Wolf Linder |
Schweizerische Demokratie |
Schweizerische Demokratie
Institutionen – Prozesse – Perspektiven
4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage
Haupt Verlag
Der Haupt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
4. Auflage: 2017
3. Auflage: 2012
2. Auflage: 2005
1. Auflage: 1999
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
E-Book-ISBN 978-3-258-48009-1
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
Alle Rechte vorbehalten.
Copyright © 1999 Haupt Bern
Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlages ist unzulässig.
Umschlaggestaltung: Atelier Nicholas Mühlberg, Basel
Satz: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen
www.haupt.ch
Vorwort
In den letzten 20 Jahren hat sich «Schweizerische Demokratie» als Grundlagenwerk zum Studium des schweizerischen Politiksystems etabliert und bewährt. Darüber hinaus wird das Buch von politisch Interessierten, Medienschaffenden und Politikerinnen unvermindert nachgefragt. Eine neue, vierte Auflage konnte und wollte ich – seit sieben Jahren emeritiert – allerdings nicht mehr allein bewältigen. Mit Sean Mueller habe ich nun einen Co-Autor gefunden, der das Buch mit mir zusammen umfassend überarbeitet und aktualisiert hat. Er wird künftige Ausgaben der «Schweizerischen Demokratie» in eigenem Namen übernehmen. Nicht jedem Autor eines Lehrbuchs fällt solches Glück tüchtiger und engagierter Nachfolge zu.
Das «Blaue Buch», wie es die Studierenden nennen, legt weiterhin grossen Wert auf Verständlichkeit. Es stützt sich auf die aktuelle politikwissenschaftliche Forschung, will aber auch einer nicht akademischen Leserschaft vertiefte Einblicke in die faszinierende schweizerische Demokratie verschaffen. Die Neuauflage des Buchs erforderte, wie alle vorangehenden, eine gründliche Überarbeitung des Texts und die Aufdatierung aller statistischen Angaben. Denn die politischen Institutionen, die schweizerische Politik und ihre internationale Verflechtung sind einem tief greifenden und schnellen Veränderungsprozess unterworfen. Mit dem Aufstieg der SVP und der Spaltung des ehemals geschlossenen Bürgerblocks hat sich die Parteienlandschaft nachhaltig verändert. Die politische Polarisierung zwischen Links und Rechts ist stärker geworden, und die Konkordanz als «Politik der Verständigung» hat mehrere Krisenmomente überstehen müssen. 25 Jahre nachdem die Stimmbürgerschaft entschieden hat, den EWR-Beitritt abzulehnen, ist die schweizerische Gesellschaft in der EU-Frage immer noch tief gespalten. Der bilaterale Weg entspricht zwar den Wünschen eines Grossteils der Wählerschaft, hat aber die Europäisierung und Globalisierung der Wirtschaft weit über die Verträge mit Brüssel hinaus vorangetrieben. Beides hat die schweizerische Politik schneller und womöglich stärker verändert als alle vorherigen Jahrzehnte der Nachkriegszeit. Der damit verbundene Wandel ist gerade in jüngster Zeit von heftigen gesellschaftlichen Konflikten begleitet: Die Annahme der Volksinitiative «gegen die Masseneinwanderung» hat nicht nur die Stimmbürgerschaft gespalten, sondern zu Konflikten mit Brüssel und Ungewissheit über die Zukunft unseres Verhältnisses mit der EU geführt. Vermehrt nimmt die politische Öffentlichkeit wahr, wie Globalisierung und Europäisierung die institutionelle Politik verändern: Der Einfluss der Regierung nimmt zu auf Kosten des Parlaments, die Kräfteverhältnisse unter den Verbänden ändern sich, Volksinitiativen reiben sich an der Internationalisierung des Rechts. Die einst klare Trennung zwischen Innen- und Aussenpolitik wird unscharf, und trotzdem haben sich zwei sehr unterschiedliche Regimes im Entscheidungsprozess herausgebildet: Die Innenpolitik folgt nach wie vor dem langsamen Rhythmus bedächtiger Schritte, die, wie die Reform der Gesundheits- und Sozialpolitik, nur gegen den Widerstand vieler zu erringen sind. Ganz anders die Aussenpolitik: In ihren europäisierten Bereichen hat sie sich dem Entscheidungstempo und Veränderungsdruck aus Brüssel anzupassen – ein Prozess, der von vielen als Diktat von aussen und oben empfunden wird und der deshalb die interne Polarisierung laufend verstärkt.
Dies alles sowie der Wunsch, die jüngsten Forschungserträge der schweizerischen Politikwissenschaft zu berücksichtigen, machten erneut eine gründliche Überarbeitung der «Schweizerischen Demokratie» notwendig: Die institutionellen Reformen der Verfassung, des Finanzausgleichs, der Volksrechte, der Justizreform etc. sind nachgeführt; Gleiches gilt für alle statistischen Daten. Letztere veralten zwar schnell und sind heute zudem über das Internet leicht zugänglich. Dennoch behalten wir sie in diesem Lehrbuch bei – nicht um eine falsche Zahlengläubigkeit zu fördern, sondern um den Sinn für Proportionen zu schärfen. Inhaltliche Veränderungen gibt es in allen Kapiteln, vor allem in jenen zu den Parteien, zum Föderalismus und zur Konkordanz. Der letzte Teil – die «Perspektiven» – thematisiert vor allem die Zukunftsfragen von Europäisierung und Globalisierung.
Anders als die Verfassungslehre, welche sich auf die Interpretation der institutionellen Rechtsregeln beschränkt, beschreibt und analysiert Politikwissenschaft auch die Prozesse der gesellschaftlichen Konfliktbewältigung; sie verbindet also gewissermassen die institutionellen Regeln mit den Spielen, die darin stattfinden. Dabei steht die Auseinandersetzung mit der Demokratie im Vordergrund. Die Schweizerinnen und Schweizer leben heute mit dem ererbten Privileg der Volksrechte, das ihnen ein Stück mehr Volksherrschaft in die Hand gibt als den Bürgerinnen und Bürgern im europäischen Umfeld. Und doch erfährt auch die Schweizer Stimmbürgerschaft die Grenzen unverfälschter und gleicher Partizipation in der realen Demokratie. Dieses Spannungsfeld zwischen idealer und realer Demokratie auszuloten, ist unser besonderes Anliegen. Denn im aktuellen Prozess der Globalisierung und internen Polarisierung steht die Demokratie vor neuen Herausforderungen, aber auch vor Gefährdungen.
