Roman
Für Carolina „Czajka“ Böhm
Lecz nie ma mnie i nie ma mnie,
I nigdy w życiu mnie nie będzie.
Zostanę w liście, zostanę w śnie,
W tkliwej, śnieżnej legendzie.
Es gibt mich nicht. Nein, mich gibt es nicht.
In diesem Leben wird es mich niemals geben.
Ich bleibe im Brief, ich bleibe im Traum,
In einer zärtlichen, verschneiten Legende.
Julian Tuwim, Berlin 1913
PROLOG
KREUZBERG
SCHWANGERE AUSTER
ZIMMERSTRASSE
POSEN
WIELUŃ
JENSEITS, TSCHENSTOCHAU
SCHLACHTENSEE
LENNÉ-DREIECK
RADOMSKO
HEIDESTRASSE
LODZ
KRAKAU
RÜCKKEHR
EPILOG
Ihr Leben liegt in meiner Hand. Es wiegt weniger, als ich vermutet habe. Was wiegt ein Leben? Was wog ein Leben? Drüben auf der anderen Seite des Flusses liegt die Stadt, verborgen hinter Mauern und vertrockneten Träumen. Damals, in diesem Jahr, in dem wir alle ahnungslos waren, hatten wir am Ufer gestanden und auf den Fluss geschaut, hinter dessen Biegung sich der Wawel versteckte. Wortlos. Weil alles gesagt war.
Spiegelglatt war das Wasser des Flusses gewesen, als wäre es ohne Geschichte. Ein Novemberabend, wie heute. Nur kälter. Furchtbar kalt. Wir hatten uns an eine Ulme gelehnt, die sich als junger Baum in zwei gleich große Stämme geteilt hatte. So lehnten wir beide an einem eigenen Stamm und blickten zitternd vor Kälte auf den Fluss. Nein, romantisch war das nicht.
Trotzdem hatte sie ihre Schuhe ausgezogen und war zum Ufer gegangen. Hatte ihre Füße ins Wasser getaucht. Kam zurück und schüttelte den Kopf. Kein Ort zum Sterben, hatte sie gesagt, ohne eine Miene zu verziehen. Zumindest nicht im November.
Wann ist die beste Zeit zum Sterben? Und wo der beste Ort? Im Angesicht dieser Burg wäre jeder Tod eine abgeschmackte Geste. Aber leben, zusammen mit ihr leben, war auch nicht möglich gewesen. Höchstens überleben. War ich ein Überlebender? Weil ich am Ende doch noch aus dieser Geschichte herausgekommen war?
Mich fröstelt. Ich stelle mir immer noch diese Fragen. Ich will sie mir nicht mehr stellen. Ihr Leben liegt in meiner Hand. Endlich.
Warum nur hat sie Sie geschrieben? Hatte sie mich überhaupt einmal mit Sie angesprochen? Was ist bloß in sie gefahren? Auf dem Beifahrersitz liegt der Brief. Ihr Brief. Ich drücke leicht aufs Bremspedal, schalte in den vierten Gang zurück, greife nach dem Umschlag. Auf der Vorderseite steht mein Name, ihrer, in kleinen Buchstaben geschrieben, auf der Rückseite. Dazwischen zwei eng beschriebene Seiten. Habe ich eine Stelle übersehen, irgendein Zeichen, das mir verraten hätte, warum sie ausgerechnet jetzt schrieb, nach so langer Zeit? Lieber Jan, erinnern Sie sich? Lieber Jan, zwei Worte, die mich ohne Vorwarnung trafen und augenblicklich ihr süßes Gift verbreiteten. Und dann, gewissermaßen als Gegengift, dieses Sie. Ich lege den Umschlag zurück auf den Beifahrersitz und schalte wieder hoch. Wie kann sie glauben, ich würde mich nicht mehr erinnern? Und wozu braucht sie die Distanz durch das Sie? Hat nicht die Zeit genügend Abstand geschaffen?
In einer Viertelstunde werde ich an der Grenze sein. Eben sind einige Schneeflocken auf die Windschutzscheibe gesegelt. Dicke, tanzende Flocken, die sich, kaum berühren sie die Scheibe, in Dreckwasser verwandeln, das der Scheibenwischer wegschnalzt. Was ist unsere wirkliche Gestalt, hatte sie mich einmal gefragt und von einem gut aussehenden jungen Mann erzählt, dessen Gesicht nach einer schweren Krankheit von Narben entstellt war. Zuvor seien die Frauen auf ihn geflogen, hatte sie erklärt. Was haben sie gesucht? Seine markante Stirn? Oder das, was sich hinter dieser Stirn verbarg? Aber das wusste er vielleicht selbst nicht, weil bis dahin alles so glatt gegangen war. Und plötzlich erkannten ihn seine Freunde nicht wieder, hatte sie gesagt. Und er sich selbst auch nicht.
Lieber Jan, erinnern Sie sich? Was für eine Frage. Muss man solche Fragen beantworten? Fast dreißig Jahre sind vergangen seit jenem Jahr. Unserem Jahr in Westberlin. Woher sollte sie die Gewissheit nehmen, dass ich mich tatsächlich an all das, was geschehen war, erinnere? Würde ich sie überhaupt wiedererkennen? Ihre Stimme, ihr geheimnisvolles Lächeln, das so schnell umschlagen konnte wie das Wetter in diesem Sommer? Vielleicht hatte auch sie eine Häutung durchgemacht wie der junge Mann, den sie damals erwähnte. Aber wer wäre sie dann? So viele Jahre später? Natürlich bin auch ich ein anderer geworden in diesen Jahren, vielleicht sogar einer, den man besser siezt als duzt.
Letzte Tankstelle vor der Grenze. Keiner fährt raus. Die Schneeflocken jetzt Flockenregen. Ich stelle den Scheibenwischer auf Intervall. Nun schnalzt es im Fünf-Sekunden-Takt. Vielleicht hätte ich an der Tankstelle neue Wischerblätter besorgen sollen. Einmal hatte sie erzählt, wie sie von ihrer Dozentin, einer eigenwilligen Literaturwissenschaftlerin, im Auto mitgenommen wurde. Was ihr die Dozentin berichtet habe, habe vieles von dem, was sie zuvor geglaubt hatte, in einem anderen Licht erscheinen lassen. Jeder Satz von ihr war wie ein Scheibenwischer gewesen, der nach und nach meine Gewissheiten beiseite schob, hatte sie gesagt. So war sie. Immer für ein hübsches Bild zu haben. Metaphern, hinter denen sie sich lächelnd versteckte.
Vielleicht hört der Flockenregen bald auf. Sie ist nicht mehr dieselbe wie damals, ich bin nicht mehr derselbe. Aber ist das ein Grund, einen Brief zu schreiben? Als wäre nichts geschehen? Aber hatte sie sich jemals um Gründe geschert? Was verbarg sich hinter Wiolas Stirn? Wiola, würde ich es je schaffen, dich zu siezen?
