Peter Lutzker
Der Sprachsinn
Sprachwahrnehmung als Sinnesvorgang
Verlag Freies Geistesleben
Vorwort zur Neuausgabe
Einleitung
1. Die Dynamik der Sinneswahrnehmung
Kapitelüberblick
Moderne Perspektiven der Sinnesphysiologie in ihrem historischen Zusammenhang
Sinnesphysiologie im 20. Jahrhundert
Die Dynamik der sinnlichen Wahrnehmung
Die physiologisch-neurale Grundlage der Wahrnehmung
Das Objektive der Wahrnehmung
Modelle der Verarbeitung von Sinneseindrücken (sensory processing)
Die Entwicklung der Sinne
Die Erweiterung der Sinne – Rudolf Steiners Sinneslehre
Die höheren Sinne
Vergleichbare Auffassungen von Sinneswahrnehmung
2. Sprache und Bewegung
Kapitelüberblick
Linguistisch-kinesisches Verhalten: Sprachbezogene Körperbewegungen als Selbst-Synchronie (self-synchrony)
Linguistisch-kinesisches Verhalten: Sprachbezogene Körperbewegungen als interaktionelle Synchronie (interactional synchrony)
Die Organisation des linguistisch-kinesischen Verhaltens
Verhaltensstörungen
Schlussfolgerungen
3. Die zerebrale Organisation von Sprache
Kapitelüberblick
Gehirn und Sprache
Aphasie
Die Asymmetrie des Gehirns
Die hierarchische Organisation des Gehirns
Hierarchische Organisation und Plastizität
Gegenwärtige Theorien über neurales Verarbeiten
Variabilität und Organisation
Schlussfolgerungen
4. Zeitliche Ebenen in Verhalten, Wahrnehmung und Intuition
Kapitelüberblick
Die Syntax der Bewegung
Die Grundlagen der Sensomotorik
Zeitliche Dimensionen von Sprache und Musik
Die zeitliche Verarbeitung von Sprache
Phonologische Verarbeitung
Semantische Verarbeitung
Wahrnehmung und Kommunikation
Zeitliche Denkvorgänge
Zeitliche Dynamik der Kreativität
Zeitliche Vorgänge bei Träumen
Gegenwärtige Perspektiven
5. Verschiedene Auffassungen vom Erwerb der Muttersprache
Kapitelüberblick
Theorien über den Erwerb der Muttersprache – ein geschichtlicher Überblick
Noam Chomsky und die Vertreter der Anlagetheorie (nativists)
Auffassung der Vertreter der Umwelttheorie (environmentalists)
Das Universelle und das Individuelle
Spezialisierung in einem interdisziplinären Kontext
Das Dualistische an der Linguistik
Der Verlust der Mitte
Die Notwendigkeit eines Mittelwegs
Neuere Versuche einer Synthese
6. Die Sprachgestalt
Kapitelüberblick
Sprache und Geste
Die Sprache der Gehörlosen
Die Kunst des Schweigens
Die Immaterialität von Sprache
7. Die biologischen Voraussetzungen für Sprache
Kapitelüberblick
Einleitung
Sprache und Körperhaltung
Aufrechte Haltung und Evolution
Aufrechte Haltung und Sprachproduktion
Hand und Sprache in der phylogenetischen Entwicklung
Hand und Sprache in der ontogenetischen Entwicklung
Sprachpotenziale
Physiologie und Syntax
Syntax und dem Menschen angeborene Strukturen
Rhythmus und Hierarchie in der Syntax
Sprachstörungen und rhythmisches Verhalten
Syntax und Bewusstsein
Semantik und Zirkulation
Gehirnstrukturen und sprachliche Fähigkeiten
Ein Gen für Sprache?
Auffassungen über das Nervensystem
Schlussfolgerungen
8. Sensorische Integration, zeitliche Organisation und sinnesübergreifende Wahrnehmung als angeborene Sprachgrundlage
Kapitelüberblick
Zeitliche Integration von Sprachphänomenen
Sinnesübergreifende Wahrnehmung als angeborene Grundlage für Sprachwahrnehmung
9. Das Kind als Sinnesorganismus
Kapitelüberblick
Einleitung
Die Hypothese des Sprachsinns als Synthese der Positionen von Anlage- und Umwelttheorie
Die pränatale Entwicklung der Sinne
Die Formbarkeit des Säuglings und des Kindes
Formbarkeit und Zeitpunkt des Auftretens bestimmter Merkmale in der körperlichen Entwicklung
Die kritische Periode für den Erwerb der Muttersprache
Die Sinneswelt des Säuglings
Der Tastsinn beim Säugling
Sprachwahrnehmung bei Neugeborenen
Sensorische Integration und Sprachsinn
Das «Bewusstsein» des Kindes
Bewusstsein und Teilnahme
Die Bedeutung des Nachahmens für das Kind
Nachahmung, Gestik, Sprache
Vom Universellen zum Spezifischen beim Plappern
Die Orientierung des Sprachsinns
Die Entstehung der Sprachorganisation
Die Wahrnehmung von Sprache und die Wahrnehmung von Denken
Sprache und Wille
Die Entwicklung eines verbalen Selbst
Sensorische Störungen
Der Tastsinn
Sprachstörungen
Verkümmerung der Sinne
Die Hypothese eines Sprachsinns im Zusammenhang mit Theorien über den Erwerb der Muttersprache
Anhang: Sinnesvorgänge und Fremdsprachenunterricht
Einleitung
Alternative Methoden im Fremdsprachenunterricht
Hermeneutik und Fremdsprachenunterricht
Hermeneutik und Lehrbücher
Hermeneutische Ziele
Sinnesentwicklung und Fremdsprachenunterricht
Die Tätigkeit des Sprachsinns in der Fremdsprache
Sensorische Physiologie und Lernen
Seelische und körperliche Haltung beim Unterrichten und Lernen
Gestik, Empathie und Lernen
Literatur und die Entwicklung der Sinne
Der Vorrang der ersten Begegnung
Beobachtung und Intuition
Mündliche Literaturinterpretation
Die Kunst der Lehrerausbildung
Die Sprache der Gesten im Unterricht
Die Geste als Organ des Denkens
Epilog
Danksagung
Literaturnachweise zum Vorwort der Neuausgabe
Anmerkungen
Auswahlbibliografie
Auswahl weiterführender Literatur ab 1996
Über den Autor
Fußnoten
Impressum
Als dieses Buch 1996 in erster Auflage erschien, stellte es insofern ein Novum dar, als Rudolf Steiners Entwurf einer neuen Sinneslehre und darunter auch eines spezifischen Sprachsinns erstmalig im Lichte aktueller Forschung betrachtet wurde. Die Untersuchung der zugehörigen Phänomene von Sprache, Sprachwahrnehmung und Spracherwerb führte zu einem interdisziplinären Ansatz, der aktuelle Forschungsergebnisse der Sinnesphysiologie und Sinneswahrnehmung mit denjenigen der Sprachforschung verbindet, sodass zwei weitgehend unabhängige Forschungsbereiche in Relation zueinander gebracht wurden. Daher war der Bezugsrahmen trotz der Fokussierung auf einen Sinn sehr weit gefasst, was einen beträchtlichen Umfang zur Folge hatte.
