Karl-Heinz Jakobs
Die Frau im Strom
Kriminalroman
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vorletztes Kapitel
Letztes Kapitel
Impressum neobooks
Wenn ich nunmehr anhebe, die Geschichte eines Mordes zu erzählen, der unsere kleine Stadt vor mehr als zwanzig Jahren so sehr durcheinanderbrachte und manchen von uns zu unbedachten Äußerungen und Handlungen trieb, daß die Obrigkeit schon einen Aufruhr kommen sah und, fix, wie sie immer ist, Anweisungen gab, zuerst örtliche Polizeitruppen, später eine kleinere Armeeformation zusammenzuziehen, wenn ich also nach so langer Zeit von Vorfällen berichte, deren Zusammenhänge damals keiner von uns richtig begriff, sogar ich nicht, der das alles doch zum Greifen nah erlebte, so geschieht das nicht, weil ich die Sache für begraben und vergessen halte und glaube, man. könne nun in Ruhe drüber plaudern. Vielmehr erzähle ich von den Geschehnissen damals in Traun, wo sich der Fall abspielte, uns allen zur Warnung, denn ich glaube, daß sie sich jederzeit wiederholen können. So grundlegend haben sich die Verhältnisse seit jenen Tagen nicht gewandelt. Es brauchen nur einige äußerliche Dinge zufällig aufeinanderzutreffen, ein tatenfroher und erfolggewohnter Täter, ein von Angst und Gläubigkeit getriebener geistiger Urheber und eine dünkelhafte Obrigkeit. Bei dem Mord an Liesbeth Koslowski, von dem ich erzähle, wurde kein Blut vergossen. Das Mädchen war nicht erwürgt worden und nicht vergiftet. Die Leiche wurde nach zehn Tagen mühseliger Suche ohne Hautabschürfung, ohne blauen Fleck weit vom Tatort entfernt aus der Elbe?geborgen, und Doktor Feininger bescheinigte am Ende Untersuchung Tod durch Ertrinken und, was uns alle verblüffte, Schwangerschaft im sechsten Monat. Polizeileutnant Stein aber, der die Ermittlungen leitete, war nach langwierigen Verhören und Befragungen der Überzeugung, daß es ein Unfall gewesen sei. Das war im Juni. Einen Monat später, als .in der Stadt das Gerücht umging, Liesbeth Koslowski habe sich das Leben genommen, bekam Stein Briefe vom Vater der Verunglückten.
Max Koslowski war Schmied von Beruf und dem Glauben nach Adventist. Er schrieb, daß er den Direktor unserer Grundstücksverwaltung, Gustav Sasse, beschuldige, sich der Liesbeth entledigt zu haben, weil sie von ihm schwanger war. Den von Koslowski so schwer Beschuldigten .kannte Stein seit Ewigkeiten, und da auf dem Freund nicht der leiseste Verdacht ruhte, weil er sich zur Tatzeit weit vom Tatort entfernt aufgehalten hatte, was von vielen Zeugen bestätigt worden war, besuchte er Sasse eines Abends in der Wohnung und machte ihm Vorwürfe.
Wieso erfahre ich erst jetzt, daß Liesbeth .Koslowski von dir ein Kind erwartete?
Sasse, knapp vierzig, hochgewachsen, grau meliertes Haar, sagte mit wohltonender Stimme, in der Leid und Zerknirschung mitschwangen:
O Gott, o Gott, was hab ich getan.
Stein war verärgert über den Freund und ließ ihn jammern.
Ausgerechnet mir muß es passieren, rief Sasse, immer bin ich moralisch und politisch und moralisch sauber gewesen.
Hör auf zu lamentieren, sagte Stein unwirsch.
Ich hab alle belogen, die mir vertrauten, rief Sasse, zerknirscht allem Anschein nach.
Wir wissen jetzt, sagte Stein, daß du Liesbeth Koslowski geschwängert hast, aber das interessiert uns nicht mehr, denn der Alte behauptet, du hast seineTochter umgebracht.
Ich? rief Sasse erstaunt. Ich? Wie hätte ich das anstellen können? Ich war ganz woanders zu der Zeit, als Lieschen, er hielt einen Augenblick inne und verbesserte sich, als Liesbeth Koslowski verunglückte.
Das weiß ich, sagte Stein ungeduldig, glaubst du, ich würde nachts in Zivil zu dir kommen, wenn ich nicht wüßte, daß du der Täter nicht sein kannst?
