Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

E-Book-Ausgabe 2017

© 2017 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40 / 41, 10719 Berlin
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ISBN: 9783803142313

Auch in gedruckter Form mit circa 350 größtenteils farbigen Abbildungen erhältlich: 9783803136671

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VORWORT

DIE POLIS, DIE kulturell homogene, politisch unabhängige und territorial zusammenhängende griechische Bürgerschaft, stellte laut Aristoteles die letzte und höchste Stufe der menschlichen Aggregation dar, nach jenen der Familie und der Dorfgemeinde. Der ihr wesensgleiche Ort war das Asty, die Stadt. Sie hatte die Aufgabe, immer noch laut Aristoteles, die Menschen nicht nur sicher, sondern auch glücklich zusammenleben zu lassen. Diese Unterscheidung führte die römische Antike fort: civitas war jene Gruppe von Menschen, die durch das Band einer Gesellschaftsordnung zusammengekommen waren; urbs die materielle, dauerhafte architektonische Hülse, die den sozialen Kern zu behausen hatte.

Damit war die Quintessenz der Stadt im Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und Architektur definiert. Sie prägte die Geschichte der menschlichen Urbanisierung und tut es noch heute. Die physische Form der Stadt bildet stets das Ergebnis des Versuchs, einer bestimmten sozialen Ordnung eine entsprechende architektonische Gestalt zu verleihen. Dabei ist beides schon seit geraumer Zeit längst nicht mehr so übersichtlich wie in der Antike. Die Gesellschaften sind zunehmend komplex und ungleichartig geworden, die Städte vielgestaltiger und fragmentierter. Überdies war und ist das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Stadtform nicht eindeutig determiniert: Gleiche urbane Anlagen können aus unterschiedlichen sozialen Systemen heraus entstehen, gleiche Gesellschaften in unterschiedlichen Stadtstrukturen heimisch werden. Die urbane Form ist zwar hauptsächlich, aber keineswegs ausschließlich von jener ihrer Gesellschaft abhängig: Die Topographie des Ortes, die Beschaffenheit des Bodens, die in der unmittelbaren Umgebung verfügbaren Materialien, die Bautechniken, das Klima, die Hygiene, die Eigentumsverhältnisse, die Mechanismen der wirtschaftlichen Verwertung der Grundstücke, die rechtlichen Instrumente, die diese Verwertung regeln, aber auch die Philosophie, die Religion, die Ideologie, die Politik und die Kunst beeinflussen und bestimmen die Form der Stadt. Dementsprechend reich, vielgestaltig und widersprüchlich stellt sie sich dar.

Dieses Buch vermittelt einen Überblick über die komplexe Geschichte der abendländischen Stadt, ein in sich kohärentes, klar abgrenzbares und besonders vielfältiges und ergiebiges Phänomen, und der nordamerikanischen Stadt, die mit der abendländischen engstens verknüpft ist. Es greift aus ihrer zehntausendjährigen Entwicklung die wohl glorreichsten, gewiss aber entscheidenden Jahrhunderte heraus. Der Fokus liegt – nicht zuletzt wegen des ab diesem Zeitpunkt überlieferten zuverlässigen Quellenmaterials – zunächst auf den mittelalterlichen Stadtstaaten, dem ersten groß angelegten Versuch nach der Antike, einer als ideal empfundenen urbanen Regierungsform eine ebenso ideale stadtarchitektonische Form zu verleihen. Es folgen die urbanistischen Erfindungen der Renaissance, die in der Stadtarchitektur die Perfektion ihres Menschenbildes widerzuspiegeln versucht; die perspektivischen Strategien des Barock, die bald in den Dienst absolutistischer Ideologien gestellt werden sollten; die gleichzeitig uniforme und variierte Stadt der Vernunft, die von der Aufklärung ausgerufen wird; die beunruhigenden Collagen des Klassizismus, in welchen antike Modelle unorthodoxe Verwendungen finden; die gewaltigen Modernisierungen, Umbauten und Erweiterungen des Historismus, durch die sich die Bedürfnisse und Werte des Bürgertums Einlass in die überkommene Stadt verschaffen. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts, als die ohnehin zunehmend differenzierten Stadtvorstellungen in eine unfassbare Vielzahl unterschiedlicher und größtenteils gegensätzlicher Modelle explodieren, endet dieses Buch. Seine inhaltliche Fortsetzung findet es in den beiden Bänden Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes.

Den Einschränkungen zum Trotz bleibt der Gegenstand des Buches schier unüberschaubar. Mithin wird gar nicht erst der Versuch einer linear zusammenhängenden, geschweige denn erschöpfenden Erzählung unternommen. Vielmehr sind Episoden so ausgewählt worden, dass sie die Architektur der Stadt vom Hochmittelalter bis zum 19. Jahrhundert in ihrer Entwicklung veranschaulichen. Dabei werden die wichtigen urbanistischen Strategien der europäischen und nordamerikanischen Stadtentwicklung beschrieben und diese Strategien dort ausgemacht, wo sie zum ersten Mal sowie am radikalsten und umfassendsten verwirklicht wurden. Insofern geht es eben doch um die Skizze einer Geschichte des abendländischen Städtebaus vom 13. bis zum 19. Jahrhundert.

Tatsächlich lassen sich aus den großartigen Stadtumbauten der Kommune Florenz im 13. und 14. Jahrhundert urbanistische Prinzipien herausdestillieren, die andere italienische Städte wie Siena, Lucca oder Mailand zeitversetzt in etwas anderen Ausprägungen angewendet haben und die entsprechend abgewandelt sogar in manchen norddeutschen Hansestädten wiederzufinden sind. Die verblüffend regelmäßige Platzanlage, die König Heinrich IV. von 1605 bis 1612 als Place Royale (heute Place des Vosges) aus dem urbanen Gefüge von Paris herausschneiden lässt (und zu welcher ihn die Piazza Ducale in Vigevano, aber auch der arkadengesäumte zentrale Platz von Labastided’Armagnac inspirierten), leitet die Sequenz der Königsplätze ein, zu denen in Paris die Place Dauphine und die Place Vendôme, aber auch die Place Stanislas in Nancy gehören. Analog dazu stehen Covent Garden in London (1630–1635) und die zahlreichen Squares, die seinem Modell folgen, am Anfang einer Entwicklung, die zu privaten oder halbprivaten Wohnplätzen mit Gärten in allen größeren europäischen und nordamerikanischen Städten führen wird. Die großartigen Sichtachsen, die André Le Nôtre für den Sonnenkönig Ludwig XIV. in Versailles inszeniert und in jener Figur des Dreistrahls zusammenbringt, die er seinerseits aus dem Tridente der römischen Piazza del Popolo übernimmt, werden als kongeniales Symbol der absolutistischen Macht unzählige Residenzstädte in ganz Europa prägen, einschließlich jenes Sankt Petersburg, das der russische Zar Peter I. 1703 an der Mündung der Newa aus dem Boden stampfen lassen sollte. Und die Bebauung des aufgelassenen Festungsrings von Wien, die zwischen 1857 und 1907 der Hauptstadt des habsburgischen Kaiserreichs ein neues repräsentatives Gesicht mit prachtvollen öffentlichen Bauten und luxuriösen Wohnhäusern verleiht, wird von zahlreichen anderen Städten, deren Befestigungsanlagen ebenfalls geschleift werden, in abgewandelter oder reduzierter Form nachgeahmt: von Brno über Köln (wo maßgeblich Hermann Josef Stübben als Stadtbaumeister eine halbkreisförmige Alleensequenz realisierte) bis Zürich, wo sich die Rämistraße mit ihrer Abfolge von Hochschulbauten und dem Kunsthaus wie ein protestantisch sparsames Fragment des überschwänglichen Wiener Rings darstellt.