An der Grenze kontrolliert keiner mehr. Damals, als unser Jahr dem Ende entgegen gegangen war, war die Grenze schwer gesichert. Strenge Blicke, in den Pass, in die Pupillen. Aussteigen. Auspacken. Beine breit. Hände aufs Autodach. Wenn das eine Brudergrenze ist, flüsterte ich, dann frage ich mich, wer hier Kain ist und wer Abel. Wiola warf mir einen bösen Blick zu. Ich merkte sofort, dass sie ebenso nervös war wie ich. Hatte sie etwas zu verbergen? Was hatte ich eigentlich von ihr gewusst? Selbst bei dem, was sie preisgegeben hatte, konnte ich nicht sicher sein, dass es stimmte. Wiola, das hätte ich ihr später gerne noch hinterher gerufen, du bist flüchtig. Du bist nicht zu fassen, egal, ob du auf der Flucht bist oder dich von deinen Fluchten ausruhst. Wiola hatte den Grenzer angelächelt und ihm irgendeine Geschichte erzählt. Ein paar Minuten später hatten wir die Pässe zurück.
Heute ist diese Grenze nichts weiter als eine Brücke, die ein Flusstal überspannt. Man muss den Fuß vom Gaspedal nehmen, damit einen der Seitenwind nicht bedrängt, das ist alles. In den Grenzgebäuden hinterm Fluss ermittelt eine deutsch-polnische Einheit der Polizei. Was würde Wiola sagen, wenn wir, jetzt, in diesem Moment, zusammen über den Fluss fahren würden? Würde sie sich freuen über die neue Freiheit in Europa? Dass der Traum endlich Wirklichkeit geworden war? Oder würde sie darauf hinweisen, dass sich die Grenzen nur verschoben hätten? Dass Menschen überall, wo sie den Vorrat an Gemeinsamkeiten aufgebraucht haben, Grenzen ziehen, die somit etwas völlig Menschliches seien? Mach dir doch nichts vor, würde sie vielleicht sagen, jeder von uns ist in seinem Innersten ein Grenzsoldat. Verdammt, ich fange schon wieder an, in Gedanken mit ihr zu reden.
Lieber Jan. Und du, Wiola? Liebe Wiola? Was hat die Zeit aus dir gemacht? Aus Ihnen, Wiola? Liebe Wiola, selbst dieses liebe Wiola geht mir nicht über die Lippen. Auch nicht im Auto, wo mich keiner hören würde, selbst wenn ich plötzlich anfangen würde zu brüllen: Liebe Wiola? Das würde dir gefallen, was? So zu tun, als würden wir diese Beziehung einfach fortsetzen, die du damals so abrupt beendet hast. Auf unserer albtraumhaften Fahrt nach Polen. Aber auch bei unserem ersten Geplauder damals in diesem Kreuzberger Hinterhof. Liebe Wiola. Vergiss es.
Rzeczpospolita Polska. Autostrada wolności. Die Autobahn der Freiheit. Höchstgeschwindigkeit 140 Stundenkilometer. Beschleunigen. Aufofahrerfreiheit. Damals gab es noch keine Autobahn. Und auch keine Freiheit. Damals hast du die Regeln bestimmt, Wiola, hast mich nach Posen gelotst, nach Wieluń, nach Lodz und nach Krakau, deine Heimatstadt. Aber das ist Geschichte, ein für allemal vergangen. Mich wickelst du nicht mehr um den Finger. In mir wirst du dein Gift nicht mehr verbreiten. Liebe Wiola, zum Teufel kannst du dich scheren, zu all deinen Dichtern und Dämonen, mit denen du mich stets und ständig behelligt hast. Natürlich, es ging nur um Poesie, um ein Leben aus zweiter Hand. So wie all deine Sätze im Zweifel Zitate waren. Oder Dialoge auf Probe, weil du erst schauen wolltest, ob sie der Wirklichkeit standhielten. Wovor bist du geflohen? Wovor sind Sie geflohen?
Nein, auch ein Sie würde mir nicht über die Lippen gehen. Wie geht es Ihnen, Wioletta? Das hätte ich mal sagen sollen, damals bei unserer ersten Begegnung, es war an einem unvermutet heißen Frühlingsabend in Kreuzberg. Den ganzen Tag über hatte es geregnet, aber am frühen Abend waren die Sonnenstrahlen zwischen den Wolken durchgekrochen, und plötzlich war es unverschämt warm. Darf ich?, hatte sie gefragt und auf meinen Tabakbeutel gezeigt. Klar, warum nicht, hatte ich geantwortet, irgendwas, was man halt sagt, wenn man von einer fremden Frau angesprochen wird. Ich glaube, ich saß im Schankgarten der Hinterhofkneipe auf einem Mauervorsprung, den die Sonne gerade getrocknet hatte, zwischen den Füßen eine Flasche Bier, zwischen den Fingern der Tabak. Mats und Kalle, meine Mitbewohner, mit denen ich verabredet war, ließen auf sich warten. Wie immer. Ich hoffte, es gab nicht schon wieder Ärger mit der Polizei. Zwei Tage zuvor war Mats festgenommen worden, angeblich hatte er einen Beamten bespuckt. Nach zwei Stunden in Gewahrsam hatten sie ihn wieder laufen lassen. Nicht einmal meine Fingerabdrücke wollten sie, maulte er am Morgen am Küchentisch. Daraufhin stellte Kalle die Flasche Obstler auf den Tisch. Was ist das?, wollte Mats wissen. Magere Beute, hatte Kalle geantwortet, mehr war bei Getränke-Hoffmann nicht zu holen.
Erste-Mai-Geschichten, so was hatten wir uns damals ständig erzählt. Im Rückspiegel sehe ich mich lächeln. Was haben wir uns wichtig genommen, damals auf dieser Insel namens Westberlin. Die ganze Welt wollten wir aus den Angeln heben, und was sprang am Ende dabei heraus? Eine Flasche Obstler. Was für eine Zeit. Und was für ein Jahr. Das letzte Jahr im Vorfeld epochaler Veränderungen, hatte mir ein Neunmalkluger mal erzählt, führe in der Geschichte immer ein Schattendasein. Ich bin mir da nicht sicher. Wahrscheinlich sind die Historiker nur neidisch, weil sie selbst nichts mitbekommen haben von den epochalen Veränderungen. Kann man einem Jahr etwas vorwerfen wie einem Menschen?
Und jetzt bin ich auf der anderen Seite der Grenze, die keine mehr ist. Was würde Wiola dazu sagen? Hatten wir damals, im Mai 1988, wirklich nichts davon gespürt? Nicht ein kleines Lüftchen, das den Sturm ankündigte, der wenig später über uns hinwegfegen sollte.