Täter, sagte Sasse traurig, ich dachte immer, solche Worte kommen nur in Kriminalromanen vor.
Hätte ich Zweifel an deiner Unschuld, sagte Stein, so würde ich dich vorladen.
Unschuld, Schuld, sagte Sasse, auch so schreckliche Wörter.
Außerdem würde ich den Fall wegen Befangenheit abgeben, sagte Stein.
Sasse, dem die Tränen kamen, streckte beide Arme aus, die Handgelenke übereinandergelegt, und rief:
Nimm mich fest. Sperr mich ein.
Obwohl Stein wütend auf den Mann war, der ihm erst jetzt seine Beziehung zu der Verunglückten eingestand und der sich nun lächerlich aufführte, konnte er ein Auflachen nicht unterdrücken, und er sagte:
Keiner denkt daran, dich festzunehmen, außerdem legt man die Handgelenke nicht übereinander bei der Festnahme, das tat man früher, als die Polente den Verbrecher mit Stricken fesselte, heute haben wir Handschellen, und dann liegen die Handgelenke nebeneinander.
Sasse korrigierte sofort die Art, wie er die Hände dem Polizisten entgegengestreckt hatte, und rief:
Ich habe mein Leben verpfuscht.
Sie behaupten in ihren Briefen an uns, sagte Stein eine Woche später zu Koslowski, den er vorgeladen hatte, daß Herr Sasse Ihre Tochter umgebracht hat.
Koslowski schwieg verstockt.
Haben Sie mich verstanden?
Koslowski antwortete nicht, er blickte zu Boden, als ob es da Wer Weiß was zu entdecken gäbe.
Soll das bedeuten, sagte Stein, daß Sie eine Anzeige aufgeben wollen?
Wegen was? fragte Koslowski.
Wegen Mord, sagte Stein gereizt.
Meine ermordete Tochter, .sagte Koslowski aus-weichend, ohne den Kopf zu heben.
Was ist mit Ihrer Tochter? rief Stein.
Wird jetzt beleidigt, sagte Koslowski vorwurfsvoll, nicht genug, daß sie sie ermorden, jetzt beleidigen sie sie noch.
Wer? rief Stein, wer sind die, von denen Sie sprechen?
Jetzt kommen sie alle und sagen, sie hat sich das Leben genommen, sagte Koslowski, und das ist nicht wahr, ein gläubiger Mensch bringt sich nicht um.
Sie bleiben also bei Ihrer Beschuldigung gegen Herrn Sasse? sagte Stein.
Es kann nur er gewesen sein, sagte Koslowski.
Warum, Herr Koslowski, sagte Stein, haben Sie Ihren Verdacht nicht schon beim ersten Verhör geäußert?
Meine Tochter ist tot, sagte Koslowski, außer Gott, dem Herrn, kann keiner sie lebendig machen, aber jetzt sag ich lieber die Wahrheit und laß mich einsperren.
Warum sollte Sie jemand einsperren wollen? fragte Stein ungeduldig.
Ich weiß nicht, sagte Koslowski ausweichend.
Bei uns wird keiner eingesperrt ohne Grund, sagte Stein.
Koslowski schwieg.
Dann werden wir jetzt die Anzeige aufsetzen, sagte Stein, Hetty, rief er, .und aus dem Nebenzimmer kam eine kleine Frau, auch sie in Leutnantsuniform, wir haben ein Protokoll aufzunehmen, und er diktierte:
Am Soundsovielten, da setzen wir das heutige Datum ein, um zehn Uhr fünfzehn, erschien vor dem Revier soundso der Schmied soundso, Religion evangelisch. Nein, sagte Koslowski; adventistisch.
Das ist dasselbe, sagte Stein, Religion evangelisch, und erklärte, daß er den Bürger Gustav Sasse, von Beruf Direktor der hiesigen Grundstücksverwaltung, beschuldigt, Liesbeth Koslowski ermordet zu haben. Als Grund dafür brachte er vor , seine Tochter habe ein Kind von Herrn Sasse erwartet, was der bestätigte.
Stein wandte sich an Koslowski:
So, und nun den Beweis.
Letzten Sommer, sagte vor sich hin brütend Koslowski, wollte er mit meiner Tochter in den Westen.
Was? rief Stein.
Meine Tochter hatte schon ihr Sparkonto aufgelöst, sagte Koslowski.