Gegenstand dieses Buches ist die Stadt in ihrer architektonischen Dimension, als künstlich geformtes Artefakt, als Teil einer gestalteten Umwelt, als urbanes Projekt. Zwar ist nichts, was in einem städtischen Gebilde existiert, spontan gewachsen, sondern stets ist alles bewusst geplant und gebaut. Vieles bleibt jedoch Stückwerk, eine Abfolge von unter sich nicht koordinierten, nicht aufeinander aufbauenden und meistens jäh abreißenden, nicht wieder aufgenommenen Konzepten. Punktuell gab es dennoch immer wieder übergreifende und groß angelegte Stadtentwürfe, sei es, um zerstörte Stadtteile wieder aufzubauen wie in Lissabon nach dem Erdbeben von 1755, sei es, um bestehende Städte grundlegend zu modernisieren wie Paris unter Napoleon III. und seinem Präfekten Georges-Eugène Haussmann. Dabei zeigt sich, dass sämtliche dieser Projekte zwar ein gemeinsames Ziel haben, nämlich eine urbs für eine civitas zu schaffen, aber die Beschaffenheit dieses Ziels, sprich: die Gesellschaft immer wieder anders ist und dass die spezifischen Einflüsse, welche die Stadtform auf ihrem Weg zur baulichen Darstellung einer sozialen Ordnung prägen, immer wieder unterschiedlich und in anderen Konstellationen wirken. Gerade aufgrund der Komplexität und Überdeterminiertheit des Prozesses bleibt jedoch ein Spielraum, den der einzelne Stadtentwerfer ebenso persönlich ausfüllt wie ein Architekt, der ein Haus baut – oder ein Maler, der ein Bild erschafft. Die großen Stadtentwürfe sind (auch) künstlerische Leistungen, die den Geist ihrer Zeit in der persönlichen Deutung ihres Autors widerspiegeln.

In allererster Linie ist dieses Buch eine Geschichte der Architektur der Stadt und der ihr zugrunde liegenden Ideen und Verhältnisse. Der nicht-enzyklopädische methodische Ansatz versucht, dem alten Thema aus einer modernen Perspektive (und im Licht der modernen Forschung) beizukommen. Vor allem will er jenseits der Diskussion und Deutung der urbanen Bilder ihre Hintergründe, also ihre Entstehungsgeschichte möglichst konkret, präzise und anschaulich erzählen. Anders ausgedrückt: Er will zeigen, wie eng die Form der Städte der Vergangenheit mit dem Leben der Menschen verknüpft war, die sie konzipiert, gebaut und bewohnt haben.

Vielleicht offenbart sich dabei, dass sich die Städte der Vergangenheit, den tiefen Wandlungen unserer Gesellschaft und Kultur zum Trotz, auch mit unserem zeitgenössischen Leben verbinden.

Und dass sogar die neuen Städte, die zu bauen wir aufgerufen sind, sich vom Reichtum und klugen Maß ihrer Formen inspirieren lassen können, auf jeden Fall aber an ihnen zu messen haben.

Vittorio Magnago Lampugnani
Zürich, Juli 2017

EINLEITUNG

Die Wurzeln der modernen Stadt in der Antike

DIE GESCHICHTE DER Stadt in Europa geht bis zur mykenischen Kultur zurück, die im 13. Jahrhundert v. Chr. ihren Höhepunkt erreichte. Allerdings umschlossen die gewaltigen Umfassungsmauern von Mykene, Theben oder Troja kaum eine sozial und baulich differenzierte Stadt, sondern eher eine Burg mit Repräsentations-, Sakral- und Verwaltungsbauten. Erst mit dem Aufkommen der griechischen Polis, wie sie Homer mit der Herrschaft des Alkinoos über die Phäaken oder jener des Odysseus über die Bewohner von Ithaka beschreibt, entstanden Gemeinschaften, die mit ihrer politischen Autonomie und ihrer Einheit von Siedlung und Territorium die Voraussetzung für die Entwicklung von Bürgerstädten bildeten.

Schrittweise wurde die Aristokratie in ein Gemeinwesen eingebunden, das Normen und Rechtsgrundsätze entwickelte, die den Interessen und Privilegien der einzelnen Fürsten übergeordnet waren. Vor dem Hintergrund heftiger sozialer Spannungen vollzog sich so zwischen dem 8. und dem 6. Jahrhundert v. Chr. der Übergang von den Fürstenherrschaften zu den Bürgerpoleis, die größtenteils oligarchisch, zunehmend aber auch demokratisch regiert wurden. Das hatte für die griechischen Städte, die Astys, tiefgreifende Folgen.

Ihr Ursprungsort war meist eine Anhöhe: Bereits die Fürsten ließen sich dort nieder, weil sie gut zu verteidigen war. Sie wurde Akropolis genannt und diente zuerst als Wohnort, später ausschließlich als politisches und sakrales Zentrum. In Athen entstanden bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. zwei repräsentative Tempel auf der Akropolis. Im 5. Jahrhundert v. Chr. wurde sie auf Initiative von Perikles, der die machtbestimmte Demokratie Athens und ihre Vorrangstellung im Attischen Seebund baulich darstellen und verherrlichen wollte, unter der Leitung des Bildhauers Phidias von den Baumeistern Iktinos, Kallikatres und Mnesikles mit dem neuen Parthenon, dem Tempel der Athena Nike, dem Erechtheion und den Propyläen zu einem der eindrucksvollsten städtebaulichen Gesamtkunstwerke aller Kulturen und Zeiten ausgebaut. Hinzu kamen das Odeion, das Asklepiosheiligtum und das (zunächst hölzerne) Dionysostheater. Das unerhört anspruchsvolle und umfangreiche Bauprogramm, das auch eine bedeutende Arbeitsbeschaffungsmaßnahme war, wurde überwiegend aus Zoll-, Tribut- und Steuereinnahmen bestritten, aber auch aus dem Schatz des Attischen Seebundes, über den Athen seit der Aneignung der Bundeskasse im Jahr 454 v. Chr. verfügte.

