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© Pro-Talk Verlags GmbH 2017 Bahnhofstr. 29
53639 Königswinter www.pro-talk-verlag.de
Umschlag: Katrin Kawinkel, katika-media.de
Titelfoto: www.fotolia.com/cranach
Satz: Katrin Kawinkel, katika-media.de
Schrift: Gentinum Basic
Druck und Bindung: SOWA, Polen
ISBN: 978-3-939990-43-7
Klick – klack, klick – klack, ich habe das Gefühl, ich laufe auf Stelzen, klick – klack, das Wohnzimmer ist voller Partygäste, eine verschwommene Menge, nur Pedro ist deutlich zu sehen, aufrecht sitzt er da hinten auf dem roten Sofa und blickt mir entgegen, klick – klack, eine falsche Bewegung, und ich stürze von hoch oben in die Tiefe und kann die zersplitterten Stelzen aufsammeln.
Jetzt kann ich nicht mehr umkehren.
Hätte ich im Moment nichts dagegen: Wieder auf den Boulevard de Clichy hinauszugehen und mich gemütlich in irgendein Programmkino zu setzen. Ich mag Orte, wo ich nichts vermasseln kann.
Ich habe das rote Sofa erreicht. Pedro rückt zur Seite, lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander, mit einer Lässigkeit, die ihm wahrscheinlich nicht bewusst ist. Er trägt auch abgewetzte Jeans, genau wie ich. Kaum sitze ich neben ihm, plaudern wir schon drauflos, als seien wir alte Bekannte. Ganz einfach.
Zuerst Smalltalk, wir grinsen uns zweimal verstohlen zu, dann landen wir bei Hugo Chávez.
„Ich sehe das so, Anna: Chávez hat verhindert, dass sich die multinationalen Konzerne das venezolanische Erdöl unter den Nagel reißen“, sagt Pedro mit ratterndem Akzent. „Klar ist das für diese Konzerne und für die USA und die halbe Welt unerträglich!“ Er fächert mit den Händen die Argumente auf, lächelt zu mir rüber, und eine einzelne wirre schwarze Haarsträhne fällt ihm in die Stirn. „Und weil die Medien in den Händen der multinationalen Firmen sind, hat die Presse Chávez immer nur als gefährlichen Diktator behandelt. So einfach ist das.“
Wir trinken Margarita. Ich lecke Salz vom Glasrand, schlürfe den sauren Cocktail hinterher und dann reden wir von Jesus Christus.
So unglaublich das klingt: Pedro ist nämlich Pfarrer. Kein gewöhnlicher Pfarrer, sondern ein Slum-Pfarrer aus Medellín, aber immerhin.
Ich bin schon vor Ewigkeiten aus der Kirche ausgetreten: Das Ergebnis einer vorbildlichen katholischen Erziehung, die sich dann gegen sich selbst gerichtet hat, wie der Körper bei einer Autoimmunerkrankung.
Pedro nimmt einen Schluck Margarita und spricht über die
„revolutionäre Botschaft“ von Jesus Christus. Im selben Ton, in dem er vorhin von Hugo Chávez geredet hat. Und das hört sich schon seltsam an.
Meine Schwester Natascha legt Salsa auf.
Una mirada bastó, asi sucedió, ausentes las palabras… Wirklich, für mich klingt das weltfremd, aber ich muss mich irren, denn in Kolumbien hätten sie Pedro wegen seiner christlichen Botschaft beinahe umgelegt. Als Vorwarnung hat er mehrmals Grabkränze nach Hause geschickt bekommen, sein Name stand auf der Schleife. Die Absender sind, Pedro zufolge, Leute, die ihre eigene Großmutter umbringen würden, um ihre Privilegien zu retten.
…a vivir nuestro sueño, a hacerlo una verdad. Tschck, tschck, tschck, tschck…
Pedro musste also Hals über Kopf flüchten, und jetzt übernachtet er hier bei meiner Schwester Nat und ihrem Mann Victor auf dem Gästebett.
Cuando vendras, sé que vendras, a vivir nuestro sueño, a hacerlo una verdad...
„Grupo Niche“, sage ich.
Als sei das ein Signal, springt Pedro auf, ich rutsche tief in das rote Sofa hinein und klammere mich an meinerMargarita fest. Tanzen zu zweit, Hilfe! Nachdem mich meine Schulfreundinnen einmal in die Tanzschule Hägele im Willberger Industriegebiet gezerrt haben, Tanzen im behaglichen und gepflegten Rahmen, wollte ich nie wieder zu zweit tanzen. Aber da zieht mich Pedro schon aus dem roten Sofa hoch. Hilfe, was hat der für starke Hände, ich kann grade noch mein Glas auf den Kaminsims stellen, und es geht los. No me cansaré de esperarte, siempre sé que sigo siendo primero… Ganz ruhig. Die Musik ist ein glitzernder Fluss, er fließt durch den Urwald, ich renne am Ufer entlang, konzentriere mich darauf, nicht schneller und nicht langsamer zu sein als das Wasser, tschck, tschck, tschck, tschck, tschaaaak…
Meine kleine Nichte Paola springt wild durch den Raum. Victor blickt über den Rand seiner schwarzen Intellektuellenbrille zu mir rüber, Nats Freundin Fatima zwinkert mir so komisch zu. Ist ja gut, ich tu, was ich kann, es que nunca te fallé, nunca te fallé, Pedro strahlt mich an, als sei er kein Pfarrer, sondern ein Latin Lover, no me cansaré de esperarte, siempre. Hilfe, er holt mich auf sein Floß, und wir gleiten durch den Urwald, durch sonnenüberflutetes Dschungelgrün.
