Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Übersetzung aus dem Französischen von Sophie Scherrer
ISBN 978-3-492-97960-3
Piper Verlag GmbH, München
© Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, München und Wien 2016
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München nach einem Entwurf von Christina Krutz
Umschlagabbildung: Rajkumar Singh/plainpicture (Frau); MarinaDa/Shutterstock.com (Paris Hintergrund); Smokedsalmon/Shutterstock.com (Wolkenhimmel); Ihnatovich Maryia/Shutterstock.com (Vögel)
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht
Ich glaube an Happy Ends.
Sie sind das Einzige, was sich für mich logisch anfühlt.«
»Sie stehen also auf Märchen?«
»Ich finde, wir alle brauchen ab und zu einen Funken Magie, oder nicht?«
AUS: PETER BOGDANOVICH, »SHE’S FUNNY THAT WAY«
Prolog
Nelly liebte die Langsamkeit. Sie schlenderte eher, als dass sie eilte, und sie überlegte erst sehr lange, bevor sie eine Entscheidung traf. Als sie an diesem klaren Herbsttag am Ufer der Seine entlangspazierte und die Blechkolonne, die sich am Quai entlangwälzte, hupend zum Erliegen kam, musste sie an Paul Virilio und seine Theorien zum rasenden Stillstand denken.
Ja, es war verhängnisvoll, dass der Mensch stets versuchte, sich selbst zu überholen, und die zunehmende Beschleunigung der Welt würde zu nichts Gutem führen. Ihre Bachelorarbeit über Virilio jedoch hatte Nelly zu Daniel Beauchamps geführt, und das war etwas sehr Gutes. Seit elf Monaten, drei Wochen und fünf Tagen arbeitete sie nun schon für den Philosophieprofessor und genauso lange war sie heimlich in ihn verliebt.
Nun ja, sehr heimlich. Manchmal redete Nelly sich ein, dass die Aussicht auf das ihnen bevorstehende Glück fast noch schöner war als dessen Erfüllung, die es natürlich irgendwann geben würde. Was war beglückender, als abends im Bett zu liegen, unter dem Nachthimmel der Möglichkeiten, und von Dingen zu träumen, die geschehen könnten?
Ein zaghaftes Lächeln huschte über Nellys Gesicht, während sie unwillkürlich den Riemen ihrer ledernen Umhängetasche fester fasste. An diesem Morgen hatte Daniel Beauchamps ihr eine Nachricht hinterlassen, weil er etwas mit ihr besprechen wollte! Bildete sie sich das nur ein, oder hatte der Professor anders als sonst geklungen?
Dieser große, fürsorgliche Mann, der sein rechtes Bein leicht nachzog (ein Radunfall in seiner Jugend, der nie ganz ausheilt war) und der sie mit seinen lebhaften wasserblauen Augen sofort in seinen Bann gezogen hatte. Sie würde ihm niemals vergessen, dass er an ihrem ersten Arbeitstag extra früher in die Universität gekommen war, um sie in Empfang zu nehmen. Überpünktlich war Nelly an diesem Tag vor nun fast einem Jahr die Treppen zum Seminar hochgeeilt, nur um zu ihrer Verwunderung festzustellen, dass die Büros der Philosophischen Fakultät noch nicht besetzt waren. Einzig das Sekretariat schien belebt eine einsame Tasse Café au lait stand dampfend auf dem Schreibtisch, an dem jedoch niemand saß. Und auch Madame Borel, bei der Nelly sich eigentlich hatte melden sollen, ließ auf sich warten. Unschlüssig war Nelly den Flur auf und ab gegangen und hatte schließlich an Beauchamps’ Tür geklopft. Gerade als sie die Klinke vorsichtig herunterdrücken wollte, kam der Professor mit seinem unverkennbaren leicht schlenkernden Gang vom Ende des Flurs auf sie zugeeilt.