Der griechische Bürgerverband, der die Einzelherrschaft der Aristokraten oder Tyrannen ablöste, schuf sich mit der Agora einen Ort, in dem Rathaus und Gerichtshof mit verschiedenen Tempelanlagen verbunden waren und die Volksversammlung abgehalten wurde. Bald ließen sich auch Gemüseverkäufer, Fleischhändler und Geldwechsler an dem Platz nieder, der zum Zentrum des öffentlichen Lebens geriet. In Athen wurde die Agora vom 6. Jahrhundert v. Chr. an schrittweise umgestaltet und ausgestattet, wobei die Stoai, langgezogene Säulenhallen, die zunächst als einfache Unterstände und dann als Mehrzweckgebäude dienten, ihr fragmentarisches architektonisches Bild bestimmten. Später angelegte Agorai wie jene von Milet oder Pergamon erhielten, ganz im Einklang mit den streng regelhaften hellenistischen Raumvorstellungen, eine völlig einheitliche und prunkvolle Fassung.

Die frühen Astys waren auch als Ganzes unregelmäßig angelegt und entwickelten sich kaum planmäßig. Athen, wo sich Reichtum und Macht, das intellektuelle und künstlerische Leben Griechenlands ähnlich konzentrierten wie im 20. Jahrhundert in Paris oder Berlin, blieb selbst in seiner Blütezeit eine mittelgroße Stadt mit etwa 40.000 Einwohnern und eine äußerst bescheidene urbane Anlage mit gekrümmten Straßen, die durchschnittlich zwischen vier und fünf Meter breit waren, nicht selten aber nur einen Meter schmal, weitgehend ungepflastert und abschüssig. Reisende, die zu Besuch kamen, staunten ob des anspruchslosen, ja stellenweise ärmlichen Stadtbildes.

Anders die Neugründungen. Jene, die im Rahmen der Großen Kolonisation um 600 v. Chr. entstanden, als die Griechen vor allem in Sizilien und Süditalien neue Anbau- und Siedlungsgebiete suchten, folgten dem Streifenstadtsystem. Der Baugrund wurde in schmale Bänder unterteilt, die man in je zwei gleichmäßigen Reihen parzellierte: So wurde nicht nur der Praktikabilität, sondern auch und vor allem der Isonomia Rechnung getragen, der grundsätzlichen politischen und sozialen Gleichstellung aller Siedler, die ihre Mutterstadt verließen, um neue Territorien zu erschließen. Die Straßen wurden in Hauptstraßen unterteilt, die sogenannten Plateiai, und in rechtwinklig dazu verlaufende, schmalere Querstraßen, die Stenopoi. Die Agora wurde aus dem System ausgespart und möglichst zentral angeordnet. Es entstanden Städte wie Syrakus (734 v. Chr.), Megara Hyblaia (729 v. Chr.) und Metapont (um 650 v. Chr.). Bei der letzteren war nicht nur die Stadt geometrisch geordnet, sondern auch ihr landwirtschaftlich genutztes Hinterland, wo Gräben und Deiche, die bis zu dreizehn Kilometer lang waren, nach einem übergreifenden Gesamtplan die Struktur der Stadt auf jene ihres Herrschafts- und Anbaugebiets übertrugen.

Um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. wurde das Streifenstadtsystem von Hippodamos von Milet weiterentwickelt und verfeinert. Der Stadtplaner, der (sehr zum Missmut von Aristoteles, der ihn in dieser Hinsicht für inkompetent hielt) auch Überlegungen zur besten Regierungsform anstellte, entwickelte ein Rastersystem, das nicht mehr schmale, langgezogene Streifen generierte, sondern rechteckige Insulae, die alle gleich groß und aus ebenfalls gleichen Parzellen zusammengefügt waren, Instrumente, aber auch Metaphern der Gleichheit der Bürger. Zu seinen wesentlichen städtebaulichen Leistungen gehört die Planung von Piräus, neben Athen die zweite Stadt in der Polis Attica.

Für die zerklüftete Halbinsel entwarf Hippodamos ein strenges orthogonales Stadtraster, das er durch Grenzsteine, die heute noch erhalten sind, mit bemerkenswerter Genauigkeit abstecken ließ. Eine Magistrale erschließt vom Haupttor im Nordosten die gesamte Stadtanlage: Sie ist aus zwei parallel verlaufenden Plateiai gebildet, zwischen denen Agora und Marktplatz eingespannt sind. Dazwischen entwickelt sich ein ausgeklügelt differenziertes Straßensystem aus Plateiai, die etwa fünfzehn Meter breit sind, Hauptstraßen, die über acht Meter breit sind, und Wohnstraßen von fünf Metern Breite. Sie waren unbefestigt, aber in die abschüssigen Straßenpartien wurden Entwässerungskanäle aus Trockenmauerwerk, gelegentlich auch aus Tonröhren eingelassen. Das Straßensystem diente der Aufteilung der Stadt in Wohnbezirke, die sich aus jeweils vier mal vier, also sechzehn Insulae zusammenfügten, alle nahezu gleich und annähernd quadratisch. Ihrerseits waren sie in acht Parzellen aufgeteilt, die in zwei Reihen angeordnet waren und mit Typenhäusern bebaut wurden, die ebenfalls Hippodamos entwarf und die nur in geringfügigen Details individuelle Variationen gestatteten. Damit war eine städtebauliche Form für das demokratische Gesellschaftsmodell gefunden, das nur wenige Jahre zuvor von Kleisthenes in Athen eingerichtet worden war.