Paola hüpft an uns vorbei. Warum trägt sie trotz der Hitze diese bunte Andenmütze?
Das reimt sich.
Siempre, siempre…
„Die Mütze hat Pedro mir geschenkt“, sagt Paola, als ich sie ins Bett bringe.
Paola ist zehn Jahre alt und ihre Zimmertür ist voller Schilder und Aufkleber aus verschiedenen Lebensabschnitten. Erste Klasse, Krakelschrift: Betreten für Räuber verboten. Dritte Klasse, Schönschrift: Klugscheißer, Lügner, Spießer: Wir müssen leider draußen bleiben.
Aufkleber, die Nat und Victor von ihren Demos mitbringen: Besteuern wir die Profite! Der Feminismus emanzipiert uns!
„Anna! Kommst du endlich?“, mault Paola. Sie liegt schon unter ihrer Decke, die Mütze hat sie aufbehalten.
„Ich muss doch nachlesen, ob ich diesen Raum überhaupt noch betreten darf.“
Paola gähnt. „Meinst du denn, das kann dir passieren? Dass du eine Lügnerin wirst, oder so?“
„Ich hoffe nicht. Ich hab’s nicht vor. Aber man weiß ja nie, was mal aus einem wird.“ Ich setze mich an Paolas Bett und streiche über ihren Kopf in der Mütze.
„Aber falls ich in ein paar Jahren eine alte Lügnerin geworden bin, dann werde ich dieses Schild an deiner Tür sehen und beschließen, mich zu ändern, denke ich.“
Paola gähnt wieder.
„Wirst du mir dann noch eine Chance geben?“
„Ja“, sagt Paola, und schon ist sie eingeschlafen, umringt von fünfundneunzig Kuscheltieren.
Ich ziehe ihr vorsichtig die Andenmütze vom Kopf, damit es ihr beim Schlafen nicht zu heiß wird, und das wirre dunkle Haar breitet sich über dem Kopfkissen aus.
Über ihrem Kopf schwebt ein verstaubter Schutzengel aus Stroh. Ein Geschenk von Oma: Die Willberger Kirchenbasare verfolgen uns überall hin.
Aus dem Wohnzimmer dringt nur noch Geplauder, die Musik ist verstummt. Ich versuche, ganz aufrecht durch den Flur zu gehen. Auf dem Kopf balanciere ich einen imaginären Wasserkrug. So, und wenn ich jetzt die Ärmel etwas hochschiebe ... die Inderin im Sari schreitet durch die Gassen von Bombay. Im Ernst: Jemand hat mal zu mir gesagt, meine Haut habe etwas Indianisches. Natürlich würde kein Indianer auf so eine Idee kommen, das kannnur einem Willberger einfallen. Ob wir das in der Familie hätten?
Ich höre Pedros Stimme aus dem Wohnzimmer.
Wo soll denn bloß in unserer Familie – Franz Wohlmeier, Gott hab‘ ihn selig, und Hildegard aus dem Ruhrpott – ein Indianer herkommen?
Jetzt Victors Stimme. Über was sie wohl reden? Und wenn ich zu dem Thema nichts zu sagen habe? Auch egal. Los jetzt.
„In Kolumbien wird man schon umgelegt, wenn man nur den Leuten sagt, sie brauchen sich nicht alles gefallen zu lassen“, sagt Pedro, als ich ins Zimmer komme. Die Gäste sind weg, nur Nat, Victor und Pedro sitzen da noch zwischen halb leeren Weinflaschen. Nats kurze blonde Haare à la Jean Seberg sind vom Tanzen verschwitzt.
„Ich weiß das ja alles“, meint Nat. „Zumindest theoretisch. Aber es scheint zu monströs, um wahr zu sein: Ich kann es jedes Mal kaum fassen.“
Dabei schreibt sie über solche Themen ganze Dossiers in der Revoluzzer-Zeitschrift Politik! Gesellschaft! Aktion! Jedes Wort mit Ausrufungszeichen.
Pedro lächelt mir wieder so zu, und ich setze mich schnell neben Nat in diesen Sperrmüllsessel mit den ausgeleierten Sprungfedern. Da sinkt man hinein und ist weg.
„Da braucht nur einer den Leuten zu sagen: Es ist gar nicht unausweichlich, dass ihr im Slum lebt und andere in Prachtvillen“, sagt Victor. „Und schon steht er auf der Liste der FARC-Sympathisanten.“
„Und wie kommt das bei deinen Kollegen an?“, frage ich Pedro. „Die verkünden doch, die armen Schlucker sollen sich noch etwas gedulden mit der Gerechtigkeit.“
„Bei denen kommt es auch nicht gut an. Aber wenn ich die dramatische Lage der Leute sehe“, Pedros Rrrrr knattert,
„dann sage ich mir, man darf nicht bis zum ewigen Lebenwarten. Man muss sofort etwas ändern. Ich bin überzeugt, dass das irgendwie möglich ist.“ Mit den Händen wirbelt er die Worte umher.
