periplaneta
Stephan Hähnel: „Gießt du meine Pflanzen, entsorge ich deine Frau“
1. überarbeite Neuauflage der Erstausgabe (Zwickau, 2012)
Periplaneta Berlin, Edition Totengräber
© 2017 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
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Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.
Projektmanagement: Sarah Strehle
Lektorat: Vanessa Franke
Cover, Satz & Layout: Thomas Manegold
print ISBN: 978-3-95996-059-5
epub ISBN: 978-3-95996-060-1
Gießt du meine Pflanzen, entsorge ich deine Frau
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Einen Moment lang spielte Werner Kronberg ernsthaft mit dem Gedanken, seiner Frau Marianne die Nase zuzuhalten, wissend, ihr Schnarchen würde nach einem Augenblick des Luftanhaltens mit einem erstickenden Kehllaut enden. Anschließend würde sie etwas Unverständliches brummen oder grunzen, so genau hatte er das noch nie differenzieren können, um dann beleidigt und theatralisch ihre beträchtliche Masse auf die Seite zu wälzen.
Meist schlief sie sofort wieder ein. Nur selten stand sie auf und ging in die Küche, um nach den versprengten Resten des Abendmahls zu fahnden oder sich mithilfe mehrerer Stücke Schokolade ein paar Glückshormone zuzuführen. Das Risiko wollte Kronberg heute nicht eingehen. Soll sie schnarchen, dachte er und schaute erneut auf die rötlichen Ziffern der Uhr.
Seit seinem letzten prüfenden Blick waren nicht einmal fünf Minuten vergangen. Noch eine gute Stunde würde er es ertragen müssen. Die Gefahr einzuschlafen bestand nicht, dafür würde sie schon sorgen. Wieder überlegte er sich, ob alles perfekt vorbereitet war, verwarf aber dann den Gedanken. In den letzten zwei Stunden hatte er seinen Plan genauestens geprüft und ihn als vollkommen eingestuft.
Wann Marianne das erste Mal geschnarcht hatte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Der Einfachheit halber entschied er, dass die ersten, noch dezenten Töne, beim Überschreiten der kritischen Masse von achtzig Kilo eingesetzt hatten. Seit gut einem Monat waren sie neunzehn Jahre verheiratet und die Aussicht, dass dieses Geräusch nicht nur lauter, sondern auch noch einige Oktaven tiefer werden würde, ließ ihn fast verzweifeln. Auch wenn er nicht an Gott glaubte, sein gedanklicher Stoßseufzer galt vorwurfsvoll einer höheren Instanz. Warum nur mutierten Frauen, die sich ihrer Männer amtlich versichert hatten, zu derartigen Masseansammlungen?
Im Grunde genommen war sie nie schlank gewesen, sondern von Natur aus etwas üppig, mit kurzen braunen Haaren und einer Stupsnase. Durchaus eine Schönheit, damals. Alle Freunde hatten ihn um so viel Frau beneidet. Heute glich die Nase eher einer Kartoffel. Was früher feste und zugegebenermaßen reizvolle Rundungen gewesen waren, hatte sich zu wabbligem Wellfleisch gewandelt, das, so schien es ihm, nur noch von rosiger Haut zusammengehalten wurde. Sicher, auch an ihm war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Auch sein Körper war eindeutig zu klein für sein Gewicht. Er war sich dessen durchaus bewusst. Nach seiner Einschätzung handelte es sich um einen vorübergehenden Zustand, eine Konsistenz, die sich durch ein bisschen Training und Bewegung in Muskeln verwandeln ließ, wenn er wollte. Nur, solange er an Marianne gebunden war, gab es keinen wirklichen Grund, daran etwas zu ändern.
Als ein besonders langanhaltender, sich proportional beschleunigender und lauter werdender Sägeton das gemeinsame Schlafgemach füllte, wäre er am liebsten aufgestanden. Misstrauisch, wie sie war, würde sie es bemerken und ihn mit sinnlosen Fragen malträtieren. Nein, ich stehe das durch, redete er sich zu.
Ihr erstes Schnarchen, ging es Kronberg durch den Kopf, musste zu jenem Zeitpunkt eingesetzt haben, als das Schlachtschiff Bismarck beim Abstauben aus unerklärlichen Gründen aus dem Regal gestürzt war. Das war kurz nach ihrem dritten Hochzeitstag geschehen. Die Bismarck war der ganze Stolz seiner Modellbautätigkeit und hatte ihn vierhunderteinundsiebzig Mannstunden Arbeit gekostet. Damals war er noch jung, verliebt oder blind gewesen. Der Gedanke, dass es sich womöglich um ein Attentat gehandelt haben könnte, kam ihm erst Monate später.
Am Anfang ihrer Ehe hatten sich diverse Puppen aus zwei Jahrhunderten noch friedlich den Platz mit holländischen Zweideckern, englischen Fregatten und deutschen Panzerkreuzern geteilt. Als allerdings die teuer ersteigerten böhmischen Zwillinge mit den Biedermeierkostümen und den dussligen Porzellanköpfen das Bord über dem Sofa einnahmen, jenen Platz also, an dem die Bismarck vor ihrer Zerstörung geankert hatte, waren ihm ernsthafte Zweifel gekommen. Was, wenn Marianne nicht fahrlässig agiert, sondern bewusst und böswillig Platz geschaffen hatte? Kaum war der Gedanke damals zu Ende gedacht, verfrachtete er sämtliche Schiffsmodelle in die dunklen Glasschränke des Kellers. Er begründete seine Aktion mit der Befürchtung, Sonnenlicht könne Pappelsperrholz übermäßig ausbleichen. Marianne quittierte es mit einem Lächeln. Wenig später wandelte sich das Wohnzimmer zu einem Panoptikum starrer Körper mit eingefrorenen Kindsköpfen, die in historischen Gewändern auf den Jüngsten Tag zu warten schienen. Einzig ein stilisiertes Buddelschiff mit einem Matrosenjungen, der albern winkte, war übriggeblieben. Die schwere Glasflasche fristete ihr Dasein gleich neben der Treppe. Ein Geschenk seiner Frau zu irgendeinem Hochzeitstag. Jedes Mal, wenn Werner Kronberg die Treppe hinauf- oder herunterging, glotzte ihn der Matrosenjunge dümmlich an. Nicht auszuhalten.