Von seiner politischen Metaphorik sollte sich das hippodamische System rasch emanzipieren. In Priene, 353 v. Chr. am Hang des Gebirgszugs der Halbinsel Mykale neu gegründet, wurde das städtebauliche Prinzip hauptsächlich aus ästhetischen Motiven eingesetzt, um durch eine auf Pythagoras basierende, übergreifende Proportionierung sämtlicher Elemente der Stadt ein urbanes Gesamtkunstwerk zu schaffen, das die kosmische Harmonie widerspiegelte. In Alexandria, 332 v. Chr. von Alexander dem Großen initiiert, geriet das hippodamische System zum pragmatischen Mittel, um die opulenten Parzellen einer Weltstadt des ausschweifenden Luxus zu ordnen, die bereits Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. eine halbe Million Einwohner zählte. Im republikanischen Rom, das Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. im Zuge einer Verschwörung römischer Aristokraten ins Leben gerufen wurde, die das etruskische Königstum stürzte, fanden sich ähnliche urbane Elemente wie in Athen, das als Konkurrent und Vorbild galt: Das Kapitol mit dem riesigen Tempel der drei wichtigsten römischen Gottheiten, Jupiter Optimus Maximus, Juno Regina und Minerva, war eine neue Akropolis, und das Forum, das bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. zum sozialen und politischen Agglomerationselement der Hügeldörfer geraten war, aus denen sich Rom entwickelte, war mit seiner freien Anordnung von öffentlichen Bauten um einen unregelmäßigen Platz der Agora nachempfunden. Wie die Agora diente es zugleich politischen, religiösen und wirtschaftlichen Zwecken. Doch bereits Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. wurden die Lebensmittelhändler in neue Marktanlagen verlegt, die man nördlich des politischen Herzens der Stadt errichtete, und in die frei gewordenen Läden zogen Geldwechsler ein. Vom Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr. an ersetzten die ersten Basiliken die temporären Unterstände für Läden, Geldwechsler und Banken und boten auch Raum für Gerichtsverhandlungen und Spiele, die bis dahin unter freiem Himmel stattgefunden hatten: Sie waren das römische Gegenstück der griechischen Stoai. Darüber hinaus avancierte das Forum zum Ort der Selbstdarstellung der Republik, ihrer Geschichte und ihrer Hauptprotagonisten: Nachdem der Konsul Gaius Maenius nach dem Sieg von Antium (338 v. Chr.) über die latinische Flotte die erbeuteten Schiffsschnäbel an der Rednertribüne hatte anbringen lassen, wurde die architektonische Veranschaulichung durch Beutestücke, Siegessäulen und Monumente zur Gepflogenheit. Sie wurden nahezu ausnahmslos durch diejenigen initiiert und finanziert, zu deren Ruhm sie gereichten. Bald war das Forum mit Denkmälern vollgestellt, zwischen denen sich die Menschenmassen der expandierenden Großstadt nur mühevoll hindurchzwängen konnten.

Dies nahm Gaius Julius Cäsar, noch bevor er 46 v. Chr. zum Diktator ernannt wurde, zum Anlass, das Forum umzubauen, um es freizuräumen, vor allem aber um die demokratischen Einrichtungen wie Curia und Comitium zu marginalisieren; daneben legte er ein neues, eigenes Forum an. Das dafür bestimmte Grundstück erwarb er zum horrenden Preis von hundert Millionen Sesterzen privat, weil das römische Gesetz Enteignungen auch dann nicht gestattete, wenn sie im öffentlichen Interesse waren, bediente sich jedoch von der Kriegsbeute aus dem Gallischen Krieg; als Mittelsmann trat kein Geringerer als Marcus Tullius Cicero auf. Nahezu doppelt so groß wie das Forum Romanum, verkörperte das Forum Julium eine neue städtebauliche Strategie: Es wurde im Stil einer halb geschlossenen hellenistischen Agora errichtet, bei der ein Portikus mit einer doppelten Kolonnade einen rechteckigen Platz einfasste, der etwa 160 mal 75 Meter maß. Die Geschlossenheit und Symmetrie, welche die Offenheit und freie Gliederung des republikanischen Forums ablösten, beschworen die neue Autorität des Alleinherrschers, dessen Reiterstandbild bedeutungsvoll die Mitte des Platzes einnahm.

Das Forum Julium leitete die Sequenz der Kaiserforen ein, die neben dem (inzwischen prunkvoll umgestalteten) Zentrum der Res publica eine ebenso großartige wie starre Abfolge zelebrativer öffentlicher Räume bildete. Geradezu didaskalisch stellt sich das Augustusforum dar, das der erste römische Kaiser auf einem wiederum mit Kriegsbeutegeldern privat erworbenen Grundstück realisierte und im Jahr 2 v. Chr. einweihte. Den Platz, der noch größer ist als jener des Forum Julium, beherrschte der Tempel des Mars Ultor, der an die Rache für den Mord an Cäsar erinnern und zum Emblem der Rache an allen Feinden des Imperiums werden sollte. In den rhythmisch aneinandergereihten Nischen der zwei Säulenhallen, die den Freiraum streng geometrisch definierten, waren auf der einen Seite Statuen der bedeutendsten mythischen und historischen Gestalten der römischen Geschichte aufgestellt, beginnend mit Romulus, auf der anderen jene der Julier, allen voran Äneas. Die Fiktion der gleichzeitig als Auftragsarbeit von Augustus an Vergil entstandenen Äeneis fand so zu ihrer städtebaulichen und architektonischen Verkörperung, die den selbsternannten »Vater des Vaterlandes«, dessen Statue auf einer Triumphalquadriga mitten auf dem Platz thronte, entsprechend stilisierte.

Höhepunkt und Abschluss der Kaiserforen bildete das Trajansforum, das im Bereich zwischen Quirinal und Tal des Forums zu wenig Platz hatte und dem der Hügelkamm, der Kapitol und Quirinal miteinander verband, sowie zahlreiche Bauten und ein Teil der Servianischen Stadtmauer zum Opfer fielen. Der Komplex, für den der exponierte Architekt Apollodorus von Damaskus verantwortlich zeichnete, war 300 Meter lang und 185 Meter breit. Der spektakuläre zentrale Platz, in dessen Mitte die obligatorische, gigantische bronzene Reiterstatue Trajans thronte, war rechts und links durch Säulengänge gefasst, hinter denen sich symmetrisch zwei Exedren öffneten. Die vierte Seite bildete die gewaltige Masse der Basilica Ulpia, mit ihrer Länge von 170 Metern und ihrer Breite von 60 Metern die größte, die jemals in Rom gebaut wurde; innen war sie überschwänglich ausgestattet und wurde überwiegend kommerziell und juristisch genutzt. Das Dach war mit Platten aus vergoldeter Bronze gedeckt, vor den drei Eingängen thronten drei weitere Trajansstatuen. Hinter der Basilika standen, wiederum in symmetrischer Anordnung, zwei Bibliotheksgebäude; dazwischen die trajanische Säule, auf deren 200 Meter langem, spiralförmigem und in kraftvollen Farben bemaltem Relief die bedeutendsten Ereignisse der beiden unerhört lukrativen Dakerkriege veranschaulicht wurden, die der Kaiser geführt und gewonnen (und deren Geldsegen auch seinen Baukomplex ermöglicht) hatte. Östlich des Forums schuf Apollodorus den elegant terrassierten Komplex der trajanischen Märkte, in dem Tavernen und staatliche Lebensmittellager untergebracht waren. Sie stellten die Krönung der städtebaulichen Neuorganisation des Forumskomplexes dar, in deren Zug die wirtschaftlichen und kommerziellen Funktionen aus dem republikanischen Zentrum herausgenommen und in periphere Lagen umgesiedelt wurden.