„Klar ist es möglich!“, rufe ich und bin selber über meinen Enthusiasmus erstaunt. Es gibt diese seltenen Augenblicke, in denen ich ganz deutlich und ohne Naivität spüre, dass alles möglich ist. Pedro blickt mich aufmerksam an, ich stemme mich auf die Sesselkante und bin nicht mehr zu bremsen. Ich rede von Marx und den Globalisierungsgegnern, von meiner Hoffnung, die ich auf keinen Fall aufgebe, auch wenn schon alles versucht worden ist, auch wenn Nats Artikel und Victors Bücher nur von Leuten gelesen werden, die genauso denken wie Nat und Victor. Ich rede von Kant, Hannah Arendt und mir selbst, alle scheinen mir zuzuhören. In meinem Kopf schwirrt es, und auf einmal hebe ich ab und sause auf diesem alten Sessel durchs Weltall.
Dann macht es Klong. Ich komme wieder auf den Teppich. Jetzt habe ich vor lauter Gestikulieren eine Weinflasche umgestoßen und ein Rest Rotwein ergießt sich über eine frittierte kolumbianische Kochbanane, die einsam auf einem großen Teller liegt. Pedro lacht wieder und sagt, dass er das auch so sieht. Und dass nur reaktionäre Spießer behaupten, die Dinge ließen sich nicht ändern, nur weil sie immer schon so waren.
Als ich auf den Boulevard de Clichy hinaustrete, bricht die stillste Stunde der Nacht an: Im Bar-Tabac Pigalle ist schon alles duster, ein letzter Betrunkener torkelt noch wortlos vor der Kneipe herum, die Scheinwerfer der wenigen Autos werfen bleiche Lichtsäulen auf den nassen Asphalt. Es ist kühl, aber der Regen hat aufgehört.
Champagnerlaune an den Aktienmärkten
Nachhaltig investieren: Waldbesitzer werden
Am Zeitungskiosk an der Ecke hängen die Titelseiten der Wochenmagazine hinter einer Glasscheibe.
Ich atme tief ein, als gäbe es etwas Gutes zu atmen, Gebirgsluft, Meeresbrise, stolziere mit großen Schritten über den Boulevard, Rebecca Girls, Love Shop, Secrets Pigalle blinken durch die Nacht.
In meinem ganzen Leben war ich erst zwei Mal wirklich verliebt, einmal mit fünfzehn, und dann vor ein paar Jahren, da war ich zweiundzwanzig. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich mich das nächste Mal verlieben würde, wenn ich weit weg bin: In drei Wochen verschwinde ich nach Buenos Aires und mache eine ethnografische Feldstudie über das monasterio de los curas amorosos – eine Art alternatives Kloster für ehemalige Priester, Mönche und Nonnen und ihre Liebesgefährten. Der Zölibat, und was dann manche daraus machen, ist ein Thema, das mich schon seit Ewigkeiten interessiert – seit der Herr Pfarrer Hochtreu damals in Willberg jeden Tag bei uns zu Hause aufgetaucht ist, um Mama zu besuchen – und jetzt schreibe ich darüber eine Forschungsarbeit.
Jedenfalls hatte ich mir gedacht, dass ich weit weg in dieser anderen Welt selbst auch anders sein würde, dass ich mich verlieben könnte, ohne gleich so konfus zu werden.
Am schlimmsten war das ja mit Robert. Er schrieb Gedichte, genau wie ich damals. Wir haben uns im Meditationskreis der katholischen Jugend kennengelernt.
Stell Dich – in die Mitte – Deines gedachten Raumes – und spür, was passiert, wenn ein Tropfen Schwerkraft mitten auf Deinen Scheitel fällt – und gleichmäßig – langsam an allen Seiten – Deines Körpers abgleitet – Haaa (ausatmen) – Spür wie Dein Körper sich entspannt – Spür wie ganz – allmählich – ganz fast wie von selbst – Dein Körper beginnt sich mit Licht zu füllen – Hhhhh (einatmen).
Mein Herz klopfte so laut, dass es alle beim Meditieren störte. Ein Jahr lang konnten Robert und ich uns nicht näher kommen, weil ich zu heftig verliebt war. Bei der geringsten Berührung wäre ich mit einem lauten Knall explodiert, wie ein überhitzter Heißluftballon.
Also sammelte Robert in dieser Zeit Erfahrungen mit anderen Mädchen. Und ich fuhr beim Willberger Stadtfest mit einem Verehrer Autoskooter: Der war ein stadtbekannter Verführer und er hat zu mir gesagt: „Wie du mich so angeguckt hast, mit deinem brennenden Blick, da war’s um mich geschehen“.
Ich? Mit meinem brennenden Blick? Das hat er wohl aus einer TV-Serie.
Das Wägelchen machte bum bum bum, er sah mich mit glasigen Augen an und wollte mich küssen, ich sagte Nein.
Ach, und: dieser indianische Schimmer deiner Haut. Nein, nein, dreimal nein.
Nicht mehr alle Tassen im Schrank, oder was?