Beibehalten bleibt die Struktur des Stoffes: Nach einer kurzen Einführung präsentieren wir kapitelweise die grundlegenden Elemente schweizerischer Demokratie – Staatsvolk, Parteien und neue soziale Bewegungen, Verbände, Parlament, Regierung, Volksrechte und Föderalismus. Wie all diese Elemente zusammenwirken, wird im Kapitel «Das Entscheidungssystem der Konkordanz» gezeigt. Wer mit dem schweizerischen Politiksystem wenig vertraut ist, kann dieses Kapitel zuerst lesen und zusammen mit der Einleitung als Übersicht zur Kenntnis nehmen. Obwohl zwar immer «alles mit allem» zusammenhängt, lässt sich jedes Kapitel als selbständige Einheit lesen, was Benützer auch immer wieder als besonderen Vorzug des Buches bezeichnen. Um die Zahl der Verweise auf andere Kapitel in Grenzen zu halten, haben wir gewisse Wiederholungen in Kauf genommen. Die zeitgeschichtliche Perspektive scheint uns wichtig. Erst sie erschliesst die Bedeutung vieler tagespolitischer Ereignisse. Wir haben daher nicht nur die Entwicklung der Institutionen, sondern auch die Entscheidungsprozesse einzelner Politikbereiche über mehrere Jahrzehnte dokumentiert, so etwa der Energie-, der Einwanderungs- oder der Europapolitik. Lehrpersonen und Studierende, welche die Kernaussagen des Buches samt Videobeiträgen, Beispielen und Animationen suchen, finden sie auf einer Multimedia-DVD des EDA auf Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch oder online unter www.wolf-linder.ch.
Dieses Buch hat einen Vorläufer. 1994 erschien «Swiss Democracy – Possible Solutions to Conflict in Multicultural Societies». Mittlerweile sind zwei Neuauflagen sowie Übersetzungen und Teilübersetzungen auf Polnisch, Nepalisch, Serbokroatisch, Rumänisch und Russisch entstanden, gefolgt 2013 von einer Publikation in arabischer Sprache. Sie belegen das ausserordentliche Interesse, das in jungen Demokratien und kulturell gespaltenen Gesellschaften den Institutionen eines Landes entgegengebracht wird, das die Integration seiner sprachlichen und konfessionellen Minderheiten den Besonderheiten seiner Demokratie verdankt: der Staatsbildung von unten sowie der Verbindung von direkter Demokratie, Föderalismus und politischer Konfliktlösung durch Verständigung. Das könnte zu einem doppelten Missverständnis beitragen. Das eine wäre, die schweizerische Demokratie als Modell für andere zu betrachten und zum Exportartikel zu machen. Alle Erfahrung zeigt, dass derartige Exporte nicht funktionieren: Jedes Land hat seine Institutionen auf seinem eigenen kulturellen Erbe zu entwickeln. Das zweite, noch mehr verbreitete Missverständnis: Die Besonderheiten der schweizerischen Demokratie werden nicht selten entweder über- oder unterschätzt. Deshalb sind die wichtigsten Strukturelemente des schweizerischen Systems – direkte Demokratie, Föderalismus und politische Machtteilung – in den Kapiteln 12–14 im internationalen Vergleich dargestellt. Der Vergleich zeigt, dass direkte Demokratie auch in andern Ländern praktiziert wird, in einzelnen Staaten der US sogar so intensiv wie in den schweizerischen Kantonen. Gleichzeitig wird damit belegt, dass die rund 30 Föderationen ihren Föderalismus auf ganz unterschiedliche Weise praktizieren. Sodann wird verständlich gemacht, dass Konkordanz als «konsensuale Demokratie» mehr ist als ein helvetischer Sonderfall – nämlich ein eigentliches Alternativmodell zur angelsächsischen «Mehrheitsdemokratie». Ansätze zu konsensualer Demokratie und politischer Machtteilung verbreiten sich heute weltweit und haben sich in Ländern wie Nordirland, Bosnien, Südafrika oder Indien unter zum Teil ungleich schwierigeren Verhältnissen zu bewähren als im historischen Fall der Schweiz. Die vergleichenden Teile des Buches dienen daher insgesamt dazu, das eigene Politiksystem aus Distanz und mit dem neugierigen, aber auch nüchternen Auge eines Dritten zu betrachten.
In der Vorbereitung der früheren Auflagen des Buchs habe ich von aufmerksamen und kritischen Studierenden in meiner Vorlesung «Schweizerische Innenpolitik» während langen Jahren immer wieder wertvolle Hinweise bekommen. Ebenso hatte ich von den Anregungen vieler Kollegen und Kolleginnen profitiert: von Clive Church, Adrienne Héritier, Stefano Bartolini, Peter Mair und Philippe Schmitter, Pascal Sciarini und Simon Hug, von Hubert Treiber, Jürg Steiner, Walter Kälin, Adrian Vatter sowie von Andreas Ladner. Unterstützt wurde ich in früheren Auflagen von meinem Team am Berner Institut für Politikwissenschaft. Dazu gehörten, in wechselnder Besetzung, André Bächtiger, Christian Bolliger, Michael Brändle, Marina Delgrande, Sophia Hänny, Claudia Heierli, Oliver Hümbelin, Andrea Iff, Georg Lutz, Michael Meyrat, Daniel Schwarz, Monika Spinatsch, Isabelle Stadelmann-Steffen, Michael Sutter, Emanuel von Erlach, Reto Wiesli und Regula Zürcher sowie weitere Mitarbeiter, vor allem Michelle Beyeler, Hans Hirter, Christian Rosser und Bianca Rousselot. Ihnen allen sowie jenen Mitarbeitenden des Haupt Verlags, die zum Gelingen des Buchs beigetragen haben, bin ich zu Dank verpflichtet. Ein besonderer Dank gilt meiner Frau Verena Tobler Linder, die den gesamten Text kritisch durchgelesen und stilistisch geschliffen hat.
Die vorliegende, vierte Auflage wurde allein vom Team Linder/Mueller aufbereitet. Ein herzliches Dankeschön gehört Sean, nicht nur für die fruchtbaren Diskussionen zum gemeinsamen neuen Text, sondern auch für die umsichtige und höchst effiziente Aufarbeitung aller Daten.