Steiners Sinneslehre war bis dahin fast ausschließlich in anthroposophischen Büchern und Kreisen dargestellt und erörtert worden, in der Regel ohne Bezug zu neueren wissenschaftlichen Untersuchungen. Eine Ausnahme bildete die Publikation des Mediziners Hans-Jürgen Scheurle Die Gesamtsinnesorganisation: Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in der Sinneslehre (1984) im Thieme Verlag.* Scheurles Anliegen war es u. a., Steiners Sinneslehre insgesamt zu betrachten, und er beschränkte sich daher notwendigerweise eher auf das Allgemeine. Dagegen habe ich mich auf den Sprachsinn und die diesbezüglich relevanten neueren Forschungsergebnisse konzentriert, sowohl um seine mögliche Gültigkeit im Lichte der modernen Forschung untersuchen zu können, als auch um Brücken zu einer nicht-anthroposophischen Leserschaft zu schlagen und in einen fruchtbaren Dialog mit Sprachwissenschaftlern eintreten zu können.
Diese Richtung bestand damals durchaus schon. Hierzu gehörte z. B. die 1987 begonnene und immer noch bestehende Arbeit des Erziehungswissenschaftlichen Kolloquiums in Stuttgart, das aus einem fortlaufenden Dialog zwischen Erziehungswissenschaftlern und anthroposophischen Pädagogen gemeinsame Publikationen herausgibt. Auch in der Medizin gab und gibt es solche Brückenschläge: So hat die Universität Witten-Herdecke für die Medizinerausbildung in Deutschland Meilensteine gesetzt. Insofern war dieses Buch 1996 einerseits etwas Neues, und andererseits konnte es an eine schon bestehende Tradition anschließen.
Heute, zwanzig Jahre später, hat sich dieser Dialog sowohl in der Pädagogik als auch in der Medizin und in den Naturwissenschaften deutlich erweitert und vertieft, wie ein Blick auf den Zuwachs entsprechender Publikationen verrät. In diesem Kontext wären beispielhaft zu nennen: Peter Heussers Anthroposophische Medizin und Wissenschaft (2011; englische Ausgabe: Anthroposophy and Science 2016), Branko Fursts medizinische Studie The Heart and Circulation: An Integrative Model (2014) sowie eine Reihe von Publikationen aus dem oben genannten Erziehungswissenschaftlichen Kolloquium, zuletzt der von Peter Loebell und Ernst Schubert herausgegebene Band Menschlichkeit in Pädagogik und Erziehungswissenschaft (2012) und der von Loebell und Peter Buck herausgegebene Band Spiritualität in Lebensbereichen der Pädagogik (2015) – und last but not least das von Jost Schieren herausgegebene über tausendseitige Handbuch Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik (2016).
Seit 2012 vergibt die Universität Witten-Herdecke Forschungsstipendien zur weiteren Untersuchung von Steiners Sinneslehre. In diesem Rahmen hat sich Martin Peveling in seiner Dissertation (2016) der weiteren Erforschung des Sprachsinns gewidmet. Aufbauend auf meinem Buch, ist es Peveling auf vorbildliche Weise gelungen, die Gültigkeit von Steiners Hypothese erneut umfassend zu überprüfen. Pevelings Werk wiederum gab auch den entscheidenden Impuls, dieses inzwischen vergriffene Buch in einer zweiten, weitgehend unveränderten Auflage nochmals herauszugeben. Maßgeblich beigetragen hat zu dieser Entscheidung Pevelings Aussage, dass er meine damalige Hypothese über das Wesen und Wirken des Sprachsinns und ihre Bedeutung für den Spracherwerb im Lichte der aktuellen neurobiologischen Forschung für voll bestätigt erachtet (Peveling, S. 225).
Bezüglich der aktuellen Forschungsergebnisse wird Pevelings Werk für die weitere Untersuchung der Hypothese eines Sprachsinns unentbehrlich sein; dies betrifft vor allem, aber nicht nur, seine Einbeziehung der Entdeckung von Spiegelneuronen, ein Aspekt, der zum Zeitpunkt der Entstehung meines Buches nicht bekannt war. – Eine Auswahl weiterführender Literatur ab 1996 zur Thematik der einzelnen Kapitel findet sich ab S. 376.
Ein weiterer wesentlicher Grund für die Neuauflage dieses Buchs liegt darin, dass die beiden Arbeiten doch deutlich verschiedene Schwerpunkte haben. Peveling bleibt ausschließlich auf die Darstellung und Überprüfung der Hypothese des Sprachsinns hinsichtlich der relevanten neurobiologischen und linguistischen Erkenntnisse fokussiert. Die mögliche Bedeutung dieser Hypothese für weitere Disziplinen wie die Psycholinguistik und Fremdsprachendidaktik ist nicht Thema seiner Arbeit und bleibt dementsprechend unberücksichtigt. In meinem Buch gibt es nach einer Betrachtung von Steiners Sinneslehre in einem breiteren philosophischen Kontext und der umfassenden Betrachtung der Gültigkeit der Hypothese des Sprachsinns an sich zwei weitere Schwerpunkte: die mögliche Bedeutung dieser Hypothese erstens für offene Fragen beim kindlichen Erstspracherwerb und zweitens im Hinblick auf Untersuchungen zum Fremdsprachenlernen und deren konkrete Auswirkungen für die Fremdsprachenpädagogik.
Neben der durchgehend positiven Resonanz, die Der Sprachsinn damals in einer Vielzahl von anthroposophischen bzw. waldorfpädagogischen Zeitschriften erfuhr, hat diese Publikation auch eine gewisse Aufmerksamkeit im Rahmen allgemeinerer Betrachtungen zur Sprache erfahren und führte zu einigen weiteren Darstellungen dieses Ansatzes meinerseits, z. B. in der philosophischen Zeitschrift Der Blaue Reiter oder kürzlich in der Pädagogischen Rundschau in einer Ausgabe mit dem Schwerpunkt Sprache.
Am meisten Interesse und Nachhall haben die von mir dargestellten Ansätze in der Fremdsprachenpädagogik gefunden, die ich damals in einem ausführlichen Anhang entwickelte. In einer Reihe von internationalen Konferenzen und gemeinsamen Publikationen entstand seither ein Austausch mit renommierten Vertretern der sogenannten humanistischen Methoden des Fremdsprachenunterrichts, wie z. B. Alan Maley, Mario Rinvolucri, Brian Tomlinson, Rod Bolitho und Hans Hunfeld. Hinzu kamen u. a. durch die positive kritische Resonanz und die weite Verbreitung meines späteren Buches The Art of Foreign Language Teaching: Improvisation and Drama in Teacher Development and Language Learning (2007) weitere Verbindungen vor allem zu dramapädagogischen und performativen Ansätzen im Fremdsprachenunterricht, die zu weiteren Vorträgen, gemeinsamen Konferenzen und Publikationen führten. Diese umfassen ein breites Spektrum von der Entwicklung von Unterrichtsmaterial für den Fremdsprachenunterricht (in: Tomlinson, 2013) über neue kreative Ansätze im Unterricht (in: Maley, Peachy 2015) bis hin zu neuen Wegen in der Lehrerbildung (in: Even, Schewe 2016).