Nach genau einem Jahr ist meine Verliebtheit plötzlich verpufft. Einfach so. Und ich konnte ganz unbefangen mit Robert plaudern. Da kam er eines Abends bei mir vorbei und küsste mich wild. Ich blieb aber ganz ruhig und gelassen.
Am nächsten Tag wache ich auf, weil jemand Sturm klingelt. Nat steht vor der Tür.
„Hast du im Koma gelegen? Ich klingle und klingle und nichts rührt sich.“
Es ist vier Uhr nachmittags, ich habe geschlagene zwölf Stunden geschlafen.
Ich gieße für Nat ein Glas Orangensaft ein, krieche wieder unter die Decke und trinke direkt aus der Flasche.
Nat macht in der Kochecke herum, wärmt einen Rest alten Kaffee auf.
„Oder störe ich dich?“, fragt sie.
Keine Ahnung. Das Schwirren ist jetzt weg. Was hab ich da bloß geschwafelt? Meine Güte, der Typ ist Pfarrer.
Nat bahnt sich mit den Tassen einen Weg zu meinem Bett. Meine Wohnung ist in Wirklichkeit nur ein Zimmer: In der Mitte ein Tisch mit dem alten Computer, den ich zur Seite schiebe, um zu essen, in der anderen Ecke das Bett. Eine Dusche habe ich auch. Mehr kann ich mir bei den Pariser Mietpreisen nicht leisten, und es reicht ja für mich. Klar, generell hätte ich nichts gegen ein 200-Quadratmeter-Loft im Bastille-Viertel. Aber dann kommst du aus dem Haus, und vor der Tür wohnt auf dem Bürgersteig eine Roma-Familie.
Das geht auch nicht.
Jetzt steht bei mir alles voller Kisten, man schafft es kaum von einer Ecke in die andere.
„So spießig ist Paartanzen also doch nicht“, sagt Nat. Ihre Art, Plattitüden in den Raum zu stellen! Heikle Themen spricht sie nie direkt an.
Eins ist sicher: Ich habe jetzt keine Lust, über gestern Abend zu reden.
„Habe ich ja auch nie behauptet. Die Tanzschule Hägele ist eindeutig spießig, nicht das Paartanzen“.
„Weißt du noch, wie wir als Kinder im Wohnzimmer Tango getanzt haben?“, fragt Nat.
Schwierig, das zu vergessen. Das war, als Nat schon in Mike verknallt war, und er noch nicht in sie. Da hat sie die Tangoplatten aufgelegt, die Papa von seinen Reportagen aus Südamerika mitgebracht hatte, und zum klagenden Schnaufen des Bandoneons hat sie mir tief in die Augen geblickt und gesagt: „Ach, Mike“.
Auch jetzt schaut mir Nat immerzu ins Gesicht, als könne man dort lesen, ob ich mich jetzt verliebt habe oder nicht. Falls ja, dann würde sie sofort die Verantwortung übernehmen: Sie fühlt sich immer für alles verantwortlich, was um sie herum geschieht, und in der Tat war es ihre großartige Idee, dass ich mal so einen subversiven Pfarrer aus Kolumbiens Armenviertel interviewe. Was der wohl so vom Zölibat hält.
Ich tauche meinen Kopf ins Kissen.
Was war denn das gestern eigentlich? Es klingt verrückt, aber ich weiß heute nicht mehr, was ich davon halten soll. Habe ich mich jetzt etwa tatsächlich verliebt, oder was?
Jeder normale Mensch weiß so was.
Nat steckt den Kopf in meinen Kühlschrank und fragt: „Sag mal, kann ich mir ein Stück von diesem halb vergammelten Käse nehmen? Oder hattest du vor, dich bis zu deiner Abreise davon zu ernähren?“
Das Problem ist: Wahrscheinlich bin ich kein normaler Mensch. Ich misstraue meiner eigenen Wahrnehmung. Was ich sehe oder spüre und für eindeutig halte, das existiert in Wirklichkeit nicht, das hat man mir immer wieder gesagt.
Anna, das bildest du dir ein, Anna, das bildest du dir ein, Anna, das bildest du dir dreimal ein.
Als Kind habe ich gesehen, wie Mama und der Herr Pfarrer Dieter Hochtreu sich bei uns in der Küche umarmt haben. Dabei haben sie nur gemeinsam Geschirr gespült.
Ich habe gesehen, dass der Pfarrer Dieter Hochtreu einen Schlüssel mit genau den gleichen Zacken hatte wie unser Wohnungsschlüssel. Dabei war es der Klassenzimmerschlüssel für den Religionsunterricht an der Nebelinger Realschule. Ich habe auf Mamas Nachttisch eine Packung Antibabypillen gesehen. Dabei waren es Pillen gegen Hormonstörungen.
Womöglich habe ich mich nicht erst gestern verliebt, sondern schon vor drei Tagen, bei unserem wissenschaftlichen Interview zum Thema „Zölibat: Berufung oder Lebenslüge?“
„Willst du das alles nach Buenos Aires mitnehmen?“ Nat wandert mit ihrer Kaffeetasse und dem Stück Käse zwischen meinen Kisten umher.