Wieder schaute er auf die Uhr, lauschte, ob sich ein ungewöhnliches Geräusch vernehmen ließ, aber alles blieb ruhig. »Verdammt noch mal, wo bleibt Meißner?«, fragte er sich. Werner Kronberg und Joachim Meißner kannten sich von frühester Kindheit an, waren in die gleiche Schule gegangen und hatten, zumindest eine Zeit lang, gleiche Interessen gehabt: Briefmarken. Meißner sammelte ausschließlich postfrische Wertzeichen aus Deutschland, nicht gestempelt, unbenutzt und in ganzen Blöcken mussten sie vorliegen. Zu jener Zeit hatte er selbst Motive aus aller Welt gesammelt, bevorzugt Schmetterlinge und Vögel. Mit der Zeit war ihm das allerdings zu langweilig geworden. Perforierte, zweidimensionale Papierschnipsel in eigens dafür vorgesehene Alben zu stecken, unterforderte seine Feinmotorik. Kronberg war ein Bastler, geduldig, pedantisch, minimalistisch, jemand, der sich an winzigen Details berauschen konnte. Sein erstes Schiff hatte er mit vierzehn Jahren gebaut. Meißner hingegen konnte den Miniaturmodellen nie etwas abgewinnen. Die Welt auf ein handliches Format zu reduzieren, war für ihn unvorstellbar. Nach seinem Empfinden hatte Glück etwas mit Vollständigkeit und Unversehrtheit zu tun. Briefmarken, denen eine Zacke fehlte, waren lediglich Nutzmarken. Ihnen wurde ein unwichtiger Platz im Schreibtischschubfach zugewiesen.
Neben ihrem Wunsch, die Freizeit mit einem Hobby auszufüllen, gab es keine weiteren Gemeinsamkeiten, die beide Männer verbanden, abgesehen von ihren Ehefrauen, die sie zeitgleich beim jährlichen Weihnachtsflohmarkt der Kirchengemeinde kennengelernt hatten.
Den Versuch der beiden Mädchen, selbstgehäkelte Topflappen für einen guten Zweck verkaufen zu wollen, hatten alle Flanierenden mit einem mitleidigen Lächeln und ausgeprägtem Desinteresse restlos scheitern lassen. Das änderte sich schlagartig, als Kronberg und Meißner sich zwar etwas hilflos, aber doch Wissbegierde heuchelnd, für feste Maschen, Luftmaschen, Kettenmaschen, Halb- und Mehrfachstäbchen sowie das ergiebige Thema des Zu- und Abnehmens interessierten. Genau wie er erlag auch Meißner augenblicklich Mariannes weiblichen Reizen. Nur bekamen davon weder Marianne noch ihre Freundin Ingeborg etwas mit. Männer, die sich für die Gestaltung von Häkelmustern interessierten, waren eher selten und bedurften einer genaueren Betrachtung. Nachdem Kronberg und Meißner sämtliche Bestände an Maschenwaren erworben hatten, um Marianne und Ingeborg in das nächstbeste Café einem anderen, vermeintlich besseren Zweck zuzuführen, kam es zu einem kollektiven Verlieben. Allerdings war lange Zeit unklar, wer sich eigentlich in wen verliebt hatte. Man traf sich regelmäßig und arbeitete die gesamte Palette romantischer Klischees ab. Schließlich wagte Meißner den ersten Schritt. Sein Versuch, Marianne mit einem kleinen Album Blumenbriefmarken seine Liebe zu gestehen, stieß allerdings auf völliges Unverständnis. Marianne entschied sich in jenen Tagen für Kronberg. Meißner heiratete wenig später Ingeborg, für die sich auch Kronberg ursprünglich interessiert hatte. Aber man bastelt nicht gleichzeitig an mehreren Modellen. Jegliches hat seine Zeit, und zu jener Zeit war an Ingeborg noch nicht viel dran. Ihr fehlten jene Rundungen, mit denen ihre Freundin Modellbauer und Briefmarkensammler gleichermaßen um den Verstand bringen konnte. Holz muss auch erst einige Jahre lagern, bis es den Ansprüchen genügt.
Seitdem schweißte die Verständnislosigkeit, mit der ihre Frauen auf ihre Hobbys reagierten, die beiden Männer eng zusammen. Regelmäßig saßen die zwei Freunde in Kronbergs Keller bei einem guten Glas Wein zusammen, betrachteten jammervoll die eng beieinanderliegenden Schiffe und gaben sich der Trauer über die verlorene Glückseligkeit vergangener Zeiten hin.
An einem dieser Abende war Meißner völlig aufgelöst zu ihrem wöchentlichen Treffen gekommen. Ingeborg hatte nicht nur an diversen Gewinnspielen teilgenommen, sondern sich auch noch aus Mangel an Briefmarken an seiner Sammlung vergangen.
Die Leidenschaft von Meißners Frau war von jeher die Teilnahme an Glücksspielen. Regelmäßig gewann sie kosmetische Pröbchen, Restaurantgutscheine oder Schlüsselanhänger. Solange sie sich von seinen Briefmarken fernhielt, ertrug Meißner diesen Tick mit stoischer Geduld. Als ihn aber Adenauer, Brandt, Kohl und andere politische Persönlichkeiten vorwurfsvoll von den Rückseiten diverser Gewinnspielpostkarten angestarrt hatten, war es mit der Ruhe vorbei gewesen.
