Tilmann Haberer
Sex & Gott & Rock'n'Roll
Band 3: All Right Now
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Intermezzo
21
22
23
24
25
26
Intermezzo
27
28
29
Intermezzo
30
31
Epilog
Impressum neobooks
Katharina sieht ihm dabei zu, wie er seine Pasta verdrückt. Johnny hatte immer etwas Gieriges an sich, und er hat es immer noch. Komisch, welche Einzelheiten im Gedächtnis haften bleiben. Und komisch, welche Einzelheiten sie an ihre Liebe erinnern. Liebe? Ach, was für ein großes Wort. Sie weiß nur, dass es gut ist, hier mit ihm zu sitzen, sehr gut sogar. Mehr braucht es im Moment nicht. Was morgen sein wird? Wer weiß das schon. Vielleicht sind sie morgen beide tot. Und auch das wäre okay.
Johnny legt die Gabel beiseite, wischt sich den Mund mit der Serviette ab. Sieht sie an.
„Wann hast du eigentlich deinen Sannyas-Namen abgelegt?“
Sie muss kurz nachdenken. „Eigentlich schon, als ich mit Lakshmi die Praxis hier aufgemacht habe. Da haben wir beide unsere bürgerlichen Namen aufs Schild geschrieben. Dr. Eva-Maria Haimhauser und Dr. Katharina Holler. Aber untereinander und für alle Freunde waren wir natürlich immer noch
Lakshmi und Sharani. Dass ich mich wirklich wieder Katharina nenne … das ist keine zehn Jahre her, damals, als…“ Sie bricht ab. Er weiß ja überhaupt nichts darüber, was in den letzten zwanzig Jahren geschehen ist. Hat keine Ahnung von Achim.
Katharina holt tief Luft. „Ja, vor knapp zehn Jahren. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich will zurück zu meinen Wurzeln. Und im Grunde war dieser Name nicht mehr wichtig.“
„Bist du keine Sannyasin mehr?“
Wider Willen muss sie lächeln. „Osho und das, was er gelehrt hat, spielt in meinem Leben immer noch eine wichtige Rolle. Wie so eine Grundlage. Aber…“
„... aber?“
Sie setzt neu an. „Osho und alles, was ich in Poona und im Sannyas gelernt habe, hat mich nachhaltig geprägt. Das kann ich nicht aufgeben und niemals verlieren. Aber das ist für mich nicht mehr an die Person Osho gebunden. Also, wenn Sannyasin heißt, Schülerin eines Meisters zu sein, bin ich keine Sannyasin mehr. Ich habe ausgelernt, sozusagen. Also, die Antwort lautet: Ja und nein.“
Sie sieht ihm in die Augen. Er scheint zu verstehen, jedenfalls nickt er und seine Augen sehen nachdenklich. So fährt sie fort.
„Außerdem ist Katharina mein Taufname.“
Johnny stutzt.
„Dein Taufname… Bedeutet das denn noch irgendetwas für dich? Ich meine, das hast du doch längst hinter dir gelassen!“
Sie lächelt. „Du wirst es nicht glauben, ab und zu setze ich mich gern mal in eine katholische Messe.“
Jetzt fällt ihm allerdings die Kinnlade herunter. „Was?“ Er guckt konsterniert. „Du? Die Popenhasserin? Du gehst in die Kirche?“
Sie breitet die Arme aus, wie entschuldigend. Nickt. „Ich. Die Popenhasserin.“
Johnny schüttelt den Kopf. „Ich glaub’s nicht!“
„Versteh mich nicht falsch. Ich bin nicht wieder in die Kirche eingetreten, da bringen mich keine zehn Pferde mehr rein. Aber manchmal ist es einfach schön, sich in die vertrauten alten Formen zu begeben. Auf die Worte kommt’s gar nicht so sehr an. Ich kann irgendwie Anschluss finden an die alten Gefühle, bevor… bevor ich das alles über Bord werfen musste. Ich muss das nicht mehr hassen. Immerhin haben meine katholische Mutter und meine katholische Tante Marga den spirituellen Durst in mir geweckt, der mich bis zu Osho geführt hat und noch viel weiter.“
Langsam scheint Johnny sich wieder einzukriegen. „Okay“, sagt er. „Du bist also sozusagen einmal um die Welt gelaufen und wieder am Ausgangspunkt angekommen. Aber, nehme ich an, mit der Erfahrung der ganzen Welt im Gepäck.“
„Genau. Ich habe gelernt, das anzunehmen, dass ich eben in dieser historischen Situation geboren wurde und aufgewachsen bin. Es sind meine Wurzeln. Es ist die Tradition, aus der ich komme. Und auch wenn ich bei Osho gelernt habe, dass das Hier und Jetzt das Entscheidende ist, habe ich inzwischen doch auch gemerkt, dass es nicht egal ist, woher ich komme. Ich bin eben nicht in Bombay geboren oder in Nairobi, sondern hier in Deutschland. Das hat schon seine Bedeutung. Das ist die Form, in der diese Konkretion des Einen Bewusstseins für die Dauer dieses Lebens Gestalt gewonnen hat.“
„Diese Konkretion des Einen Bewusstseins… sorry, das ist mir jetzt zu hoch.“
„Macht nichts.“ Sie muss lachen. Das ist er, Johnny, der alte Agnostiker. „Ich kann es auch einfach so sagen: Ich habe aufgehört, mich zu wehren gegen das, was ist. Ich könnte mir inzwischen sogar wieder vorstellen, in Ebenstädt zu leben, in meinem Elternhaus, unter diesen Kleinstadtspießern. Die Menschen sind doch alle auf der Suche nach sich selbst und nach Gott, ob sie es wissen oder nicht.“
„Du hast aufgehört, dich zu wehren…“
„Ja, ich wehre mich nicht mehr gegen das, was ist. Das heißt nicht, dass ich alles unwidersprochen hinnehme. Ich bin sogar wieder politisch geworden. Aber das ist was anderes. Ich wehre mich einfach nicht mehr gegen mein
Leben.“
„Hat das was mit dem Krebs zu tun?“
Keine Sekunde muss sie nachdenken. „Natürlich. Ich musste ja lernen, mit dem Krebs zu leben. Ich musste lernen anzunehmen, dass ich sterblich bin. Ich habe mich aktiv mit dem Sterben auseinandergesetzt, und das eben nicht nur als Ärztin, die den Tod bekämpft. Sondern als Patientin, die dem Tod ins Auge sieht. Und ich habe gemerkt, dass es wirklich nicht schlimm ist, zu sterben. Und nachdem ich da durch war, konnte ich alles andere auch annehmen.“
Katharina legt ihre Hand auf seine. Er sieht sie an. Kein Vier-Worte-Dialog, keine Seufzer. Nicht die alten Dummheiten.