So monumental die öffentlichen Räume der Kaiserforen inszeniert wurden, so unregelmäßig und verwinkelt stellte sich die Metropole Rom dar, die im 1. Jahrhundert n. Chr. etwa eine Million Einwohner zählte. Bereits nach der Plünderung und Brandschatzung durch die Kelten im Jahr 287 v. Chr. war die Stadt nicht etwa modern angelegt worden, beispielsweise nach dem hippodamischen Schachbrettsystem, sondern nach ihrem überkommenen urbanen Muster. An dem wurde ebenso kontinuierlich wie planlos weitergebaut, wobei nach und nach die Domus, die traditionellen latinischen eingeschossigen Hofhäuser, durch die Insulae verdrängt wurden, bis zu siebengeschossige Mietshäuser mit mehreren Wohnungen auf jedem Stockwerk. Schon im ausgehenden 3. Jahrhundert v. Chr. waren es 45.000, denen 1800 Domus gegenüberstanden, die den Begüterten vorbehalten blieben. Bereits unter Cäsar war das Straßennetz mit seinen engen und verwinkelten Gassen derart überlastet, dass der private Verkehr im engeren Stadtgebiet verboten werden musste. Doch auch der Wiederaufbau, der nach dem großen Brand von 64 n. Chr. erforderlich wurde, geschah nicht nach den rationellen Plänen, die Nero hatte anfertigen lassen, sondern wiederum weitgehend auf dem alten und untauglichen Stadtgrundriss: Besitzverhältnisse und Spekulation waren stärker als der kaiserliche Wille und die städtebauliche Vernunft.

Eine leidliche Kompensation für das Großstadtelend, das unter anderen der Dichter Juvenal in seinen Satiren beschreibt, boten die öffentlichen Einrichtungen: die Zirkusanlagen, Theater und Thermen. Der Circus Maximus wurde bereits von den Etruskerkönigen angelegt, zunächst mit hölzernen Tribünen, der Circus Flaminius 221 v. Chr. Unter Augustus entstanden Bibliotheken, Theater für dramatische Vorführungen und das erste steinerne Amphitheater für Gladiatorenspiele und Tierhetzen; als Kultbauten das Augustusmausoleum, die Ara Pacis und das Pantheon. Die Agrippathermen, die ersten öffentlichen beheizten Thermen Roms, boten vom ersten Jahrzehnt v. Chr. an auch breiteren Bevölkerungsschichten einen gewissen Luxus. Unter den Flaviern entstanden das Amphiteatrum Flavium oder Kolosseum (72–80 n. Chr.) mit seinen 45.000 Sitz- und 5000 Stehplätzen sowie die Titusthermen; später kamen jene des Trajan, des Caracalla und schließlich des Diokletian hinzu, die größte Badeanlage der Welt, die bis zu 3000 Besucher gleichzeitig aufnehmen konnte. Sie wurden durch den schier unversiegbaren Geldfluss ermöglicht, der in Form von Tributen aus den Provinzen in die Hauptstadt des Imperiums geleitet wurde, und trösteten den Großteil der Bevölkerung über ihre schäbigen Wohnungen in den Insulae und ihre verlorenen freiheitlichen Bürgerrechte hinweg.

Es geschah nicht in der Hauptstadt, sondern im Imperium, dass die Prinzipien der römischen Stadtbaukunst in ganzheitlichen urbanen Anlagen verwirklicht wurden. Die Territorien, die Rom nach und nach eroberte, bis es über ein immenses Imperium herrschte, mussten militärisch gesichert und wirtschaftlich gestärkt werden. Dafür wurden gewaltige Infrastrukturen realisiert, vor allem Straßen und Städte. Das Ausmaß dieser Unternehmungen war gigantisch: Zur Zeit seiner maximalen Ausdehnung, also um 100 n. Chr., gab es im römischen Kaiserreich 90.000 Kilometer Straßen, wobei allein über die Alpen vierzehn führten, und 2000 Städte. Administrativ wurden diese als Kolonien eingerichtet. Die örtliche Geldelite konnte sie weitestgehend selbständig verwalten, solange ein Teil des Überschusses nach Rom floss. Wirtschaftlich stützten sie sich auf das Agrarwesen, auf den Handel und auf Manufakturen. Städtebaulich folgten sie alle einem einheitlichen Konzept, das griechische, aber auch etruskische und karthagische Vorbilder übernahm und zu einem eigenständigen System verarbeitete.

Die Grundstruktur dieses Systems bildet ein orthogonales Straßenkreuz, das aus der nord-süd-orientierten Hauptachse, dem Cardo, und der ost-west-gerichteten Achse, dem Decumanus, gebildet wird. Dazwischen sind, ebenfalls rechtwinklig organisiert, die übrigen Straßen aufgespannt. Sie sparen Baufelder aus, die mit unterschiedlich großen und nicht selten typologisch variierten, meist eingeschossigen Atriumhäusern bebaut sind. Das Forum liegt in der Regel dort, wo sich Cardo und Decumanus schneiden, allerdings leicht versetzt, sodass die Hauptstraßen tangential in den Platz einmünden. Dieser ist vom Fahrverkehr dadurch freigehalten, dass die Straßen an den Platzkanten mit Steinpollern unterbrochen sind. Die wichtigsten öffentlichen Bauten, Freilichttheater, Bibliothek und Thermen, bei größeren Städten auch Amphitheater und Zirkus, sind vergleichsweise frei in der Stadt verteilt, folgen jedoch ebenfalls ihrer geometrischen Ordnung. Damit war ein rigoroses und dennoch flexibles Planungsinstrument entwickelt, ein Baukasten aus einem städtebaulichen Rahmenplan, der wie ein Spielbrett eingesetzt wurde, und aus städtischen Elementen, die wie Bauklötze oder Spielsteine innerhalb dieses Rahmenplans in den unterschiedlichsten Konstellationen miteinander kombiniert werden konnten.

Eine ähnliche Struktur bestimmte das römische Militärlager, eine gewöhnlich temporäre Anlage, die möglichst rasch auf- und abgebaut und deswegen pragmatisch gegliedert werden musste. Auch hier findet sich das Straßenkreuz wieder. Es ordnet allerdings nicht Wohngebiete und Infrastrukturen, sondern Kasernen, Kommandantur, Zeughaus, Magazin und Lazarett; anstelle des Forums markiert ein Exerzierplatz das Zentrum.

Bereits seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. wurde das System von Cardo und Decumanus nicht nur im städtebaulichen, sondern auch im regionalen Maßstab angewandt. Im Zusammenhang mit den Reformen, die 133–121 v. Chr. von den Gracchen initiiert wurden und das zweifache Ziel verfolgten, das eroberte Territorium militärisch zu sichern und die unteren sozialen Schichten mit Land zu versorgen, wurden weite Flächen vermessen und aufgeteilt, um sie den Kolonisten zu übergeben. Das Verfahren, das dabei eingesetzt wurde, war die Centuriatio: rechtwinklig einander kreuzende Linien, die in der Landschaft trassiert wurden und Quadrate bildeten, die jeweils einhundert Parzellen Agrarland umfassten.