„Keine Ahnung. Manchmal würde ich den ganzen Krempel am liebsten wegschmeißen. Und dann wieder nicht.“
„Wie lange willst du denn dortbleiben?“
„Vielleicht für immer. Ich bilde mir ein, ich könnte dort besser ich selbst sein.“
Wir kichern. Wir werden es natürlich nie schaffen, wir selbst zu sein, weder Nat, noch ich. Da können wir noch so viele tausende Kilometer von zu Hause wegreisen.
Nat ist sofort nach dem Abi nach Paris ausgewandert. Sie dachte, auf Französisch brächte sie es fertig, Dinge zu sagen, die sie auf Deutsch nicht sagen kann. Und dann hat sie einen Kolumbianer geheiratet und konnte das Ganze noch mal auf Spanisch versuchen.
Als sie damals gegangen ist, hätte ich am liebsten fünf Klassen auf einmal übersprungen, um auch wegzukönnen. Ich hatte Angst, ohne Nat würde ich für immer zu Hause festsitzen.
„Mietet jetzt Fatima deine Wohnung, wenn du weg bist?“, fragt Nat.
„Ja, sie hat gesagt, sie will Abstand zu Jean gewinnen. Sie braucht einen jardin secret oder so.“
„Das sagt sie alle drei Wochen: Sie braucht Abstand, dann braucht sie wieder keinen Abstand. Na ja. Ich muss los, Paola abholen, sie ist bei einer Freundin“.
„Bei einer Freundin?!“ Na sowas. Paola fand Freundinnen bis jetzt immer doof. Hat sie jedenfalls mir gesagt, ihrer Mutter sagt sie nicht alles.
Es ist aber keine wirkliche Freundin, sondern die Tochter einer Bekannten, und Nat macht sich weiterhin große Sorgen, weil Paola sich immer nur mit den wildesten Jungen der Klasse anfreundet. Nach Nats Wissensstand hat sie noch nie eine beste Freundin gehabt, aber Nat schafft es nicht, verlässliche Informationen zu bekommen.
Von Paola weiß ich, dass Nat das Thema schon über unzählige Wege angeschnitten hat: „Mit welchen Mädchen spielst du denn in der Pause, neben welchem Mädchen würdest du denn am liebsten sitzen?“
Paola findet diese Fragerei unendlich nervig.
„Wir hatten doch damals immer eine beste Freundin“, sagt Nat.
„Ich würde mir keine Sorgen um Paola machen. Sie sagt, die Mädchen in ihrer Klasse seien heuchlerisch. Umso besser, dass sie sich dann nicht um jeden Preis eine Freundin sucht.“
Nat seufzt. Sie erreicht fast alles, was sie sich in den Kopf setzt. Manchmal scheitert sie anfangs, aber sie macht immer so lange weiter, bis sie ihr Ziel erreicht. Nur das Eine gelingt ihr nicht: sich keine Sorgen um Paola zu machen.
„Kommst du nachher zum Abendessen?“, fragt Nat, als sie schon in der Tür ist. „Die Männer wollen für uns kochen.“
Ich stecke den Kopf wieder unter die Decke. Die Männer. Für uns.
Und dann lache ich ins Kissen hinein und lache und lache. Als ich aufhöre zu lachen, kommt in der Dunkelheit unter der Bettdecke eine immense Angst über mich: Dass es mir wieder so ergehen könnte wie mit Robert, dass ich hilflos zusehen muss, wie sich da etwas aufbläht in mir, wie ein Heißluftballon, der größer und größer und heißer und heißer wird. Und ich kann nichts dagegen tun.
Ich lege Grupo Niche auf und ziehe mich mit Sorgfalt an: Alte Jeans, die Turnschuhe mit dem Loch in der Sohle, die ich nur tragen kann, wenn es nicht regnet. Diese grellgrüne Kunstlederjacke vom Flohmarkt, die nur Leute anziehen können, denen es egal ist, was andere über sie denken.
Mi cuerpo vibró, cuando su mano tome, (es durchschauerte meinen Körper, als ich ihre Hand nahm), el cielo miré… Um Himmels willen! Ich stelle den CD-Player wieder ab und schalte das Radio ein. …dabei hinterlässt der Rover „Curiosity“ Spuren im Mars-Sand…
Ich schminke mich ein winziges bisschen, damit es so aussieht, als hätte ich mich gar nicht geschminkt, eine indische und eine amerikanische Raumsonde befinden sich momentan auf dem Weg zum roten Planeten, und bürste ausführlich meine Haare: Sie sind lang, braun, gewellt und voller Lichtpunkte wie in der Shampoo-Werbung.
Ich kann immer noch ins Kino gehen, statt zu diesem Essen. Ein Film aus einem kühlen Land würde mir guttun, zum Beispiel zwei Stunden Understatement von Kaurismäki.
Ich stelle mir Pedro und Victor vor, wie sie jetzt in Nats chaotischer Küche für uns kochen. Ich kann ins Kino gehen, muss es aber nicht, ich kann auch zu Nat gehen. Ich kann auch zu Hause bleiben und an die Wand starren oderSchuhplattler tanzen. Ich kann machen, was ich will. …auf der mehr als achtmonatigen Reise durchs All… Und wenn ich zu Nat gehe, kann ich selbst entscheiden, wie ich auftrete. Ich brauche dort nicht stammelnd und mit glühenden Wangen zu erscheinen. …eine bemannte Mission zum Mars ist in Planung: im Jahr 2030…
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, eine alte Frau kocht Rüben, eine alte Frau kocht Speck und du bist weg, zähle ich im Kopf und starre dabei die Herdknöpfe an.