Dass diese Auffassung der Sprache und der Sinne im Fremdsprachenlernen als fruchtbar und weiterführend angesehen wird, hängt vor allem mit einem ähnlichen Verständnis von Sprachenlernen zusammen. Alle oben genannten Ansätze messen der affektiven und kinesischen Dimension des Fremdsprachenlernens eine wesentliche Bedeutung zu und gehen damit über eine rein kognitive Auffassung vom Fremdsprachenlernen und -lehren weit hinaus. Hieraus entsteht ein gemeinsames Interesse an künstlerisch-ästhetischen Ansätzen, das sich auch im Verständnis von Lehrerbildung widerspiegelt.
Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es jedoch auch wesentliche Unterschiede. In Bezug auf die Waldorffremdsprachenpädagogik hängen sie in erster Linie mit der zentralen Stellung des spirituellen Menschenbilds zusammen, das der Waldorfpädagogik zugrunde liegt. Hieraus sind sowohl die unmittelbaren anthroposophischen Quellen der Waldorfpädagogik als auch Steiners Auffassung der Sinneslehre zu verstehen. Auf der einen Seite kann die Ergründung und Erklärung dieser Quellen einen fruchtbaren Dialog mit anderen Pädagogen erschweren, insofern als die Frage nach dem dahinterstehenden Menschenbild innerhalb eines pädagogischen Diskurses unüblich ist. Andererseits kann gerade diese Andersartigkeit des Ansatzes zu einem wertvollen Austausch führen, wenn er fundiert, aus gegenseitigem Interesse und mit Takt geführt wird. Gerade durch den über Jahrzehnte geführten Dialog erscheinen mir die Voraussetzungen für eine weitere Vertiefung dieses Austauschs jetzt günstiger als je zuvor.
Einen weiteren Grund für das stetig wachsende Interesse an diesem Ansatz kann man in der Schulpraxis finden. Für die Vertreter eines humanistisch-künstlerischen Fremdsprachenunterrichts bietet die Waldorfpädagogik die einmalige Möglichkeit, solche umfassenden Ansätze in Schulen zu beobachten. Für die meisten Verfechter solcher Methoden, die vor allem in der Erwachsenenbildung tätig sind, bleibt die Möglichkeit des Ausprobierens ihrer Ansätze in Schulen durch curriculare Zwänge und Prüfungen sehr begrenzt beziehungsweise völlig unmöglich. Auch die häufig verlangte strikte Orientierung an einem standardisierten Lehrwerk verhindert immer wieder die Erprobung ganzheitlicher, künstlerischer Ansätze in der Schule. Dagegen zeigt der Waldorflehrplan für Fremdsprachen im Vergleich zu anderen Lehrplänen die Sonderstellung der Waldorffremdsprachenpädagogik sehr deutlich. In der Einleitung zum Fremdsprachenlehrplan für deutsche Waldorfschulen werden die methodischen Grundlagen des Fremdsprachenunterrichts dargelegt, in denen auch die grundlegend andere Auffassung von Sprache deutlich wird:
«Die Methodik des Fremdsprachenunterrichts orientiert sich grundsätzlich an der Art und Weise, wie Kinder ihre Muttersprache erwerben, obwohl dieser Prozess im Schulalter viel bewusster verläuft. Die Fremdsprache wird wie die Muttersprache in einem reichen sprachlichen Umfeld voller Aktion und Interaktion erworben, wobei die Aufmerksamkeit auf die gemeinsamen Interessen und Erfahrungen der jeweiligen Altersstufe gelenkt wird. Charakteristisch für den Erstspracherwerb ist auch, dass er immer in einem Kontext stattfindet und durch nicht-semantische Kommunikationsprozesse gestützt wird. Dazu gehören Gestik, Körpersprache, Mimik, Tonfall und die sog. kinesic interaction, sprachspezifische Bewegungen und körperliche Reaktionen, die sich – oft unmerklich – zwischen Sprecher und Hörer abspielen.
Diese Kommunikationsprozesse begleiten auch alles spätere Sprachenlernen im Schulalter» (in: Richter, 2016, S. 171).
Dieser Ansatz, der im Lehrplan seine konkrete und altersgemäße Ausgestaltung erfährt, ist nicht zu trennen von der zugrunde liegenden Hypothese eines Sprachsinns. Betrachtet man Sprachwahrnehmung als sensorischen Vorgang, spielt die sensorische Entwicklung dabei eine wesentliche Rolle. In diesem Kontext beschreibt der Waldorfpädagoge Erhard Dahl das Fremdsprachenlernen nicht nur als einen Weg zur Erweiterung der Welt- und Selbsterkenntnis, sondern auch als die Weiterentwicklung spezifischer Sinnesfähigkeiten:
«Neben diesem Ziel, das man als ‹Erweiterung der Welt- und Selbsterkenntnis› bezeichnen könnte, eröffnet sich ein zweites Ziel, nämlich die ‹Verfeinerung des Wahrnehmungsvermögens›. Was für die Erkenntnis gilt, trifft auch auf das Wahrnehmungsvermögen des Menschen zu. Die durch die Muttersprache erlebten Empfindungen schaffen eine bestimmte, aber durchaus noch zu erweiternde Wahrnehmungsfähigkeit» (Dahl, 1999, S. 15).
Indem das Fremdsprachenlernen im Zusammenhang mit einer «erweiterten Wahrnehmungsfähigkeit» betrachtet wird, verlangt es nach Methoden, bei denen die unmittelbare Erfahrung des «Andersseins» der Fremdsprache ein wesentliches Element des Lernprozesses darstellt. Dies bedeutet, eine ständige Offenheit gegenüber den fremden Klängen, Wörtern, Strukturen und Gedanken einer anderen Sprache zu pflegen. Es erfordert gleichzeitig auch eine Akzeptanz dieses Unbekannten und Fremden, die nicht der Versuchung erliegt, das «Andere» ständig zu übersetzen in die vertrauten Bedeutungen und Strukturen der Muttersprache. Dahl führt weiter aus:
«Wird die Fremdsprache lediglich als ein System vermittelt, das zwar andere Anordnungsregularitäten und eine andere Aussprache besitzt, nicht aber andere Bedeutungen und Empfindungseindrücke, so wird beim Lernenden das Erfahren der Fremdsprache zum Wiedererkennen schrumpfen. Wird jedoch im Unterricht erlebbar, dass hier eine andere Art des Schauens und Fühlens vorliegt, so erweitert, bereichert, verfeinert man das Wahrnehmungsvermögen des Heranwachsenden» (ibid.).