Bern, im Juni 2017 |
Wolf Linder |
Inhalt
Vorwort
Grundlagen
Kapitel 1: Einführung
A. Die Schweiz zwischen Erfolgsgeschichte und Identitätskrise
B. Zur Rolle der politischen Institutionen für die schweizerische Gesellschaft
1. Die Funktionen von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft
2. Die Schweiz als «paradigmatischer Fall politischer Integration»
3. Die Eigenart schweizerischer Demokratie
4. Die schweizerischen politischen Institutionen im Kontext der Globalisierung
C. Zum Aufbau des Buches
Kapitel 2: Durch politische Integration zur multikulturellen Gesellschaft
A. Die Schaffung des Bundesstaats von 1848
B. Aus Nachteilen werden Vorteile, oder: Bedingungen, die den multikulturellen Nationalstaat ermöglichten
1. Ein grösserer Markt für die industrielle Wirtschaft
2. Wachsender politischer Druck von aussen
3. Die Kultur gegenseitiger Hilfe und Zusammenarbeit in der Kleingesellschaft
4. Die kantonale Demokratisierung
5. Die Verbindung von Demokratie- und Föderalismusprinzip
C. Die Integration von konfessionellen und sprachlichen Minderheiten: Von der Koexistenz zum Pluralismus
1. Der politische Katholizismus
2. Mehrsprachigkeit: Verständnisse und Missverständnisse
3. Der Jura – die Ausnahme der Integration einer kulturellen Minderheit
D. Kapital und Arbeit: Vom Klassenkampf zu Sozialpartnerschaft und Konkordanz
1. Arbeiterklasse ohne Heimat
2. Sozialpartnerschaft und Konkordanz
E. Grenzen der politischen Integration und des schweizerischen Pluralismus
Institutionen und Prozesse
Kapitel 3: Das Volk
A. Wer ist das Volk?
1. Ausländerstimmrecht
2. Frauenstimmrecht
B. Die Wählerschaft
1. Politische Kultur: Einige Einstellungen und Werthaltungen im internationalen Vergleich
2. Politische Teilnahme
3. Das Profil der schweizerischen Wählerschaft
4. Motive des Wahlentscheids
5. Die schweizerische Wählerschaft zwischen Stabilität und Wandel
C. Die aktive Zivilgesellschaft
1. Das Milizsystem
2. Medien und politische Öffentlichkeit
3. Aktive politische Öffentlichkeit
Kapitel 4: Parteien und Parteiensystem
A. Funktion und Entstehung
B. Das nationale Parteiensystem
1. Das Vielparteiensystem und seine politische Fragmentierung
2. Gesellschaftliche Spaltungen als Determinanten des Parteiensystems
3. Die Neutralisierung des kulturell-konfessionellen Konflikts
C. Die föderalistische Fragmentierung
1. Das schweizerische Parteiensystem – eine prekäre Einheit?
2. Föderalistische Organisation, innerparteiliche Willensbildung und Finanzierung
3. Unterschiedliche Verbreitung und Mehrheitsverhältnisse in den Kantonen
D. Der Einfluss des Wahlsystems
1. Die Grundidee von Majorz- und Proporzwahl
2. Die Auswirkungen der Proporzregel
3. Die Auswirkungen der Majorzregel
4. Ergebnis und Diskussion
E. Die Parteien in der Gesellschaft
1. Verbreitung in den Gemeinden
2. Parteien und Volk
F. Zukunft des Parteiensystems
Kapitel 5: Verbände
A. Entstehung und Funktion
B. Die Organisation der Wirtschaftsverbände
C. Sozialpartnerschaft
D. Die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Staat
1. Der Einfluss auf die Gesetzgebung
2. Vom parastaatlichen Politikvollzug zur Liberalisierung und Privatisierung
E. Wie bilden Verbände politische Macht?
F. Verbände und das Demokratiemodell des Gruppenpluralismus
Kapitel 6: Soziale Bewegungen
A. Zur Entwicklung: Politik für das Volk – Politik durch das Volk
B. Soziale Bewegungen und politischer Protest in der Schweiz
1. Hauptgruppierungen des politischen Protests 1970–2000:
2. Neuere Entwicklungen: Vernetzung, neue Medien und Internationalisierung
C. Soziale Bewegungen zwischen Integration und Repression
D. Soziale Bewegungen und direkte Demokratie
1. Bewegungsprotest und partizipative Planung
2. (Neue) soziale Bewegungen und der versierte Bürger
E. Demokratietheoretische Perspektiven
F. Populismus
Kapitel 7: Föderalismus
A. Institutionelle Grundlagen
1. Die schweizerischen Ideen des Föderalismus
2. Föderalistischer Staatsaufbau und Aufgabenverteilung
3. Das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen
4. Die vertikalen und horizontalen Institutionen des Föderalismus: Eine Übersicht
B. Die Aufgaben- und Ausgabenentwicklung
1. Die Entwicklung der Bundesaufgaben
2. Ressourcen, Ausgaben und Gesetzgebung im föderalistischen Vergleich
3. Der internationale Vergleich: Bescheidener Staat, geringe Zentralisierung
4. Warum in der Schweiz kein grosser Zentralstaat entstehen konnte
C. Die Vielfalt politischer Institutionen in den Kantonen
D. Die Bedeutung der Gemeinde und der Gemeindeautonomie
1. Die Gemeindeautonomie
2. Grundzüge des lokalen Regierungssystems
3. Die Beziehungen zwischen Gemeinden und Kanton
E. Empirische Politikanalyse des Föderalismus
1. Kooperativer Föderalismus: Der Vollzug von Bundesaufgaben auf kantonaler und kommunaler Ebene (Politikverflechtung)
2. Zwischen politischer Blockierung und Innovation: Die Kernenergie-Frage und die experimentellen Energiesparprogramme der Kantone
3. Föderalismus als Politik des regionalen Ausgleichs
4. Umgang mit dem Separatismus: Die schwierige Geburt eines neuen Kantons
5. Die Kehrseite kantonaler Autonomie, oder: Wie das Bundesgericht die Schwäche der politischen Bundesbehörden gegenüber den Kantonen kompensiert