Wie hatte Wiola die Wende erlebt? War sie eine Wendegewinnlerin? Oder war das Jahr nach dem unseren bloß der Auftakt für weitere Fluchten? Wiola, die sich an diesem Dienstagabend meinen Tabak genommen und in ihrem lustigen Deutsch festgestellt hatte: Du rauchst aber hartes Zeug. Dann hatte sie sich selbst eine von diesem harten Zeug gedreht und sich neben mich auf den Mauerabsatz gesetzt. Erst in dem Moment hatte ich mich zu ihr gedreht. Sie war ziemlich groß und schlank und hatte ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Haare zu einem hohen, etwas zur Seite abstehenden Pferdeschwanz gebunden. Was sie anhatte, weiß ich nicht mehr, aber eines werde ich nicht vergessen. Ihre Schuhe, es waren Pumps, und die waren quietschrot. Nichts gegen quietschrote Schuhe, aber quietschrote Schuhe waren in diesem Hinterhof eher nicht angesagt. Schon gar keine quietschroten Pumps. Ich meine, nicht in dem Sinn, dass irgendwer was dagegen gehabt hätte. Es trug sie einfach keiner. Entweder du gingst barfuß, bist in Sandalen rumgelatscht oder deine Füße steckten in klobigen Springerstiefeln. Quietschrote Pumps waren was für die Schicksen am Kudamm. Nichts für den Kreuzberger Mehringhof. Warum hatte ich ihr das nicht gesagt? Weil ich es mir nicht gleich am Anfang verderben wollte? Ist was?, hatte sie gelacht. Ich biss mir auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. Könnte noch ein amüsanter Abend werden, da konnte ein wenig Toleranz nicht schaden. Außerdem, wer weiß, woher sie kam? Vielleicht trug man solche Schuhe ja nicht nur am Kudamm, sondern auch in Kasachstan oder Kaliningrad? Wer ein Hoch auf die internationale Solidarität anstimmt, muss zur Not auch quietschrote Schuhe in Kauf nehmen.
Die Autostrada wolności unterscheidet sich kaum von der Autobahn der Freiheit, die auf deutscher Seite vom Dreieck Spreeau bis zur Grenze führt. Warum hat man ausgerechnet diesem Autobahnabschnitt das Siegel der Freiheit verpasst? Weil es die direkte Verbindung zwischen Berlin und Warschau ist? Dazwischen aber liegt viel Wald, durch den die Freiheit eine Schneise schlägt. Auf deutscher wie auf polnischer Seite Verliererlandschaften im Europa ohne Grenzen. Abgezirkelt, eingezäunt, nur die Brücken sehen in Polen anders aus, ein wenig erinnern sie mich an Steinbrücken aus der Römerzeit, die ich aus Italien kenne.
Bevor ich Wiola kennenlernte, hatte ich nichts über Polen gewusst. Wir wussten ja nicht einmal etwas von der anderen Hälfte unserer Stadt, die damals auch in einem anderen Land lag. Gestern, auf dem Weg zu dieser Kneipe im Mehringhof, bin ich durch die Brunnenstraße gefahren. Zum ersten Mal war mir der auf die Fassade gepinselte Spruch aufgefallen. Dieses Haus stand einmal in einem anderen Land. Warum habe ich diesen melancholischen Seufzer nicht schon eher bemerkt? Er hat mich augenblicklich traurig gemacht. Weil ich verdrängt habe, dass die Straßenzüge von Berlin-Mitte einmal zu einem anderen Land gehörten? Weil wir immer nur nach vorne schauen und die Mühe scheuen, uns über die eigene Schulter zu sehen? Warum schauen wir nicht zurück? Weil wir fürchten, uns dann nicht mehr wiederzuerkennen? Nicht den, der wir einmal waren? Oder, noch schlimmer, nicht den, der wir geworden sind? Ich weiß nicht, ob Wiola eine Antwort darauf hätte. Auch unsere Welt war damals eine andere gewesen, auch wir hatten in einem anderen Land gelebt, in einer anderen Stadt. Westberlin war nach dem Fall der Mauer ebenso schnell verschwunden wie Ostberlin, Hauptstadt der DDR.
Als ich gestern Nachmittag den Brief von Wiola im Kasten fand, fühlte ich mich genauso wie beim Anblick des Spruches in der Brunnenstraße. Nicht nur die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, gab es nicht mehr, sondern auch die Frau, die mir beigebracht hatte, über die Mauern dieser Stadt hinweg zu schauen. Hatte ich es nicht ihr zu verdanken, dass ich irgendwann in meinem Leben sagen konnte: Land in Sicht?
Ich musste nicht lange überlegen. S. war ein paar Tage bei ihrer Mutter, es gab also keinen Grund, nicht loszufahren. Noch einmal nach Polen. Nochmal die ganze Strecke, Posen, Wieluń, Lodz. Und nochmal Krakau. In ein anderes Land und in eine andere Zeit. Nicht mehr panzergrau und winterschmutzig, sondern freundlich und aufgeräumt. Aber auch schaufensterhell. Welche Farbe würden Wiolas Haare haben? Würde sie immer noch ihren hohen Pferdeschwanz wippen lassen? Welche Schuhe würde sie tragen?
Wenig später hatte ich meinen Koffer gepackt. Zwei paar Schuhe, T-Shirts, ein Wollpullover und die Daunenjacke gegen die Kälte. Auch das Gedichtbändchen, das mir Wiola in unserem Sommer geschenkt hatte, steckte ich ein.
Ich weine niemals, wenn ich dich nicht sehe
Bleibe vernünftig, wenn ich vor dir stehe
Doch muss ich einmal länger um dich bangen
Dann fehlt mir etwas, quält mich ein Verlangen.
Es war das schönste Geschenk, das sie mir gemacht hat. Ein paar Monate nachdem sie mir das Bändchen in die Hand gedrückt hatte, war sie wie vom Erdboden verschwunden.
Bevor ich den Brief von Wiola öffnete, hatte ich mir ein Glas Wein eingeschenkt. Malvasia Nera, der für besondere Anlässe. Ehe S. nach dem Wein fragen würde, würde ich wieder neuen besorgen. Mit dem Weinglas in der Hand überlegte ich, wie der Mehringhof ausgesehen hatte, damals am 3. Mai 1988, dem Tag, an dem Wiola in mein Leben getreten war. Es fiel mir schwer. Ich habe nur noch wenige Bilder im Kopf aus diesem Jahr, diesem Jahr davor, diesem Prolog auf eine Zeitenwende, aber so denken wir erst heute. Seit wir unsere Geschichte neu erzählen. Und nach Hinweisen fahnden, die auf diese Geschichte hinausliefen. Damals lebten wir in keinem Prolog, sondern mitten drin in der Kreuzberger Erzählung vom Hier und Jetzt. In einer Gegenwart, die wir mit einer Unbedingtheit und Unerschrockenheit besiedelten, als dürfe es kein Gestern und kein Morgen geben. Diese Gegenwart gehörte uns, wir hatten sie uns genommen, weil sie sonst keiner wollte. Wir hatten sie möbliert mit unseren Parolen und Merksätzen, die wir heruntergebetet hatten wie ein Messdiener die zehn Gebote.
Als ich den Spruch an der Brunnenstraße sah, kam es mir vor, als hätten wir uns damals eine eigene Welt schaffen wollen, eine Welt in der Welt, eine Fruchtblase, in der auf Teufel komm raus neues Leben entstehen sollte. Oder hatte mir das Wiola eingeflüstert? Eure Radikalität hat etwas Religiöses, hatte sie mir schon bei unserer ersten Begegnung vorgehalten. Wie ihr euch in die Schlachten werft, die Opferbereitschaft, die ihr euren Körpern auferlegt, worin unterscheidet sich das von der Verkündung des Evangeliums? Kreuzberger Militanz als religiöser Schöpfungsakt – Wiola verstand es zu provozieren. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob es nur als Provokation gemeint war. Damals hatte ich sie ungläubig angeschaut. Ich glaube, in diesem Moment ahnte ich, dass sie aus Polen kam. Sie hatte gelacht und den Kopf geschüttelt, so dass ihr Pferdeschwanz zu tanzen begann. Mach dir nichts draus, hatte sie gesagt, manchmal sehe ich Gespenster.