Herr Sasse wollte abhauen? rief Stein.
Ich hab es verhindert, sagte Koslowski und lächelte listig, denn ich hab ihr doch das Geld weggenommen.
Das stimmt, sagte Sasse, als er wenige Stunden später in Steins Büro saß, aber die Idee kam nicht von mir. Liesbeth sagte, wir sollten alles hinter uns abbrechen, meine Familie stehe unserem Glück im Weg.
Stein, in Uniform und mit umgeschnallter Pistole,saß aufgerichtet am Schreibtisch und grübelte.
Ich habe schwere Fehler begangen, sagte Sasse, der mit den Tränen rang, ich bin verheiratet und hab einen Sohn von neun Jahren und entjungfere, ohne rot zu werden, ein siebenundzwanzigjähriges Mädchen.
Mann, sagte Stein, hier geht es um Mord.
Weil ich mich in ein hübsches und unschuldiges Weib verknalle, sagte Sasse und weinte, werde ich treulos gegenüber meiner Frau und dem”Kind, treulos gegenüber der Gesellschaft, er schluchzte.
Ich überlege, sagte Stein, ob ich den Fall nicht wegen Befangenheit abgeben soll.
Als Sasse gegangen war, rief Stein Hetty zu sich.
Er mußte zugeben, sagte Stein zornig, daß die Verunglückte von ihm ein Kind kriegt, und er mußte zugeben, daß er mit ihr abhauen wollte.
Wer weiß, sagte Hetty, was er noch wird zugeben müssen, wenn wir mehr über ihn wissen.
Gemeinsam gingen sie die Akte durch, überprüften, ob sie nichts Verdächtiges übersehen hätten. Es war eine einfache Geschichte. In Traun, dreißigtausend Einwohner, gibt es eine Grundstücksverwaltung, in der acht Frauen und vier Männer beschäftigt sind. Die Frauen sind im Alter von siebenundzwanzig bis neunundfünfzig, drei Männer über sechzig, Direktor Sasse aber ist neununddreißig. Durch gewinnendes Wesen, durch selbstsicheres Auftreten,Beredsamkeit und Freundlichkeit hat er Vertrauen gewonnen bei Untergebenen und Vorgesetzten. Die Frauen wetteifern, ihm gefällig zu sein. Zwischen Weihnachten» und Neujahr, als Annelie, Sasses Ehefrau, mit dem Sohn verreist. ist, beginnt er, leichtsinnigerweise, wie er Stein gesteht, ein Verhältnis mit der Kollegin Koslowski. Er lädt sie zu dienstlicher Beratung in die Wohnung ein. Der Geschlechtsverkehr hat Folgen. Die heimlich Geliebte bittet ihn, daß er sich von Frau und Familie trennt. Ein halbes Jahr später an einem schönen Tag im Juni fahren Direktor Sasse, Liesbeth Koslowski und die Gewerkschaftsvorsitzende Edith Schilder, deren Name in diesem Buch hier zum erstenmal genannt wird, nach Wiesenthal, einem Dörfchen an der Elbe,wo sie mit örtlichen Verantwortlichen über neue Bauvorhaben beraten. Sasse hat anschließend noch ein vertrauliches Gespräch mit Bardeck, Horowitz, Debasse, Kotarski und Bürgermeister Herbert Kahn.
Die Freundinnen Liesbeth und Edith nützen die unerwartete Freizeit zu einem Spaziergang an die Elbe, von dem aber nur eine zurückkehrt. Es ist ein schöner, milder Sommertag. Auf der Elbe Schiffe mit Girlanden und Musik. Die Maurer, die hinter dem Deich an einem Rinderstall arbeiten, sehen von der Elbe kommend eine Frau über den Deich klettern, die weint, die um Hilfe schreit und während des Laufens mehrmals zu Boden stürzt. Hilfe, Hilfe; schreit sie, ihre Freundin sei eben verunglückt, und wenn nicht sofort Hilfe kommt, wird sie ertrinken.
Liesbeth Koslowski habe sich auf die Buhne gewagt, schreit Edith noch, dabei sei sie abgerutscht und von der dort sehr starken Strömung abgetrieben worden.
Die Maurer werfen ihr Werkzeug fort, klettern über den Deich und rennen zum Wasser. Von der Verunglückten fehlt jede Spur. Eine Woche später wird die Leiche zwölf Kilometer von der Unfallstelle entfernt geborgen.