6. Der Engpass des schweizerischen Vollzugsföderalismus: Politischer Konsens
7. Föderalismus versus Demokratie: Wieso eine Urnerin 35 Zürcherinnen überstimmt
8. Ungenutzte Chancen des Föderalismus: Das Beispiel der Agglomerationen
F. Föderalistische Gebietsreform: Theorie und Praxis
Kapitel 8: Das Parlament
A. Die Stellung des Parlaments im politischen System
1. Das Parlament als «oberste Gewalt des Bundes»?
2. Die eidgenössischen Räte zwischen präsidialem und parlamentarischem System
3. Die eidgenössischen Räte: Rede- oder Arbeitsparlament?
4. Das Zweikammersystem
5. Milizidee oder Semiprofessionalismus?
B. Die Organisation des Parlaments
1. Allgemeines
2. Die Kommissionen als Organe des Arbeitsparlaments
C. Die Funktionen des Parlaments
1. Die Bundesversammlung als Wahlbehörde
2. Die Gesetzgebung
3. Budget, Rechnung, Kontrolle und Oberaufsicht
4. Das Parlament als Forum der Nation
D. Der politische Entscheidungsprozess
1. Die Rolle der Fraktionen
2. Parlamentarierinnen zwischen Partei- und Verbandsloyalität
3. Erfolg von Parteifraktionen und -koalitionen
4. Parlamentarier zwischen Eigennutz und Altruismus
5. Der Entscheidungsbeitrag des Parlaments im politischen Gesamtprozess
Kapitel 9: Die Regierung
A. Die Stellung des Bundesrats im schweizerischen System
B. Wahl und parteipolitische Zusammensetzung
C. Der Bundesrat als Kollegialbehörde
D. Der politische Entscheidungsprozess im Kollegialsystem
E. Die Funktionen der Regierung und der politischen Verwaltung
1. Departementalisierung, oder: Das Überhandnehmen des Departementalprinzips in der Politikformulierung
2. Bürokratisierung, oder: Die Entwicklung der politischen Verwaltung
3. Die Zunehmende Bedeutung von Expertinnen
F. Regierungsreform?
Kapitel 10: Direkte Demokratie
A. Entwicklung und Grundzüge der halbdirekten Demokratie
1. Zur Geschichte der Volksrechte
2. Das Grundkonzept der halbdirekten Demokratie
3. Das Volk als institutionelle Opposition
4. Direkte Demokratie als Konkordanzzwang
5. Modifikationen und Erweiterungen des Grundkonzepts halbdirekter Demokratie bei den Kantonen und Gemeinden
6. Ausgestaltung und Begrenzungen des Konzepts halbdirekter Demokratie beim Bund
B. Die Spielregeln direkter Demokratie beim Bund
1. Übersicht
2. Das obligatorische (Verfassungs-)Referendum
3. Das fakultative (Gesetzes-)Referendum
4. Das resolutive (aufhebende) Referendum
5. Die Volksinitiative
C. Funktionen und Entscheidwirkungen des Referendums
1. Zur Wahrscheinlichkeit des fakultativen Referendums
2. Die innovationshemmenden Entscheidungswirkungen des Referendums
3. Die Integrationswirkungen der Referendumsdemokratie
4. Der Einfluss des Verfassungsreferendums auf die Staatsentwicklung
D. Funktionen und Entscheidwirkungen der Volksinitiative
1. Die Volksinitiative als Instrument politischer Innovation
2. Die vier Funktionen der Volksinitiative
3. Zwischen Erfolg und Innovation: Zur Entscheidungslogik der Volksinitiative
4. Längerfristige Systemwirkungen der politischen Innovation und Integration
E. Der Gebrauch des Referendums und der Volksinitiative in den Kantonen
F. Die Volksabstimmung
1. Von der Lancierung eines Volksbegehrens bis zur Vorlage vor das Volk
2. Die Meinungsbildung im Abstimmungskampf
3. Wählerinnen und Wähler zwischen Wissen, Vertrauen und Propaganda
4. Determinanten des Abstimmungserfolgs
5. Der Entscheid und seine Folgen
G. Partizipation und Abstimmungsverhalten der Bürgerschaft
1. Die entscheidende Mehrheit
2. Regelmässige, gelegentliche Urnengänger und Abstinente
3. Wer sind die Urnengängerinnen und die Abstinenten? Ein Profil des Stimmvolks
4. Das Problem der Partizipation aus demokratietheoretischer Sicht
H. Das Abstimmungsverhalten
1. Praxisorientierte Abstimmungsforschung anhand der Asylgesetzgebung
2. Die Bedeutung von Theorien für die Interpretation des Abstimmungsverhaltens
I. Reform der Volksrechte?
1. Die 1990er-Jahre: Ausbau oder Einschränkung der Volksrechte?
2. Die 2000er-Jahre: Verunglückte Reformen und die unbewältigte Internationalisierung der direkten Demokratie
Kapitel 11: Das Entscheidungssystem der Konkordanz
A. Konkordanz als System der Machtteilung und Interessenvermittlung
1. Das Konkordanzsystem: Kind einer Wirtschaftskrise
2. Die schweizerische Konkordanz als Modellfall der «Consensus Democracy»
3. Konkordanz und Verbandsstaat als Form des «Neokorporatismus»?
4. Das vorparlamentarische Entscheidungsverfahren: Die Arena des Gruppenpluralismus
B. Das Gesamtsystem von Volk, Parlament, Regierung, Verbänden und Verwaltung
C. Konkordanz und Machtteilung – demokratietheoretisch betrachtet
1. Das schweizerische System im Vergleich zur parlamentarischen Mehrheitsdemokratie
2. Der Trade-off zwischen Wahl- und Abstimmungsdemokratie: Wer hat mehr politischen Einfluss, die Britin oder die Schweizerin?
3. Zur Theorie der Verhandlungsdemokratie
4. Konkordanz und direkte Demokratie: Ein ambivalentes Verhältnis
5. Die Folgen der Globalisierung auf das Entscheidungssystem und die Konkordanz
D. Kritik an der Konkordanz
1. Die politische Umstrittenheit der Konkordanz
2. Input-Kritik: Ungleiche Beteiligung und privilegierte Stellung kurzfristiger Partialinteressen
3. Output-Kritik: Geringe Innovation und Privilegierung saturierter Interessen
E. Alternativen zur Konkordanz
1. Die «grosse» Alternative: Konkurrenz statt Konkordanz
2. Die «kleinen» Alternativen: Revitalisierung der Konkordanz
Perspektiven
Kapitel 12: Perspektiven direkter Demokratie
A. Zur globalen Verbreitung direkter Demokratie
1. Verbindlichkeit
2. Auslösung der Volksabstimmung
3. Nationale und subnationale Volksabstimmungen
B. Praxis und Wirkung direkter Demokratie: Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der Schweiz und den US-Einzelstaaten
1. Gemeinsamkeiten
2. Unterschiede
C. Die demokratietheoretische Perspektive: Direkte Demokratie zwischen Realität und Utopie
1. Die Kontroverse: Parlamentarismus gegen direkte Demokratie
2. Halbdirekte Demokratie: Das Modell «sensibler Demokratie»
3. Möglichkeiten und Grenzen direkter Demokratie aus theoretischer Sicht
D. Fazit
Kapitel 13: Föderalismus im internationalen Vergleich
A. Kernelemente des institutionellen Föderalismus
B. Föderalismus: Struktur, Prozess und politische Kultur
C. Moderne Bedeutungen des Föderalismus
1. Föderalismus im Zeitalter der Globalisierung
2. Der Schutz kultureller Differenz und Vielfalt
D. Nicht territorialer Föderalismus
E. Zur Frage der Sezession
Kapitel 14: Zur Bedeutung des Modells der Konsensdemokratie
A. Die schweizerische Konsensdemokratie im internationalen Vergleich
B. Machtteilung als friedliche Lösung eines ethnopolitischen Konflikts
C. Folgerungen
Kapitel 15: Zur Zukunftsfähigkeit der schweizerischen Institutionen
A. Der Zusammenhang von Globalisierung, Nationalstaat und Demokratie
B. Rückblick: Die Europäisierung auf dem bilateralen Vertragsweg
1. 1992: Das Nein von Volk und Ständen zum EWR-Vertrag
2. Die Strategie des Bilateralismus
3. Unilaterale Integrationspolitik
4. Europäisierung als Teil der Globalisierung
C. Die politischen Folgen der Europäisierung
1. Europäisierung und neue gesellschaftliche Spaltungen
2. Institutionelle Veränderungen
3. Zunehmende Polarisierung
4. Die polarisierte Konkordanz
D. Alternativen zum Bilateralismus
E. Vom Bedarf an Reformen und von der Weisheit, auf solche zu verzichten
1. Die Verbindung von Föderalismus, direkter Demokratie und Konkordanz: Eine zukunftsfähige Grundstruktur
2. Postdemokratie Swiss made
3. Direkte Demokratie im globalisierten Umfeld
Anhang
Literatur- und Quellenverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Grafikverzeichnis
Kastenverzeichnis
Kapitel 1: Einführung
«Der Schweizer hat … den dialektischen Vorteil, dass er gleichzeitig frei, Gefangener und Wärter ist.»