In der bedrückenden Atmosphäre des Schiffsfriedhofes hatten er und Meißner begonnen, Pläne zu schmieden, um das verlorene Gebiet zurückzuerobern. Briefmarken ließen sich vor unerwünschtem Zugriff durch einen Tresor schützen. Nur die Frage, wie man Puppen unauffällig, aber endgültig entsorgte, bereitete ihnen Kopfschmerzen. Einige Gläser Chianti später waren sie sich einig: Die Puppen mussten einem Diebstahl zum Opfer fallen. Meißners Einwand, er beherrsche zwar durchaus die Arbeit mit Pinzette und Lupe, habe aber noch nie mit einem Glasschneider zu tun gehabt, ließ Kronberg nicht gelten. Immerhin ging es um die Rettung seiner Armada.
Plötzlich schreckte Kronberg aus seinen Gedanken. Die ersehnten Geräusche, ein Kratzen, dann ein Knacken, bestätigten, dass alles wie abgesprochen stattfand. Vorsichtig versuchte er, in der Dunkelheit zu erkennen, ob Marianne etwas davon mitbekam. Ihr gleichmäßiges Schniefen verriet, dass sie auch weiterhin tief und zufrieden schlief. Die Baldriantropfen, die er ihr heimlich in den abendlichen Kräutertee gemischt hatte, wirkten wie erwartet.
Normalerweise reichte schon das kleinste Knistern, um sie aufschrecken zu lassen. Die Angst, ihren Babys, wie sie die Puppen überschwänglich nannte, könne etwas zustoßen, ließ sie regelmäßig bei jedem Geräusch hochfahren.
Meißner war es offensichtlich inzwischen gelungen, die Terrassentür zu öffnen. Wahrscheinlich war er schon damit beschäftigt, die Puppen einzupacken, wertvolle Unikate, die beide später zu Geld machen wollten, um die dezimierten Postwertzeichen wieder zu vervollständigen. Marianne schlief den Schlaf der Gerechten und bekam nichts mit. Kronberg freute sich jetzt schon auf ihr Gesicht am nächsten Morgen.
Plötzlich zerriss ein Klirren die Stille. Kronbergs Herz hielt es für besser, einen Schlag lang auszusetzen. Vorbeugend stellte er sich tot wie ein Käfer, in der Hoffnung, die Gefahr werde an ihm vorübergehen. Ein Irrtum, wie er sofort feststellen musste.
»Einbrecher! Wir haben Diebe im Haus!«
Ansatzlos und mit einer Beweglichkeit, die er Marianne gar nicht mehr zugetraut hatte, sprang sie auf. Die Sorge, dass ihre Puppen gestohlen werden könnten, machte augenblicklich eine Furie aus ihr. Reflexartig griff sie nach dem Erstbesten, das sie fand, riss die Tür auf und rannte die Treppe herunter.
Kronberg rappelte sich auf und folgte seiner Frau, die schon einen beträchtlichen Vorsprung hatte.
Meißner, hinter einer blickdichten Strumpfhose unkenntlich gemacht und verzweifelt bemüht, einen der verhassten Zwillinge in einen Sack zu stecken, erstarrte. Angesichts einer auf ihn zurollenden Lawine mit wehendem Nachthemd und einem Bügeleisen in der Hand, das sowohl als Schlag-, Hieb- oder als Schleuderwaffe verwendet werden konnte, kein Wunder. Dann ging alles sehr schnell.
Entsetzt ließ er auch die andere Puppe fallen. Das bekannte Klirren verriet, dass auch dem zweiten Porzellankopf das Lächeln vergangen war. Erschrocken starrte Meißner auf den Boden. Zu seinen Füßen lagen die Scherben gemeuchelter Biedermeierraritäten. Dem Klirren folgten ein urzeitliches Heulen und dann jenes dumpfe Krachen, das Bügeleisen verursachen, wenn sie mit der Spitze ungebremst auf einen Kopf treffen. Meißner sackte sofort tot zusammen.
Erst jetzt kam Marianne zur Ruhe. Und erst in diesem Moment machte sich ihr Gewicht durch Atemlosigkeit bemerkbar. Kronberg sah, wie sie sich bückte und die zerbrochenen Scherben in die Hand nahm. Liebevoll streichelte sie abwechselnd eine halbe Augenbraue und eine gemalte Locke.
Kronberg stand fassungslos am Ende der Treppe. Alles war anders verlaufen, als geplant. Ursprünglich hatte er doch nur Raum für seine Modellschiffe zurückerobern wollen. Meißner sollte neben ein paar anderen seltenen Einzelstücken die Zwillinge stehlen. Dieser Verlust hätte Marianne sicherlich davon überzeugt, ihre Sammlung an einem sicheren Ort verwahren zu müssen.
»Er hat meine Babys getötet!«, sagte seine Frau mit einer Stimme, die ihm das Blut gefrieren ließ.
Kronberg konnte nicht glauben, was er da hörte. In ihrem Wohnzimmer lag sein bester Freund erschlagen und sie beweinte glasiertes Porzellan. Noch trug Meißner die Strumpfmaske. Würde Marianne erst einmal erkennen, um wen es sich bei dem Einbrecher handelte, sie würde seinen Plan sofort durchschauen.