„Ich freue mich wahnsinnig, dass wir wieder miteinander reden können. Wenn es nach mir geht, können wir lang und oft reden, über alles, alles Mögliche.“
Johnny sieht ihr in die Augen. Nickt. „Ja, Jeannie. Wenn es nach mir geht, auch. Vielleicht sind wir endlich so erwachsen geworden, dass wir wieder miteinander reden können. Lang und oft.“
Das Glücksgefühl wird stärker, füllt sie ganz aus. Vielleicht ist es ja so.
Vielleicht sind sie endlich angekommen. Erwachsen geworden. Reif für die Liebe.
Das Gefühl der Freiheit hielt an, das sich nach dem Streit wegen Gabis Hexenjagd auf Isabell zum ersten Mal schüchtern geregt hatte. Ungewohnt war es, schien nicht so recht zu passen. Hannes fühlte sich wie nach einem langen Tag auf der Skipiste, wenn die Füße endlich aus den schweren Plastikstiefeln befreit sind und sich die normalen Treter vollkommen schlabberig und viel zu weit anfühlen. Aber dennoch: viel leichter.
Hannes tat Dinge, die für ihn einer kleinen Revolution gleichkamen. Am Wochenende nach der Fahrt zu Jürgens Hochzeit holte er seine Plattensammlung aus dem Keller. Gabi war mit den Kindern bei ihren Eltern und bekam nicht mit, wie er zum ersten Mal seit Jahren Janis Joplin auflegte. Me and Bobby McGee – ja, das musste der erste Song sein, den er hörte nach so langer Abstinenz. Freedom is just another word for nothing left to lose… Danach Taste, dann Hendrix. Boten aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt. Drecksmusik, hatte Gabi befunden und die ganze Sammlung in den Keller getragen, zu seinen Büchern, während er in der Arbeit war. Immerhin hatte sie sie nicht gleich verbrannt.
Am Mittwoch darauf ging er nach der Arbeit mit Simon noch auf ein Bier, kam erst zur Abendessenszeit nach Hause. Fand Gabi und die Kinder wieder ausgeflogen, ein Zettel auf dem Küchentisch. Wo bleibst du! Nichts zu essen im Haus. Bin bei den Eltern. Hannes schwankte kurz zwischen Bestürzung, Ärger und Erleichterung und entschied sich schließlich für Erleichterung. Nothing left to lose. Ja, was hatte er schon zu verlieren!
Gabi sagte nichts zu seinen kleinen Unbotmäßigkeiten. Sie sprach eigentlich gar nicht mehr mit ihm. Manchmal kam er sich vor wie ein Hausangestellter, den die Herrschaft gar nicht bemerkt, jedenfalls solange er funktioniert. Also beschloss er, zwischendurch mal nicht zu funktionieren. Rief vom Büro aus an, dass er nicht dazu kommen werde, einzukaufen, ob Gabi nicht Milch, Gelbwurst und einen Kopf Salat besorgen könne. Fand dann beim Heimkommen wieder eine leere Wohnung vor, nicht mal einen Zettel hatte sie dieses Mal geschrieben. Um neun kam sie nach Hause, zwei todmüde, heulende Kinder im Schlepptau. Stellte die Kinder einfach bei ihm ab und verzog sich in ihr Zimmer. „Ich habe die Kinder den ganzen Tag gehabt, jetzt bist du dran!“
O, sie hat mit mir gesprochen!
Hannes übernahm die Kinder, brachte sie ins Bett. Er las zum achthundertelften Mal den Räuber Hotzenplotz vor, und als er das Buch zuklappte und den Kindern ihren Gutenachtkuss gab, murmelte Lukas: „Ich hab dich ganz arg lieb, Papi.“ Judith sekundierte: „Und ich hab dich auch ganz, ganz arg lieb!“ Das Glück fuhr ihm wie ein Messer durch die Magengrube und er spürte, wie ihm die Tränen kommen wollten. Mochte Gabi ihn tausendmal hassen und verachten, hier gehörte er hin. Wenn es die Kinder nicht gäbe… – aber weiterzudenken verbot er sich. Erstens gab es die Kinder, hier lagen sie, zugedeckt bis zum Kinn, blinzelten gegen den Schlaf an und erklärten ihm ihre Liebe. Und zweitens… er hatte Gabi versprochen, sie zu lieben, zu achten und zu ehren, bis der Tod sie schied. Und wenn es noch so schwer fiel.
Er schloss die Tür zum Kinderzimmer und zog sich aufs Sofa zurück. Ließ den Plattenspieler vorerst aus, er wollte Gabi nicht noch mehr reizen. Das heißt, reizen wollte er sie sowieso nicht, darum ging es ja nicht. Nur etwas von seinem eigenen Leben zurückhaben, das wollte er. Er stand noch einmal auf, ging in den Keller, wühlte in den Bücherkisten. Fand den Herrn der Ringe, setzte sich wieder aufs Sofa und ließ sich entführen. Vergaß, als er bettschwer seine Schlafstatt baute, nicht, das Buch in der Truhe verschwinden zu lassen, in der tagsüber das Bettzeug untergebracht war. Gabi wäre sicher nicht mit dieser Lektüre einverstanden. Zauberer, Zwerge, Elben… satanisches Zeug, würde sie sagen.
Ja, Gabi machte es ihm schwer. Was blieb eigentlich noch von seinem Leben? Sein Beruf, das Büro, die Architektur. Und die Kinder. Alles andere war Vergangenheit. Gabi und seine große Liebe zu ihr (von Jeannie einmal zu schweigen), die Musik, eigentlich sein ganzes Leben. Alles verloren. Und es schien keinen Ausweg zu geben.
Aber Hannes wollte sich nicht mehr damit abfinden, dass sie sein ganzes Leben kontrollierte. Das Bier nach der Arbeit machte er sich zur Gewohnheit, einmal die Woche, meistens am Dienstag. Und wann immer er alleine in der Wohnung war, legte er seine Platten auf. Hörte Cream, die Stones, Hendrix, Rory Gallagher. Sehr häufig gelang das nicht, und immer wenn er den Schlüssel in der Wohnungstür hörte, drehte er die Lautstärke ab und nahm die Nadel von der Platte. Er hatte einfach keine Lust auf Streit. Doch dann holte es ihn ein.