Friedrich Dürrenmatt, Schriftsteller
«In der Schweiz ist übrigens alles schöner und besser.»
Adolf Muschg, Schriftsteller
A. Die Schweiz zwischen Erfolgsgeschichte und Identitätskrise
Die Schweiz ist ein privilegiertes Land. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast ganz Europa in die Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkrieges gezogen wurde, überlebte die Schweiz als Demokratie, als direkter Nachbar der kriegführenden Mächte und als unabhängiger Kleinstaat. Und war das Land im 19. Jahrhundert noch arm und ohne eigene Rohstoffe, so weist die schweizerische Gesellschaft heute den nahezu höchsten Lebensstandard unter den industrialisierten Ländern aus. Dazu hat vor allem ein anhaltendes Wirtschaftswachstum in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen. Neben dem Tourismus, der starken Baubranche und den Mittel- und Kleinbetrieben des Binnenmarktes bauten die schweizerische Pharma-, Uhren-, und Maschinenindustrie sowie Banken, Versicherungs- und Handelsunternehmen ihre Geschäftstätigkeit weltweit aus. Die Wirtschaft ist stark exportorientiert und hat sich im letzten Jahrzehnt einen Spitzenrang in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit erhalten können. Die Schweiz bezeichnet sich als Kleinstaat; das ist sie jedenfalls bevölkerungs- und flächenmässig. Wirtschaftlich jedoch gilt sie als mittlere Macht im europäischen Raum; sie ist im Jahr 2015 drittgrösster Kunde der Europäischen Union (nach den USA und China) und ihr viertgrösster Lieferant (nach den USA, China und Russland) (DEA 2017:9).
Zur wirtschaftlichen Stärke gesellt sich ein leistungsfähiger Staat. Die Verschuldung der öffentlichen Hand ist im Vergleich zu jener in den OECD-Staaten gering. Schweizerinnen und Schweizer bezahlen weniger Steuern als die meisten Europäer, vor allem aber wenig im Vergleich zu den Leistungen, die sie vom Staat in Anspruch nehmen. Das Bildungswesen weist in einigen Bereichen wie der Berufsbildung hohes Niveau aus; in einzelnen Forschungsbereichen geniesst die ETH Weltruf. Das System des öffentlichen Verkehrs ist zuverlässig und dicht. Es erschliesst nicht nur die grossen Städte, sondern reicht bis in kleine Bergdörfer. Das Preis-Leistungs-Verhältnis im Gesundheitswesen und bei den Sozialversicherungen ist vergleichsweise gut. Die politische Stabilität gilt als aussergewöhnlich. Obwohl Volk und Stände im Jahresdurchschnitt etwa sechsmal über Verfassungsänderungen abstimmen, ist die Schweiz nicht das Land politischer Revolutionen. Schon eher beklagt man sich über das geringe Interesse der Stimmberechtigten, von denen sich meistens weniger als die Hälfte zur Urne bewegen.
Neben dieser Erfolgsgeschichte ist aber auch eine andere zu hören – diejenige der Schweiz, die in einer ungewissen Zukunft mit sich selbst ringt. Die Jahrzehnte jenes Wirtschaftswachstums, in denen unser Land leichter zu Wohlstand kam als andere, sind vorbei. Die Standortvorteile der Vergangenheit haben nach 1989 an Bedeutung eingebüsst. Mit dem Ende der bipolaren Ost-West-Welt ist auch die Sonderstellung der Schweiz zu Ende gegangen. Aus der Verbindung neutralitätspolitischer Abstinenz bei gleichzeitiger handelspolitischer Verflechtung lassen sich weniger Vorteile ziehen als früher. Statt des Beitritts zum EWR hat das Land 1992 den Weg bilateraler Verträge mit der EU gewählt. Sie sind das Kernstück einer weitgehenden Integration in den europäischen Wirtschaftsraum ohne institutionelle Anbindung an die EU. Damit bleibt die Schweiz allerdings verletzbar: Die Zukunft des bilateralen Wegs ist ebenso ungewiss wie die weitere politische Entwicklung der EU selbst. In Konflikten mit den USA und der EU um Bankgeheimnis und Steuervorteile spürt die Schweiz, dass sie zunehmend isoliert ist. Die unkontrollierten Risiken der globalen Finanzmärkte trafen auch die Schweiz: Die «systemrelevante» Grossbank UBS, die sich im Zuge der US-Immobilienkrise an den Rand der Insolvenz brachte, beanspruchte 2008 ein milliardenschweres Rettungspaket des Bundes. Die Schweiz hat an ideellem Kredit im Ausland eingebüsst. Historiker schreiben Abschnitte der schweizerischen Geschichte neu. Die Schweiz hat nicht nur ihren Platz in einer veränderten weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung zu behaupten, sondern auch ihre Identität neu zu bestimmen. Zwei bekannte Bonmots bringen den Gegensatz zwischen Erfolgsgeschichte und Identitätskrise auf den Punkt: «je pense, donc je suisse» und «Suiza no existe»1.
B. Zur Rolle der politischen Institutionen für die schweizerische Gesellschaft
1. Die Funktionen von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft
Die Schweiz teilt mit den liberal-demokratischen, entwickelten Industrieländern eine Reihe von Strukturmerkmalen. Dazu gehört vor allem die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in die Bereiche eines wirtschaftlichen, sozialen und staatlichen Systems. Diese sind zwar miteinander verflochten, erfüllen aber unterschiedliche Funktionen. Auch ihre Selbststeuerung folgt unterschiedlichen Medien des geldförmigen Tauschs, der sozialen Normen und des rechtlichen Zwangs. Das wirtschaftliche, das soziale und das staatliche System der demokratischen Industriegesellschaft lassen sich auf abstrakter Ebene wie in Grafik 1.1 unterscheiden.
Grafik 1.1: Funktionen von Wirtschaft, Staat und Sozialbereich aus systemtheoretischer Perspektive
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Offe (1972).
