Freundin aus Kindertagen, gegeben hatte. Sie ist der Ansicht, ein wenig Zuneigung würde unser Land vom Klima der Gewalt befreien, wir müssten lernen zusammenzuleben, trotz der Bosheit, trotz der Steine. Und sie sind zahlreich, die Steine.

Während ich in der Schlange stand, um meine Papiere ein x-tes Mal irgendeinem Gesetzesvertreter zu zeigen, dachte ich an andere Polizisten, mit denen ich zu tun gehabt hatte, als ich fünfzehn war. Drei rote Pickel zieren zu der Zeit meine Stirn. Ich habe mein Haar zum Zopf geflochten und rosa Glitternagellack aufgetragen – ohne Wissen meiner Mutter. Ich habe eine Heidenangst beim Gedanken, sie könnte etwas merken. Aber ich kann auf das Stillschweigen meiner kleinen Schwester setzen: Die trägt selber heimlich welchen auf, seit sie zehn ist. Drei schlaksige Jungs, kaum älter als ich, verfolgen mich auf dem Weg zum Collège, bombardieren mich mit sämtlichen schlüpfrigen Beleidigungen ihres Repertoires, ziehen mich am Zopf, schubsen mich herum. Entnervt bitte ich ein paar Polizisten um Hilfe. Sie lachen und befehlen uns zu verschwinden. Noch ein paar Beleidigungen, und meine Verfolger lassen mich in Ruhe, nachdem sie ein anderes Mädchen entdeckt haben, diesmal mit roten Fingernägeln.

Vor dem Förderband beschlich mich bei dieser ersten Rückkehr jäh die Angst, das monströse Maul des Gepäckkarussells gäbe meinen Koffer nicht mehr her. Und ich habe mir geschworen, das nächste Mal eine algerische Flagge dranzubinden, um ihn schneller wiederzuerkennen und jedem zu zeigen, der es bezweifeln möchte, dass ich Algerierin bin, sogar wenn ich drüben wohne …

Das ist jetzt fünf Jahre her, und seitdem hat sich nichts geändert.

»Hier ist deine Mutter.«

»Ich weiss, Mama.«

»Wo bist du?«

»Im Freien.«

»Wo im Freien?«

»Vor dem Haus.«

»Oh, dann komm heute mal nicht so spät zurück.«

»Was gibt es denn, Mama?«

»Ich habe eine grosse Neuigkeit für dich, ich musste dich einfach anrufen. Ich bin ja so froh: Deine kleine Schwester wird heiraten!«

»…«

»Hast du gehört? Jetzt bist nur du noch übrig, die wir verheiraten müssen!«

Am Abend vor Mamas Anruf laufe ich durch die nächtliche Rue des Martyrs, mit nichts als einem alten Schlafanzug bekleidet. Das Oberteil ist ein altes Hemd von Papa mit abstehendem Kragen. Das Unterteil wurde zum halben Preis im Ausverkauf erstanden. Der Gummizug ist längst gerissen, und die Hose hält überhaupt nur dank einer Haarspange.

Ich wohne in der Rue des Martyrs 59, auf der besseren Strassenseite. Weiter oben kümmert der Boulevard de Rochechouart sich darum, die Nachtschwärmer in den Griff zu bekommen. Noch weiter oben ist Montmartre. Links Pigalle mit seinen Bars, seinen Sexshops, seinen Touristen. Rechts Barbès mit seinem sagenhaften Louxor, seinen farbenfrohen Auslagen bunter Stoffe und Tücher, seinen hippen Trendsettern und Immigranten, auf die die Polizei nonstop ein Auge hat. Ganz unten eine Kirche und eine Synagoge.

Um diese Uhrzeit trifft man in den Hauseingängen und schummrigen Bars nur noch die üblichen Verdächtigen.

Da ist Clothilde, obdachlos, im beigefarbenen Regenmantel. Schleppt ständig Tüten mit Lumpen, Plastikflaschen, einen alten Koffer und Videokassetten mit sich herum. Mit ihrem weiten Kleid, ihrer schmierigen, aber kostbaren Spitzenbluse, ihren langen Fingern, an denen billige Ringe funkeln, und ihrem roten Halstuch sieht sie aus wie eine Aristokratin, die von ihren Zofen sitzengelassen wurde. Sie hockt immer im Eingang einer Bäckerei, die das Brot doppelt so teuer verkauft wie alle anderen. Das Mehl stammt anscheinend aus Schweden, der Ofen aus Japan und die Bäcker aus einer renommierten Ausbildungsstätte. Letzte Woche hat der Besitzer Clothilde mit Madame angesprochen. Sie hat ihm ins Gesicht gespuckt. Clothilde hat noch nie einem Mann gehört, sie ist eine Demoiselle von fünfzig Jahren und gedenkt das auch zu bleiben.