Verzweifelt blickte Kronberg sich um, in der Hoffnung, eine Lösung zu finden. Aber außer dem dümmlichen Lächeln des Leichtmatrosen, der ihm wie immer albern zuwinkte, entdeckte er nichts, was ihm aus der Misere helfen konnte. Der Junge ruderte einem unbekannten Ziel entgegen. Warum auch sollte gerade er sich für Kronbergs Probleme interessieren. Doch plötzlich verstand er. Es war ein Abschied, ein Abschied für immer. Verzweifelt versuchte seine Frau, die Scherben zusammenzufügen. Kopfschüttelnd kniete sie vor den Bruchstücken, wippte mit dem Oberkörper und flüsterte fast tonlos: »Oh Gott, was mache ich nur?«
»Das ist eindeutig Notwehr«, antwortete Kronberg und genoss eine Sekunde lang den verwirrten Blick seiner Frau. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, holte er aus und zerschmetterte die schwere Glasflasche mit dem ewig lächelnden Matrosenjungen auf Mariannes Kopf.
Das Geräusch klang anders, eine Nuance dumpfer als Mariannes Bügeleisen auf Meißners Stirn. Ob es an ihrem Schädel oder an der Wahl der Waffe lag, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Es interessierte ihn auch nicht wirklich. Jedenfalls fiel Marianne nach vorn und bedeckte Meißner fast vollständig mit ihrem Körper.
Nachdem er sich beruhigt hatte, huschte ein Lächeln über Kronbergs Gesicht. Man würde sich daran erinnern, dass sein Freund sehr an Marianne interessiert gewesen war. Sein Versuch, ihr Herz mit postfrischen Blumenbriefmarken zu erobern, war monatelang Gesprächsthema an allen Stammtischen gewesen. Sicherlich war es etwas ungewöhnlich, in diesem Alter durchzubrennen. Aber nicht unmöglich. Der kleine Matrosenjunge hatte ihn auf den Gedanken gebracht. Ein Abschied für immer.
Kronberg runzelte die Stirn angesichts der Arbeit, die auf ihn zukam. Im Ganzen ließen sich die beiden Leichen nicht transportieren. Die einzige Möglichkeit bestand darin, sie in kleine Stücke zu zersägen und zu entsorgen. Sechs, maximal sieben Mannstunden, überschlug er den Aufwand. Die Reinigung der Fliesen wäre dagegen nur ein Kinderspiel.
Ein paar Monate würde Kronberg vergehen lassen, ein Viertel- oder ein halbes Jahr. Dann konnte er sich um Ingeborg kümmern. Jeder würde das verstehen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Ein gutes Holz braucht halt seine Jahre, ging es ihm durch den Kopf.
Lächelnd betrachtete Kronberg das Bord über dem Sofa. Im Grunde genommen war alles perfekt. Die Bismarck würde wieder auf ihren angestammten Platz zurückkehren und Ingeborg konnte an unendlich vielen Gewinnspielen teilnehmen, ohne auch nur eine einzige Briefmarke erwerben zu müssen.
Schon seit Monaten hatte Ulrike sich verändert. Wann seiner Frau allerdings die irrsinnige Idee kam, nur noch Vegetarisches auf den Tisch zu stellen und auf jegliche tierischen Produkte zu verzichten, kann Henry Engelmann beim besten Willen nicht sagen. Für ihn ist das auch unwichtig. Er hat sie erschlagen, sicher nicht bewusst oder planmäßig. Aber es ist geschehen. Allerdings empfindet er seine Tat lediglich als Notwehr.
Kommissar Hagen Greif betrachtete verdutzt den alten Mann auf dem Sofa, den er nicht nur seinen Freund nannte, sondern der gleichzeitig auch der einzige Mensch war, der sämtliche Modelleisenbahnen vor 1945 hinsichtlich ihrer Bauart, der technischen Parameter und ihrer Markteinführung kannte. Henry war ein friedlicher und glücklicher Zeitgenosse, der sich ganz seiner Passion hingab. Kaum ein Platz in der Wohnung war nicht diesem Thema gewidmet. Schaukästen mit historischen Modellbahnen, Fotos oder Streckenplänen bedeckten jede freie Stelle. Er war sein Leben lang mit jeder Faser seines Körpers Eisenbahner gewesen, im Beruf und in der Freizeit.
»Ich kann das erklären«, begann Henry aufgeregt zu stottern. »Das Essen sollte planmäßig auf Platz drei bereitgestellt werden. Mittagessen wird bei uns immer um 13:00 Uhr abgefertigt und nicht mit neunzehn Minuten Verspätung.«
Greif verstand kein Wort. Hilflos schaute er den alten Freund an. Hastig sprudelten die Sätze aus ihm heraus. Der Kommissar hatte Mühe zu verstehen, was vorgefallen war. Offensichtlich hatte sein Freund die Verspätung als Essenausfall interpretiert und geglaubt, die Mahlzeit wäre ersatzlos gestrichen worden.
Laut Henrys Zeitplan war für diesen Tag die jährliche Grundreinigung eidgenössischer Baureihen geplant gewesen. Nachdem Ulrike mit den Worten, es sei Zeit, ihr Leben zu ändern, alle sorgsam aufgereihten Schrauben, Hängerkupplungen, Strombügel und Fahrgestelle mit einer einzigen Handbewegung in einen Schuhkarton gefegt habe, sei es zur Katastrophe gekommen. Beim darauffolgenden Handgemenge habe sich der Unfall nicht mehr vermeiden lassen. Das müsse Greif doch verstehen.
Der Kommissar war entsetzt. Er wusste nicht, ob er nicken oder den Kopf schütteln sollte. Verspätung war ein eher ungewöhnlicher Auslöser für eine Gewalttat, aber ihm waren schon absurdere Gründe begegnet. Einstweilen beschloss er, sich nicht zu äußern. Ulrike lag wie ein umgedrehtes Fragezeichen auf dem Teppich, und starrte mit ihren stumpfen Augen auf seine Schuhe, als wäre sie erbost darüber, dass Greif sie nicht an der Wohnungstür abgestreift hatte. Sie trug einen Sari aus Leinen, und in den Haaren waren naturbelassene Holzperlen mit bunten Bändern eingeflochten. Noch nie hatte der Kommissar sie derart gekleidet gesehen. Etwas anderes als eine blaue Uniformhose und eine helle Bluse hatte sie nie getragen.