Die drei Systeme erfüllen unterschiedliche Funktionen:
– Wirtschaftssystem: Mit der Industrialisierung wurden Formen der Subsistenzwirtschaft (d. h. Produktion für den Eigenbedarf) durch die kapitalistische Erwerbswirtschaft abgelöst. Die Produktion der meisten Wirtschaftsgüter erfolgt in Betrieben und Unternehmungen, die Verteilung über den Markt. Wettbewerb, Gewinnstreben sowie eigennütziges Verhalten von Produzentinnen und Konsumenten prägen den geldförmigen Austausch der Güter. Der freie Wettbewerb stimuliert Innovation, Differenzierung und Wachstum. Die industrielle und später die Dienstleistungswirtschaft werden zum Motor der gesellschaftlichen Entwicklung: Sie bringen neben dem materiellen Wohlstand auch neue Schichten, Klassen und Lebensmilieus hervor sowie die Emanzipation des Individuums aus traditionalen Bindungen. Aus dem Interessengegensatz von Kapital und Lohnarbeit ergibt sich indessen ein andauernder Grundkonflikt um wirtschaftlich-soziale Ungleichheiten. Die Nichtbewertung von freien, öffentlichen Gütern durch den Markt produziert Folgeprobleme wie den ökologischen Raubbau. Der Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und ökologischer Nachhaltigkeit bleibt bis heute politisch ungelöst.
– Sozialsystem: Mit der Industrialisierung verlor der Familienverband seine zentrale Funktion der Produktion und Verteilung in der Subsistenzwirtschaft. Weitere traditionelle Aufgaben wurden aus der Familie ausgelagert. Der laizistische Staat enthob die Sozialorganisationen der Kirche gesellschaftlicher Aufgaben des Bildungswesens oder der Regelung der Eherechtsverhältnisse. Der Familie und weiteren sozialen Vereinigungen verbleiben einzig jene Reproduktions- und Sozialisationsfunktionen, für die sich die Logik der Erwerbs- und Geldwirtschaft nicht eignen. Die Beziehungen im Sozialsystem beruhen auf nicht geldwertem Austausch: Individuen handeln aufgrund von bestimmten Rollenerwartungen (z. B. der Geschlechter- und Lebenslaufrollen in der Familie) sowie aufgrund kultureller Konventionen oder Moralvorstellungen.
– Staatliches System: Mit der Entwicklung des modernen Flächenstaats garantiert die politische Gewalt Unabhängigkeit gegen aussen und gesellschaftliche Sicherheit gegen innen. Das staatliche Gewaltmonopol sichert Eigentum und Freiheit der Bürger, organisiert den Wirtschaftsmarkt und zivilisiert Konflikte durch eine allgemein verbindliche Rechtsordnung. Die Kontrolle des Gewaltmonopols erfolgt durch den Rechts- und Verfassungsstaat. Der Staat beschränkt sich auf die Bereitstellung öffentlicher Güter2 für das Wirtschafts- und Sozialsystem. Dazu gehören Vorleistungen für die private Produktion (Infrastruktur), die Kompensation von wirtschaftlicher Ungleichheit durch Umverteilung von Einkommen und die Bereitstellung sozialstaatlicher Leistungen sowie die Reparatur von Folgeschäden der industriellen Produktion und des Konsums (z. B. durch den Umweltschutz). Die Finanzierung staatlicher Leistungen erfolgt durch die Besteuerung der privaten Wirtschaftstätigkeit. Die Staatstätigkeiten werden durch die Verfassung und das Gesetz geregelt. In westlichen Industriegesellschaften legitimiert sich Demokratie als einzige dauerhafte, friedliche und stabile Regierungsform, weil sie ihren Bürgern unverzichtbare Freiheits- und Partizipationsrechte gewährt und die Ausübung der Regierungsmacht nach den Präferenzen der politischen Mehrheit verspricht.
Diese Funktions- und Arbeitsteilung von Wirtschaft, Staat und Sozialsystem (das wir auch als Gesellschaft im engeren Sinn bezeichnen können) folgt in der Schweiz einigen Besonderheiten. Bis in die jüngere Zeit beschränkten Kartelle und Absprachen zwischen den Unternehmen den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt stark. Das schweizerische Politiksystem gehört im europäischen Vergleich zu jenen liberal geprägten Staaten, die sich durch geringere Bürokratisierung, geringere Staatsausgaben und eine relativ bescheidene Sozialstaatlichkeit auszeichnen. Gegen aussen verband die Schweiz eine aussenpolitische Abstinenz (Maxime bewaffneter Neutralität) mit wirtschaftspolitischem Engagement für den globalen Freihandel. Die schweizerische Gesellschaft leistet sich mit ihren 26 Kantonen und 2300 Gemeinden auf bloss acht Millionen Einwohner eine fast luxuriös zu nennende politische Struktur. Wirtschaft, Staat und Gesellschaft sind stark verflochten. Der weitreichende politische Einfluss von Wirtschaftsverbänden und Sozialorganisationen, die zahlreichen Milizämter und das dichte Netz gemeinnütziger Organisationen illustrieren dies.
2. Die Schweiz als «paradigmatischer Fall politischer Integration»
Staatsbildungen des 19. Jahrhunderts zeigten sich, wie etwa in Deutschland und Italien, als politische Bewegung «nationaler Einigung». Dementsprechend vereinigte der Nationalstaat ein Volk gleicher Ethnie, Kultur oder Sprache. Dies gilt für die Schweiz gerade nicht. Der Bundesstaat von 1848 brachte die Völker von 25 Kantonen und vier Sprachgruppen zusammen, die sich durch unterschiedliche Geschichte und Kultur auszeichneten. Die Zustimmung der Kantone zur Bundesverfassung war darum der politische Akt einer multikulturellen Staatsgründung, und deren Resultat keine Kulturnation, sondern eine politische Staatsnation.3
Die politischen Institutionen hatten daher besondere Integrationsleistungen zu erbringen. Diese gingen über die Bewältigung jener wirtschaftlich-sozialen Konflikte hinaus, die in allen Staaten im Zuge der Industrialisierung anzutreffen waren. Denn die konfessionelle Spaltung nach der Reformation hatte zu vier Bürgerkriegen unter den alten Kantonen der Eidgenossenschaft geführt, und der Staatsgründung ging der Sonderbundskrieg zwischen konservativen Katholiken und fortschrittlichen Protestanten voraus. Die konfessionelle Spaltung setzte sich im «Kulturkampf» fort, und ihre Nachwehen reichen weit ins 20. Jahrhundert. Auch das sprachpolitische Verhältnis zwischen Deutschschweiz und Romandie war nicht immer ungetrübt. Trotz der politischen Neutralität kam es in der kritischen Zeit des Ersten Weltkriegs zu einer gefährlichen Spaltung des Landes, als die politischen Eliten sich je auf eine Seite der Kriegführenden schlugen: Die Mehrheit der Deutschschweiz sympathisierte mit Deutschland, die Romands dagegen mit Frankreich.4
Dass die Schweiz an solchen internen Konflikten nicht zerbrach, sondern trotz kultureller Heterogenität sogar noch zusammenwuchs, verdankt sie zu einem grossen Teil ihren politischen Institutionen. Nicht zufällig bezeichnete der Gesellschaftstheoretiker Karl Deutsch (1976) die Schweiz als «paradigmatischen Fall politischer Integration». Der Aufbau einer schweizerischen Nation gelang, obwohl es, überspitzt gesagt, eine schweizerische Gesellschaft 1848 noch gar nicht gab. Nationale Identität musste zum einen über Symbole gesucht werden, von der Figur der Helvetia, des Tells und seiner Armbrust auf den Briefmarken bis zu den Wirtshausschildern des «Weissen Kreuz» oder den «Drei Eidgenossen» und ihrer idealisierten Geschichte. Zum anderen waren das eidgenössische Stimm- und Wahlrecht, die Armee und das Recht auf Niederlassung in jedem Kanton auch etwas Reales und womöglich das erste Gemeinsame zwischen Appenzellern und Genfern. Das Dach des Föderalismus, das den Kantonen grosse Freiheiten liess, war eine politisch-institutionelle Voraussetzung dafür, dass die historischen Konflikte zwischen den Konfessionen in der Folge auskühlen konnten und dass die sprachlichen und kulturellen Minderheiten ihre Identität zu erhalten vermochten. Sprach- und Konfessionsminderheiten erhielten Sitz und Stimme im Bundesstaat. Dies trug dazu bei, dass durch politische Integration überhaupt eine schweizerische Gesellschaft entstehen konnte. Freilich gab es auch Ausgrenzungen. Der wirtschaftlich-soziale Klassenkonflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital blieb bis zum Zweiten Weltkrieg ungelöst. Gewerkschaften und die politische Linke hatten bis zu diesem Zeitpunkt wenig Einfluss auf die Bundespolitik und blieben während Jahrzehnten aus der rein bürgerlichen Landesregierung ausgesperrt. Auch für kulturell-sprachliche Konflikte gibt es Ausnahmen vom Muster politischer Integration. Nach dem Zweiten Weltkrieg brach ein Minderheitenkonflikt offen und heftig aus, als der französischsprachige, katholische Teil des Kantons Bern die Legitimität der bernischen Regierung in Frage stellte und in einem langen Kampf 1978 die Errichtung eines eigenen Kantons erreichte.