Wenn eine Fremdsprache auf diese Weise unmittelbar aufgenommen wird, kann das zu einer aktiveren und tieferen Verbindung mit der Welt führen:
«… schon durch das Kennenlernen, Aufnehmen bildet sich langsam eine größere Regsamkeit, Geschmeidigkeit, Flexibilität, die dann wiederum mein Aufnehmen von Welt vielfältiger, aktiver sein lässt. Je mehr bis zu meiner Seele vordringen kann, desto wacher, heller, aufmerksamer ist meine Wahrnehmung. Gleichzeitig werde ich wahrnehmungsbereiter; ich bin bereit, den Eindrücken der Welt aktiver entgegenzugehen» (ibid.).
Für die Sinnesorganisation haben solche erweiterten und verfeinerten Wahrnehmungen des Sprachsinns «organbildende», d. h. für den physischen Leib prägende Wirkungen – im Sinne von Goethes Satz: «Jedes Objekt wohl angeschaut bildet ein neues Organ in uns aus» (Goethe, 1988, Bd. 13, S. 38). Das Fremdsprachenlernen bietet also gerade durch die Wahrnehmung und Einnahme eines ganz anderen Standpunkts – hier verstanden nicht nur als eine intellektuelle Erfahrung und Erweiterung, sondern auch als eine sensorische – einzigartige Entwicklungsmöglichkeiten.
Diese Sichtweise führt zu pädagogischen Ansätzen, die sich nicht nur vom traditionellen Fremdsprachenunterricht völlig unterscheiden, sondern in ihrer Einbeziehung der gesamten Sinnesorganisation des Menschen und insbesondere seines Sprachsinns, dessen Organ die gesamte Bewegungsorganisation des Menschen ist (vgl. Kapitel 2 und 8), auch deutlich von anderen ganzheitlichen Methoden unterscheiden. Und daraus resultieren auch andere Forschungsfragen. In einem Grundlagenwerk zum Waldorffremdsprachenunterricht werden sie zum Ausdruck gebracht:
«Auf jeden Fall haben wir Anlass, mit besonderer Aufmerksamkeit die Prozesse der körperlichen Bewegung im Sprachunterricht zu studieren. Wie stehen die von Condon beschriebenen feinen Modifikationen der Gestik und Körperhaltung zu Bewegungsabläufen der Kinder insgesamt in Beziehung? Gibt es dabei Spannungen zwischen den verschiedenen Bewegungsabläufen, wechselseitige Blockaden, Extremzustände? Gibt es charakteristische Rhythmen, auf die wir zu achten hätten? Was haben die Modifikationen der Stimme des Lehrers (Tempo, Tonfall, Lautstärke) damit zu tun oder seine Körperhaltung, seine Gestik und Mimik, seine körperlichen Spannungszustände? (…) Wir können weiter fragen, ob es im Lichte der Bemerkungen Steiners nicht geraten wäre, dem Wechselspiel von Ruhe und Bewegung im Sprachunterricht mit besonderer Aufmerksamkeit nachzugehen» (Kiersch, Dahl, Lutzker 2016).
Dass die Waldorfpädagogik von Sprachwahrnehmung und Spracherwerb als sensorischen Vorgängen ausgeht, hat auch für weitere pädagogische Bereiche Bedeutung. Gerade unsere zunehmend digitalisierte Zeit stellt alle Pädagogen vor die dringende Frage nach der Bedeutung unmittelbarer sensorischer Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Es ist über ein halbes Jahrhundert her, dass Susan Sontag in ihrem berühmten Aufsatz Against Interpretation den Verlust der sinnlichen Erfahrung und Aufmerksamkeit ihrer Zeit beklagte und daraus die Aufgabe des Kunstkritikers neu definierte:
«Unsere Kultur ist gegründet auf Übermaß, auf Überproduktion; die Folge ist ein fortschreitender Verlust an Schärfe in unserem sinnlichen Erleben. All die Bedingungen des modernen Lebens, seine materielle Fülle, seine Masse – verbinden sich, um unsere Sinne abzustumpfen. Und im Lichte dieses Zustands unserer Sinne, unserer Fähigkeiten (eben nicht der anderer Epochen) muss man die Aufgabe des Kritikers betrachten.
Jetzt ist es wichtig, dass wir unsere Sinne wiedererlangen. Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören, mehr zu fühlen» (Sontag 1961 / 2009, S. 13–14)
Heute hat sich die von ihr angesprochene Problematik in einer Weise verschärft, die damals kaum vorstellbar war. Seit ich vor zwanzig Jahren diese Gedanken von Sontag im Anhang des Buches zitierte, hat sich die weitere Beschleunigung dieser Entwicklung vielfältig manifestiert, vor allem in der Entwicklung des – damals noch weitgehend unbekannten – Internets. Den dringenden Fragen und Aufgaben, die dadurch an uns gestellt werden, können wir nicht ausweichen..
Die Brisanz dieser Entwicklung und die Notwendigkeit, sinnvolle pädagogische Maßnahmen in der Schule und in der Lehrerbildung zu ergreifen, wird längst auch an staatlichen Schulen und Universitäten erkannt. Dies wurde z. B. in einer im Herbst 2015 erschienenen Ausgabe der Pädagogischen Rundschau deutlich, in der mehrere Autoren sich diesbezüglich äußerten. Carl-Peter Buschkühle z. B. sieht gerade in den besonderen Anforderungen unseres digitalen Zeitalters die dringende Notwendigkeit, «Basiskompetenzen» in der Wahrnehmung zu erwerben, und betont, dass hierbei künstlerisch-ästhetische Erfahrungen eine besondere Rolle spielen können:
«Die Fähigkeiten, einfühlsam und differenziert wahrnehmen und das Wahrgenommene kritisch und beziehungsreich reflektieren zu können, dürfen in ihren vielfältigen Anwendungen in der Tat als ‹Basiskompetenzen› gelten, ja man kann sie, im Verweis auf den basalen Charakter des Ästhetischen, als anthropologische Elementarkompetenzen bezeichnen. Ihre Schulung ist wesentlich für den kritischen Umgang mit den Strategien und Inhalten der Medienbilder und anderen gezielten ästhetischen Inszenierungen. Ästhetische Kritikfähigkeit zählt unter den Bedingungen der Gegenwartskultur zu den grundlegenden Kompetenzen eines mündigen Subjekts. Wenn im Zuge von PISA die ästhetischen Kompetenzen marginalisiert werden, scheint die Erziehungswissenschaft, die diese Ausrichtung unterschätzt, auf dem ästhetischen Auge blind zu sein» (Buschkühle 2015, S. 483).