Damals in dem schmucklosen Polizeibüro allein mit der Akte, in der alles niedergeschrieben war, was sie ermitteln konnten, war es für Stein und Hetty schwer, sich von dem Gedanken frei zu machen, daß sie einen Unfall bearbeiteten.`Für Mord hatten sie das Motiv gefunden, die Schwangerschaft, hatten aber keinen Täter, und Selbstmord als Motiv schied aus, wie Max Koslowski glaubhaft erklärte.
Direktor Sasse und die Leitenden von Wiesenthal, Bardeck, Horowitz, Debasse, Kotarski und Bürgermeister Herbert Kahn, beendeten die Sitzung und eilten zum Unfallort. Edith Schilder, von Weinkrämpfen geschüttelt, brauchte seelische Tröstung. Bardeck nahm sie mitleidig in den Arm, und sie weinte sich an seiner Brust aus, bis sie nicht mehr konnte. Ein Jahr später, wenn Richter Pinthus das Todesurteil gegen sie und Sasse verkündet, wird sich Edith an diesen Augenblick erinnern.
Sie wird sich erinnern, wie Bardeck sie streichelt. Sie wird sich erinnern, wie unaufhaltsam die Tränen fließen und wie allmählich ihr Gesicht von der einen Grimasse wechselt zur anderen. Bis Edith, unbemerkt von allen, verborgen das Gesicht an der Brust von Bardeck, heimlich lacht vor Erleichterung und Glück, dann Freudentränen vergießt, während alle noch denken, sie weint aus Schmerz um die tote Freundin. Was ich auf diesen Seiten erzähle, das ist die Geschichte eines heimtückischen Mordes, verübt im Juni.
Er wird drei Monate später im September durch Zufall aufgedeckt, die Strafen, verhängt ein Jahr nach dem Mord: Tod für Edith Schilder und Gustav Sasse. Später wird das Todesurteil umgewandelt in lebenslängliche Haft. Sasse starb im Gefängnis nach acht Jahren aus Gram über die verpfuschte Karriere, indes die Täterin ungebrochen der Gnade der Behörden entgegensah. Mit gutem Grund, denn sie durfte nach zwanzig Jahren als freier Mensch die Anstalt verlassen. Wenn die Strafen damals so hoch ausfielen, dann deswegen, weil das Gericht den Mordfall als eine nicht mehr zu überbietende Hinterhältigkeit einschätzte, begangen von Menschen, die nicht mehr besserungsfähig seien. Möglich allerdings ist auch, daß bei der Urteilsfindung politische Erwägungen eine Rolle gespielt haben.
Stein, sagte Hetty, nachdem sie die Akte durchgesehen hatten, wenn .es nicht Unfall ist, sondern Mord, dann hat es Edith Schilder getan.
Wie heißt du eigentlich richtig? fragte Stein.
Madelaine, sagte Hetty, Madelaine Nickel.
Ach, sagte Stein.
Ja, sagte Hetty.
Sasse ist der Betriebsdirektor, sagte Stein, Edith Schilder die Gewerkschaftsvorsitzende Wir alle wissen, daß die beiden sich nicht ausstehen können. Oder gibt es eine außerdienstliche Beziehung zwischen ihnen?
Wenn es so einfach wäre, sagte Hetty, hätten wir den Fall gelöst und müßten hier nicht Überstunden schieben.
Als Stein nach Traun kam, war Hetty schon da. Jeder nannte sie so. Auch die Asozialen, so wurden damals Gesetzesverletzer bezeichnet; für die war sie Leutnant Hetty, ein Name, den sie achtundvierzig, neunundvierzig in Berlin erworben hatte, als sie im Prostituierten- und Taschendiebsmilieu ihre ersten Erfolge erzielte, und den sie pflegte wie einen akademischen Grad. Sie liebte sorgfältige Protokolle, die Stein haßte, und verfaßte sie in einem Stil, der bildhaft war, deftig manchmal, und der Stein jedes mal überraschte.
Er war ein eigensinniger Beamter. Von Schreibtischkriminalisten und Kriminalakademikern hielt er in plebejischem Hochmut nichts. War stolz auf seine Herkunft als Sohn eines an Steinlunge-verstorbenen Bergmanns und einer kleinen, flinken Person, die in fremden Häusern saubermachte. Viel hielt er von der Art seiner Verhöre, die den Verhörten nicht kränkten. Viel hielt er von seiner praktischen Erfahrung und den Kontakten zu allen Schichten der Bevölkerung in Traun. Er pflegte sich in Kneipen umzusehen und bei Empfängen. War Mitglied des Klubs der Intelligenz, der sich im Grünen Salon des Stadtkrugs zusammenfand.