Auch haben neben den politischen Institutionen andere Faktoren – etwa das Zusammenrücken in den Zeiten äusserer Bedrohung vor und während des Zweiten Weltkriegs – zur Abschwächung gesellschaftlicher Konflikte beigetragen. Trotzdem bleibt die erfolgreiche Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen und die friedliche Lösung ihrer Konflikte bis heute eine der wichtigsten Leistungen des schweizerischen Systems. Aus politologischer Sicht spielen dabei zwei institutionelle Einrichtungen eine besondere Rolle, nämlich der Föderalismus sowie die proportionale Machtteilung oder Konkordanz.
3. Die Eigenart schweizerischer Demokratie
Die Eigenart schweizerischer Demokratie zeigt sich an mehreren Punkten. Erstens setzte sich das Prinzip demokratischer Legitimation politischer Herrschaft früher durch als in den anderen europäischen Ländern, wo im 19. Jahrhundert der Republikanismus der Französischen Revolution auf die konstitutionelle Monarchie zurückfiel. Später, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war die schweizerische Demokratie so stark gefestigt, dass sie den Tendenzen des Totalitarismus zu widerstehen vermochte.
Zweitens setzten sich im 19. Jahrhundert unter der Devise der «Volkssouveränität» jene Formen der direkten Demokratie durch, die der Stimmbürgerschaft über das Wahlrecht hinaus die Mitwirkung an den wichtigsten Sachgeschäften erlauben. Die Abstimmungsdemokratie gewährt ihren Bürgerinnen und Bürgern eine Mitgestaltung der «res publica», die erheblich über das hinausgeht, was sich in den Demokratisierungswellen des 20. Jahrhunderts als Repräsentativsystem global durchsetzte.
Drittens gehört die Schweiz zu den föderalen Systemen. Die föderative Teilung staatlicher Macht zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten ist zwar keineswegs einzigartig, und die Kombination von Demokratie und Föderalismus durch das Zweikammersystem des Parlaments wurde auch nicht in der Schweiz erfunden, sondern aus dem amerikanischen Verfassungssystem entlehnt. Dagegen erfüllt der Föderalismus besondere politische Funktionen in der sprachlich-religiös segmentierten Gesellschaft der Schweiz: 1848 das Ergebnis eines politischen Verfassungskompromisses zwischen Katholisch-Konservativen und Protestantisch-Freisinnigen, sichert Föderalismus bis heute die kulturellen Eigenheiten der Kantone. In den weitreichenden Kompetenzen von Kantonen und Gemeinden und in deren hohem Anteil an den öffentlichen Einnahmen und Ausgaben drückt sich sodann die Präferenz der Stimmbürgerschaft für ein möglichst dezentrales Gemeinwesen aus. Dem Bund wird nur, und nur zögerlich, zugewiesen, was die Kantone nicht zu leisten vermögen.5 Die schweizerische Zentralregierung dürfte die einzige auf der Welt sein, die bis heute über keine dauerhaften, sondern bloss zeitlich befristete Einkommenssteuern verfügt.
Viertens verwandelte sich unter dem Einfluss der Volksrechte das Politiksystem von der ursprünglichen Mehrheitsdemokratie allmählich zur Verhandlungs- oder Konsensdemokratie. Das sog. Konkordanzsystem ist geprägt durch die proportionale Vertretung und Zusammenarbeit der verschiedenen Parteien in Regierung, Parlament und bei der Besetzung von Verwaltungsstellen und Gerichten. Zudem werden in der Gesetzgebung all jene gesellschaftlichen Gruppierungen und Verbände angehört, die sich über die Fähigkeit ausweisen, ein Referendum auszulösen. Das führt zur Politik der Verständigung durch Verhandeln und zum Suchen von Kompromissen. Die Konkordanz begünstigt jene Integrationsleistungen, die für die schweizerische Gesellschaft mit ihren kulturellen Minderheiten dauerhaft erforderlich sind. Direkte Demokratie bietet die Möglichkeit der Opposition: Parteien und Verbände, die gegen Vorschläge des Parlaments zu einer Verfassungsänderung sind, bringen diese in der obligatorischen Volksabstimmung nicht selten zu Fall. Oppositionelle Kräfte ergreifen gelegentlich das Referendum gegen ein neues Gesetz, und mit Volksinitiativen bringen verschiedenste Gruppen neue Probleme und Tendenzen in die politische Arena ein. Hingegen fehlt im schweizerischen System der wichtigste Grundzug aller repräsentativen Demokratien: Es gibt keinen regelmässigen Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition, der die Ausübung politischer Macht zeitlich begrenzt und mittels Wahlen die Belohnung oder Bestrafung der Regierung für ihre vergangene Politik ermöglicht.
Ein fünfter Punkt schweizerischer Eigenheit darf allerdings nicht unerwähnt bleiben: Im krassen Gegensatz zur frühen Demokratisierung steht die Tatsache, dass das Frauenstimmrecht in der Schweiz erst spät, nämlich 1971 eingeführt wurde. Diese weniger rühmliche Eigenheit schweizerischer Demokratie hat Gründe, die nicht notwendigerweise nur auf einer konservativeren Haltung schweizerischer Männer beruhen.6 Trotzdem hatte die Männerdemokratie bis dahin die Hälfte der Bürgerschaft von der politischen Partizipation ausgeschlossen.