Ausgerechnet Paranoid lief, sein Jeannie-Herz-und-Schmerz-Stück, als Gabi ins Wohnzimmer platzte. Er hatte gar nicht so laut aufgedreht, trotzdem hörte er sie nicht kommen. Wie hereingebeamt stand sie auf einmal vor ihm, rauchend vor Zorn. „Mach sofort diesen satanischen Dreck aus!“, herrschte sie ihn an. Ohne nachzudenken stand Hannes auf, ging zum Plattenspieler. Streckte die Hand aus, hielt einen Moment inne. Seine Finger wanderten nicht zum Tonabnehmer, sondern zum Lautstärkeregler. Drehten auf bis zum Anschlag. I tell you to enjoy life, I wish I could but it’s too late, krachte Ozzy Osbornes Stimme aus den Boxen. Immer noch ohne nachzudenken drehte er sich auf dem Absatz um, sah Gabi an. Die war weiß wie die Wand. Schien einen Augenblick zu schwanken, griff ins Leere, wie um sich festzuhalten. Ihr Blick wurde glasig, dann riss sie sich sichtlich zusammen. Machte ihrerseits einen Satz zum Plattenspieler und bevor Hannes begriff, was vor sich ging, hatte sie den Tonabnehmer von der Platte gefegt, die LP vom Teller gerissen, hielt die Platte mit beiden Händen, hob das Knie. Mit einem lauten Knall brach das Vinyl in tausend Scherben. Mit Funken sprühenden Augen stand Gabi vor ihm, in beiden Händen ein Bruchstück seiner Schallplatte. In der plötzlichen Totenstille klang ihr heiseres Flüstern wie das Donnerwort eines Racheengels: „In diesem Haus wird kein Satanslärm gespielt, damit das klar ist!“
Hannes war starr, weniger vor Schreck als vielmehr vor ungläubigem Staunen, dass Gabi es tatsächlich fertig gebracht hatte, die Platte vor seinen Augen zu zerbrechen. Die beiden Bruchstücke, die sie in der Hand gehalten hatten, flogen ihm vor die Füße. „Du hast sie nicht mehr alle, Gabi. Echt.“ Mehr fiel ihm nicht mehr ein. Dann ließ er sie stehen, verließ das Zimmer. Lukas und Judith, die alles durch die geöffnete Tür mitverfolgt hatten, guckten konsterniert auf ihre Mutter. „Mama, du blutest“, rief Lukas ängstlich. Ein Stück von dem splitternden Vinyl hatte Gabi in die Hand geschnitten. So stürzte Hannes, statt Schaufel und Besen in der Kammer zu suchen, ins Bad, holte Heftpflaster und eine Mullbinde, sprang zurück ins Wohnzimmer, vorbei an Judith, die fassungslos weinte. Lukas hielt Gabis Hand in seiner und begutachtete sie wie ein Großer. „Ist nicht so schlimm“, sagte er tapfer, mehr um sich selbst zu trösten als seine Mutter. Willenlos ließ Gabi zu, dass er ihre Hand nahm, den Schnitt untersuchte. Er war tatsächlich nicht tief, nur an einer blöden Stelle, mitten auf dem Handballen. Ein Heftpflaster würde nicht reichen, Hannes machte ihr einen Verband. Was wird sie ihren Freundinnen erzählen! Egal. Es war ihm wirklich egal, was Nadine von ihm denken mochte oder Edda oder Uschi. Die hielten ihn wahrscheinlich ohnehin für eine Ausgeburt des Bösen.
Und trotzdem hielt er mit einem sturen Trotz an der Ehe fest, an der Treue, die er Gabi versprochen hatte. Ich will dich lieben, achten und ehren, bis der Tod uns scheidet. Das hatte er ihr versprochen und dieses Versprechen war er gewillt einzuhalten. Immer noch. Auch wenn das mit der Liebe nicht mehr so recht klappte, die Achtung zu bewahren war das Mindeste, was bleiben sollte.
***
Doch dann fiel der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es war ein paar Tage nach der Zerstörung seiner Schallplatte. Nach dem Abendessen, als die Küche gemacht war, die Kinder in ihren Betten lagen und Hannes sich endlich in Ruhe aufs Sofa setzen wollte, kam Gabi ins Wohnzimmer.
„Hannes.“
Er sah auf.
„Was gibt’s?“
Gabi blickte verkniffen auf ihn herab.
„Ich wünsche, dass du den Umgang mit Tobias einstellst. Sofort und für alle Zeiten.“
„Ach. Und darf man auch erfahren, warum?“
Gabis Bick wurde durchdringend.
„Jetzt tu nicht so, als wüsstest du nicht, was los ist.“
„Was denn?“
Hannes hatte wirklich keine Vorstellung, wie Gabi auf diese Idee kam.
„Stell dich nicht so ahnungslos! Du weißt genau, dass dein verfluchter Freund es mit Männern treibt.“
Hannes blieb der Mund offen stehen. „Also Gabi“, sagte er und musste beinahe lachen. „Dass Tobias schwul ist, weiß ich seit Jahren. Und was ist dabei?“
Gabi ging gar nicht auf seine Äußerung ein. Sie war in voller Fahrt. „Nadine hat ihn gesehen. Sie wohnt in der Klenzestraße, und da hat sie ihn gesehen, wie er aus so einer widerlichen Bar rauskam, mit einem Typen an der Hand, und sie haben sich geküsst. Im Schatten zwar, aber Nadine hat’s genau gesehen. Die schwule Sau! Tut immer schön anständig und hinten rum treibt er Sachen, die man sich nicht mal ausdenken mag!“
„Und? Was ist dabei?“
„Was dabei ist? Dieses schwule Getue ist gegen die Natur und gegen Gottes Gebot und gegen alles, was Vernunft und Anstand gebieten.“
Und plötzlich fixierte Gabi ihn aus schmalen Augen.
„Und es reicht mir, dass du mich mit irgendwelche kleinen Nutten aus dem Kindergarten betrügst. Ich will nicht, dass du auch noch mit dieser Schwuchtel ins Bett gehst!“
Das war arg. Hannes versuchte sich zusammenzureißen. Er stand auf, ging einen Schritt auf Gabi zu. Die wich zurück, ballte die Fäuste, funkelte ihn an. Hannes musste sich beherrschen, nicht loszubrüllen.