In normalen Zeiten werfe ich nur einen kurzen Kontrollblick auf den Herd, bevor ich die Wohnung verlasse, aber in schwierigen Momenten erlaube ich mir, den Herd so lange anzuschauen, bis ich mit dem Reim fertig bin. Wenn ich bis dahin nicht gesehen habe, dass der Herd in Wirklichkeit angeschaltet ist, und wenn dann also das Haus abbrennt, während ich weg bin, dann sei’s drum. Aber auf keinen Fall darf ich länger vor dem Herd stehen als bis „Speck und du bist weg“.
Und dann bin ich weg, gehe die Treppe runter. Leise quietschen die Gummisohlen meiner Turnschuhe auf den hölzernen Stufen. Ich denke an die Herdknöpfe, ich habe es ja gesehen, alle Knöpfe waren auf null.
Draußen ist es wolkig, ich verstecke mein Gesicht hinter den Haaren, blicke auf den Boden. Das Trottoir ist mit KebabSchachteln und Plastiktüten übersät, und ich versuche, bei jedem Schritt auf etwas zu treten: auf eine Zigarettenkippe, ein Stück Papier oder zumindest auf eine Fuge zwischen den Steinplatten.
Kaum komme ich bei Nat unten zur Haustür herein, schnellt Frau Pawelska aus ihrer Concierge-Loge, die falschen Locken gelb gefärbt, das Gesicht missmutig verzogen. Aus der Loge dringt das Geplapper des Fernsehers.
„Das war ja mal wieder ein Lärm gestern Abend bei Madame Natascha“, sagt sie. Ob ich Madame Natascha doch bitte ausrichten könne, dass sie nicht allein hier im Haus wohnt.
Auf der Treppe überlege ich, was ich zur Begrüßung rufen soll: „Hallo, ihr…“ ja was nun… mir fällt nur Unsinn ein,
„hallo, ihr Klugscheißer, Feministen, Genossinnen und Genossen, Messieurs-Dames, ihr Süßen, ihr Hasen, ihr Mäuse, hey Leute, hi Kids!“
Pedro trägt gerade den großen Topf mit den kolumbianischen Bohnen herein, als ich ins Wohnzimmer komme. Ich murmele nur „Hallo“ und blicke dabei Paola an.
Bei Tisch lasse ich die Haare vorm Gesicht und überwache mein Innenleben, damit sich da drinnen nichts aufbläht, nichts hochkocht und explodiert.
Draußen keine besonderen Vorfälle: Gespräch über den dringend nötigen Ausstieg aus der Wachstumsgesellschaft, weil sonst der Planet aus allen Nähten platzt, und die letzten menschlichen Bindungen flöten gehen.
In meinem Oberstübchen bleibt heute alles dunkel, ich taste mit meinen Gedanken nach hier, nach da, und stolpere sogar über die vertrautesten Gegenstände.
Dafür ist Nat in Fahrt: Wirtschaftswachstum vergrößert die Kluft zwischen Armen und Reichen, reduziert den Menschen auf seine Funktion als Produzent/Konsument, der also seinen Tag mit Arbeiten, im Stau stehen und Einkaufen verbringt.
Ich bin mit allem einverstanden, hätte also nichts dagegen, in eine Hütte im Wald zu ziehen, mich von dort nicht mehr wegzurühren und meinen ökologischen Fußabdruck auf ein Minimum zu reduzieren.
„Natürlich geht es nicht darum, sich in einer Jurte zu verschanzen, sondern darum, die Gesellschaft zu verändern“, Nat legt ihre Gabel weg, fährt sich durch die kurzen blonden Haare, blickt uns unternehmungslustig an. Ihre dunklen Augen glänzen golden. Sie ist wunderschön.
Sie ist eine Fee und ich eine Echse in der Winterstarre. Ich fahre meinen Energieverbrauch runter, um die kalte Zeit zu überleben, alle Körperfunktionen reduzieren sich auf ein Minimum. Meine Wangen können so nicht glühen.
„Was ist denn das eigentlich, der ökologische Fußabdruck?“ fragt Paola . Sie sitzt neben Pedro, der auch auf seinen Teller starrt.
„Das ist die Fläche, die ein Mensch zum Leben benutzt, mein Liebling“, erklärt Nat. „Und je nach Lebensstil ist diese Fläche unterschiedlich groß. Dein ökologischer Fußabdruck hat nämlich nicht nur die Ausmaße deines Kinderzimmers. Die Bohnen, die du da isst, die wachsen ja irgendwo. Die LKWs, die diese Bohnen hierher transportiert haben, die sind irgendwo hergestellt worden, und sie verbrauchen Treibstoff. Oder, ein ganz anderes Beispiel: Was passiert, wenn du im Internet surfst?“
„Wieso? Was ist denn, wenn ich im Internet surfe?“
„Es heißt ja immer, das sei virtuell, aber das stimmt nicht! Das ist alles andere als virtuell! Sobald du Palmashow auf YouTube eingibst, wird diese Anfrage in gigantischen Datencentern bearbeitet. Dort laufen Unmengen von Computern Tag und Nacht, um den Web-Benutzern die gewünschten Antworten zu liefern. Und um diese Antworten weiterzuleiten, braucht man jede Menge Kabel, und die bestehen aus Edelstahl, Kupfer, Polyäthylen, Plastik…“
„Okay, Mama, ich hab’s kapiert.“
„Na gut. Und wenn wir alle Fußabdrücke der Erdenbewohner zusammenzählen, und wenn dann die Summe größerist als die Gesamtfläche unseres Planeten, dann haben wir ein Problem.“
Meinem Echsenhirn ist das schnurz.