Der schon erwähnte erweiterte Bezugsrahmen dieses Buches wurde auch in der im Epilog angesprochenen Thematik sehr deutlich. Ich habe damals von den Konsequenzen eines drohenden Verlusts der unmittelbaren Sinneswahrnehmung und Sinnesfähigkeiten gewarnt und konkret auf Autoren in ganz unterschiedlichen Bereichen, darunter Philosophie, Ökologie, Pädagogik und Ästhetik, die auch eindringlich darauf hingewiesen haben, Bezug genommen. In Anbetracht der weiteren technologischen Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre kann man inzwischen sagen, dass wir uns jetzt schon und in der Zukunft noch mehr in einer deutlich veränderten Welt im Vergleich zu damals befinden. Die zunehmend fehlende unmittelbare Begegnung mit der Welt durch die Sinne und deren stetig wachsender Ersatz durch virtuelle Welten betrifft alle Sinne, am offensichtlichsten vielleicht die basalen Sinne. Die besorgniserregende Zunahme von sprachlichen Defiziten, die z. B. bei der Einschulung deutlich festzustellen sind, macht deutlich, dass auch die Sprachentwicklung unmittelbar betroffen ist. Angesichts der umfassenden Bedeutung der Sinneserfahrung und Sinnesentwicklung stellt dieser Verlust von Erfahrungen uns stärker als je zuvor dringende Fragen bezüglich deren Wiedergewinnung, vor allem im Hinblick auf Kindheit und Jugend.
Im April 2016 fand an der Universität Witten-Herdecke eine interdisziplinäre Tagung zum Thema «Die Bedeutung und Gefährdung der Sinne im digitalen Zeitalter» statt, deren Beiträge inzwischen in einem Sammelband gleichen Titels publiziert wurden (siehe S. 319). Das Thema wurde aus medizinischer, philosophischer und pädagogischer Perspektive betrachtet. In den Vorträgen und Diskussionen wurde immer wieder deutlich, dass die Herausforderungen, die unsere Zeit für eine gesunde Entwicklung der menschlichen Sinne darstellt, außerordentlich ernst zu nehmen sind. In zehn verschiedenen Vorträgen mit jeweils anschließender Diskussion entstand ein ungewöhnlich breites und anregendes Spektrum von Beiträgen zu diesem Thema, darunter aus den Gebieten Neurologie, Philosophie, Ästhetik, Sinnesphysiologie und Medienpädagogik. Aus einer Vielzahl von vorgetragenen Forschungsergebnissen wurde u. a. die große Gefahr deutlich, die eine extensive Mediennutzung in der Kindheit für die Entwicklung des kindlichen Gehirns darstellt. Es wurde aber auch auf Möglichkeiten hingewiesen, solchen Tendenzen konstruktiv etwas entgegenzusetzen, z. B. mit dem von Edwin Hübner dargestellten umfassenden und differenzierten medienpädagogischen Konzept (vgl. Hübner 2015).
Die Interdisziplinarität dieser Tagung hat es erst ermöglicht, ein umfassendes Bild der Bedeutung der Sinneserfahrung für den Menschen heute zu schaffen. Viele der verschiedenen Perspektiven, die dargestellt wurden, hatten gemeinsam, dass sie das Kind, das als «offenes und unfertiges» Wesen geboren wird und daher auf eine gesunde Entwicklung der Sinne im umfassenden Sinn angewiesen ist, als Ausgangspunkt ihrer Betrachtung nahmen. So wurde deutlich, dass sowohl die Gesellschaft als Ganzes als auch der Einzelne eine Verantwortung trägt, nach dieser Erkenntnis sowohl im gesellschaftlichen Diskurs als auch in der unmittelbaren Praxis zu handeln. Die Neuauflage dieses Buches entsteht mit der Hoffnung und dem Ziel, einen fruchtbaren Beitrag hierzu zu leisten.
Stuttgart, März 2017 Peter Lutzker
Ob wir es in der wissenschaftlichen Forschung mit Sinneswahrnehmungen zu tun haben oder mit dem Wahrnehmen von Sprache: Beidem liegt der Versuch zugrunde, die Umwandlung von Phänomenen in Bedeutungen zu verstehen. Indem ich von der Annahme ausgehe, dass diese Wahrnehmungsvorgänge eine gemeinsame sensorische Grundlage haben, stelle ich direkte Verbindungen zwischen zwei umfangreichen Forschungsgebieten her, von denen jedes eine große Anzahl Einzeldisziplinen einschließt, die vom Philosophischen bis ins Neurologische reichen. Ich hoffe in dieser Untersuchung zu zeigen, dass einige der fundamentalen Erkenntnisse, welche beim Studium der Sinneswahrnehmungen gewonnen worden sind, zur Erhellung der noch ungeklärten Probleme beim Versuch, das «Wie» der Sprachwahrnehmung und des Spracherwerbs zu erklären, beitragen können.
Die Forschungen zu Sprachwahrnehmung und Spracherwerb beschäftigen sich im Allgemeinen mit dem verbalen Verstehen und der verbalen Reaktion. Die vorliegende Arbeit basiert auf einem Sprachverständnis, welches zugleich alle Ebenen der non-verbalen Kommunikation als wesentlich für die Deutung von Sprachwahrnehmung und Spracherwerb betrachtet. Wie die neue Wissenschaft von den Bewegungsabläufen des Menschen, die Kinesik, gezeigt hat, gibt es typische/charakteristische Bewegungen individueller und allgemeiner Art, die ineinanderspielen. Durch die Einbeziehung solcher Bewegungsmuster soll Sprache hier als Ausdruck und Reaktion der ganzen menschlichen Gestalt verstanden werden.
Was Edward Hall die spezifische «stumme Sprache»1 jeder Kultur nannte, bestimmt zu einem bedeutenden Teil die individuellen gewohnheitsmäßigen Gesten ebenso wie entscheidende Aspekte der akzeptierten verbalen und kinesischen Beziehung zwischen Sprecher und Hörer. Einer der Wegbereiter auf dem Gebiet der Kinesik, Ray L. Birdwhistell, schätzt, dass durchschnittlich 2000 − 5000, maximal 10 000 Informations-«bits» pro Sekunde zwischen zwei miteinander sprechenden Personen vermittelt werden.2 Zu den sichtbaren Bewegungen und Gesten kommt hier also die komplizierte Organisation mikrokinesischer Bewegungsmuster hinzu, an denen der ganze Körper während des Sprechens und Hörens beteiligt ist. In dieser Untersuchung wird die «stumme Sprache» zusammen mit der gesprochenen Sprache so verstanden, dass sie alle Ebenen der expressiven und reagierenden Bewegung in der Kommunikation umfasst. Sprache, die nicht auf den Inhalt von Wörtern reduziert wird, sondern als gleichzeitig aus einander überschneidenden Ebenen verbaler und nicht-verbaler Bedeutung bestehend verstanden wird, bezieht den ganzen Menschen mit ein. Dementsprechend ist es Aufgabe dieser Arbeit, die Wahrnehmung von Sprache und Denken auf physiologischer, neurologischer und psychologischer Ebene zu untersuchen.
Wenn man die Sprache im weitesten Sinne betrachtet, ist es notwendig, beim Studium ihrer Wahrnehmung einen ebenso umfassenden Standpunkt einzunehmen.