„Ich verbiete dir, so über meinen Freund zu sprechen“, sagte er so ruhig er konnte.
„Ich lasse mir in meiner Wohnung nicht das Wort verbieten!“ Jetzt schrie sie.
„Gabi, kein Wort mehr. In dieser Weise redest du nicht über meinen Freund. Über niemand redest du so. Hast du das verstanden!“
Gleich spuckt sie mir ins Gesicht.
„Ich rede, wie es der Wahrheit entspricht. Und du, du deckst den schlimmsten Frevel. Und findest es auch noch gut, was dein Tobias treibt. Wahrscheinlich hat er dich auch schon längst im Bett gehabt!“
Er hatte tatsächlich Lust, ihr eine zu scheuern. Aber noch hatte er sich im Griff.
„Du spinnst, Gabi. Halt einfach die Luft an und lass mich in Ruhe.“
Auge in Auge standen sie einander gegenüber. Hannes spürte, wie heftig sein Atem ging. Der Hass in Gabis himmelblauen Augen, die er einst so geliebt hatte, ließ ihn innerlich eiskalt werden. Er zwang sich immer noch, ruhig zu bleiben, atmete bewusst tief ein und aus. Er machte seinen Blick noch härter. Nein, ich gebe nicht klein bei.
Zehn Sekunden standen sie einander so gegenüber, Hannes kam es vor wie Stunden. Dann wandte Gabi plötzlich den Blick ab, drehte sich weg. „Du wirst schon sehen, was du davon hast“, zischte sie und ließ ihn stehen. Hannes wartete, bis sie in ihrem Zimmer verschwunden war, und schloss dann die Tür. Er ging die paar Schritte zum Sofa. Hatte Lust, sich bäuchlings darauf zu werfen, den Kopf unter ein Kissen zu stecken. Und einfach loszuheulen.
Hannes wusste es noch nicht, aber an diesem Abend ging seine Ehe zu Ende.
Achim wohnte in München, keine zwei Kilometer von Sharani entfernt. Und doch lernten sie sich nicht vor ihrer Haustür kennen oder vor seiner, sondern im ICE zwischen Frankfurt und Mannheim. Sie saßen einander gegenüber im Großraumwagen, zwischen sich das Tischchen, nahmen das erste Mal Notiz voneinander, als sie beide die Beine ausstrecken wollten und unter dem Tisch zusammenstießen. Spontan und synchron entschuldigten sie sich, der fremde Mann zeigte ganz kurz ein strahlendes Lächeln, vertiefte sich dann wieder in seine Zeitung. Wieso entschuldigt man sich eigentlich, wenn man sich versehentlich auch nur ein bisschen berührt?
Nach zehn Minuten legte der Fremde seine Zeitung beiseite, wand sich aus dem Sitz, lächelte ihr wieder kurz zu, ging den Gang entlang Richtung Speisewagen. Sharani war einen Moment geschockt. Dieser Blick! Da war etwas wie die freudig erschrockene Frage: Du hier…? Als wäre er ein uralter Bekannter; dabei hatte sie ihn noch nie gesehen, da war sie sicher. Aber wer wusste schon, woher sie sich kannten – aus wie vielen früheren Leben… Weniger esoterisch gesagt: Sein Lächeln berührte Sharani. Tief drinnen. Es hatte etwas Vertrautes, obwohl sie sich nicht kannten, gerade mal zwanzig Minuten im selben Zugabteil gesessen hatten.
Sharani schüttelte den Kopf, zog ihr Buch aus dem Rucksack. Seit langem wieder einmal etwas von Osho. Sie hatte das Buch in Köln entdeckt und gleich mitgenommen. Jesus – Mensch und Meister. Mit etwas Wehmut erinnerte sie sich, wie es sie anfangs empört hatte, dass ihr geliebter Bhagwan so viel über Jesus sprach. Dann aber hatte sie allmählich begriffen, dass Jesus, der Mann aus Nazareth, der Meister, der Revolutionär der Liebe, etwas ganz anderes war als die blasse, moralinsaure Gestalt, die die Kirche aus ihm machte. Osho… Ein Schmerz, jäh und scharf. Auch Liebe kann wehtun, wer wüsste das besser als sie, Sharani alias Jeannie. Vor mehr als fünf Jahren hatte Osho diese Welt verlassen – niemals geboren, niemals gestorben, nur zu Besuch auf diesem Planeten. Doch sie trug seine Liebe im Herzen. Und nun las sie seine Worte, hörte durch die Übersetzung hindurch seine Stimme, sein langsames, überlegtes Sprechen, sah ihn vor sich, wie er auf seine Hände schaute, dann wieder auf seine Jünger, wie er mit einem feinen Lächeln die ungeheuerlichsten Provokationen aussprechen konnte.
Der Fremde kam zurück. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig, er war ziemlich groß und kräftig, hatte eine hohe Stirn und einen tief schwarzen, kurz gestutzten Vollbart. Trug ein lässiges Cordsakko zu weißem Hemd und Jeans. Gar nicht ihr Stil. Aber als er sie noch einmal kurz anlächelte, bevor er sich seiner Zeitung widmete, war es wieder wie ein vertrautes Zublinzeln. Da war wirklich etwas, als kennten sie sich seit Äonen. Sharani legte das Buch zur Seite, schaute aus dem Fenster. Langweilige deutsche Industrielandschaft – lange schon hatten sie das spektakuläre Rheintal hinter sich gelassen, Sankt Goar, die Loreley. Hatte die seltsame Unruhe, die sie erfüllte, tatsächlich etwas mit dem Mann ihr gegenüber zu tun? Volle zwei Jahre hatte sie mit keinem Mann mehr gesprochen, außer natürlich in der Praxis. Volle zwei Jahre, seit sie sich zum letzten Mal von Johnny abgewandt hatte – diesmal aber wirklich zum letzten Mal! –, zwei Jahre war sie so gut wie nie ausgegangen. Hatte die meiste Zeit zu Hause verbracht, am Zeichentisch, wenn die Arztbriefe diktiert waren, und vor allem auf ihrem Meditationskissen. War ganz in sich gekehrt. Nur mit Lakshmi, mit der sie sich die Praxis teilte, ging sie einmal in der Woche aus. Die offizielle Version war, dass sie nicht nur noch als Kolleginnen zusammenarbeiten,
sondern Freundinnen bleiben wollten. Inoffiziell wusste Sharani genau, dass Lakshmi hoffte, ihre beste Freundin doch einmal mit einem ordentlichen Mann zu verkuppeln. Aber da biss sie auf Granit. Das Kapitel war für Sharani abgeschlossen. Oder, nicht ganz so kategorisch, im Moment einfach kein Thema. Sie brauchte keinen Mann, wollte keinen Mann – und nun saß ihr gegenüber dieser Fremde und versetzte sie in Unruhe.