„Und manche Orte auf der Erde sind jämmerlich unergiebig“, bemerkt Victor ironisch. „Zum Beispiel Berggipfel. Die sind zu nichts zu gebrauchen. Oder doch: Wo sollen die Alpinisten sonst ihre Cola-Dosen entsorgen! Und letztendlich ist es auch nicht schlecht, dass wir die Ozeane haben. Dort können wir zumindest unsern Atommüll versenken.“
Paola blickt ihn stirnrunzelnd an. Da macht man mal eine ironische Bemerkung und schon ist man für Paola ein Klugscheißer.
„Die Sache ist“, sagt Victor und zwinkert ihr zu, „dass manche wirklich auf zu großem Fuß leben. Wenn zum Beispiel alle so konsumieren würden wie die Nordamerikaner, dann bräuchten wir sieben Planeten.“
„Und warum brauchen die Amis so viel Fläche?“, fragt Paola. Ich muss auch mal was sagen, reiße mich zusammen: „Weil sie überall mit Auto hinfahren und sehr viel Benzin verbrauchen“, sage ich, und es klingt künstlich. „Übrigens machen das nicht nur die Amis. Hier ist es das Gleiche.“
Nat schaut schuldbewusst zu mir rüber. Gegen ihre Überzeugungen haben Victor und sie nämlich selbst ein Auto: Nat fährt darin zu ihren Reportagen in die Roma-Lager und Victor transportiert politisches Material zu Demos und Aktionen. Es ist ein uralter Mercedes, den Victor eigenhändig repariert: Wenn er mit seiner Intellektuellenbrille auf den Schrottplätzen der Pariser Banlieue auftaucht, um nach Ersatzteilen zu suchen, wundern sich die Schrottplatzbesitzer.
„Manche Leute nehmen auch ständig das Flugzeug“, sagt Pedro. „Und Flugzeuge verbrauchen enorm viel Treibstoff.“
„Wenn alle so leben würden wie du und mal eben nachBuenos Aires fliegen, dann bräuchten wir sicher mindestens zehn Planeten“, sagt Paola vorwurfsvoll zu mir.
Ich erschrecke. „Da hast du Recht!“ Meine Pläne kommen mir mit einem Mal absurd vor. Was soll ich in Buenos Aires, wenn Paola in ein paar Jahren ihren ersten Liebeskummer hat? Darüber wird sie mit ihrer Mutter natürlich auch nicht reden können.
Düster grübele ich über den roten Bohnen mit der kolumbianischen Tomaten-Koriander-Soße.
Pedro redet nun über die Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen FARC-Guerilla und der Regierung. Auch hier geht es um Ressourcen, denn die multinationalen Firmen brennen darauf, endlich die reichen Bodenschätze in den unberührten, von der Guerilla besetzten kolumbianischen Urwaldgebieten ausbeuten zu können.
Dann will Paola „Ich sehe was, was du nicht siehst“ spielen, und das ist grün, und als ich von meinen roten Bohnen aufblicke, starrt Pedro mir ins Gesicht. Da ist sofort Schluss mit der Winterstarre. Er klingt besorgt: „Warum guckst du denn so böse, ärgerst du dich über etwas? Hat sich jemand dir gegenüber falsch verhalten?“
„Aber nein!“, rufe ich betont fröhlich. „Falsch verhalten? Aber ganz und gar nicht!“ Wie peinlich, als beleidigte Leberwurst dazustehen.
„Annas Jacke! Die ist grün, hihihi“, sagt Paola, und ich kitzele sie. Sie kichert.
Ich fange schnell an, den Tisch abzudecken, und räume dann mit lautem, munterem Geklapper die Spülmaschine ein. Pedro reicht mir die Teller zu. Ich achte dabei darauf, dass sich unsere Hände nicht berühren.
Später legt Nat Tangoplatten auf. Victor und Pedro singen brummend mit. Mi noche triste, klagt Carlos Gardel, begleitetvon den dunklen Stimmen der beiden Männer. Para mi ya no hay consuelo y por eso me encurdelo, pa olvidarme de tu amor (Für mich gibt’s keinen Trost mehr, darum besaufe ich mich, um deine Liebe zu vergessen). Ich sitze zwischen Nat und Paola auf dem Sofa. Paolas Kopf liegt warm und schwer auf meinem verwirrten Schoß. Nat hat den Arm um meine Schultern gelegt, als hätte sie nicht schon vor vielen Jahren aufgehört, die beschützende große Schwester zu sein.
In dem Moment nämlich, als bei Mike endlich der Groschen fiel und er sich unsterblich in sie verliebte: Ab da war Nat ständig bei ihm. Mama betrank sich immer häufiger und ich musste allein entscheiden, was ich am besten den Kunden erzählte, die an der Tür klingelten, um ihre Buchhaltung abzuholen.