Diese Auffassung verändert entscheidend den Blickwinkel, aus dem der Erwerb der Muttersprache gewöhnlich untersucht wird. «Denn es ist ein großer Unterschied, von welcher Seite man sich einem Wissen, einer Wissenschaft nähert, durch welche Pforte man hereinkommt.»3 (Goethe)
Diese Untersuchung ist so angelegt, dass sie – wie ich hoffe – dem Leser in einem breiten Spektrum von Fachgebieten den erforderlichen Hintergrund bietet. Für Leser, die mit einem oder mehreren dieser Wissensgebiete vertraut sind, wird dies möglicherweise Lektüre von bereits bekanntem Material sein. In Anbetracht des großen Umfangs dieser Untersuchung scheint es mir jedoch notwendig, auf keinem der hier behandelten Fachgebiete Vorkenntnisse vorauszusetzen.
In den Kapiteln 7, 8 und 9 ist meine zentrale Hypothese enthalten. Die ersten sechs Kapitel versehen den Leser mit dem notwendigen Material, um zu beurteilen, was ich in den letzten Kapiteln ausführe.
Das 1. Kapitel gibt dem Leser eine allgemeine Einführung in das Gebiet der Sinnesphysiologie und erläutert einige der Probleme der Sinneswahrnehmung, welche für diese Untersuchung bedeutsam sind. Die folgenden drei Kapitel behandeln die Wahrnehmung von Sprache. Im 2. Kapitel werden die kinesischen Ebenen des Verhaltens untersucht, insbesondere die mikrokinesische Reaktion auf das Sprechen. Das 3. Kapitel gibt eine Einführung in das weite Gebiet der Neurolinguistik und bespricht gegenwärtige Auffassungen in Bezug auf die neurologischen Grundlagen der Sprachwahrnehmung. Für Leser, die sich mit dieser teilweise sehr komplizierten Materie nicht so eingehend beschäftigen möchten, wird hier darauf hingewiesen, dass ein Verstehen meiner Hypothese auch ohne Auseinandersetzung mit diesem Thema durchaus möglich ist. Es würde eventuell genügen, den Anfang des Kapitels zu lesen, um sich einen historischen Überblick zu verschaffen. Das 4. Kapitel behandelt die psychologische Verarbeitung von Sprechen und Denken, insbesondere hinsichtlich der zeitlichen Dynamik von Denken und Wahrnehmung. Das 5. Kapitel liefert einen Hintergrund für verschiedene linguistische Auffassungen vom Spracherwerb beim Kind. Im 6. Kapitel werfe ich einen kurzen Blick auf das Phänomen Sprache selbst. Im 7. Kapitel werden die notwendigen Voraussetzungen für die Sprachwahrnehmung und den Spracherwerb herausgearbeitet. Die Untersuchung schließt mit einer vollständigen Formulierung meiner Hypothese bezüglich der notwendigen Voraussetzungen für die Sprachwahrnehmung und den Spracherwerb im 8. Kapitel. Das 9. Kapitel behandelt den Erwerb der Muttersprache unter dem Aspekt der Hypothese, die in den vorangehenden Kapiteln entwickelt worden ist.
In einem längeren Anhang werde ich die Bedeutung dieses Materials im Zusammenhang mit neueren Entwicklungen auf dem Gebiete des Fremdsprachenunterrichts untersuchen und die möglichen Folgen meiner Hypothese für die Methodik des Fremdsprachenunterrichts erläutern.
In einem Epilog befasse ich mich mit der allgemeinen pädagogischen Bedeutung der Sinnesfähigkeiten und der Sinnesentwicklung in der heutigen Zeit und den Gefahren, die mit ihrem Verlust verbunden sind.
Jedes Kapitel beginnt mit einer Zusammenfassung seines Inhalts.
«Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß ich’s Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.»1
Johann Wolfgang Goethe
Ein historischer Überblick über die wechselnden wissenschaftlichen Ansichten in der Sinnesphysiologie zeigt, dass sich die zugrunde liegenden philosophischen Auffassungen über das Wesen der Sinneswahrnehmung im Kern während vierhundert Jahren nicht verändert haben. Erst im 20. Jahrhundert hat es bedeutende Entwicklungen in der Sinnesphysiologie gegeben, insbesondere bei der Anerkennung der Sinnesvorgänge über die klassischen fünf Sinne hinaus und bei der Entdeckung, dass es angeborene synästhetische Fähigkeiten gibt.
Die neurologische Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen, welche notwendigerweise der bewussten Wahrnehmung vorausgeht, beruht auf dem Prinzip der Transformation verschiedener Arten von «Frequenzen» in unsere eigenen Bildvorstellungen der Welt. Sinneswahrnehmung beruht auf einer unbewussten, simultanen Integration verschiedener sensorischer Eindrücke in ein «Ganzes». Alle Elemente des Bewusstseins und der Beurteilung, welche auf die Wahrnehmung folgen, lassen sich vom eigentlichen sensorischen Vorgang unterscheiden.
In der Sinneslehre, die Rudolf Steiner in den Jahren 1910 bis 1924 entwickelte, wird das Vorhandensein «höherer Sinne» für die Wahrnehmung von Sprache, Denken und das innere Selbst (das «Ich») eines anderen Menschen angenommen. Steiner behauptete, dass die direkte Weise, in der gesprochene Sprache und Denken wahrgenommen werden, auf einen unmittelbaren, urteilsfreien Vorgang hinweist, welcher mit der Erfahrung aller Sinneswahrnehmungen vergleichbar ist. Interessante Parallelen zu Steiners Erweiterung der Sinneslehre findet man in den philosophischen Werken von Edmund Husserl und Max Scheler.
Die Auffassung, dass Wahrnehmung von Sprache und Denken als sensorischer Vorgang zu verstehen sei, erweist sich als unvereinbar mit einem Computermodell der Informationsverarbeitung. Die einheitliche Funktionsweise im sensomotorischen Ablauf setzt voraus, dass zwischen Wahrnehmung und Bewegung keine Grenzen vorhanden sind, während auf allen Gebieten der Informationsverarbeitungstheorie der Grundsatz der Teilung impliziert wird.
Eine Theorie von Sprache als sensorischem Vorgang bietet eine grundlegend neue Entwicklungsperspektive, indem man von den Möglichkeiten der sensorischen Verfeinerung Gebrauch macht. Beispiele von Menschen mit außerordentlich entwickelten Wahrnehmungsfähigkeiten zeigen uns die inhärenten Möglichkeiten dieser naturgegebenen, doch im Allgemeinen ungenutzten menschlichen Fähigkeiten.