Ihre Schlafstätte ist auf einem kleinen Platz direkt vor einem Karussell. Jeden Morgen trinkt sie einen heissen Kaffee, den ihr einer der Händler aus der Strasse spendiert. Sie beobachtet uns, die wir in ihrem Umfeld leben. Die Kinder trauen sich nicht, ihrer Bank zu nahe zu kommen, dabei können sie gar nicht anders, als Clothilde zu streifen, wenn sie aufs Karussell wollen.

Sie gehen dabei keinerlei Risiko ein.

In besagter Nacht leistet mir Clothilde unter einem Baum Gesellschaft, und wir bewundern gemeinsam den Himmel, den ein paar orangene Laternen schwach erhellen. Ich erzähle ihr, dass Algier gegenwärtig voll der hellsten Lichter ist. Die Stadt ist ihrer Finsternis entronnen, hat sich mit Tausenden von Leuchtpunkten geschmückt. Wir wissen noch nicht, was wir mit diesen Sternen anfangen sollen. Ihr Glanz blendet uns mehr, als dass er uns beruhigt. Clothilde schüttelt ihr graues Haar und fährt mit einer Hand hindurch. Sobald ich sie verlasse, setzt sie sich wieder auf ihre Bank, mit verträumtem Gesichtsausdruck.

Wir treffen uns jeden Morgen um Punkt sieben. Ich spiele mit den Kieselsteinen, die ich auf dem Gehweg aufgelesen habe. Ich zähle sie. Clothilde schlürft ihren heissen Kaffee. Im Geist gehe ich die einzelnen Aufgaben durch, die mich im Büro erwarten. Und die Steine folgen meinen Gedanken. Ein Kieselstein, eine Aufgabe. Auf der kleinen Bank, die oft noch feucht vom Morgentau ist, so feucht, dass sie meine Kleidung nässt, defilieren die Verpflichtungen durch meinen Kopf. Die Steine reichen nicht für alle. Clothilde und ihr brühheisser Kaffee warten darauf, dass etwas passiert. Allmählich schliesst sich das Intervall, das das Erwachen vom Bewusstsein trennt, und die Pariser treten aus ihren Haustüren heraus, schon jetzt mit matten Schultern, innerlich noch erregt von den Albträumen der Nacht.

Manchmal, viel zu selten, willigt Clothilde ein, von sich selbst zu erzählen. Sie erinnert sich an die zahlreichen Liebhaber, die ihr Leben geteilt haben. Die Liebe und das Liebesleid. Laut Clothilde leiden Männer stärker unter der Liebe als Frauen. Die Liebe gräbt ein gewaltiges Loch in die Männerkörper. Ob das eine Metapher ist? Clothilde schüttelt den Kopf. Natürlich nicht. Immer wenn ihnen das Herz bricht, entsteht im Körper der Männer ein Loch. Setzt sich in ihrer Kehle ein dicker Kloss fest. Erscheinen Flecken im Weiss ihrer Augen. Und diese verlieren nach und nach ihre Farbe, so lange, bis sie ganz durchsichtig sind.

Sie versichert es mir, und ich glaube ihr.

Clothilde mit dem roten Halstuch, die Frau von der Strasse, Frau der Liebe, ist mein tägliches Morgenlicht.

Meine Mutter wäre fassungslos.

Seit Mamas Anruf macht mir mein Nacken zu schaffen. Mein Arzt hat gemeint, wenn ich einen Ehemann hätte, würde der sich schon darum kümmern. Ich habe gelacht. Gehustet. Mir die Nase geschnäuzt. Gestottert, dass ich noch nicht mal den Schatten eines Mannes hätte. Habe ihm meine Versicherungskarte gereicht. Bezahlt. Und bin in Panik auf und davon.

Wenn. Ich. Einen. Ehemann. Hätte.

Ich denke an die Statistiken, die ich gegen mich habe in einer Stadt wie dieser, einer französischen Grossstadt, denke an die Frauen, die einsam sterben oder, schlimmer noch, allein mit ihrer Katze, die ihnen dann das Gesicht zerkratzt. Man findet sie sechs Tage später. Man zerdrückt eine Träne. Und man vergisst.