Wenn ich heute darüber nachdenke, war Wiola die einzige in diesem Sommer gewesen, die mich aus unserer Kreuzberger Selbstgewissheit herausreißen konnte. Was hatten wir damals geglaubt? Dass wir das Gepäck, das uns von unseren Eltern mitgegeben war, einfach abwerfen konnten wie ein paar alte Klamotten? Dass wir uns nur die schwarzen Lederjacken überziehen mussten, um zu neuen Menschen zu werden? Und was, wenn wir die Lederjacken wieder auszogen? Einmal, das weiß ich noch, es war im Winter, setzte sich ein junges Mädchen, sie war kahlgeschoren, zu Mats und mir an den Kneipentisch. Saß einfach, hörte zu, nickte, schüttelte den Kopf. Woher kommst du, hatte ich sie gefragt, sie hatte nur die Schultern gehoben und zurückgefragt, ob das wichtig sei. Sie blieb bei uns, bis die Kneipe dichtmachte. Und nun?, fragte ich sie. Ich komm mit euch, schlug sie vor. In der Nacht kroch sie dann zu mir unter die Decke und fing an, meinen Hintern zu streicheln. Was soll das, wies ich sie unwirsch zurück. Ich wollte dir danke sagen, flüsterte sie. Trauriges Mädchen, dachte ich, ließ sie sich an mich kuscheln, dann schlief sie ein. Ich lag die ganze Nacht wach und dachte über dieses Mädchen ohne Namen und ohne Geschichte nach. Als ich aufwachte, irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein, war sie verschwunden. Hektisch durchsuchte ich mein Zimmer und prüfte, ob irgendwas fehlte. Alles war noch da. Wütend trat ich gegen mein Bett.
Kurz vor Schwiebus verrät ein Hinweisschild, dass die Autobahn bald mautpflichtig wird. Ich fahre ab, will dem Geschmack der Landstraße nachspüren, über die wir damals nach Posen gefahren waren, und dem Geruch der Herbstfeuer. In Schwiebus weiß ich endlich, ich bin in Polen. An einem Kreisverkehr thront eine riesige Jesusfigur. Ich halte an einer Tankstelle und frage den Tankwart, was sich der Bürgermeister dabei gedacht habe. Statt mir zu antworten, betet er die technischen Daten der Statue herunter, wie bei einem dieser Auto- oder Flugzeugquartetts aus meiner Kindheit. 36 Meter sei sie hoch, ein Weltrekord, 440 Tonnen wiege sie, die Spannweite der ausgebreiteten Arme betrage 24 Meter, alleine die vergoldete Krone auf dem Haupt der Christus-König-Statue sei drei Meter hoch. Es hört sich an, als würde in Polen gerade ein Christusquartett aufgelegt. Und warum ausgerechnet in Schwiebus?, frage ich den Tankwart. Er blickt kurz um sich und winkt mich dann heran. Wissen Sie, was sich unter dem Sockel der Statue verbirgt?, flüstert er. Ich schüttele den Kopf und erwidere seinen Blick. Der Pfarrer, der den Bau der Statue angeregt hatte, sagt er, hat in seinem Testament verfügt, dass nach seinem Tod sein Herz unter dem Fundament des Christus begraben werden soll. Und wissen sie was? Als der Pfarrer vor ein paar Jahren starb, haben sie ihm tatsächlich das Herz herausgeschnitten und dort in einer Schatulle verbuddelt. Wie das Herz von Chopin?, frage ich ungläubig. Aber wir leben doch nicht mehr im 19. Jahrhundert, empört sich der Tankwart und erzählt, dass gegen die beiden Ärzte, die dem Pfarrer das Herz entnommen hatten, die Staatsanwälte ermittelten. Ich danke dem Tankwart und lasse ihn meinen Tank füllen. Die Statue ist übrigens sechs Meter höher als der Christus in Rio de Janeiro, sagt er, als ich ihm im Kabuff meine Visakarte reiche. Ich nicke und spüre, wie sich ein Phantomschmerz in mir ausbreitet. Wie gerne hätte ich in diesem Moment mit Wiola über diesen Jesusphallus gelästert. Aber Wiola gehört in eine andere Zeit. Allerdings weiß ich jetzt, dank ihrem Brief, dass sie es bis in die Gegenwart geschafft hat. Lieber Jan. Mensch, Wiola.
Sind wir damals auch über Schwiebus gefahren? Ich kann mich nicht mehr an die Orte erinnern, die wir nach der Grenze auf dem Weg nach Posen passiert haben. Worüber haben wir gesprochen? Im Nachhinein scheint es mir, als seien uns auf unserer Reise im November 1988 die Worte ausgegangen. Als sei im Frühjahr und dann wieder, als wir uns nach unserer Trennung wiedergefunden hatten, schon alles gesagt gewesen. Als hätten wir dem Gesagten nur noch hinterhergehört, ihm aber nichts Neues mehr hinzugefügt. Zumindest nicht bis Posen. Oder bis Lodz, Wieluń und Krakau. Ich weiß nicht, ob ich gut im Erinnern bin. Manchmal muss ich in Fotoalben blättern, um mich einer Reise mit S. zu entsinnen. Oder auf eine Karte schauen. Du hast ein topografisches Gedächtnis, lacht S. dann. Das stimmt wahrscheinlich, aber ich glaube, es ist nicht alles. Außer dem topografischen Gedächtnis habe ich noch das, was man vielleicht das Gedächtnis des Anfangs nennen könnte. Ich kann fast jede Anfangsszene eines Films beschreiben, den ich gesehen habe, aber bei den Enden muss ich passen. Warum ist dir egal, wie eine Geschichte ausgeht?, hat S. einmal gefragt. Ich habe ihr geantwortet, dass mir das nicht wichtig sei. Wichtig sei mir eher, dass etwas stattgefunden habe, dass jemand eine Zeitlang so intensiv in einer Geschichte lebe, dass sie einem schließlich wie wirklich vorkomme.
Vielleicht erinnere ich mich deshalb nur bruchstückhaft an diese Reise durch Polen. Der Zauber des Anfangs dagegen steht mir vor Augen, als sei es erst gestern gewesen. Ich glaube, ich könnte ein Drehbuch dieser ersten Wochen mit Wiola schreiben. Das Drehbuch eines Films, in dem Westberlin plötzlich mehr war als die übliche Selbstbeschau. Kein Kiezfilm mehr, keine politisch korrekte Sozialromanze, eher ein rockiges Großstadtmovie. Wenn Wiola mit ihren schwarzen Kleidern und den roten Pumps durch die Kreuzberger Kulisse schritt, war das auch ein Statement gegen den Einheitslook im Revoluzzerkiez. Da war so oft von Vielfalt die Rede; machte sie sich aber einmal bemerkbar, dann begegnete man ihr mit Argwohn. Anfangs verkroch ich mich im Kragen meiner schwarzen Lederjacke, die ich auch im Sommer trug, wenn ich mit Wiola unterwegs war. Bald aber genoss ich es, wenn ich an ihrer Seite den Mehringhof betrat. Rot und Schwarz. Waren doch die Farben unserer Revolution. Und diese Revolution konnte sich sogar sehen lassen.