Mit dem urbanen Achsenkreuz von Cardo und Decumanus, dem immer und überall einsatzbereiten geometrischen Rasterschema der Castra und der Gründungsstädte sowie mit der homogenen und theoretisch endlos sich ausbreitenden Centuriatio waren die Instrumente gefunden, mit denen das Territorium des römischen Imperiums erschlossen und kontrolliert zu werden vermochte. Sie wurden in zunehmender Verfeinerung eingesetzt, aber auch mit zunehmender Geschmeidigkeit. So entstanden aus ein und demselben Prinzip so unterschiedliche Städte wie das noch unregelmäßige Alba Fucens (303 v. Chr.) und das exakte Schachbrett von Bologna (189 v. Chr.), kleine Städte wie Augusta Pretoria (25 v. Chr.), das heutige Aosta, das für 3000 Veteranen konzipiert wurde, und das große und üppig ausgestattete Ephesos, das seit 133 v. Chr. zum Römischen Reich gehörte und über 200.000 Einwohner zählte. Mit ihren zahlreichen Stadtumbauten und Neugründungen legten die Römer die Basis der urbanen Kultur, die Europa in den folgenden Jahrhunderten prägen sollte. Spuren ihrer geometrischen Stadtanlagen, aber auch des geometrisierten Territoriums sind bis heute weithin sichtbar.

ITALIENISCHE STADTSTAATEN

Florenz und Siena oder Die Würdeform der Civitas

MIT DER VÖLKERWANDERUNG, der migratorischen Bewegung vor allem germanischer Stämme zwischen dem Einbruch der Hunnen (um 375) und dem Einfall der Langobarden in Italien (568), sowie mit dem Zusammenbruch des Römischen Reichs verfielen in Europa die Städte weitgehend. Viele wurden zerstört, von den Einwohnern aufgegeben oder stark entvölkert. Die städtische Selbstverwaltung schwand im Feudalsystem, die römischen Bürgerrechte wurden aufgehoben, das städtische Leben erlosch nahezu ganz. Im 10. Jahrhundert setzte vor allem unter den Ottonen eine bescheidene Bewegung von städtischen Neugründungen ein. Um diese weltlichen oder kirchlichen Machtzentren siedelten sich Händler an, welche die Oberschicht versorgten und sich in Zünften zu organisieren begannen. Gleichwohl blieb die Anzahl der europäischen, vor allem der mitteleuropäischen Städte recht gering.

Das änderte sich vom 12. Jahrhundert an. Neue Anbaugebiete wurden erschlossen, moderne Landwirtschaftsverfahren entwickelt und angewendet, Handel und Bankwesen ausgedehnt. Die Wirtschaft blühte auf und die Bevölkerung nahm rapide zu: In Westeuropa verdreifachte sie sich fast. So setzte eine neue, große Welle von Stadtgründungen ein, die zumeist sowohl ökonomische als auch militärisch-strategische Motive hatten. Als Gründer traten allerdings nicht die Bauern und die Händler auf, sondern die adligen Grund- und Lehensherren, die Kirchenfürsten und die Klöster: Die Städte sollten deren politische und wirtschaftliche Machtstellung sichern und mehren. Nicht nur die großen Dynastien waren dabei aktiv; auch kleine Fürsten bauten bei ihren Schlössern Städte. Um deren Besiedelung anzuregen, mussten sie den Siedlern ökonomische Vorteile und politische Freiheiten zugestehen. Damit legten sie, freilich unbeabsichtigt, den Keim der kommunalen Selbständigkeit und Selbstverwaltung.

Die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts war die urbanistisch schöpferischste Phase: Die Stadtmodelle der Antike wurden untersucht und umgedeutet, gänzlich neue urbane Muster entwickelt und umgesetzt. Bemerkenswert sind etwa die Städte, welche die Zähringer Fürsten zwischen 1120 und 1191 zwischen Schwarzwald und Alpenkamm gründeten, um ihr Herrschaftsgebiet zu konsolidieren und wirtschaftlich zu entwickeln: darunter Freiburg im Breisgau und Bern mit ihren breiten, laubengesäumten Marktgassen. Im 13. Jahrhundert setzte eine zweite, ungleich größere Gründungswelle ein, die weniger qualitativ als quantitativ geprägt war. In deren Rahmen entstanden auch die etwa 600 Bastiden auf überwiegend rasterförmigen Grundrissen mit zentralem Platz, mit welchen das von den Albigenserkriegen verwüstete Okzitanien zwischen 1230 und 1320 neu urbanisiert wurde. Der Bestand der europäischen Städte vervierfachte sich. Die Urbanisierung ging so weit, dass sie den verfügbaren Raum überforderte. Die neuen Gründungen lagen derart eng beieinander, dass sie nicht mehr über ausreichendes Hinterland verfügten und an diesem Mangel erstickten. Den darauf einsetzenden Selektionsprozess, dem nicht wenige neue Städte zum Opfer fielen, nutzte die Bürgerschaft aus, um nach und nach die Herrschaft der Gründerherren abzuschütteln und kommunale Unabhängigkeit zu erlangen.

Stadtbürgertum versus Landadel

Am ehesten und radikalsten geschah dies in Mittel- und Norditalien. Beim ersten ökumenischen Konzil, das Kaiser Konstantin I. im Jahr 325 in Nicäa bei Konstantinopel einberufen hatte, um die von internen Auseinandersetzungen zerrissene christliche Kirche zu befrieden und zu einem stabilisierenden Faktor des römischen Imperiums zu machen, wurde unter anderem beschlossen, dass jedes römische Municipium, also jede Stadtgemeinde mit römischem Recht, einen Bischofssitz erhalten solle. Damit übernahm die Kirchenverwaltung die weltlichen Strukturen. Tatsächlich sollten die Bischöfe eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung der kommunalen Eigenständigkeit der italienischen Städte spielen: weil sie bei allen politischen Umwälzungen eine Konstante in der Verwaltung bildeten, und weil sie sich grundsätzlich dem Feudaladel entgegenstellten, der sich zunehmend als Hauptantagonist der Kommunen erweisen sollte. Die kaisertreuen Adligen, die meist germanischer Herkunft waren, übten ihre Macht von Burgen aus, die sich auf dem Land befanden. Die Städte waren ihre Untertanen. Dadurch allerdings, dass sie Bischofssitze waren, behielten sie eine religiöse, politische, militärische und wirtschaftliche Selbständigkeit bei, die sie nach und nach ausweiten sollten.