Die klassische Frage, wie wir durch unsere Sinne zu einer objektiven Welterkenntnis gelangen, ist ein philosophisches Dilemma, das seine Wurzeln in einem platonisch-idealistischen Kontext hat.2 Wenn man dieser Frage nachgeht, findet man, dass die folgenträchtigste philosophische Entwicklung am Beginn des 17. Jahrhunderts in den Gedankensystemen von Locke und Descartes stattgefunden hat. Die positivistische Unterscheidung zwischen der «objektiven realen Welt» und einer «subjektiven inneren Welt» führte zu einer Einstellung gegenüber der Sinneswahrnehmung, bei der nur die sensorische Verarbeitung der messbaren Seiten von Materie, Licht, Klang usw. als objektiv feststellbar und somit real galt. Alle anderen Sinneseindrücke waren – ihrem Wesen nach – möglichen Fehlern unterworfen und wurden daher als lediglich sekundäre Wahrnehmungen der «wirklichen» Welt der Partikel, Vibrationen usw. klassifiziert. Von einer positivistischen Perspektive aus konnten die «Wahrheiten» der sinnlichen Wahrnehmungen nur insofern akzeptiert werden, als sie objektiv und materiell beweisbar waren.3
In der grundsätzlich verschiedenen Haltung, die Immanuel Kant und Goethe Jahrhunderte später gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung einnahmen, sind die philosophischen Fragen im Zusammenhang mit sinnlichen Wahrnehmungen ganz klar definiert. Kants These, dass das Wissen des Menschen von der Welt zwangsläufig subjektiv ist und dass die «Dinge an sich» objektiv nicht wahrgenommen werden können, führte letztlich zu einem Dualismus zwischen einem subjektiven Wahrnehmungssinn und einem objektiven Wahrnehmungsgegenstand. Kants grundsätzlichem Glauben an die Macht der Vernunft und des logischen Denkens lag eine klare Trennung zwischen Körper und Geist zugrunde, welche ihn dazu führte, der menschlichen Sinneserfahrung objektive Realität abzusprechen. Seine Unterscheidung zwischen dem passiven, rezeptiven Wesen der Sinne und der spontanen, aktiven Fähigkeit zu denken ergab sich aus seiner Auffassung von den Sinnen als bloßen Reizempfindungsorganen.4
Goethe lehnte Kants Ansicht über die Sinne und die Sinneswahrnehmung grundsätzlich ab. Er war davon überzeugt, dass der sinnlichen Wahrnehmung objektive Qualitäten innewohnen. «Die Sinne trügen nicht, das Urteil trügt.»5 Im Gegensatz zu Kant verstand er die Sinneslehre als vorrangiges Aufgabengebiet der Philosophie.
«In der deutschen Philosophie wären noch zwei große Dinge zu tun. Kant hat die Kritik der reinen Vernunft geschrieben, womit unendlich viel geschehen, aber der Kreis nicht abgeschlossen ist. Jetzt müsste ein Fähiger, ein Bedeutender die Kritik der Sinne und des Menschenverstandes schreiben, und wir würden, wenn dieses gleich vortrefflich geschehen, in der deutschen Philosophie nicht viel mehr zu wünschen haben.»6
Goethes Hoffnung auf eine «Kritik der Sinne» spiegelte nicht nur seine philosophische Haltung wider, sondern sie hatte auch eine eminent gesellschaftliche und wissenschaftliche Grundlage. Er glaubte, dass ein wesentlicher Aspekt der Entwicklung und Erziehung des Menschen in der Möglichkeit liege, durch die weitere Entwicklung von Sinnesorganen ständig die Wahrnehmung zu verfeinern.7 Durch diese einzig dem Menschen gegebene Möglichkeit unterscheiden sich Mensch und Tier grundlegend voneinander. «Das Tier wird durch seine Organe belehrt; der Mensch belehrt die seinigen und beherrscht sie.»8 Das Individuum hat die Möglichkeit, sinnliche Fähigkeiten und Organe (!) zu entwickeln, indem es sich eine feinere Wahrnehmungsebene erschließt. «Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.»9
Goethes Glaube an eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen objektiven Phänomenen und innerer Erfahrung wurde die Grundlage für seine ausgedehnten naturwissenschaftlichen Studien in der Botanik, der Morphologie und für die Entwicklung seiner Farbenlehre. Die Erfahrung der Phänomene durch die Sinne war der Anfangs- und Bezugspunkt eines intensiven Beobachtungsvorgangs, der in einer «exakten Imagination» gipfelt.
Im Vorwort zu seiner Farbenlehre schreibt er:
«Denn das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, dass wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren.»10
Diese Auffassung von der Gültigkeit der sinnlichen Wahrnehmung unterscheidet sich auffallend von derjenigen Kants, die die unwiderrufliche Trennung zwischen Subjekt und Objekt impliziert. Kants Glaube an die Macht des rationalen Denkens und seine Überzeugung, dass nur messbare Erscheinungen objektiv betrachtet werden können, hat die Grundlage für den wissenschaftlichen Fortschritt seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts gelegt. Goethes Vorstellung einer Wissenschaft auf der Grundlage des «exaktesten Apparates, den es geben kann – des menschlichen Sinnessystems»11 ist der kantschen Auffassung radikal entgegengesetzt. Gernot Böhme urteilt:
«Goethes Farbenlehre ist keine Alternative in der Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft, sondern eine Alternative außerhalb – eine Alternative zur neuzeitlichen Naturwissenschaft.»12
In diesem Jahrhundert wurden die wesentlichen Fragen und Themen, die eine «Kritik der Sinne» stellen würde, von einer Reihe bekannter Philosophen wie Rudolf Steiner, Max Scheler, Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty, Ernesto Grassi und Physiologen wie Erwin Strauß, Viktor von Weizsäcker und Herbert Hensel behandelt.13 In vielfältiger Weise haben sie jene Trennung zwischen einer «objektiven realen Welt» und einer «subjektiven inneren Welt» infrage gestellt, welche bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einem wissenschaftlichen Standardmuster hinsichtlich der sinnlichen Wahrnehmung geworden war. Beim Versuch, klar zwischen Wahrnehmungserfahrung und allen daraus resultierenden subjektiven Urteilen zu unterscheiden, haben sie verschiedene Methoden auf der Grundlage eines Verständnisses der sinnlichen Wahrnehmung entwickelt, welches die direkte Erfahrung einer objektiven Realität berücksichtigt. In einem Aufsatz, der teilweise auf die Vorstellungen von C. G. Carus zurückgreift, schreibt Grassi:
«Vor allem: Auf der Stufe des unbewussten Lebens, das sich nicht aufgrund eines Wissensprozesses, sondern unmittelbar aufgrund von Zeichen verwirklicht –, ist die Unterscheidung von Subjekt und Objekt unstatthaft; diese beiden Momente sind dort ungetrennt, wo noch keine Vermittlung die Erscheinungen zu bestimmen sucht. In der Unmittelbarkeit der Sinndeutungen bildet der Prozess des Lebens eine unteilbare Einheit, aus der Subjekt und Objekt gar nicht herausgebrochen werden können …
In der Unmittelbarkeit, in der die Zeichen Handlungen auslösen, gibt es keinen Spielraum für einen Irrtum, eben weil solche Handlungen nicht aus einem Wissen, d. h. aus einem Prozess der Vermittlung entstehen, durch den erst, im Suchen und Auffinden des Grundes, Irrtum möglich wird.»14
Die Position, die Grassi hier bezüglich der Einheit von Subjekt und Objekt bei der Wahrnehmung einnimmt, kann als repräsentativ für die Standpunkte der anderen genannten Wissenschaftler gelten. Während Grassi und andere sich diesem Thema aus einem mehr philosophischen Blickwinkel näherten, haben Strauß, Viktor von Weizsäcker und Hensel diese Perspektive im Zusammenhang mit ihrer Forschungsarbeit auf dem Gebiete der Physiologie entwickelt. Betrachtet man hier die weitreichenden und tief gehenden Entwicklungen auf den Gebieten der Physiologie und der Neurologie seit Goethes Forderung nach einer «Kritik der Sinne», so sind die immer noch aktuellen und grundsätzlichen Parallelen zu Goethes Standpunkt recht auffallend. Obwohl sie oft verschiedene Formen angenommen haben, sind die wesentlichen Fragen und Positionen inhaltlich gleich geblieben.