Und dann sprach er sie an.
Sie hatte ihr Buch wieder zur Hand genommen, versuchte sich auf die Zeilen zu konzentrieren, durch die gedruckten Buchstaben hindurch Oshos Stimme zu vernehmen. Da räusperte sich der Fremde leicht, dann, zögernd: „Entschuldigen Sie bitte, darf ich Sie etwas fragen?“
Durch die Praxis war Sharani daran gewöhnt, von Fremden gesiezt zu werden. Warum kam es ihr bei diesem Mann so unpassend vor? Sie ließ das Buch sinken, sah in ein Paar braune Augen, braun wie ihre eigenen. Hob lächelnd leicht die Augenbrauen. „Ja, natürlich.“
„Dieses Buch, das Sie lesen… haben Sie Bhagwan persönlich gekannt?“
Wider Willen wurde ihr Lächeln breiter. Sie nickte langsam. „Ich war jahrelang seine Schülerin. Habe sozusagen zu seinen Füßen gesessen.“
„Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber mich interessiert alles, was mit Bhagwan zu tun hat. Wissen Sie, damals, vor fünfzehn, zwanzig Jahren, wäre ich selbst nie auf die Idee gekommen, nach Poona zu gehen. Und heute denke ich mir manchmal: Vielleicht wäre es der Weg für mich gewesen.“
„Und warum sind Sie damals nicht gegangen?“ Einen kurzen Moment stellte Sharani sich ihn in orangen Klamotten vor, die Mala um den Hals, der Bart wilder, die Haare länger. Könnte passen.
Der Mann machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es kam einfach nicht infrage. Ich war damals sehr… hm. Sehr angepasst vielleicht. Die Bhagwans mit ihren roten Kleidern und der berüchtigten freizügigen Lebensweise haben mich eher abgeschreckt. Ich musste erst durch eine ziemliche Krise, bevor ich überhaupt daran denken konnte, einen anderen Weg einzuschlagen als den üblichen: Abitur, Uni, Job, Frau und Kinder, Rente und so… Und da war es viel zu spät für Poona. Ich bin einfach einen anderen Weg gegangen.“
Interessant. Wie ein sehr spiritueller Mensch sah er eigentlich nicht aus. Aber was sagte schon das Aussehen!
„Welchen Weg… wenn man fragen darf?“
Sein Lächeln war jetzt schon fast unverschämt offen. „Man darf, natürlich. Wobei… es ist kein Weg in diesem Sinne. Also, kein spiritueller Weg. Ich mache mir so meine Gedanken über Gott und die Welt, aber ich bin nicht religiös, und auch nicht spirituell. Aber irgendwie, wenn ich darauf stoße, merke ich, dass es mich tief drinnen doch irgendwie anspricht. Und deswegen finde ich es spannend, heute mit einer leibhaftigen Sannyasin im Zug zu sitzen.“
„Leibhaftig…“ Sharani musste lachen. „Klingt wie der Leibhaftige…“
Schlagartig war der Mann ernst. „Aber nein! Ich würde einfach gern mehr über Bhagwan erfahren, oder, nein, jetzt heißt er ja anders…“
„Osho.“
„Ah ja, richtig. Also, ich würde gern mehr über Osho erfahren, mehr als ich aus Büchern lernen kann. Deswegen. Deswegen würde ich Ihnen, wenn es recht ist, gern ein paar Fragen stellen.“
„Nur zu!“ Sharani legte das Buch auf den Tisch und stützte die Ellbogen auf. „Über Osho und die Zeit damals rede ich immer noch gern.“
Der Fremde stellte kluge Fragen, hörte aufmerksam zu, hatte einen umwerfenden Humor. Sie lachten viel, gingen zwischen Stuttgart und Ulm in den Speisewagen, erzählten und fragten immer weiter. Sharani hätte ihn gern ebenfalls ausgefragt, aber etwas hielt sie ab, ihn auf seine „ziemliche Krise“ anzusprechen. Und er selbst machte keine weiteren Andeutungen.
Scheinbar urplötzlich wurde der Zug langsamer. Sharani sah hinaus. „O, wir sind gleich in Pasing. Da steige ich aus.“ Der Fremde stand auf. „So ein Zufall. Ich auch.“
So mitten aus dem Gespräch gerissen. Ohne groß zu überlegen, kramte Sharani in ihrer Tasche nach einem Stift. Schrieb ihren Namen – Sharani – ins Buch und ihre Telefonnummer.
Mit einem scharfen Quietschen kam der Zug zum Stehen. Sharani angelte sich ihren Rucksack, der Fremde hob einen kleinen Koffer aus der Gepäckablage. Das Buch noch in der Hand, eilte Sharani zum Ausstieg, vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, dass er ihr folgte.
Wie verabschiedet man sich jetzt? Sharani machte es kurz. Sie hielt ihm das Buch hin, da aufgeschlagen, wo sie ihre Nummer notiert hatte.
„Ich würde mich freuen, wenn du mich mal anrufst.“ Kein Sie mehr.
Er sah überrascht drein, erfreut. „Gern… Sharani“, las er. „Ich bin Achim.“ Nickte, hob die Hand.
Sie widerstand dem Impuls, ihn zu umarmen. Hob ebenfalls die Hand zum Gruß. „Ciao, Achim.“ Dann drehte sie sich um und sprang die Treppe hinunter.
***
Sie war noch nicht ganz zur Tür herein, da läutete das Telefon. Sie nahm den Hörer ab, den Rucksack noch auf den Schultern.
„Ja?“
„Ich weiß, das ist jetzt ziemlich uncool. Aber ich wollte deine Stimme einfach noch mal hören. Es ging vorhin so schnell.“
Ein Adrenalinstoß. „Ja.“ Uncool? Und wenn! Coole Männer konnte sie nicht ausstehen. Und jetzt?
„Achim“, sagte sie.
„Ja.“
„Uncool ist es vielleicht. Aber dann ist es auch uncool, wenn ich sage, dass ich mich total freue. Mir ging es auch zu schnell.“
Pause. Im Hintergrund hörte sie Straßengeräusche. Er ist in einer Telefonzelle. Nein, Quatsch, so ein Geschäftsmann hat ein Handy.