Als Kind, wenn er nach der Schule nach Hause gekommen war und vorgegeben hatte, nicht in die elterliche Wohnung zu können, war sie mit einem Lächeln in die Küche gegangen, um ihm ein paar Brote zu schmieren. Nichts Besonderes, aber er konnte sich nicht erinnern, jemals etwas anderes als Wurst auf den Brotscheiben gefunden zu haben. Schon ungewöhnlich, dass sich Frau Engelmann auf ihre alten Tage dem Vegetarismus verschrieben hatte. Der eigentliche Grund seiner damaligen Besuche war allerdings Henrys Modelleisenbahnplatte gewesen. Fasziniert hatte Greif beobachtet, wie die Züge in den Bahnhof einfuhren und nach einer kurzen Zeit erneut auf die Strecke gingen.
Noch heute war das für Henry kein Spiel, sondern eine ernste Angelegenheit. Fahrbetrieb nannte er das. Henry war der einzige Mensch, dem Greif jemals begegnet war, der seinen Wecker nach einem Fahrplan stellte und minutengenau aufstand. 04:17 Uhr – Wecker klingelt. Aufenthalt im Bad – zwölf Minuten. Kaffee um 04:29 Uhr. 04:52 Uhr – Haus verlassen. Wenn Henry Engelmann eine Minute zu früh an der Wohnungstür stand, wartete er selbstredend, bis ein inneres Signal die Strecke freigab.
Schon von Kindheit an hatte Greif diese Disziplin und Ordnung bewundert. Sein eigener Kindheitstraum, Lokführer zu werden, war am Widerstand seines Vaters zerplatzt. Seit Generationen waren die Greifs Polizisten. Mit dieser Tradition zu brechen, käme einem Verrat gleich. So hatte Greif sich halbherzig entschlossen, auch Polizist zu werden. Seine Leidenschaft für Modelleisenbahnen jedoch war ihm erhalten geblieben. Folgerichtig betrachtete er dieses Hobby auch nicht als solches, denn nach seinem Dienst fing für ihn die eigentliche Arbeit erst an. Gerade an diesem Wochenende plante er, mit seiner neu modellierten Strecke Belzig-Wiesenburg den Fahrverkehr der sogenannten Kanonenbahn vom 17. Januar 1921 nachzuvollziehen.
Greif mochte keine Leichen. Nicht, dass er sich an ihnen störte, aber erfahrungsgemäß war die Auflösung eines Mordfalles mit erheblichem Zeitaufwand verbunden, Zeit, die er lieber mit seiner Modelleisenbahn verbrachte. Ulrike würde mit Sicherheit zu einer Verzögerung seines Bauvorhabens führen. Nicht auszudenken, wenn die Streckenfreigabe nicht erfolgen könnte, weil wesentliche Details fehlten. Verzweifelt schaute er auf die Leiche.
»Womit hast du sie eigentlich erschlagen?«, fragte er nachdenklich.
Henry senkte den Blick, offensichtlich war es ihm peinlich. Dann griff er hinter sich.
Greif konnte nicht glauben, was er da sah. Eine Märklin CCS 66/12920, auch Schweizer Krokodil genannt, in den Originalfarben, das Nonplusultra der Modelleisenbahnen. Allein der materielle Wert war heute fünfstellig. Noch nie hatte er etwas derart Schönes gesehen.
Fassungslos sagte er: »Du kannst doch deine Frau nicht mit einer Zugmaschine der Gotthard-Linie erschlagen! Von diesem Modell gibt es weltweit keine fünfzig Stück mehr. Schon gar nicht in diesem ausgezeichneten Zustand.«
Betroffen stellte Henry die Lok vorsichtig auf die Glasplatte des kleinen Tisches. Es ließen sich keinerlei Beschädigungen erkennen, abgesehen vielleicht von ein paar Hautfetzen und blutigen Haaren, die an den Führungsrädern klebten.
Henry lehnte sich zurück, und erst dann atmete er aus. Ehrfurchtsvoll betrachtete er den Triebwagen.
»So etwas gibt es heute gar nicht mehr«, flüsterte Henry fast tonlos. »Diese Kombination aus Kraft und Eleganz. Die Lok ist wie eine Madonna. Ulrike wollte das nicht verstehen.« Für Kommissar Greif war alles klar. Totschlag im Affekt. Mangelnde Zurechnungsfähigkeit. Posttraumatischer Stress. Einen Augenblick überlegte er, ob er die Mordwaffe sofort konfiszieren sollte, entschloss sich dann aber, es seinzulassen und setzte sich neben Henry. Ratlos starrte er abwechselnd auf die Leiche und die Tatwaffe.
»Baujahr 1921/22, satte zweitausendzweihundertvierzig PS, hundertachtundzwanzig Tonnen Eigengewicht. Die Lokomotive konnte auf Steilrampen vierhundertdreißig Tonnen Anhängerlast mit fünfunddreißig Stundenkilometern befördern. Es war mein erklärter Wunsch, dass du sie erbst, wenn ich einmal nicht mehr bin«, sinnierte Henry.
Greif war einen Augenblick lang sprachlos. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Eine Zeit lang schwiegen beide. Schließlich brach Greif das Schweigen.
»Hast du noch jemandem vom Tod deiner Frau erzählt?«
Henry schüttelte den Kopf. Ein paar Tränen füllten seine Augen. Trotz aller Mühe konnte er nicht verhindern, dass er zu schluchzen begann.