Bereits im 10. Jahrhundert übertrug die Reichsregierung Rechtsprechung und Verteidigungsaufgaben auf den Bischof. Dieser beteiligte seinerseits immer stärker die Bürger, sodass diese die Privilegien, die dem Bischof verliehen worden waren, bald mit ihm teilen oder sogar ganz übernehmen konnten. Bis ins 13. Jahrhundert gelang es einer italienischen Stadt nach der anderen, ihre Autonomie gegen die feudale Reichsverwaltung durchzusetzen. So gerieten die Städte in offenen Konflikt mit dem Landadel, und dieser Konflikt führte zu jahrhundertelangen Auseinandersetzungen. Entschieden wurden sie zugunsten der Kommunen, die entweder ihr Umland (das Contado), von dem sie wirtschaftlich abhängig waren, mit Waffengewalt eroberten oder aber den Adligen abkauften. Damit sicherten sie sich sowohl eine militärische Schutzzone wie auch ein Territorium, aus dem sie Lebensmittel für ihre Bevölkerung beziehen und in dem sie frei Handel treiben konnten. Der Feudaladel, der die mit dem Lehen verbundenen Privilegien verloren hatte, sah sich überwiegend gezwungen, seine Landsitze aufzugeben und sich in der Stadt niederzulassen. Nach anfänglichen Spannungen fanden sich die führende Schicht der alteingesessenen städtischen Händler und der zugezogene Landadel in ein und derselben sozialen Gruppe zusammen: der signorilen Schicht. Die Aristokraten begannen, am Wirtschaftsleben der Stadt teilzuhaben und Handel zu treiben; die Kaufleute übernahmen aristokratische Verhaltensnormen. Damit hatte im Italien des 13. Jahrhunderts die Stadtkultur über die Landkultur gesiegt.

Florenz: Von der römischen Kolonie zur Stadt des 12. Jahrhunderts

Das römische Florentia, 59 v. Chr. gegründet, folgte mit seiner Straßengeometrie nicht der Centuriatio seiner Umgebung, die nach den älteren, etruskischen landwirtschaftlichen und hydrologischen Strukturen sowie nach dem Verlauf der Via Cassia ausgerichtet war, sondern wurde wie gewöhnlich den Himmelsrichtungen entsprechend angelegt. Die Kolonie prosperierte dank der Fruchtbarkeit des Bodens und ihrer günstigen Verkehrslage und wurde nach und nach mit Infrastrukturen versehen: einem Forum, einem Aquädukt, einer Thermenanlage, einem Theater und einem Amphitheater. Zwischen dem 2. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. zählte sie über 10.000 Einwohner.

Mit dem Verfall des römischen Imperiums ging auch jener von Florentia einher. Die Stadt konnte den Angriff der Ostgoten abwehren, aber die erlittenen Schäden nicht reparieren. Sie wurde friedlich von den Byzantinern besetzt und dann 570 von den Langobarden erobert. Das einst blühende Gemeinwesen verwandelte sich in ein Ruinenfeld und hatte Ende des 8. Jahrhunderts nur mehr etwa 2000 Einwohner. Ein erster Aufschwung kam unter den Karolingern: Das Bündnis der Gräfin Mathilde von Canossa mit dem reformistischen Papst Gregor VII. gegen Kaiser Heinrich IV. verlieh Florenz eine neue politische und militärische Bedeutung. Die römischen Infrastrukturen wurden, soweit noch vorhanden, repariert und neu genutzt, die antiken Stadtstraßen blieben eine wichtige Grundlage für den Verkehr, im ehemaligen Forum, das nie seine Funktion als Warenumschlagplatz verloren hatte, wurde der Markt fest angesiedelt. 1078 wurde auf Initiative von Gräfin Mathilde ein neuer Mauerring errichtet, gemeinhin als »prima cerchia« bezeichnet, obwohl es sich in Wahrheit um den vierten Ring handelt. Die mittelalterliche Stadt wurde auf einem Niveau wiederaufgebaut, das zwischen anderthalb und drei Metern über jenem der römischen lag; den dazwischenliegenden Schutt konnte und wollte man nicht abtragen.

In den Resten der antiken Stadt nisteten sich die Stadtadligen ein, die sich in Consorterie organisierten. Diese umfassten meist etliche aristokratische Familien, die ein politisches und wirtschaftliches Bündnis schlossen und sich kleine Städte in der Stadt bauten: die Castellari, Gebäudegruppen, die eng aneinandergerückt wurden und nicht nur die herrschaftlichen Residenzen enthielten, sondern auch die Wohnhäuser jener, die für die Adligen arbeiteten. Hinzu kamen Lager, Verkaufs- und Manufakturräume, und auch eine kleine Kirche durfte im Castellare nicht fehlen. Nach außen hin waren die Castellari durch festungsartige Ausbildung der außenliegenden Hauswände gesichert. Die wenigen, engen Straßen, die ins Innere führten, waren privat. Nachts und bei Gefahr wurden sie mit Toren verschlossen und von Wehrtürmen aus bewacht. Die Türme, die bald das Gesicht von Florenz und überhaupt der mittelitalienischen Städte prägen sollten, wurden nur in einer frühen Entwicklungsphase bewohnt: Sie erwiesen sich bald als zu wenig komfortabel und wurden lediglich in Notsituationen aufgesucht.

Der Palazzo selbst, Zentrum des Castellare, besaß in der Regel ein massives und oft wehrhaft ausgebildetes Erdgeschoss, in dem Lager, Läden und zuweilen auch Produktionsräume untergebracht waren. Die Herrschaften wohnten im piano nobile, im luxuriös ausgestatteten ersten Geschoss. Den oberen Abschluss des Palazzo bildete meistens eine Loggia, die nicht nur für festliche Veranstaltungen benutzt wurde, sondern auch zum Trocknen der Tücher, die im Haus hergestellt wurden. Denn einer der wichtigsten Produktionszweige der mittelitalienischen Kommunen des Mittelalters waren Wolltücher, deren Rohmaterial man aus Sardinien oder Nordeuropa importierte und die in alle Welt verkauft wurden.

Unmittelbar am Palazzo, in seinem Schatten, aber auch in seinem Schutz, drängten sich die Wohnhäuser der zur Produktionsgemeinschaft gehörenden Handwerker und Arbeiter. Sie waren aus Ziegelsteinen gebaut und meistens verputzt, bis zu sechs Geschosse hoch und beherbergten mehrere Familien. Nach oben hin erweiterten Laubengänge und andere auskragende Holzkonstruktionen den engen Wohnraum, verdunkelten aber zusätzlich die Gassen.

Grundsätzlich versuchte jede Consorteria, ein ganzes Stadtgeviert in ihren Besitz zu bringen, um ihren Machtanspruch zu behaupten, aber auch um sich besser verteidigen zu können. Doch bei den Fehden, die man in den italienischen Stadtstaaten unablässig austrug, wurden die Castellari der unterlegenen Familien zerstört oder gar vollständig geschleift. Auch kam es immer wieder zu Eigentumswechseln. Die neuen Grenzen wurden meist durch ebenfalls neue Straßen markiert, wodurch das antike römische Straßenraster nach und nach verunklärt wurde.