Nichts, sagte er, geht in der Stadt vor, ohne daß ich es erfahre.
Mit den Kriminellen in der Stadt ging er väterlich um, obwohl er erst fünfunddreißig war in jenem Jahr, als Liesbeth Koslowski ertrank. Die Delikte, die in Traun vorkamen, waren Ladendiebstahl, Raubüberfall, heimliche Prostitution, Herabwürdigung des Staatsoberhauptes, Sittlichkeitsvergehen gegen Kinder, Unterschlagung. Fahrraddiebstahl kam in Traun öfter vor als Autodiebstahl. Ganz und gar unsinnig erschien ihm der Gedanke an einen Mord.
Daß Sasse ihn so lange hatte belügen können, war ihm unverständlich und erschreckte ihn. Es war eine seiner bittersten Erfahrungen. Er war auch mit Edith befreundet und hatte ihrer Aussage geglaubt. Nach seiner Enttäuschung über Sasses Lügen glaubte er ihr nicht mehr. Wenn es Mord war, dann kannte sie den Täter. Sasse hatte für den Mord ein Motiv, aber keine Gelegenheit zur Tat. Edith hatte die Möglichkeit, aber kein Motiv.
Und Wenn sie einen Dritten deckt? fragte Hetty.
Wer könnte das sein? fragte Stein.
Er lud Edith vor und sagte:
Ich hörte, Sie hatten Streit mit Ihrer verunglückten Freundin, Worum ging es?
Das kann ich nicht beantworten, sagte Edith, wir hatten nie Streit.
Liesbeth Koslowski und Herr Sasse wollten abhauen, sagte Stein. '
Das hat sie mir nicht erzählt, sagte Edith, sie wußte, daß ich es ihr ausgeredet hätte.
Wann erfuhren Sie, daß Ihre Freundin schwanger war, fragte Stein.
Gleich, ich hab ihr Mut gemacht, sagte Edith.
Wollte sie abtreiben? fragte Stein.
Nein, sagte Edith, sie war doch gläubig.
Weshalb mußten Sie ihr Mut machen, fragte Stein.
Damit sie um ihre Liebe kämpft, sagte Edith.
Kannten Sie den Mann? fragte Stein.
Natürlich, sagte Edith, ich habe ihr zugeredet, ihn zu heiraten.
Weshalb? fragte Stein.
Sie hatten sich lieb, sagte Edith, und nach einer kleinen Pause leise: Man soll immer seinem Herzen folgen, auch wenn einem dadurch Nachteile entstehen.
Dieses Gespräch fand Anfang September statt, dreizehn Tage vor der Verhaftung von Sasse und Edith. Ein dreiviertel Jahr später, im Juni, wenn Richter Pinthus die Todesstrafen gegen sie und
Sasse begründet, wird ihr das Gespräch mit Stein einfallen. Sie wird nach einem Fehler bei sich suchen und keinen finden. Dann wird ihr Blick zu dem Mann hinübergehen, der zusammengesunken auf der anderen Seite der Bank sitzt, halb ohnmächtig vor Angst und nicht imstande, die Schließmuskeln zu beherrschen. Richter Pinthus wird die Rede unterbrechen und verfügen, daß der Angeklagte von der weiteren Verhandlung auszuschließen sei. Sasse wird versuchen, sich zu erheben, aber die Beine machen nicht mit, und zwei Polizisten werden ihn mit dem einen Arm stützen, mit der freien Hand sich die Nase zuhalten vor dem Gestank, der von dem Angeklagten ausgeht. Edith aber wird der Rede von Richter Pinthus aufmerksam zu Ende lauschen.
Zehn Tage vor der Verhaftung von Sasse und Edith Schilder gab es in Traun die ersten Anzeichen von Unruhe. Zuerst wurde ein betrunkener Bauarbeiter aufgegriffen, der randalierte und schrie, daß man mit Mördern kurzen Prozeß machen müsse, Kopf kürzer, Rübe ab.