Greif legte den Arm um seinen Freund, so wie ein erwachsen gewordener Sohn zuweilen seinen Vater in den Arm nimmt. Mit ruhiger Stimme sagte er: »Wir stehen das zusammen durch. Ich werde mich um alles kümmern.«
Der alte Mann nickte dankbar. Greif stand auf und holte ein Taschentuch aus der Jackentasche. »Morgen meldest du dich auf dem Revier. Sag, Ulrike sei vom Einkaufen nicht wiedergekommen, und du machst dir Sorgen.« Dann nahm er die Lok und wischte die blutigen Spuren vom Fahrgestell. Sein Herz klopfte vor Aufregung, als er hinzufügte: »Glaub mir, bei mir ist sie sicherlich besser aufgehoben, als wenn sie für immer in der Asservatenkammer verschwindet.«
Henry Engelmann spaziert täglich zu einer bestimmten Zeit an der Bahntrasse entlang, auf der er so viele Jahre Dienst getan hat. Man kann ihn regelmäßig dort antreffen, ausgenommen zum Fahrplanwechsel, an den Weihnachtsfeiertagen und zum Jahresende. Wenn der ICE Berlin–Nürnberg um 17:32 Uhr an ihm vorbeirauscht, denkt er mit ein bisschen Wehmut an seine Frau. Er bleibt dann für eine Minute am Kilometerstein vierundzwanzig stehen, wissend, dass sie im Fundament der neuen Signalanlage ihre letzte Ruhe gefunden hat.
Zu ihrem neununddreißigsten Geburtstag hatte Caroline Sundemann nach Ahrensfelde, einem kleinen Dorf am Stadtrand von Berlin, eingeladen. Allerdings hatte sie von ihren besten Freundinnen etwas anderes erwartet als eine vor Männlichkeit strotzende Backform, eine fertige Backmischung und zweifelhafte Anweisungen über den Verzehr der Mürbeteigschnitten. Nicht, dass sie besonders viel Wert auf Geschenke legte, aber das war eine lächerliche und völlig überflüssige Anspielung, in hohem Maße peinlich und auf eine hinterhältige Art gehässig. Immer wieder wurde unter hochtönendem Gekreische der Slogan Back dir einen Mann vorgelesen. Sie hatte Mühe, vor ihren Freundinnen nicht die Fassung zu verlieren.
Mit den Jahren hatte Caroline gelernt, ihre wirklichen Gefühle hinter einem Lächeln zu verstecken, und so gelang es ihr auch diesmal ganz gut. Wie erwartet, wunderte sie ein bisschen herum – »Nein, also wirklich, ihr habt aber auch Ideen!« –, ließ ein paar zweideutige Scherze über sich ergehen, von wegen, seinen Pudding könne sie sich ja auf der Zunge zergehen lassen – und versprach, bei ihrem nächsten Weibertreffen unbedingt einen schokofarbenen Adonis mit karamellisiertem Zuckerguss zu präsentieren. Nachdem sich alle mit einem Glas Prosecco beruhigt hatten, legte sie die Backmischung etwas abseits zu den restlichen Geschenken auf den Tisch.
Als einzige der Frauen war Caroline nicht verheiratet und besaß keine Kinder. Schlimmer noch, es gab niemanden, der auch nur ansatzweise dafür in Frage kam. Die ersten bösen Zungen im Dorf sprachen schon von alter Jungfer. Dabei war es ihr sehnlichster Wunsch, selbst eine kleine Familie zu gründen. Genauer genommen sehnte sie sich nach einem Kind. Einen Mann benötigte sie nicht unbedingt auf Dauer. Auf die Aussicht, zu groß geratene Unterhosen in eine stapelgerechte Form zu bringen oder gar die Spuren männlicher Arroganz rund um die Toilette zu beseitigen, konnte sie gern verzichten. Caroline war keine Schönheit, aber eine durchaus ansehnliche Frau, groß gewachsen, kräftig, mit weiblichen Formen, und sie wirkte jünger, als sie wirklich war. Es gab Männer, die sich für sie interessierten. Aber sie interessierte sich für keinen.
Nach den Vorstellungen ihres Vaters hätte sie eines Tages die Bäckerei übernehmen sollen und dies zu seinem Leidwesen kategorisch abgelehnt. Zuweilen half sie, bediente den riesigen Backofen oder kümmerte sich liebevoll um Lambada-Schnitten, Schwarzwälder Kirschtorte oder den von allen geschätzten Käse-Quark-Kranz.
Jede Nacht um 02:00 Uhr aufzustehen, um einer ewig nörgelnden Kundschaft Brötchen und Brot zu backen, war für sie nie in Frage gekommen. Als ihr Vater vor drei Jahren an einer Staublunge gestorben war, verblassten die letzten Zweifel. Ein Käufer für die Bäckerei fand sich nicht und sie wurde stillgelegt. Einige Dorfbewohner waren beleidigt und grüßten eine Weile nicht. Offensichtlich schienen sie der Überzeugung zu sein, es gäbe ein Gesetz oder doch zumindest eine moralische Pflicht, die einzige Bäckerei im Ort weiterzuführen.