„Schön. Dann darf ich auf eine Fortsetzung hoffen?“
„Gern. Sehr gern.“
Blöde Kuh, das ist jetzt wirklich sehr uncool. Aber sie hatte überhaupt keine Lust auf die üblichen Flirtspielchen. Zappeln lassen. Bullshit. Er gefiel ihr einfach, Punkt.
„Gut. Darf ich dich heute Abend anrufen? Ich habe jetzt gleich einen Termin.“
„Heute Abend? Okay, nach acht. Ja?“
„Nach acht. Gut.“
Zögern. Auf beiden Seiten.
„Dann…“
„Bis später.“
„Bis später.“
Er legte noch nicht auf. Sie auch nicht.
„Achim?“
„Ja.“
„Ähm… schon gut. Bis heute Abend.“
Immer noch ein Zögern.
„Ähm…“
„Ja?“
„Danke für das Buch.“
„Oh. Gern.“
„Ciao.“
Sie legte auf. Spürte das Herz im Hals.
Vorsicht!
Wieso Vorsicht?
***
Vorsicht! Wieso Vorsicht? Natürlich, es war einfach in ihrem ganzen Leben noch nie gut gegangen mit den Männern. Es war reiner Selbstschutz, vorsichtig zu sein. Sharani packte den Rucksack aus, sortierte die Klamotten, warf in die Waschmaschine, was zu waschen war, räumte den Rucksack in den Schrank. Machte sich eine Kanne Tee, aß einen Apfel.
Lief ziellos durch die Wohnung.
Hallo?
Gedanken schossen ihr durchs Hirn, Bilder, Fantasien. Hatte doch dieser Achim in zwei, drei Stunden ihr ganzes System in Aufruhr gebracht!
Schluss.
Sie setzte sich aufs Kissen. Es war halb sechs. Noch zweieinhalb Stunden.
Sie spürte. Atmete. Ließ die Gedanken los. Sie war geübt, nach kürzester Zeit war sie ganz in der Gegenwart, auf dem Kissen. Hatte sich abgekoppelt von Gedanken, Bildern, Fantasien, die einander jagten in der leeren Weite ihres Geistes. War bei sich. In der Position des unbeteiligten Zeugen. Ich habe Emotionen, aber ich bin nicht die Emotionen.
Und rutschte heraus. Beobachtete sich dabei, wie sie der Erinnerung nachhing, wie sie sich seinen Anruf ausmalte.
Zurück zum Atem. Zurück in die Gegenwart. Die Gegenwart ist das Einzige, was ist.
Allmählich fand sie ihre Mitte wieder, ihre Seelenruhe, die Zeugenposition. Konnte diesen Achim loslassen und das, was ihr flatterndes Herz aus der kurzen Begegnung zu machen versuchte. Sie würde es ja sehen. Was sein wird, wird sein. So einfach.
***
So einfach war es allerdings nicht. Als Achim an diesem Abend anrief, war sie gesammelt und bei sich. Sie telefonierten drei Stunden, drei geschlagene Stunden. Und am nächsten und übernächsten Tag auch.
Sharani versuchte ehrlich mit sich zu sein. Anscheinend war sie verliebt. Ganz anders als damals bei Prakash, und wieder ganz anders als… gut, an die Geschichte mit Johnny würde nichts und niemand jemals herankommen. Sowieso und überhaupt.
Bevor sie sich das erste Mal wieder sahen, saß Sharani wieder zwei Stunden auf dem Kissen. Sie atmete das Herzflattern weg, wollte bei sich sein, ganz gesammelt. Und vorsichtig. Verliebt vielleicht, ja, aber nicht identifiziert mit dem Verliebtsein.
Sie saßen beim Italiener, bis die Bedienung zum Abkassieren kam, danach ließ sie sich ein Taxi rufen. Achims Angebot, sie nach Hause zu bringen, lehnte sie dankend ab. Er nahm es mit einem Lächeln, versprach, sie anzurufen. Tat es, als sie sich gerade die Zähne putzte.
„Ich wollte dir nur gute Nacht sagen.“
„Ach, du bist süß. Gute Nacht.“
„Ich bin süß? Und du bist ein Wunder.“
„Ein Wunder? Quatschkopf.“
„Gute Nacht, du Wunder.“
„Gute Nacht, süßer Quatschkopf.“
Es war klar, lange konnte sie ihn nicht hinhalten. Und sie wollte ihn auch nicht hinhalten. Wollte bei ihm sein, wollte ihn spüren. Endlich ihn spüren.
Und hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Enge. Flucht!
Kalter Schweiß brach ihr aus den Poren. Wieder einer, der mich haben will.
Wie Johnny. Wie…
Sie atmete so tief und ruhig, wie sie konnte. Das mit Johnny ist vorbei. Das hier ist etwas ganz anderes. Und doch musste sie sich eingestehen, dass Achim in vielem Johnny ähnlich war. Ein Mann, der Gefühle hatte und darum wusste. Sie nicht nur wegdrängte, sondern spürte. Und zeigte. Ein warmherziger Mann. Mit köstlichem Humor. Und dann war er wieder ganz anders als Johnny. Völlig unmusisch, zum Beispiel. Er hatte keine einzige Schallplatte im Haus, hatte er ihr erzählt. Spielte kein Instrument, konnte nicht singen. Aber er war klug, und er war sexy.
Und er wollte sie haben.
Sie versuchte, nur noch in ihrem Atem zu sein. Alle Gedanken und Fantasien und Befürchtungen loszulassen. Alles, was sie aus der Gegenwart ziehen wollte in eine ferne, belanglose Vergangenheit. In eine nicht existente, offene Zukunft.
Nein, sie wollte nicht schwelgen. Wollte sich nicht bangen. Wollte einfach sein.
Bevor sie sich ins Bett legte, saß sie noch einmal eine halbe Stunde auf dem Kissen. Dann ging es.
Fürs Erste.