Dann kurvten am frühen Vormittag plötzlich junge Leute auf heulenden Motorrädern eine halbe Stunde durch die Stadt. Die Nummernschilder waren überklebt, die Gesichter verborgen hinter furchteinflößenden Schutzhelmen. Als Polizei kam, waren die Motorräder weg, und es fehlte von ihnen jede Spur. Nachmittags um zwei fiel im Plastewerk die elektrische Hauptleitung aus, und alle Bemühungen, den Schaden zu finden, waren ergebnislos. Punkt drei ging das Licht wieder an. Zufall vielleicht. Doch es war, als habe eine unsichtbare Hand der Stadt zeigen wollen, wie hilflos sie sei.
Am nächsten Morgen, neun Tage vor der Verhaftung von Sasse und Edith Schilder, war am Tor des Rathauses in tropfenden Buchstaben geschrieben: Den Mörder an den Galgen. Zu der Zeit dachte Stein immer noch, er habe den Fall in der Hand, aber da war er ihm längst entglitten.
Es war ein warmer, schlapper, tiefsonniger Tag im frühen Herbst, und drückende Stille lag über der Stadt, manchmal von plötzlichem Donner unterbrochen, wenn einer der unsichtbaren Düsenjäger die Schallmauer durchstieß. An Straßenecken standen Menschen in Gruppen, vor allem Männer, ernst und in leisen Gesprächen. Trat einer zu ihnen, den sie nicht kannten, verstummten sie.
Kinder radelten mit ernsten Gesichtern, den Blick geradeaus, so schnell sie konnten, von der Schule nach Haus. Es war, als suchten sie Schutz auf ihrem Weg quer durch die sie ängstigende Stadt. Arbeiter standen am Fabriktor, und es sah aus, als wüßten sie nicht, ob sie eintreten oder ob sie warten sollten. Vielleicht warten sie auf andere, dachte Stein, die in diesem Moment vielleicht Maschinen abstellen, sich mit Putzlappen die Finger abwischen und zu denen treten, die vor dem Tor stehen, wobei vielleicht ein Spruchband entfaltet wird. Stein, der am Fenster seines Büros stand und hinaus auf die Straße sah, schauderte es beim Gedanken daran.
Es geht was vor, sagte er.
Du täuschst dich, sagte Hetty, es ist nichts.
Wenn ich nur wüßte, was gespielt wird, sagte. Stein.
Und wenn es kein Unfall war? sagte Hetty.
Dann hat sie sich selbst umgebracht, sagte Stein, egal, was ihr Vater davon hält.
Er lud Edith Schilder vor und fragte:
Hat sie sich selbst umgebracht?
Nein, sagte Edith, es war ein Unfall.
Und wenn Sie sich täuschen? sagte Stein.
Ich täusche mich nicht, sagte Edith.
Vielleicht wurden Sie getäuscht.
Von wem?
Vielleicht hat Ihre Freundin gewollt, daß Sie einen Unfall sehen, in Wirklichkeit hatte sie das Leben satt, rief Stein, sie war religiös und wußte, welchen Kummer sie ihrem Vater bereiten würde, nähme sie sich das Leben, hielt aber selbst ihr weiteres Leben für unerträglich.
Nein, sagte Edith, das Leben war ihr heilig, sie liebte den Mann, von dem sie ein Kind erwartete, und der liebte sie.
Wenn sie sich nicht selbst umgebracht hat, sagte Stein, indem er sich aufrichtete, wobei das Koppelzeug knarrte, dann war es Mord.
Sie täuschen sich, Herr Stein, sagte Edith, ohne zu zögern, es war ein Unfall.
Drei Tage später und sechs Tage, bevor Sasse und Edith Schilder verhaftet wurden, war Liesbeth Koslowskis Tod nicht mehr die Sache von Stein, sondern die der ganzen Stadt. Zuerst, zufällig in Arbeiterversammlungen, kamen Anfragen zum Mordfall Koslowski, wie es in der Stadt schon hieß, mit Direktor Sasse als dem Täter, der, ist es nicht so? von der Polizei geschützt werde..