Im 20. Jahrhundert haben Physiologen ihre Vorstellung von Sinneswahrnehmung entscheidend erweitert. Sie gehen über die von Aristoteles bestimmten klassischen fünf Sinne hinaus und zählen z. B. Sinne für das Gleichgewicht, Wärme (Temperatur), Schmerz, Druck, Vibration und einen kinästhetischen Sinn für unsere Körperhaltung und die Körperbewegungen dazu. Daraufhin ist ein breites Spektrum von Terminologien, Kategorien und Unterkategorien entstanden.15
Bedeutsame Ergebnisse, die sich durch Spezialuntersuchungen über die einzelnen Sinne ergeben haben, führten zu grundlegenden Veränderungen auf diesem Gebiet. Es wurden neue Theorien entwickelt, die nicht nur die Funktionsweisen der einzelnen Sinne, sondern auch den Wahrnehmungsvorgang an sich zum Gegenstand haben. Die im 19. Jahrhundert übliche Auffassung, nach der Reiz und Reaktion voneinander getrennt sind – eine Theorie, die von dem Physiologen J. Müller und dem Physiker H. Helmholtz entwickelt wurde –, wird heute als inadäquate Erklärung für die sinnliche Wahrnehmung betrachtet.16 Im 20. Jahrhundert haben eine Anzahl von Physiologen und Philosophen das Studium der Wahrnehmung zum zentralen Thema ihrer Arbeit gemacht. Sie behaupteten, dass dies in einem gewissen Sinne die primäre Wissenschaft sei, insofern sie jene allgemeinen Wahrnehmungsprozesse untersuche, welche die Grundlage jeglicher wissenschaftlichen Tätigkeit ausmache. Entsprechend wird das Verstehen des Wesens sinnlicher Wahrnehmung zur Voraussetzung für die Untersuchung aller Erscheinungen. Viktor von Weizsäcker schreibt:
«Sinnesphysiologie setzt daher, soll sie eine Lehre von den Sinnen und nicht bloß eine Mechanik ihrer Organe sein, gegenüber Physik eine besondere Fähigkeit voraus, nicht allein mit den Sinnen etwas wahrzunehmen, sondern überdies Sinnliches mit Bewusstsein als solches zu erleben. Erst dann vermögen die mannigfachen geistigen Operationen einzusetzen, welche die wissenschaftliche Forschung von einer beliebigen Aussage über die Dinge unterscheiden.»17
Die Wechselbeziehung zwischen unserem bewussten Selbst und der Welt wird durch unsere Sinnesorgane vermittelt. Sinnliche Wahrnehmung ist die Voraussetzung für jede Erkenntnis. Wir nehmen die Qualitäten von Farben, Tönen, Gegenständen usw. wahr, und unsere Erfahrung ist unmittelbar. Was wir dann mit den Worten «grün», «ein leiser Ton», «ein harter Gegenstand» auszudrücken versuchen, ist mit der sinnlichen Erfahrung nicht identisch. Der direkte sinnliche Eindruck besteht aus der gleichzeitigen Synthese der Wahrnehmungen verschiedener Sinne. Wenn wir das Läuten einer Kirchenglocke beobachten, kommen die sinnlichen Wahrnehmungen von Form, Farbe, Bewegung und Klang zusammen und schaffen einen Gesamteindruck. Betrachten wir eine Landschaft, so erfahren wir Farbe, Klang, Bewegung und Geruch als einen Eindruck. Die Erfahrung von Synästhesie ist die gleichzeitige und unbewusste Interaktion einer variablen Anzahl von Sinnen in der Wahrnehmung. Diese Fähigkeit der sinnesübergreifenden (cross-modal) Integration muss als entscheidend für den ganzen Wahrnehmungsvorgang angesehen werden. Jede sinnliche Wahrnehmung basiert auf der direkten zeitlichen Integration unabhängiger Sinnesbereiche. Die immanente Bedeutung dieser Interaktionsvorgänge wurde zunehmend als wesentlich für die Wahrnehmung erkannt.18
Die angeborene Grundlage für die sinnesübergreifende Wahrnehmung wurde bei Experimenten mit Säuglingen überzeugend aufgezeigt. In dem bekannten von Meltzoff und Borton durchgeführten Experiment19 wurden drei Wochen alten Säuglingen die Augen verbunden, und jedem wurde einer von zwei verschiedenen Schnullern gegeben. Die Sauger der beiden Schnuller waren sehr unterschiedlich. Nachdem man den Säuglingen einen der Schnuller gegeben hatte, sodass sie ihn eine Weile im Mund spüren konnten, wurde der Sauger entfernt und neben den anders geformten Sauger gelegt. Als dann die Augenbinde entfernt war, schauten die Säuglinge weit häufiger den Sauger an, an dem sie gerade gesaugt hatten, als den anderen. Offensichtlich «verstanden» die Säuglinge durch eine Art natürlicher amodaler Wahrnehmung, dass der Sauger, den sie gerade ansahen, auch derjenige war, an dem sie soeben gesaugt hatten. Die hier gezeigte natürliche Interaktion des Tast- und des Sehsinnes ist offensichtlich das Ergebnis des inhärenten Wesens der Wahrnehmung und nicht von etwas durch Nachahmung Gelerntem.
Diese angeborene Fähigkeit zur Synästhesie wurde auch in Experimenten gezeigt, die den Herzschlag von Säuglingen messen, um zu beurteilen, welcher Grad der Lichtintensität am besten mit bestimmten Graden der Lautintensität korrespondiert. Aus der Reaktion der Säuglinge zogen die Versuchsleiter den Schluss, dass sie bestimmte Präferenzen hatten. Darüber hinaus entsprach diese Korrespondenz von Licht- und Tonintensität derjenigen, die eine Versuchsgruppe von Erwachsenen wählte.20
Indem er eine Reihe neuerer Untersuchungsergebnisse kommentiert, die darauf hinweisen, dass die amodale Wahrnehmung eine angeborene Fähigkeit ist, schreibt Daniel Stern:
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