Überhaupt waren im Florenz des 12. Jahrhunderts die Trennlinien zwischen öffentlichem und privatem Raum stark verwischt. Zahlreiche Straßen waren privat oder wurden durch Private okkupiert. Sie wuchsen bald durch Vorbauten und Erker, die sogenannten sporti, zu und gerieten in Ermangelung eines städtischen Kanalisationsnetzes zu öffentlichen Kloaken. Um ihre Reinigung, Entwässerung und Beleuchtung kümmerte sich niemand. Und auch dort, wo sie noch halbwegs ansehnlich blieben, waren die Straßen Durchgangs- und Arbeitsorte gleichzeitig. Die Handwerker nutzten sie als Erweiterung ihrer Werkstätten, die Frauen sponnen und kämmten dort Wolle, Färber und Gerber hängten Stoffe und Häute zum Trocknen auf, Tiere wurden auf der Straße geschlachtet und verarbeitet, in den Ecken wurden Steine oder Holz gelagert. Erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sollte man beginnen, aus den vielen strade private strade pubbliche zu machen, wobei die Gemeinde privatisierte Straßen zuweilen wieder zurückkaufte. Mit der Wiederaneignung des öffentlichen Raumes durch die Kommune ging auch die Verpflichtung zu seiner Erhaltung, seiner Pflege und nicht zuletzt seiner Verschönerung einher.

Plätze gab es im Florenz des 12. Jahrhunderts so gut wie keine: Das Stadtgefüge war ausgesprochen kompakt und weitgehend amorph. Neben den Wehrtürmen der Castellari waren es die Kirchen, die Orientierungs- und Organisationspunkte in der städtischen Masse bildeten. Doch auch sie verfügten zu dieser Zeit noch nicht über Plätze; diese sollten erst im 13. Jahrhundert geschaffen werden, als Mönchsorden wie die Dominikaner und Franziskaner ein neues Verhältnis zur Stadtbevölkerung herstellten und dafür öffentliche Predigträume benötigten.

Zwischen den Castellari und entlang der wichtigsten städtischen Ausfallstraßen entstanden in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Borghi: unbefestigte Quartiere für Handwerker und Arbeiter. Sie bestanden fast ausnahmslos aus Kleinhäusern, in denen jeweils nur eine Familie wohnte. Die Parzellen, die sogenannten Casolari, waren zwischen zehn und fünfzehn Meter tief und vier bis sechs Meter breit, um das Straßennetz gut zu nutzen und nur schmale Straßenfronten zu erzeugen – denn nach dem Abwicklungsmaß der Straßenfront, genauer: nach der Anzahl der darin geöffneten Fenster wurden die Steuern festgelegt, die der Kommune entrichtet werden mussten. So gleichförmig sich die Häuser im Grundriss darstellten, so unterschiedlich waren sie in der Höhe. In der Regel war im Erdgeschoss der Ladenraum oder die bottega untergebracht, zuweilen auch Lager. Darüber wohnte die Familie, die sich je nach Bedarf und finanziellen Möglichkeiten eines oder mehrere Stockwerke leistete. Aufstockungen konnten auch sukzessive durchgeführt werden.

Die Kommune Florenz 1115–1348

Bereits nach dem Tod der Gräfin Mathilde (1115) war Florenz de facto eine Kommune; der Kaiser sollte sie allerdings erst Jahrzehnte später anerkennen. 1143 kam es zu Auseinandersetzungen mit den Adligen aus dem Contado, die drei Jahre später die Florentiner besiegten. 1173–1175 wurde eine neue Stadtmauer errichtet, 1187 erhielt Florenz von Kaiser Heinrich IV. die Rechtshoheit über sein Umland. Zahlreiche Eroberungen oder Erwerbungen von Landschlössern in der Umgebung folgten. 1193 wurde nach einer revolutionären Krise der erste Podestà ernannt, zunächst ein Florentiner, dann von 1207 an ein Stadtfremder, um Unparteilichkeit und Unbestechlichkeit zu gewährleisten. Ihm zur Seite standen ein Collegio und ein Consiglio Generale, in dem vor allem die Zünfte (Arti) vertreten waren. Unter dem Mailänder Podestà Rubaconte da Mandello wurde mit der Pflasterung der städtischen Straßen begonnen. 1218 musste der gesamte Contado Florenz Gehorsam schwören.

Indessen riss die Sequenz blutiger Fehden zwischen den Florentiner Familien nicht ab. Zusätzliche Spannungen brachte die Spaltung in Guelfen und Ghibellinen. Die Parteien verdanken ihren Namen dem Machtstreit der Welfen gegen die Stauffer, wobei im zunehmenden Konflikt zwischen kirchlicher und königlicher Macht die Guelfen die Partei des Papstes, die Ghibellinen die des Kaisers ergriffen. Bald aber wurden in den mittelitalienischen Stadtstaaten die Ghibellinen die Partei des Landadels, die Guelfen jene der Kaufleute, der Industriellen und damit auch bald jene des Volkes: Denn der grundbesitzende Adel stützte sich naturgemäß auf seinen Feudalherrn, den Kaiser, während die Kaufleute in der Kirche mit ihren weltumspannenden Beziehungen einen nützlichen Verbündeten fanden.

Im Jahr 1250 brach in Florenz ein Aufstand aus, in dessen Folge die Kaufleute und die Handwerker dem Adel einen Großteil der Macht abtrotzten. Neben dem Podestà und seinen beiden politischen Gremien regierten zwanzig Compagnie, die nach Stadtteilen organisiert waren. Diese erste wirklich kommunale Zeit erhielt den Namen Primo Popolo. Die neue guelfische Regierung schickte sich sofort an, die Stadt auszubauen und ihr den Stempel ihrer Macht aufzudrücken. Die etwa 150 Familientürme, die im damaligen Florenz standen, wurden alle bis auf maximal fünfzig florentinische braccia (etwa 29 Meter) abgetragen; manche wurden ganz abgerisssen. 1252 wurde als vierte und letzte der mittelalterlichen Brücken der Ponte Santa Trinità über den Arno geschlagen. Von 1255 an ließ der »triumphans et potentissimus populus«, wie er sich selbst auf der Gründungsinschrift bezeichnete, den Palazzo del Capitano del Popolo errichten, später Bargello genannt, die erste spezifische architektonische Ausformung einer Stadtregierung. Die Ringstraßen an der Stadtmauer wurden angelegt. Die Prägung des fiorino d’oro von 1252 an (der silberne war bereits zwanzig Jahre zuvor eingeführt worden) schuf die erste stabile internationale Währung und trug dazu bei, aus den Florentinern die Bankiers Europas zu machen.