Die Arbeit als Personalreferentin einer deutschlandweit agierenden Zeitarbeitsfirma garantierte Caroline ein ruhiges und gesichertes Auskommen. Sie hatte sich ihr Leben eingerichtet. Wäre nicht dieser eine Wunsch gewesen, sie hätte sich als glücklich und zufrieden bezeichnet. In ihrer Freizeit besuchte sie Kochkurse, lernte, wie Pralinen hergestellt werden oder Sushi in Algenblätter gewickelt wird. Höhepunkt ihres beschaulichen Daseins aber war an jedem zweiten Donnerstag im Monat der obligatorische Besuch der Hafenbar. Die Bar bot ihr und ihren besten Freundinnen regelmäßig eine Bühne, um dem deutschen Schlager lautstark und hemmungslos zu frönen. Tief in sich spürte Caroline, wie die Musik ihre Seele streichelte. Die simplen Botschaften der Barden kamen ihr wie Gebete vor, denn dass sich Herz auf Schmerz reimte, musste einen höheren Sinn haben. Einen Mann lernte sie in der Hafenbar jedoch nicht kennen, jedenfalls keinen, der bereit war, ihren Traum zu erfüllen.
Anfänglich war sie noch davon ausgegangen, dass sich ihr Kinderwunsch mit den Jahren verlieren würde. Das Gegenteil war der Fall. Noch nie hatte sie die biologische Uhr so deutlich ticken gespürt wie in ihrem neununddreißigsten Lebensjahr.
Dabei hatte Caroline verschiedenste Optionen ausprobiert. Ein Institut für künstliche Familienplanung bemühte sich zwei Jahre lang erfolglos, befruchtete Eizellen so in ihren Uterus zu platzieren, dass sie vom Körper nicht abgestoßen wurden. Vergebens.
Dass es sich bei den Spendern um Personen handelte, die selbstverständlich gesundheitlich geprüft und in einer körperlich guten Verfassung waren, machte den Vorgang der Insemination nicht angenehmer. Die Vorstellung, Männer hätten sich aus Geldnot beim Betrachten erotischer Fotos schnaufend und schwitzend erleichtert, ließ Caroline dann doch von dieser Methode Abstand nehmen. Irgendwann war ihr klargeworden, dass es schon in der üblichen, archaischen Weise geschehen musste. Es folgten diverse One-Night-Stands. Auch der zweifelhafte Versuch, das Glück in Swingerklubs zu erzwingen, scheiterte kläglich – schon aufgrund der Kondompflicht. Blieb noch der Weg, ein Kind zu adoptieren. Für eine alleinstehende Frau versprachen derartige Bemühungen jedoch wenig Aussicht auf Erfolg. Schließlich war es einer der Zeitarbeiter, den sie für ein renommiertes Logistikunternehmen als Gabelstaplerfahrer eingestellt hatte, der ihr Herz berührte. Schon auf dem Bewerbungsfoto erkannte sie, dass er Andy Leandros zum Verwechseln ähnlich sah. Der Schlagerstar hatte vor vier Jahren in jeder Disco des mediterranen Raumes die Stimmung mit seinem Song Du kamst von irgendwo und bist jetzt nirgendwo zum Kochen gebracht. Der Mann hieß Kai-Uwe Strunz, und sein Lebenslauf war alles andere als stetig. Die meiste Zeit war er arbeitslos gewesen oder hatte längere Aufenthalte in Etablissements mit Gitterstäben vor den Fenstern verbracht. Vor vier Wochen war er entlassen worden, und die Chancen standen eher ungünstig, dass er einen längeren Aufenthalt in Freiheit genießen würde. Aber Caroline war das egal, immerhin sah er aus wie Andy Leandros. Unter Vortäuschung zweifelhafter Gründe zwang sie Kai-Uwe Strunz zu einem Treffen außerhalb der Arbeitszeit. Sie müsse ihn in Kenntnis darüber setzen, dass einer seiner Kollegen, dessen Namen sie natürlich nicht verraten dürfe, behauptet hätte, er würde sich an fremdem Eigentum bereichern. Kai-Uwe Strunz war zutiefst in seiner Ehre gekränkt, brauchte sofort ein Bier, dazu einen Schnaps, und als das zur Beruhigung nicht ausreichte, weitere Runden. Die folgenden unterbrach er lediglich dazu, ihr zu erklären, dass kein Deut Wahrheit an der Verleumdung sei und dass er den Kerl abmurksen würde, wenn er nur wüsste, um wen es sich handelte.
Gegen 23:00 Uhr war er sturzbetrunken und Caroline hatte Mühe, ihn in ihr Auto zu befördern.
Als Kai-Uwe Strunz aufwachte, lag er an Bettpfosten gebunden auf einem Satinlaken. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass seine Personalreferentin über ihm agierte. Kai-Uwe konnte kaum glauben, was sich ihm da bot, und all seine Bemühungen, sich aus der misslichen Lage zu befreien, scheiterten.
Was Caroline nicht wusste: Kai-Uwe Strunz lebte in einer festen Beziehung mit einem Partner, den er bei seiner Erstverurteilung, einem zweijährigen Aufenthalt ohne Bewährung, kennengelernt hatte. Strunz’ nachfolgende Straftaten waren allesamt Eifersuchtsdelikte, verbunden mit schwerer körperlicher Gewalt. Kai-Uwe konnte es nicht ertragen, wenn jemand seinen Freund auch nur einen Augenblick zu lange ansah. Gleiches galt auch für seinen Partner. Nicht auszudenken, wenn der ihn in dieser Situation vorfinden würde.Doch weder Flehen noch Drohungen brachten ihn aus der misslichen Lage. Sein Geist war zwar unwillig, aber sein Fleisch stark. Caroline bediente sich seiner, und wenn er einer Pause bedurfte, fütterte sie ihn mit selbstgebackenem Kuchen, gab ihm zu trinken und lag verträumt neben ihm. Ihr Wunsch, dass er doch etwas singen oder doch zumindest summen solle, machte Kai-Uwe Angst. Von Andy Leandros hatte er auch noch nie gehört. Er hielt es für besser zu schweigen, und sich zu bemühen.