Manchmal konnte ich auch gar nichts machen. Da hat Mama einmal zu ihrem Geburtstag ein Riesenessen gegeben. Den ganzen Tag lang hat sie gekocht und gebrutzelt, Spargel mit Schinken und Béchamelsoße und Spätzle, Filetpfännle. All die schwäbischen Gerichte, die sie zubereiten gelernt hatte, um als Frau aus dem Ruhrpott von den Schwaben akzeptiert zu werden. Ich habe Staub gesaugt (das war traditionell meine Aufgabe), ich habe die Läufer ausgeklopft und die Böden gewischt (das war Nats Aufgabe, aber sie war ja bei Mike), und ich habe abgestaubt. Mama hat den Tisch gedeckt, mit Servietten, die farblich zur Tischdecke, zum Geschirr und zu den Vorhängen passten. Alle sollten sehen, dass der Haushalt der berufstätigen und alleinerziehenden Mutter Hildegard Wohlmeier tipptopp in Schuss war. Sie hat ihr schönstes Kleid angezogen, das mit den verwischten Wellen in Aquarelltönen. Der Pfarrer Dieter Hochtreu brachte einen großen Blumenstrauß für die Bodenvase, der farblich zu den Servietten, dem Geschirr, den Vorhängen und Mamas Kleid passte. Aber schon nach dem Begrüßungssektbegann Mama undeutlich zu sprechen, und dann fragte der Pfarrer nach dem Vorlegebesteck für den Spargel mit Schinken. Das hätte er auch selbst holen können, er kannte sich ja in unserer Küche bestens aus, aber das durften die Leute wiederum nicht wissen, also fragte er Mama, aber Mama, die beim Gehen wankte, kam mit einer Zuckerzange wieder. Sie legte die Zuckerzange auf den Schinken und lachte dann laut.
Die Gäste schienen das alles ganz normal zu fi den. Sie achteten nicht auf Mama. Jemand legte die Zuckerzange schnell beiseite, den Schinken nahmen sie sich dann mit den eigenen Gabeln. Sie redeten, schnatterten, tranken, stopften ihre schwäbischen Spezialitäten in sich hinein und waren eilig verschwunden, bevor noch der Nachtisch, Mamas berühmte Eierschaumcreme, serviert werden konnte. Kaum waren sie weg, sank Mamas Kopf auf den Tisch.
Immerhin war der Pfarrer noch da, und ich fragte ihn: „Was machen wir denn jetzt mit meiner Mutter?“
„Geh du mal ruhig schlafen. Ich kümmere mich um alles“, sagte er.
De noche cuando me acuesto, no puedo cerrar la puerta… Nat tätschelt meinen Arm, als wolle sie sich für den Schlamassel damals entschuldigen. Dabei hätte sie ja auch nichts daran ändern können. Paola ist auf meinem Schoß eingeschlafen, ich streiche ihr sanft übers Haar. El espejo esta empañado y parece que ha llorado (der Spiegel ist beschlagen und sieht aus, als habe er geweint), por la ausencia… höre ich Pedro leise und dunkel singen. Vorsichtig blicke ich zu ihm rüber und – Peng – knallen unsere Blicke aufeinander.
„Soll ich dich nach Hause fahren, Anna?“, fragt Victor. „Es ist ja schon wieder so spät.“
Aber ich will zu Fuß gehen, das besänftigt mich. Ich gehe gern nachts über die stillen Boulevards, wenn das Licht der Straßenlampen auf dem Asphalt glitzert.
„Zu Fuß!“, ruft Pedro entsetzt aus, „allein zu Fuß!“
Ich kann ihm dreimal erklären, dass wir nicht in Medellín sind, es nützt nichts. Ich ziehe meine knallgrüne Jacke an und sage: „Mit so einer Jacke wird man schon nicht angemacht.“
Aber er besteht darauf: Er will mich unbedingt nach Hause begleiten.
Wir gehen nebeneinander her. Jetzt rieselt doch ein spätwinterlicher Regen sachte auf uns nieder, die Lichtsäulen der Scheinwerfer bohren sich in die spiegelnde Straße und mein Strumpf in dem löchrigen Turnschuh wird nass.
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Hilfe, über was sollen wir denn jetzt reden? Alle Themen sind entweder banal oder explosiv. Den ganzen Boulevard de Clichy hinunter klopft mein Herz so laut, dass es den Lärm der Autos, Nachtclubs und Bars übertönt. Als wir vor meinem Haus ankommen, schaut mir Pedro einen Moment lang ins Gesicht, mit leicht gekrauster Stirn, aber ich sage schnell:
„Also, dann bis bald“, drehe mich um und gehe hinein.
Erstens: Wie gesagt, der Mann ist Pfarrer. Genau wie Dieter Hochtreu.
Zweitens: Statistisch gesehen ist es doch unmöglich, dass so ein Schwachsinn zweimal in derselben Familie vorkommt. So was passiert höchstens in einem durchgeknallten Film von Almodóvar.
Drittens: Es ist ja auch völlig wurscht, ob ich mich verliebt habe, ob irgendjemand verliebt ist. In drei Wochen bin ich weg von hier und basta.