So wie Wiolas Pferdeschwanz, den ich so liebte. Damals, als die meisten Frauen kurz trugen, war sogar ein Pferdeschwanz ein Statement. Wiolas Pferdeschwanz war ein Unikum. Keine Assipalme, wie sie die coolen Bräute in der Disko trugen, aber auch kein braves Pferdeschwänzchen fürs Büro. Nicht einmal streng wirkte Wiolas Pferdeschwanz, eher frech. Bei jedem ihrer Schritte pendelte er hin und her. Einmal blieb ich stehen und ließ sie ein paar Schritte vorgehen. Als sie es bemerkte, stoppte sie abrupt, drehte sich um und lachte. Bist du etwa müde?, rief sie. Quatsch, antwortete ich, ich will nur herausfinden, wie groß der Abstand werden muss, bevor du mich vermisst. Sie hatte gelacht. Wir haben doch eine Abmachung, hatte sie gesagt.
Wenn ich an die Kneipe im Mehringhof denke, fallen mir vor allem Gesichter ein. Die beiden Typen hinterm Tresen, wie Pat und Patachon, einer groß, der andere klein und untersetzt. Beide hatten Jahre im Knast gesessen, das machte damals Eindruck auf mich. Oder der taz-Verkäufer, ein dauerlächelnder Punk, der immer gegen zehn Uhr abends auftauchte und seine druckfrischen Zeitungen anpries. An dem Abend, an dem ich Wiola begegnet war, hatten wir ihm das Blatt aus der Hand gerissen. Die Tage nach dem 1. Mai waren immer taz-Tage gewesen. Ich erzählte Wiola damals im Mehringhof, wie es losgegangen war am Sonntag zuvor. Wie der schwarze Block am Lausitzer Platz einen Polizeibus umgeworfen hatte. Wie die Bullen daraufhin das Straßenfest auf dem Platz gestürmt hatten. Ein paar Leute konnten sich in unseren Hauseingang flüchten. Es war wie im Krieg, hatte ich zu Wiola gesagt, dem taz-Verkäufer einen Blick zugeworfen und ihm einszwanzig in die Hand gedrückt. Hier, lies es selbst, ich zeigte ihr die Schlagzeile: 1. Mai: Bilanzen einer Vollmondnacht. 1.500 Bullen haben 134 Leute festgenommen, hatte ich mich empört, aber Wiola schaute mich nur staunend an. Du bist ja ein richtiger Revolutionsromantiker, frotzelte sie herausfordernd. Ich, ein Revolutionsromantiker, lachte ich und tönte, dass ich am 1. Mai eher kämpferisch als romantisch veranlagt sei. Romantisch sei eher was für die Stunden ohne Bullen. Wiola zog ungerührt die Augenbrauen hoch und erklärte, dass in der polnischen Romantik der Märtyrer Heldenstatus genieße. Wenn er für die Freiheit Polens kämpfte, durfte er sogar in den Kugelhagel des Gegners rennen, ganz egal, ob das Aussicht auf Erfolg hatte oder nicht. Was habe ich damit zu tun?, fragte ich damals. Was ist denn das, was du am 1. Mai veranstaltest, anderes, als sehenden Auges in eine Niederlage zu rennen, antwortete sie kopfschüttelnd. Willst du etwa als Märtyrer in die Geschichte eingehen?
Ich schüttelte den Kopf. So einen Kommentar zum 1. Mai hatte ich noch nie gehört. Ich weiß nicht, ob ich gesagt habe: Du spinnst. Gedacht habe ich es.
Gestern Abend habe ich zuerst gezögert, ob ich noch einmal nach Kreuzberg fahren sollte. Das erste Mal nach vielen Jahren. In der Hinterhofkneipe ein Bier trinken? Ein Abschiedsbier, bevor ich mich auf den Weg zu Wiola mache? Oder ein Erinnerungsbier? Ich war mir nicht sicher.
Und Wiola? In ihrem Brief steckte ein Foto, es ist das einzige Bild von ihr, das ich habe. Es zeigt, wie sie in Krakau vor dem Hauptmarkt steht, vor dem Denkmal ihres Adam. Auf dem Platz waren noch die Fahrbahnmarkierungen für die Autos zu erkennen. Von wann war das Foto? Neben ihr stehen junge Leute mit weiß-roten Fahnen. Hatte sie sich während der Demo am Unabhängigkeitstag fotografieren lassen? Damals, in unserem November, der an diesem Tag schon nicht mehr unserer gewesen war? Ihr Pferdeschwanz ist nicht zu sehen, sie steckt in einem viel zu großen schwarzen Mantel und in abgewetzten grauen Lederschuhen. Nur nicht auffallen, hatte sie mir geraten, als wir die Taschen für unsere erste gemeinsame Reise gepackt hatten, ihre roten Schuhe hatte sie dennoch eingesteckt. Sorgsam verpackt im Originalkarton. Damals hatte ich kein Foto von Wiola. Lag es an ihr, weil sie es nicht leiden konnte, fotografiert zu werden? Aber auch von mir gibt es nur wenige Bilder aus dieser Zeit. Auf dem Sofa, als ich die alten Alben durchblätterte, ärgerte ich mich darüber. Meine wilden Jahre und nicht einmal einen einzigen Beweis. Bilderlose Jahre. Wer fotografierte, machte sich verdächtig. Heute fotografiert jeder jeden und ständig sich selbst. Man müsste mal untersuchen, wie sich die 25-Jährigen von heute in dreißig Jahren an ihre wilden Jahre erinnern. Wahrscheinlich werden sie vor irgendwelchen Rechnern sitzen, alte Festplatten anklemmen und hoffen, dass noch alle Ordner und Daten da sind und dann vor der Fülle des Materials kapitulieren. Finde ich das schlimm oder in Ordnung? Diese Kultur des Misstrauens will ich jedenfalls nicht zurückhaben. No photo. Es könnte ja den Bullen in die Hände fallen. Oder der Fotografierende ist womöglich ein Spitzel. Entweder man war Freund, oder man war Feind damals. Was war Wiola?
Ich hab mich doch noch aufgerafft, hab den Autoschlüssel vom Schuhschrank genommen und bin nach Kreuzberg gefahren, von Niederschönhausen über die Schönhauser und die Bernauer Straße runter zur Brunnenstraße und weiter Richtung Süden, dorthin, wo Mitte noch immer erstaunlich plötzlich in Kreuzberg übergeht. Als ich auf die Gneisenaustraße einbog, fiel sie mir wieder ein, diese Erleichterung, die ich dort immer gespürt hatte, wenn ich vor dem Mauerfall im Osten gewesen war und auf dem Rückweg am Mehringdamm aus der U-Bahn stieg. Die Helligkeit, die vielen Menschen auf den Trottoirs, der Verkehrslärm. Die paar Male, die ich im Osten war, war ich nach meiner Rückkehr immer hier ausgestiegen, auf ein Bier in der Hinterhofkneipe. Ich hatte das Treiben an dieser Straßenecke geradezu aufgesogen. Es war ein Nachhausekommen, hatte ich Wiola später erzählt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr einen Ostberlin deprimieren kann. Der beißende Geruch nach Wofasept, die schummrigen Gaslaternen, die fehlende Leuchtreklame, Passanten mit ihren in den Mantelkrägen versteckten Gesichtern. Das ist bei uns in Polen nicht anders, hatte Wiola geantwortet, nur dass wir keinen U-Bahnhof Mehringdamm und keine Szenekneipe haben. Seit sie in Westberlin angekommen war, hatte sie kein einziges Mal den Fuß auf Ostberliner Boden gesetzt.