Am nächsten Morgen kam Caroline mit einem thermometerähnlichen Gegenstand ins Zimmer, tanzte wild vor Freude und meinte, nun sei es endlich soweit. Endlich sei sie schwanger. Kai-Uwe hatte noch nie von einem Schwangerschaftstest gehört, der schon am nächsten Morgen verlässlich Auskunft gab, war sich aber sicher, sein Partner würde ihn filetieren, wenn nicht noch Schlimmeres.
Ob es Gedankenübertragung war, oder ob Caroline sich in jenem Moment bewusst wurde, dass der Vater ihres zukünftigen Kindes unmöglich am Leben bleiben konnte – die Wahl der Mordwaffe bereitete ihr kein Problem. Sie nahm ein Kissen, legte es auf sein Gesicht und setzte sich rücklings darauf. Die nächsten Minuten überlegte sie, was alles zu tun sei. Sie würde anbauen. Ein Kinderzimmer, lichtdurchflutet, mit eigenem Zugang zum Hof. Blau und rosa würde sie vermeiden. Ein zartes Gelb für die Wände. Die Möbel in schlichtem Weiß, vielleicht mit Blumen und Bärchen darauf oder den süßen, knuddeligen sieben Zwergen. Die ersten Strampler würden grün sein, ein unauffälliges, ausgewaschenes Grün. Später konnte sie immer noch die Farben variieren.
Noch einmal prüfte sie das Ergebnis des Schwangerschaftstestes, bis ihr plötzlich klarwurde, dass Kai-Uwe inzwischen das Zeitliche gesegnet haben musste.
Das Logistikunternehmen meldete Kai-Uwe Strunz als unzuverlässig ab und orderte sofort einen neuen Staplerfahrer. Kai-Uwe bekam quasi post mortem seine Kündigung. Sein Lebensgefährte, den Caroline in die Firma bestellt hatte, um den blauen Brief zu übergeben, war über ein Meter neunzig. Caroline war sich sicher, dass es keinen Zentimeter seines durchtrainierten Körpers gab, der nicht tätowiert war. Der Mann weinte bitterlich an ihrem Schreibtisch, als sie die Frage stellte, ob sein Partner nicht vielleicht mit einem anderen durchgebrannt sei. Unter Schluchzen und theatralischen Gesten fragte er sich verzweifelt, was er wohl falsch gemacht haben könnte. Danach fragte nie wieder jemand nach Kai-Uwe Strunz.
Es hatte Caroline einige gedankliche Mühe gekostet, sich darüber klarzuwerden, wie sie den Kerl loswerden könnte. In einem kleinen Dorf wie dem ihrigen wurde jede ungewöhnliche Aktivität mit Misstrauen beobachtet. Ihn einfach in einen Teppich einzurollen, um ihn im Wald zu vergraben, war genauso unmöglich, wie ihn mit Steinen zu beschweren und im Dorfteich zu versenken. Die Alternative, ihn unter der Betonplatte des künftigen Kinderzimmers endzulagern, schloss sie aus. Den Gedanken, ihr Kind würde auf den Gebeinen seines Vaters laufen lernen, fand sie einerseits zwar amüsant, andererseits jedoch zu pietätlos.
Caroline war sich bewusst, dass sie Hilfe brauchen würde. Wofür hat man beste Freundinnen, ging es ihr durch den Kopf, wenn nicht, um sich in aussichtslosen Situationen ihrer Hilfe zu versichern?
Feta vom Sultan
Keiner der geladenen Gäste konnte mit Bestimmtheit sagen, was für ein Fleisch serviert wurde. Schwein, Rind, Kalb, Lamm, Huhn, Pute, Kaninchen und Nutria wurden nach langem Hin und Her ausgeschlossen. Darüber, dass es sich nicht um Wild handelte, waren sich alle ziemlich schnell einig. Es fehlte die übliche strenge Note, und sicherlich wäre für die Soße etwas Rotwein verwendet worden. Pferdefleisch wurde von zwei Schweizer Cousinen zur Beruhigung der meist weiblichen Gäste ausgeschlossen. Eindeutig zu zart, meinten sie. Auch Ponys würden schon aufgrund der Farbe des Fleisches nicht in Frage kommen, und außerdem hätten sie doch eher eine feste und ziemlich rustikale Konsistenz. Straußenfleisch war zu langfaserig. Aufgrund seiner Exklusivität und der servierten Menge konnte Krokodilfleisch vernachlässigt werden und eine Diskussion, ob es sich vielleicht um die Filetstücke von Hunden, Katzen oder gar Meerschweinchen handeln könnte, wurde sofort im Keim erstickt. Eine kleine Mehrheit einigte sich schließlich auf Känguru. Caroline selbst aß nichts von dem Fleisch. Sie gab vor, dass der Arzt ihr empfohlen hatte, auf einen derartigen Genuss zu verzichten. Ihr Körper sei im jetzigen Stadium nicht mehr in der Lage, die Flut von Giftstoffen abzubauen und würde diese zwangsläufig in den Gelenken ablagern, was später zu rheumatischen Entzündungen führen könne. Den anderen war es recht, zumal sich Caroline nicht erweichen ließ, ihre Rezepte preiszugeben. Nur soviel könne sie verraten: Derartiges würde eher selten, vielleicht gar nicht mehr serviert werden. Die Enttäuschung war den Freundinnen anzusehen, auch wenn sie sich kurz darauf wieder ihren Tellern zuwendeten.
Es war ein sehr harmonisches Fest. Alle waren zufrieden und glücklich. Verträumt streichelte Caroline ihre kleine Bauchwölbung. Es wäre schön, überlegte sie und ließ genüsslich ihr Tiramisu auf der Zunge schmelzen, wenn vielleicht in ein oder zwei Jahren ein Geschwisterchen dazukommen würde.