Zaghafte Anfragen zuerst, die bald lauter wurden, dann aber aufhörten, als nämlich die Obrigkeit energisch wurde und die vorsichtigste Frage eine Provokation nannte, den Fragenden dummdreist und die Unruhe in der Stadt konterrevolutionär. Edith Schilder, als überzeugende Rednerin stadtbekannt, war Gast im Wasserwerk. Sie sprach eindringlich und ohne Hast, und als sie vom Podium stieg, bekam sie Beifall. ,
Sie sollten der Polizei vertrauen, hatte sie gerufen, auch die könne .sich irren, doch am Ende werde die Wahrheit herauskommen, und die Wahrheit sei, daß sie es hier zweifelsfrei mit einem Unfall zu tun hätten und nicht mit Mord, wie verantwortungslose Leute behaupteten. Hinterher zog Parteisekretär Orzmann sie in sein Büro und gratulierte ihr zu der meisterlichen Überzeugungskraft ihrer Rede, worauf sie bescheiden abwinkte.
Als Stein von ihrer Rede vor den Leuten im Wasserwerk hörte, sagte er:
Warum verteidigt sie Sasse?
Immer noch nicht kam ihm in den Sinn, sie zu verdächtigen.
Beim letzten Verhör hatte Edith gespürt, daß Stein im Dunkeln tappte, denn er glaubte nicht an einen Unfall, an Selbstmord aber auch nicht mehr, und sie war überzeugt, daß er keine Chance hatte, jemals etwas von der Wahrheit zu erfahren. Sie hatte alles aufeinander abgestimmt, Zeitpunkt der Tat, Ort und Umstände.
Immer wieder überprüfte sie, wie alles abgelaufen war, und nirgendwo fand sie eine Lücke, in die Stein hätte einhaken können. Die Unruhe in der Stadt aber drohte nun alles zunichte zu machen. Die Unzufriedenen und Aufsässigen, die sich aus, Furcht vor Strafe lange nichts getraut hatten, besannen sich plötzlich und machten ihrer Verbitterung Luft, auch die Schadenfrohen, die Benachteiligten und die zu spät und zu kurz Gekommenen. Sie waren zu schwach, um sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen, sahen in Sasse nun ihr Opfer, das sie forderten, ohne Nachteile für sich befürchten zu müssen. Sie wollten Genugtuung, und Edith erschrak vor der Gefahr, die sie nicht hatte kommen sehen.
Wie leicht war es für Sasse gewesen, der Hausfrau gefällig zu sein, die ihm gefällig war. Er hatte sich dem System in Traun eingeschmiegt, so daß nicht mehr zu unterscheiden war, wo Obrigkeit begann und wo Sasses Einfluß endete. Er war noch nicht Obrigkeit selbst, handelte aber so, als sei er sie schon und nicht nur ihr Handlanger. Geld nahm er nicht, es ging ihm um Vorteile.
Er hatte zu entscheiden, wann ein durchlässiges Dach repariert wird und wann ein unheizbarer Kachelofen. Die blau getönten Handwaschbecken, von denen die Grundstücksverwaltung drei Stück in fünf Jahren erhalten hatte und die Sasse in seinem Dienstzimmer vor Diebstahl sicher aufbewahrte, stellten die Macht dar, die er besaß. Eins erhielt Kotarski, eins war für ihn selbst, und eins erhielt die bereitwillige Hausfrau. Das alles hatte ihn bei vielen verhaßt gemacht.
Als Liesbeth Koslowski verunglückt war, hatten alle in der Stadt Mitleid empfunden. Jetzt, da es hieß, Sasse habe sie umgebracht, empörten sie sich. Sasse oder die Obrigkeit, das war ihnen nun legal. Edith spürte die Gefahr unaufhaltsam auf sich zukommen, und sie sah sich außerstande, sie abzuwenden. Doch je bedrohlicher die Gefahr, desto größer ihre Entschlossenheit, .sich zu wehren. .
Es war unruhig in der Stadt. Man stand und beobachtete, was vorging ringsum, und redete aufeinander ein. Leise besprachen sich in der Frühstücksbude Tiefbauarbeiter, leise und ernst, als stehe Schweres bevor. Unruhe auch unter den Studenten der medizinischen Fachschule, nicht viel hätte gefehlt, und durch ein beherztes Wort ermutigt wäre ein Spruchband entfaltet worden. Es war ein Zustand erreicht, bei dem alles noch leise blieb, aber wenn nicht bald etwas geschah, würden Unmut und Verdrossenheit zu Tätlichkeiten führen; Und wiederum kurvte unverhofft ein Motorradschwarm durch die Straßen, flößte Angst ein, und die Unruhe in der Stadt wurde größer. Damals kamen noch mehr Polizisten nach Traun. Sie wurden in der Lagerhalle der stillgelegten Möbeltischlerei untergebracht, und wenn sie im Einsatz waren, standen sie durch Sprechfunk miteinander in Verbindung.