Ich habe das Auto in einer Seitenstraße geparkt und bin noch einmal den Weg vom U-Bahnhof zur Kneipe gegangen. Rüber über die Gneisenaustraße, auch heute schafft man sie selten in nur einer Grünphase, vorbei an den Dönerbuden und schließlich in die Durchfahrt zum Mehringhof. Die beiden Fabrikhöfe waren seit den siebziger Jahren das Zentrum der Welt, der Alternativszene, der scene, wie wir damals auf Englisch sagten. In der Durchfahrt hatte mich einmal eine Ratte angesprungen. Erschrocken war ich zurückgewichen. Ich muss ihre Fluchtdistanz verletzt haben, und in diesem Fall gab es nur eins, du oder ich. Aber war das bei Menschen anders?
Die Mauer, ein Mäuerchen, schmal, bröckelig, jetzt saß da keiner mehr. Immer noch macht der Mehringhof auf Szene, aber die Zeit ist nicht an ihm vorbeigegangen. Das Ex, unsere Kneipe damals, heißt jetzt Clash. Gestern Abend war sie voller Touristen. Ich bin schnell wieder gegangen.
Immerhin war die große, schlanke Frau mit dem Pferdeschwanz, deren Namen ich noch immer nicht kannte, damals neben mir sitzen geblieben, neben ihrem Revolutionsromantiker. Sie hatte sich eine zweite Zigarette von meinem Tabak gedreht und geschwiegen. Ich wollte nicht in ein weiteres Fettnäpfchen treten und wechselte das Thema. Ich glaube, ich hatte ihr etwas erzählt von Kreuzberger Immobilienhaien und den Mieterhöhungen, die den Stadtteil umkrempeln würden. Nach ein paar Minuten stand sie auf und fragte, ob ich noch etwas trinken wolle. Ich nickte. Kurz darauf kam sie mit einem Tablett zurück, auf dem sie eine Flasche Wodka und zwei Schnapsgläser balancierte. Ich protestierte. Sei still, flüsterte sie, ich glaube, du hast ein Gedicht verdient.
Also begann sie, ganz leise, mir diese Verse vorzutragen. Razem, młodzi przyjaciele! W szczęściu wszystkiego są wszystkich cele. Halt, protestierte ich, was erzählst du? Hör einfach zu, sagte sie und fuhr fort. Razem, młodzi przyjaciele! I ten szczęśliwy, kto padł wśród zawodu, jeżeli poległym ciałem dał innym szczebel do sławy grodu. Ich versteh das nicht, schüttelte ich den Kopf, als müsste ich mich aus irgendeinem Traum stehlen. Pssst, bedeutete sie mir. Razem, młodzi przyjaciele! Choć droga stroma i śliska, gwałt i słabość bronią wchodu: Gwałt niech się gwałtem odciska, a ze słabością łama uczmy się za młodu!
Danach war es, ich weiß es noch genau, still. Ich vernahm zwar das Gemurmel der Gäste an den Bierbänken hinter uns, das Klirren der Gläser, den Ruf des Zeitungsverkäufers, aber es drang nicht mehr durch zu mir. Meine Tabakfreundin mit dem schräg abstehenden Pferdeschwanz hatte mich in Trance geredet mit ihrem Singsang, mit diesen weichen und scharfen, stimmhaften und stimmlosen Zischlauten, diesem razem, das immer wieder auftauchte und dieser Melodie, die mich an einen der wenigen Gottesdienste erinnerte, die ich vor meiner Konfirmation überstehen musste. Wenn ich in diesem Moment eingeschlafen wäre, hätte es mich nicht überrascht. Ich schlafe gerne ein in Gesellschaft, wenn ein paar Freunde um mich herum noch wach sind, über Gott und die Welt reden und dabei eine Klangwelle ausbreiten, in die ich mich betten kann wie in ein weiches Federkissen.
Prost, hatte sie gesagt und mir ein gefülltes Wodkaglas hingehalten. Ich schüttelte mich, streckte die Beine durch und fragte mit unsicherer Stimme, worauf wir trinken würden. Auf deine Revolutionsromantik, lachte sie und erzählte von dem Gedicht und seinem Autor, den sie, als wäre er ein guter Bekannter von ihr, Adam nannte. Er hat es geschrieben, da war er ungefähr so alt wie du, sagte sie. Und wie heißt es?, wollte ich wissen. An die Jugend, sagte sie. Es handelt davon, dass man Gewalt und Unterdrückung nur mit Gewalt begegnen könne, das gefällt dir doch, oder? Sie lächelte erwartungsfroh. Was heißt eigentlich dieses razem?, fragte ich schließlich. Gemeinsam, hatte sie gesagt. Wir haben jetzt eine Gemeinsamkeit.
Ich weiß nicht mehr, wie das Wetter war an diesem 25. Mai 1988. Hatte es auf ein kühles, rutschiges Westberliner Maipflaster genieselt? Oder stand die Sonne steil über den Altbaudächern und verlangsamte jede Bewegung und jede Regung auf den Straßen. Westberlin im Zeitlupentempo, so habe ich es in Erinnerung. Heute hat die Sonne diese Macht nicht mehr.
Mats, der Anfang der achtziger Jahre aus Schleswig-Holstein in unser Millionendorf gezogen war, galt das Maiwetter als Argument zu bleiben. Kontinentalklima ist besser fürs Faulenzen als maritimes, hatte er immer wieder gesagt. Die Lacher waren ihm sicher. Selbst die Kälte im Winter krieche nicht so in die Knochen wie der auflandige Sturm in Kiel, war Mats überzeugt. Ich wüsste gerne, ob er heute immer noch in der Stadt lebt. Und wie es seinen Knochen geht.
Ich glaube, es war heiß an jenem Mittwoch, an dem ich Wiola wiederbegegnete. Wenn ich an das Frühjahr und den Sommer 1988 zurückdenke, sehe ich mich immer wieder Schatten suchen, unter einer Markise beim Obst- und Gemüsehändler an der Eisenbahnmarkthalle oder auf der vor der Sonne geschützten Seite des Lausitzer Platzes, wenn die Mittagszeit vorbei war. Das Wechselspiel zwischen Sonne und Schatten schien mir damals kontrastreicher als heute. Wahrscheinlich, weil es keine ausgeleuchtete buntsüchtige Stadt erfasste, sondern verschiedene Stadien von Grau.
In der Mittagszeit dagegen half oft nur, sich ins Innere von Kneipen und Cafés zu flüchten. Unter der Spiegelpalme im Café Jenseits fühlte ich mich besonders wohl. Clement de Wroblewsky, der Wirt mit französischen Wurzeln, war aus Ostberlin geflohen und hatte die Kneipe von einem Türken übernommen. Die Palme war ein ästhetisches Scheusal, aber mir gefiel sie. Und nicht nur mir. Wer zum ersten Mal in Clements Café trat und die Palme aus Spiegelblättern sah, kam bald wieder. So war das mit dem Diesseits im Jenseits. Und unter der Palme war es im Sommer, ganz im Gegensatz zu den paar Bistrotischen, die draußen auf dem Heinrichplatz standen, angenehm kühl. Ich glaube, der Schatten gehörte damals genauso zum Berliner Maiwetter wie die Hitze. Heute rennen die Leute bei 30 Grad Celsius in die Shopping-Mall. Aber heute gibt es ja auch kein Jenseits mehr.