***
Achims „ziemliche Krise“ war banal in ihrer Grausamkeit, wie die meisten Lebenskrisen. Mit vierundzwanzig hatte er Lara geheiratet, mit der er schon als Siebzehnjähriger zusammen war. Sie hatten zwei Kinder bekommen, mit achtundzwanzig hatte er sich in Viola verliebt. Hatte es nach ein paar Wochen Lara gestanden. Krach, Ehekrieg. Er wollte die Familie nicht aufgeben, rang sich in heftigen inneren Kämpfen dazu durch, das mit Viola zu lassen. Kehrte zu Lara zurück, da war sie weg. Hatte sich ihrerseits mit einem anderen ein-gelassen, wollte von Achim nichts mehr wissen. Enthielt ihm die Kinder vor, es gab Kämpfe beim Jugendamt, einen schmutzigen Rosenkrieg, den er mit Pauken und Trompeten verlor. Am Ende hatte er nicht einmal mehr das Sorgerecht für die Kleinen, sah sie so gut wie gar nicht mehr.
Schon bis dahin hatte er gern mal ein Bier zu viel getrunken, aber nun wurde es heftig. Er begann mit harten Sachen, zunächst nur abends, dann auch im Büro. Wurde immer unzuverlässiger im Job. Erste Abmahnung, Personal-
gespräch, Gespräch mit dem Chef, zweite Abmahnung, dann war er seinen Job los. Flog aus der Wohnung, lebte ein paar Wochen auf Sofas von Freunden, ein paar Nächte auch auf der Parkbank. Erinnerte sich dann, wie ihn mal einer in der Kneipe angesprochen hatte.
„Ich weiß, wie das ist. Ich habe selber gesoffen, manchmal fünfzehn Bier am Tag, und dazu eine halbe Flasche Schnaps. Aber jetzt bin ich seit achtzehn Jahren trocken. Wenn du es auch versuchen willst, jeden Donnerstag um sechs ist unser Meeting.“
Natürlich war er der Einladung nicht gefolgt. Doch jetzt, halb tot auf der Parkbank, sagte er sich: Verlieren kannst du nichts mehr. Probier’s. Und ging zum Meeting der Anonymen Alkoholiker. Brauchte noch drei, vier Monate, dann ließ er den nächsten Schnaps stehen. Und lebte seither ohne Alkohol. Jeden Tag von neuem: Heute nicht. Und: Das nächste Glas lasse ich stehen.
Er hatte Glück, ein Studienfreund gab ihm eine Chance, einen Job als Controller, er fasste wieder Fuß. Gerade noch rechtzeitig. Ein paar Jahre mehr im Suff, und ich wäre weg vom Fenster gewesen. Seit fast zehn Jahren war er jetzt trocken. Feierte den Tag, an dem er zum ersten Mal nicht getrunken hatte, als seinen zweiten Geburtstag.
Aber auch wenn er nicht mehr trank, der Schmerz blieb. Der Verlust seiner Kinder tat einfach nur weh, auch noch nach Jahren. Er hatte gelernt, dass der Versuch, den Schmerz mit Alkohol zu betäuben, nicht half, ihn nur langsam umbrachte. Er ging jede Woche ins Meeting und begegnete dort immer wieder dem Ausdruck der Anonymen Alkoholiker: „Gott, wie wir ihn uns vorstellen“. Sagte sich immer wieder, dass er sich doch einmal etwas mehr mit Religion beschäftigen sollte, brachte dann aber doch das Interesse nicht auf. War es wirklich mangelndes Interesse? Oder, wovor hatte er Angst?
Das alles erzählte er Sharani an dem Abend beim Italiener. Sharani hielt es fast nicht aus, die Traurigkeit zu spüren, die ihn beim Erzählen immer noch packte. Sie musste sich ein paarmal rüde ermahnen, bei sich zu bleiben, sonst hätte sie sich über den Tisch geworfen und ihn in die Arme geschlossen. Aber dann spürte sie auch die Stärke, die er durch den Weg der Genesung von der Sucht, durch die regelmäßige Teilnahme am Meeting gewonnen hatte. Eine Stärke, die ihn die Trauer jetzt aushalten ließ. Er musste nicht mehr fliehen. Er konnte den Schmerz spüren, durchlässig sein, ohne sich mit dem Schmerz zu identifizieren. Und das ging bei ihm sogar ohne Meditationspraxis.
Beim Erzählen wirkte er reif und erwachsen und Sharani empfand eine tiefe Zuneigung zu ihm. Ja, er war ein erwachsener Mann, wie es wenige gab. Die meisten Männer waren doch nur kleine Jungs mit ihrem Spielzeug, ob es nun Fußball und Autos waren oder Aktien oder Vorstandsposten oder neuerdings Computer. Oder Frauen. Die meisten Männer flohen vor jedem tieferen Gefühl in irgendwelche hoch wichtigen Aktivitäten oder in irgendwelche Beziehungen, nur um den Schmerz nicht fühlen zu müssen oder das Glück. Das war ja das Perverse. Auch das Glück hielten sie nicht aus.
Achim dagegen war wirklich durch den Abgrund gegangen und das hatte ihn reifen lassen, Sharani spürte es deutlich. Er hatte es nicht mehr nötig, zu verdrängen, was das alltägliche Gleichgewicht stören konnte. Und gleichzeitig fand er immer wieder die Balance – genau deswegen, weil er die Gefühle wahrnehmen und zulassen konnte, ohne sich darin zu verlieren.
Und er konnte davon erzählen, ohne larmoyant zu wirken oder – umgekehrt – damit zu prahlen. An diesem Abend, und erst recht nach dem abschließenden nächtlichen Telefonat, beschloss Sharani, sich einzulassen. Koste es, was es wolle.
Und es kostete sie viel. Mehr als sie ahnen konnte.
***
Sharani packte den Stier bei den Hörnern. Für Samstagabend lud sie Achim zum Essen ein, zu sich nach Hause. Den ganzen Tag tigerte sie nervös durch die Wohnung wie eine Vierzehnjährige vor ihrem ersten Date. Sie brachte die ganze Wohnung auf Hochglanz, lüftete zwei Stunden alles durch und gab dann Rosenöl in die Duftlampen im Wohnzimmer und, ja, auch im Schlafzimmer. Ließ sie eine halbe Stunde ihr Aroma verströmen, löschte sie dann wieder. Nur ein Hauch davon sollte in den Räumen zu ahnen sein.
Sie bezog ihr Bett neu, auch eine zweite Decke, ein zweites Kissen. Stopfte beides in den Schrank, griffbereit. Stellte die hohe, schlanke Vase mit einer einzelnen Mohnblüte auf die Kommode, zwei Kerzen daneben. Wie zufällig.