Morgens war an der Hauswand gegenüber dem Grünen Salon Mörder! in den Putz geritzt, ein Wort, das Polizisten im Sondereinsatz, die früh um fünf schon die Straßen nach Aufschriften durchstreiften, unleserlich machten, und einmal entstand Aufregung in der Stadt, als bei Tageslicht noch an der Brauereiwand zu lesen war: Der Mörder ist unter uns. Mit Blaulicht und Martinshorn kam um halb neun ein Mannschaftswagen mit Polizisten, die kampfmäßig ausgerüstet absprangen, die Umherstehenden abdrängten und in großer Eile die Inschrift übertünchten. Vor Richter Pinthus mit dem Todesurteil in der Hand wird sich Edith wundern, auf wie einfältige Weise ihre Tat aufgedeckt wurde, ihr unenthüllbarer Plan von einer Gewalttat ohne Werk-zeug und ohne Motiv.
So ein Unfug, rief sie verzweifelt in den Versammlungsraum des Gewerkschaftshauses, Sasse ist unschuldig, sechs Zeugen-gibt es, die es bestätigen können, Bardeck, Horowitz, Debasse, Kotarski, Bürgermeister Herbert Kahn aus Wiesenthal und mich.
Dir glauben wir, Edith, rief aus der Formerei einer.
Bardeck, Horowitz, Debasse, Kotarski und Bürgermeister Herbert Kahn, rief Edith verzweifelt, waren die ganze Zeit mit Sasse zusammen.
Daß du die Wahrheit sagst, Edith, das wissen wir, rief eine aus der Waschanstalt.
Hinten im Saal aber sah Edith Leutnant Stein, angetrunken, ungewaschen, mit rotgeränderten Augen vor Übermüdung, der sie fragend anstarrte. Ja, dachte sie da in aufkeimender Besorgnis, die noch keine Angst war, einer, der so sehr sucht wie Stein, wird eines Tages finden.
Zwei Tage vor ihrer Verhaftung schließlich wurde eine Armee-Einheit nach Traun verlegt. Sasse war längst mit Herzinfarkt im Krankenhaus. Hat sich davon-geschlichen, Gott sei Dank, dachte Edith. Stein, dem die Vorgesetzte Behörde alle Schuld an der Unruhe in der Stadt gab, war degradiert worden. Wie ein Schlafwandler irrte er tatenlos durch die Straßen, drehte Zeitungsseiten um, die verrottet auf der Straße lagen, lauschte in Kneipen auf trunkenes Lallen, sah zu, wie sich am Himmel die Kondensstreifen der Düsenjäger auflösten, und lugte hinter Büsche, wo Unrat lag und wo es nach Urin stank. Die Mordkommission war in Traun eingetroffen, zwei Männer, der eine groß, der andere klein, der eine massig, der andere dünn. Stein hatte den Schreibtisch ausräumen müssen, zur Eile ermahnt von Markschat, dem großen Mann mit schmalen Lippen und randloser Brille, warte Bürschchen, dir zeig ich's, dachte Stein. Der kleine Dünne hatte ein wehleidiges Gesicht, wahrscheinlich Magengeschwüre, dachte Stein. Den Namen des kleinen Dünnen hatte er zuerst nicht verstanden, Bahr oder Behr oder Buhr, meine Güte, dachte Stein, wie mag so einer wohl heißen?
Oberleutnant Beer, rief Markschat, wo bleibt die Akte von der Spurensicherung?
An diesem Abend fiel Stein eine blasse Frau auf, die ihn grüßte, scheu und mit ausweichendem Blick, und er überlegte, woher er sie kannte. Bis es ihm einfiel. Er rannte ihr hinterher, und als er ihr die Hand auf die Schulter legte, zuckte sie zusammen.
Sie sind Sonja Herbert, sagte er.
Ja.
Ich habe Sie vor zwei Wochen- mit Herrn Sasse zusammen gesehn.
Ja.
Sie machten ihm Vorwürfe.
Nein, ich sagte ihm, daß ich zur Polizei gehen werde.
Weil Sie wissen, wie Liesbeth Koslowski umkam? .
Ja.
Warum sind Sie nicht zu mir gekommen? fragte er.
Weil er mich bat, es nicht zu tun, sagte sie.