4. Die schweizerischen politischen Institutionen im Kontext der Globalisierung
Das Gefühl, die schweizerische Demokratie sei etwas Einzigartiges, bildete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen prominenten Teil gesellschaftlicher Identität und nationalen Selbstverständnisses. Diese Vorstellung mag in den Bedrohungen des Zweiten Weltkriegs auch einen wichtigen Beitrag zur Behauptung der äusseren Unabhängigkeit und des inneren Zusammenhalts des Landes geleistet haben, ist jedoch Vergangenheit und Geschichte. Ein feindliches Umfeld europäischer Nachbarn gibt es nicht mehr, dafür die wirtschaftspolitische Integration der EU-Länder sowie gesamteuropäische Bemühungen, den Frieden kollektiv zu sichern. Demokratie verbreitet sich weltweit über den Kreis der entwickelten Industrieländer hinaus. Globalisierung, mit all ihren Licht- und Schattenseiten, befördert die weltweite Liberalisierung der Wirtschaft. Staatliche Grenzen öffnen sich. Innenpolitik wird zur Aussenpolitik, Aussenpolitik zur Innenpolitik. Was den Nationalstaaten an der Kontrolle über die Zirkulation von Kapital, Gütern, Informationen und Arbeitskräften entgeht, wird teilweise aufgefangen durch internationale, transnationale und supranationale Organismen. Dorthin verlagern sich gewichtige Teile der Politik. Der nationale Staat gewinnt Mitbestimmung im äusseren, grösseren Rahmen, verliert aber an Autonomie und Bedeutung im Inneren. Diese Verluste treffen auch die Demokratie, denn die meisten internationalen oder supranationalen Organismen sind demokratisch nur schwach legitimiert, auch wenn national legitimierte Staats- und Regierungschefs entscheiden.
C. Zum Aufbau des Buches
Das folgende Kapitel 2 behandelt die Geschichte der Staatsgründung und die Entwicklung der schweizerischen Demokratie. Es steht unter dem Leitthema der politischen Integration einer multikulturellen Gesellschaft.
Die Kapitel 3–11 analysieren die einzelnen Institutionen und Prozesse der schweizerischen Politik. Es schien angebracht, die Stimmbürgerschaft nicht wie üblich auf die Teilaspekte von Wahlen, Abstimmungen und Parteien zu reduzieren, sondern dem «Volk» als dem eigentlichen Subjekt der Demokratie ein eigenes Kapitel zu widmen (Kapitel 3). Parteien, politische Bewegungen, Verbände werden als wichtigste Organisationen der Artikulation und Bündelung von Interessen dargestellt. Besonderes Augenmerk gilt ihren je spezifischen Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheide (Kapitel 4–6). Föderalismus (Kapitel 7) ist mehr als eine Verfassungsstruktur vertikaler Machtteilung; er ist auch Ausdruck einer politischen Kultur, welche der dezentralen Selbstbestimmung gegenüber der Macht des Zentralstaats den Vorzug gibt. Die Frage, wie schweizerischer Föderalismus die Prozesse und das Ergebnis der politischen Entscheidungen beeinflusst, wird an einer Reihe von Fallbeispielen untersucht. Kapitel 8–10 sind den drei Organen gewidmet, welchen die Verfassung die formalen Entscheidungsbefugnisse zuordnet: Regierung, Parlament und Stimmbürgerschaft. Der politologischen Analyse der Referendumsdemokratie wurde dabei besondere Beachtung geschenkt, bevor das Konkordanzsystem mit seinen Vernetzungen zwischen vorparlamentarischem, parlamentarischem, direktdemokratischem und administrativem Entscheidungskomplex in Kapitel 11 dargestellt wird.
Wer die Eigenheiten des schweizerischen Systems verstehen will, kommt um eine vergleichende Betrachtung nicht herum. Die Kapitel 12–14 gehen der Frage nach, wie direkte Demokratie, Föderalismus und Machtteilung in anderen Ländern praktiziert werden. Dabei zeigt sich, dass Konkordanz nicht einfach einen helvetischen Sonderfall darstellt. Vielmehr kann «Konsensdemokratie» als ein Gegenmodell zur Mehrheitsdemokratie angloamerikanischer Prägung begriffen werden. Länder wie Südafrika, Belgien oder Indien zeigen, dass politische Machtteilung in anderen historischen und gesellschaftlichen Situationen Ähnliches leistet wie in der Schweiz, nämlich die Überwindung kultureller Konflikte und Spaltungen. Solche Erkenntnisse bedeuten keine Abwertung der Eigenheiten schweizerischer Demokratie – im Gegenteil. Sie öffnen erstens den Blick dafür, was diese Eigenheiten wirklich sind und was die eigenen Institutionen im Vergleich zu anderen zu leisten vermögen und was nicht. Zweitens zeigt die vergleichende Perspektive, wie weit und warum die Strukturen schweizerischer Demokratie über das eigene Land hinaus von Bedeutung sind. Das abschliessende Kapitel 15 versteht sich als Diskussionsbeitrag zur Frage, wie schweizerische Demokratie zu bestehen vermag im Prozess einer Globalisierung und Europäisierung, deren Schatten immer länger werden.
1 Beide stammen vom Künstler Ben Vautier; letzteres war auch das Motto des Schweizer Pavillons an der Weltausstellung in Sevilla 1992.
2 Zu den öffentlichen Gütern und Dienstleistungen gehören: a) Kollektivgüter: Der private Markt stellt sie nicht bereit, weil sie auch von Nichtbezahlenden konsumiert werden können (z. B. öffentliche oder nationale Sicherheit) und/oder weil sie als frei zugängliches Gut durch viele übernutzt oder zerstört werden (Rivalität des Konsums z. B. von sauberer Umwelt); b) Meritorische Güter: Sie können an sich von Privaten hergestellt werden, jedoch nicht zur Menge, zum Preis oder in jener Qualität, wie sie von der Gesellschaft gewünscht werden (z. B. Bildung, Gesundheit, Kultur). Neben diesen allgemeinen ökonomischen Kriterien bestimmen Verfassung und Gesetz den Kreis und den Umfang öffentlicher Güter und Dienstleistungen.
3 Zur näheren Unterscheidung vgl. Kapitel 2.
4 Der Graben zwischen Deutsch- und Westschweiz war nach Jost (1983:120) in erster Linie ein Problem der politischen Elite und ihrer agitierenden Presse und weniger eines der Bevölkerung.
5 Der hier angebrachte Begriff der Subsidiarität lässt sich umschreiben als «Was du selber kannst besorgen, das verschiebe nicht nach oben.»
6 Näheres dazu in Kapitel 3, Abschnitt A2.