Sie plante ein Essen, das sie weitgehend vorbereiten konnte – Salat mit Austernpilzen, danach eine Gemüselasagne mit Ricotta, die in im Backofen friedlich vor sich hin schmurgeln konnte, bis es Zeit war. Zu Schluss eine Crème brulée, die sie am Abend vorher schon gemacht und im Kühlschrank kalt gestellt hatte. Das war immer ein besonderer Effekt, wenn sie den Zucker am Tisch mit dem kleinen Flammenwerfer karamellisierte. Mit der Weinauswahl hatte sie keine Mühe. Achim trank sowieso keinen Alkohol und sie war glücklich mit ihrer Kanne Yogi-Tee.
Zwei Stunden brauchte sie, um ihre Garderobe auszuwählen. Ein Outfit nach dem anderen probierte und verwarf sie, schließlich entschied sie sich für einen knielangen, schwingend geschnittenen plissierten Rock aus grün-schwarz changierender Seide, ein schwarzes Top mit breitem, aber nicht zu tiefem Ausschnitt, und ein Bolerojäckchen aus dunkelgrünem Samt. Nur eine dünne Silberkette mit dem Om-Zeichen als Anhänger, nur einen Ring – Silber mit einem großen Amethyst. Dazu passende Ohrringe. Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel. So richtig zufrieden war sie nicht, aber etwas Besseres fiel ihr jetzt nicht mehr ein. Die Haare flocht sie zu einem lockeren Zopf. Dezentes, aber sorgfältig aufgetragenes Makeup. Noch einmal der Blick in den Spiegel. Okay, Achim würde nicht gleich schreiend davon laufen, wenn er sie so sah. Die letzte halbe Stunde vor dem vereinbarten Zeitpunkt saß sie auf dem Kissen und atmete die Aufregung weg. Nahm die Position des unbeteiligten Zeugen ein. Wie dankbar war sie für diese Möglichkeit.
Als Achim drei Minuten nach sieben klingelte, war sie vollkommen gelassen.
Er auch. Mit einem breiten Lächeln stand er in der Wohnungstür, einen ganzen Busch bunter Rosen in der Hand. Sharani nahm sie ihm ab.
„O, die sind ja wunderschön.“
Achim nickte. „Nicht halb so schön wie du.“
Nichts mehr war es mit der vollkommenen Gelassenheit. Sharani spürte, wie sie rot wurde, wie ein kleines Mädchen!
„Quatschkopf“, sagte sie. „Süßer Quatschkopf.“
Sie. Sharani, die bei den Männern immer coole. Auf einmal verlegen. Das gibt’s nicht.
Aber Achim benahm sich so selbstverständlich und normal, dass die Verlegenheit schnell wieder von ihr abfiel. Er aß wie ein Bär, während sie mit der Gabel hin und wieder eine Olive, ein Stückchen Zucchini vom Teller pickte.
Dann ließ er sich den Weg zur Toilette zeigen.
Sharani saß vor dem halb leer gegessenen Teller und schüttelte leicht den Kopf. Er ist doch nur ein Mann. Aber das stimmte eben nicht. Natürlich war er ein Mann. Ein attraktiver, bewusster, humorvoller Mann. Aber das war es nicht. Auf welcher Ebene, mit welchen Schwingungen er sie erreichte, konnte sie gar nicht sagen. Klar war nur: Er traf sie mitten ins Zentrum. Wie noch kein Mann vor ihm, abgesehen von Johnny. Aber Johnny lief sowieso außer Konkurrenz. Sie konnte es nicht genauer fassen, aber wozu auch! Er war jetzt hier und es würde kommen, was kam.
Achim kam zurück, setzte sich nicht mehr auf den Stuhl gegenüber, sondern auf den rechts von ihr. Seitlich, ihr zugewandt. Sharani erschrak ein bisschen. Es war klar gewesen, dass das nun dran war. Sie hatte es ja so gewollt. Aber so schnell…? Sie nahm den Ellbogen vom Tisch, drehte sich ihm zu. Ganz ernst sah er drein, als er die Hand ausstreckte, ihre Hand nahm. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Mit dem Daumen streichelte er ihren Handrücken, dann spürte sie seine andere Hand leicht auf ihrer Wange. Wie von selbst neigte sich ihr Oberkörper nach vorn, ihm entgegen. Und beugte sich er zu ihr und küsste sie. Mit leicht geöffneten Lippen, ein Hauch nur. In ihrer Nase, in ihrem limbischen System die Ahnung eines herben, holzigen Duftes. Sie öffnete ebenfalls die Lippen und erwiderte den Kuss. Spürte, wie ihr Atem sich mit dem seinen vermischte. Konnte einen tiefen Seufzer nicht zurückhalten.
Achims Gesicht immer noch ganz nah an ihrem. Immer noch war kein Wort gefallen. Aber wozu auch Worte?
Nun suchte sie seinen Mund. Hob ihre Hand zu seinem Nacken, zog ihn zu sich. Küsste ihn wieder. Offener. Tiefer.
Die andere Hand an seinem Hals, in seinem kurzen Haar. Seine Hände nun an ihrem Rücken, ihre Körper zwischen den Stühlen fast in der Schwebe, dem Absturz nahe. Atemlos sie beide.
Sharani wurde von einer Welle überrollt und davongetragen. Ja, es war jetzt, wie es war. Jetzt küsste er sie, und er küsste sie gut. Er roch gut, er schmeckte gut, er fühlte sich gut an, alles war gut.
Auf einmal fasste er sie unter Armen und Beinen und hob sie einfach hoch. Trug sie aus dem Wohnzimmer in den Gang, steuerte zielstrebig auf die Schlafzimmertür zu. Die einzige Tür, die geschlossen war. Drückte mit dem Ellbogen die Klinke, schob die Tür auf, sah sich kurz um. Ließ sie ganz sacht und vorsichtig aufs Bett gleiten. Sie lag auf dem Rücken, fühlte sich vollkommen wehrlos und ausgeliefert. Panik… Sie versuchte ruhig zu atmen. Spürte jetzt, wie er neben ihr saß. Durch die halb offene Tür fiel ein schwacher Lichtschein. Sharani schloss die Augen. Lass jetzt geschehen, was geschieht. Atmete tief und so ruhig sie konnte.
Achim war sehr behutsam. Sehr. Die Vorsicht, mit der er ihr die Kleider abstreifte, die Achtsamkeit, mit der er ihren Leib erforschte, mit Fingern, Lippen, Zunge, hatte fast etwas Ehrfürchtiges. Die Panik verflog, sie fühlte sich vollkommen sicher.
„Achim“, flüsterte sie.
„Ja?“
„Ich will, dass du dich auch ausziehst. Für mich.“