Traumwetter, schnippe ich mit den Fingern, während draußen der regennasse Asphalt der polnischen Landstraße glänzt. Traumwetter für einen Traumkongress. Ein Traum von Europa. Heute wäre so ein Titel peinlich. Damals passte er gut zu dieser Stadt, die immer irgendwie im Versuchsmodus war. Oder sich in ein anderes, ein grenzenloses Europa hineinträumte, obwohl dieser Traum spätestens an der Mauer platzen musste. Eine Stadt, die ständig Superlative hervorbringen musste, um sich zu vergewissern, dass sie noch existierte. Dazu gehörte auch der Titel Kulturstadt Europas, den sich der Westberliner Senat für 1988 an Land gezogen hatte und unter dessen Dach der Traum von Europa geträumt werden durfte. Doch das war mir damals egal. Für mich erfüllte sich der Traum bereits an diesem Abend. Im Jenseits. Mit Wiola.
Wahrscheinlich war ich mit der U-Bahn zur Kongresshalle gefahren, wo an diesem Abend von Europa geträumt werden sollte. Mit dem Rad war ich jedenfalls nicht unterwegs gewesen, sonst wäre ich spätabends mit Wiola nicht zu Fuß zum Jenseits gegangen. Ich wohnte mit Mats und Kalle am Lausitzer Platz, den alle nur Lauseplatz nannten. Unser Hang zum Diminutiv war Ausdruck einer Kreuzberger Schizophrenie. Wir waren die Größten, alles andere haben wir mühelos kleingekriegt, selbst einen Platz.
Die Linie 1 verkehrte damals vom Schlesischen Tor bis Ruhleben mit Halt am U-Bahnhof Kurfürstenstraße. Von dort musste man sich nach Norden halten, Richtung Kulturforum gehen und dann stand man vor der Schwangeren Auster, wie mancher Berliner die von den Amerikanern gestiftete Kongresshalle nannte. Alles in allem zwanzig Minuten durch Westberliner Zonenrandgebiet. Urbanes Niemandsland, in dem die Straßen so großstädtische Namen trugen wie Notstraße oder Entlastungsstraße. Ich verstand ja, dass der Berliner Senat nach dem Bau der Mauer eine neue Nord-Süd-Verbindung brauchte, die Friedrichstraße und die Chauseestraße lagen nun größtenteils im Osten. Aber musste die mitten durch den Tiergarten führen? Und wer war auf die Idee gekommen, sie dann auch noch Entlastungsstraße zu nennen? Oder eben Notstraße, wie sie am Anfang geheißen hatte. Als die Notstraße gebaut wurde, war ich noch gar nicht geboren. Ich bin ein Mauerkind, aufgewachsen mit den Umwegen, die die geteilte Stadt mit sich brachte. Eine Tante war nach ihrer Scheidung 1987 in den Wedding gezogen. Wenn ich sie besuchen wollte, musste ich in meinem klapprigen Golf mit der Kirche ums halbe Dorf herum, das heißt, ich fuhr über die Oranienstraße zum Anhalter Bahnhof, ein Stück am Landwehrkanal entlang, dann nach Norden auf die Entlastungsstraße, vorbei am Lehrter Stadtbahnhof und durch die gespenstische Heidestraße in den Wedding. Vierzehn Kilometer Umweg statt vier Kilometer Luftlinie. Heute nehme ich, wie die U-Bahn, den direkten Weg.
Der Verkehr wird dichter. Es regnet noch immer. Ich drehe die Scheinwerfer an. Ich fahre nicht gerne in der Dämmerung, schon gar nicht in einem fremden Land. Was ist ein fremdes Land? Ein Land, in dem man niemanden kennt? Dessen Sprache man nicht spricht? Dessen unausgesprochene Regeln man nicht versteht? Kann man diese Fremdheit messen? Ist mir Westberlin heute nicht genauso fremd wie diese Landstraße kurz vor Posen?
Auch so was fällt mir wieder ein. Anfang 1988 hatte es wegen der Entlastungsstraße einen handfesten Streit gegeben. Der Senat wollte sie in Richtung Süden verlängern und an die geplante Westtangente anschließen, eine überdimensionierte innerstädtische Autobahn, die kein Mensch brauchte. Weil die Trasse dabei über das Lenné-Dreieck am Potsdamer Platz führen sollte, hatte es Verhandlungen mit Ostberlin über einen Gebietsaustausch gegeben. Die Naturschützer schlugen Alarm. Auf dem vier Hektar großen Gelände, das de jure zum Osten gehörte, de facto aber diesseits der Mauer lag und damit im Westen, waren nicht nur seltene Pflanzen zu Hause. Man konnte sich dort auch wunderbar ins hochgewachsene Gras legen und den Sonnenuntergang genießen, mit der Mauer im Rücken und den Blick auf das Esplanade gerichtet, eines der wenigen Überbleibsel, die der Krieg am Potsdamer Platz verschont hatte. Ein Niemandsland, mit dem weder der Osten noch der Westen etwas anfangen konnte. Bis die Verhandlungen um den Gebietsaustausch kamen und der Streit, der ihnen folgte. Autostraße oder Sonnenuntergang? Ein Streit, für Westberlin so typisch wie eine Entlastungsstraße. Man hatte sich mit der Mauer arrangiert und lebte sein Schrebergartenleben. Die einen als Ökos, die anderen als Autofreaks. Ein Traum von Europa? Weg mit der Mauer?
Oder war ich die ganze Strecke zu Fuß gegangen? Meine Versuche, mich zu erinnern, bleiben so ziellos wie die meisten Wege in Westberlin. Umwege, Sackgassen, Trampelpfade. In einer Stadt, in der die Weltpolitik darüber entschied, dass der kürzeste Weg von A nach B ein Umweg war, brauchte sich keiner zu wundern, dass es die Bewohner mit dem Tempo nicht ernst nahmen. Ich mochte es damals, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen. Man konnte seinen Gedanken nachhängen, ohne allzu sehr auf den Verkehr achten zu müssen. Keine Ahnung, warum heute alle vom Flanieren schwärmen. Der Flaneur will sehen und in Gedanken notieren. Ich wollte nichts sehen und auch nichts notieren. Nur in Bewegung bleiben, damit sich vielleicht das eine oder andere Problem von alleine löst. Im Vorbeigehen.
Volltreffer, hatte ich mit den Fingern geschnippt. Ich hatte sie sofort erkannt. Im Theatersaal der Kongresshalle saß sie in einer der vorderen Reihen, ganz am Rand, wahrscheinlich wollte sie sich die Möglichkeit offen halten, jederzeit aufstehen und den Saal verlassen zu können. Ich sah sie nur von hinten, aber ich wusste sofort, sie war es. Mit durchgedrücktem Rücken behauptete sie ihren Platz, diesmal trug sie kein schwarzes Baumwollkleid, sondern ein bordeauxrotes, dünnes Wollkleid. Ob ihre Füße in den roten Schuhen steckten, konnte ich nicht sehen. Ich vermutete, eher nicht. Ich kannte mich da zwar nicht so aus, aber rote Pumps und ein bordeauxfarbenes Kleid passten eher nicht so zusammen.
Heute weiß ich natürlich, dass ich sie an ihrem Pferdeschwanz erkannte, der wieder schräg und frech abstand. Der Pferdeschwanz, der schon im Mehringhof bei jedem ihrer Sätze ausgeschlagen hatte, als wollte Wiola den Ausrufezeichen hinter ihren Worten noch einmal Nachdruck verleihen. Warum trug Wiola ihre Haare nicht offen? Sollte der Pferdeschwanz ihre Haare bändigen, sie davor bewahren, zu weiblich und zu weich zu wirken? War Wiolas Pferdeschwanz das Zeichen einer Kriegerin? Aber warum wippte er dann so lustig? Kurz hatte ich an unserem ersten Abend im Mehringhof überlegt, sie auf ihren Pferdeschwanz anzusprechen. Doch dann war sie plötzlich verschwunden. Drei Wochen war das erst her, und dennoch hatte ich das Gefühl, ich hätte sie eine Ewigkeit nicht gesehen.
Natürlich hatte ich sie gesucht. War die Tage danach Dauergast in der Kneipe im Mehringhof, hatte die Gegend nach ihr abgesucht, die lärmende Gneisenaustraße, die Bergmannstraße, die den Trödlern gehörte, das Filmkulissenkreuzberg am Chamissoplatz. Ich muss wohl gehofft haben, sie würde mich ebenfalls ausfindig machen wollen. Einmal war ich sogar nach Tempelhof gefahren, zu dieser Kirche, in der die Berliner Polen sonntags immer auf den Knien robben, wie mir Kalle zugeraunt hatte. Ich hatte ihm beiläufig von Wiola erzählt, und er hatte sich genüsslich am Sack gekratzt. Irgendwas von katholischem Koitus faselte er, ich ließ ihn einfach sitzen und kratzen. Im Grunde war Kalle ganz okay. Zumindest dachte ich das in diesem Moment. Man durfte nur nicht allzu viel Fingerspitzengefühl von ihm erwarten, er kam aus dem Osten. Kalle war immer eine Spur zu aufgedreht. Wenn es gegen die Bullen ging, war er der erste, der einen Pflasterstein in der Hand hatte. Wann habe ich ihn das letzte Mal gesehen? War er wieder nach Ostberlin zurückgezogen?
Warum suchte ich Wiola? Damals hatte ich mir diese Frage nicht gestellt, ich tat es eben. Später hatte ich vermutet, dass Neugier auf das Fremde mit im Spiel war, die Lust, sich zu messen. Die roten Schuhe, ihr lustiges Deutsch und natürlich die Bemerkung mit dem Revolutionsromantiker. Der 1. Mai als Inszenierung eines heiligen Krieges. So einer Frau war ich noch nicht begegnet. Eine waschechte Kreuzbergerin hätte ich deswegen ausgelacht. Heute denke ich, dass es eher ihr Lächeln war. Ihr Lächeln, das einen so zärtlich streicheln konnte wie ein zitternder Finger. Mit ihrem zitternden Lächeln hatte sie mich gewonnen Noch nie hatte ich mich von einer Frau auf Anhieb so verstanden gefühlt wie von Wiola.
Der Gottesdienst war gerade vorbei gewesen, als ich vom Tempelhofer Damm in die Götzstraße gebogen war. Schon von weitem hatte ich die Kirche gesehen, wobei Kirche eigentlich nicht der richtige Begriff war. Berlins katholische Kirche, im Stadtplan als Sankt Johannes Capistran Kirche verzeichnet, war ein Ufo aus Stahlskelett und Beton, das irgendein moderner Architektengott in diese Spießbürgerödnis gesetzt hatte. Das Kirchenschiff glich tatsächlich einem Schiff, und der Kirchturm, eher ein Campanile, hatte mir kurzzeitig den Atem geraubt. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich mich einem katholischen Gotteshaus näherte, hätte ich geglaubt in einem Indianerfilm zu sein. Der Campanile glich eher einem Totempfahl als einem Kirchturm.
Auch sonst hatte ich einige Zeit gebraucht, um mich in dieser Ecke zurechtzufinden. Auf den Treppen zum Kirchenschiff und auf der Wiese vor dem Totempfahl regierte mehr der schnöde Mammon als das Wort Gottes. Die einen hielten Schilder hoch, auf denen sie offenbar nach Arbeit suchten, andere tauschten Zettel mit Adressen, überall bildeten sich kleine Grüppchen, ein hagerer Typ mit langen, weißen Haaren verteilte Flugblätter mit der Adresse einer Beratungsstelle. Ich war mir vorgekommen wie auf einem Basar, auf dem alles gehandelt wurde, was nicht niet- und nagelfest war. Heute weiß ich, dass das Treiben an der Kirche ein Vorgeschmack war auf den Polenmarkt am Potsdamer Platz. Und dass der Polenmarkt ein Vorgeschmack war auf das, was sich Ende Mai 1988 ein paar Schriftsteller ausgedacht hatten. Der Traum vom grenzenlosen Europa begann auf ein paar Decken, auf denen die Händler ihre Habseligkeiten ausgebreitet hatten.
Und nun durchquere ich auf dem Weg nach Posen Dörfer, aus denen die Händler vom Polenmarkt damals vielleicht gekommen waren. Jastrzębsko Stare. Nowy Tomyśl. Stary Bukowiec. Alt und Neu dicht beieinander, die polnische Mischung, die einem Spagat gleichkommt, das eine Bein bricht auf in die globale Zukunft, das andere steckt tief drin im Schlamm der Tradition. Ist der Traum von Europa jetzt wahr geworden?
Damals hatte ich eher von Wiola geträumt als von einem Europa ohne Grenzen. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich mit ihr über ihren Dichter reden würde und das, was dieser Adam außer seiner Ode an die Jugend sonst noch geschrieben hatte. Vielleicht würde ich Wiola sogar bitten, mir ein paar Brocken Polnisch beizubringen. Schüler und Lehrerin, wenn das kein Stoff für ein paar hübsche Irrungen und Wirrungen war. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich einfach Lust, Wiola wiederzutreffen und mit ihr über ein paar andere Dinge zu reden als mit Mats und Kalle. Nicht diesen Politkram. Eher was mit Tiefgang. Und mit Weitblick.
Während ich versuche, meine Geschwindigkeit im dichten Verkehr vor Posen zu finden, kommt es mir fast lächerlich vor, was ich damals alles unternommen hatte, um meine Zigarettenbekanntschaft wiederzusehen. Sogar eine Anzeige in der Zitty hatte ich aufgegeben. Weil ich ihren Namen nicht kannte, hatte ich aufs Geratewohl geschrieben: Kreuzberger will seinen Tabak wieder. Hab ihn neulich im Mehringhof liegen lassen. Wenn du, groß, schlank, dunkelbrauner Pferdeschwanz, rote Schuhe, ihn versehentlich eingesteckt hast, bitte ich um Zuschrift unter folgender Chiffre. Ich hatte die Anzeige ganz witzig gefunden, aber natürlich hatte ich keine Antwort bekommen.