»Das habe ich mir schon gedacht«, sagte er, und seine Augen flackerten freundlich über der großen Brille. »Meine neue Assistentin schon hier – und keiner da, der sie empfängt.« Lächelnd streckte er ihr die Hand entgegen, bevor er umständlich sein Büro aufschloss und sie hereinbat. »Bitte, kommen Sie, Mademoiselle Delacourt, kommen Sie! Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Meine Leute legen das ›cum tempore‹ manchmal verdammt großzügig aus.« Er rückte ihr einen Stuhl vor seinem übervollen Schreibtisch zurecht und ließ sich dann selbst in seinen Ledersessel fallen. »Na, jedenfalls: Herzlich willkommen in unserem schlampigen Haufen. Mit Ihnen kann es nur besser werden, das habe ich im Gefühl. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten, bevor Madame Borel sich hier blicken lässt? Was vermutlich noch eine Weile dauern wird.« Er zwinkerte ihr zu.
Das war der Moment, in dem Nelly ihr Herz verlor.
Nicht, dass es das erste Mal gewesen wäre, dass sie ihr Herz verlor. Während des Studiums hatte es durchaus den einen oder anderen Kommilitonen gegeben, der ihr gefiel – doch das hier war das richtige Leben. Sie hatte eine richtige Arbeit. Und Professor Beauchamps war ein richtiger Mann – kein verliebter Junge, der unbeholfen nach ihren Brüsten tastete oder nicht recht wusste, was man zu einer Frau sagte.
Als Tochter einer passionierten Buchhändlerin, die den Laufstall der kleinen Nelly kurzerhand vor die vollgestopften Regale ihrer Buchhandlung in Quimper schob und ihr friedliches Kind (das ein Buch nach dem anderen aus dem Regal zog und ganz versunken damit spielte) durchaus über der Lektüre eines spannenden Romans vergessen konnte, liebte Nelly Bücher über alles. Und als Tochter eines warmherzigen Bauingenieurs, der das kleine Mädchen abends auf seinen Knien reiten ließ und viel zu früh gestorben war – ein tragischer Unglücksfall, der beide Eltern in den Tod gerissen hatte und über den Nelly niemals sprach –, verliebte sie sich in diesen Mann, der älter, aber nicht alt, gebildet, aber nicht eingebildet war und offensichtlich ein Herz für Frauen hatte (was Nelly mit einem gewissen eifersüchtigen Unbehagen zur Kenntnis nahm).
Glücklicherweise war Professor Beauchamps kein schöner Mann. Nelly Delacourt hegte ein tiefes Misstrauen schönen Männern gegenüber. Schöne Männer waren in der Regel sehr von sich eingenommen und hatten nichts im Kopf, weil das Leben es ihnen zu einfach machte. Mit seinem linkischen Gang und der markanten Boxernase über den konzentriert zusammengezogenen schmalen Lippen hätte Beauchamps gewiss nie einen Schönheitspreis gewonnen, doch seine klugen Augen und sein liebenswertes Lächeln machten diesen Mann, der in seinen Vorlesungen so interessant und unterhaltsam über Paul Virilio und Jean Baudrillard sprach, für Nelly äußerst begehrenswert.
In den folgenden Wochen zog sie unauffällig Erkundigungen über ihren neuen Mentor ein, der – einmal verheiratet und einmal geschieden – offenbar ohne feste Freundin in der Nähe des Parc des Buttes Chaumont lebte und, wie sich herausstellte, ein großer Fan von Frank Sinatra war. Das war immerhin ein Anfang.
Nelly kannte nämlich alle Songs von Sinatra. Das kam daher, dass sie als Kind die alten Schallplatten aus der Sammlung ihres Vaters auflegen durfte, was eine besondere Auszeichnung war. Behutsam und hoch konzentriert setzte sie die empfindliche Saphirnadel auf die schwarze Vinylscheibe auf, wie Papa es ihr gezeigt hatte, und lauschte dem leisen Knistern, dem die samtige Stimme Frank Sinatras folgte. Es war wie ein kleiner Zauber, der den ganzen Raum erfasste, und das kleine Mädchen mit den braunen Locken hockte mit angezogenen Beinen in dem großen Ohrensessel und sah zu, wie die Eltern zu Somethin’ stupid oder Strangers in the Night durch das Wohnzimmer glitten. Da war die Welt noch in Ordnung gewesen, und Nelly erinnerte sich heute noch an die Geborgenheit jener Nachmittage, als die Musik und das Halbdunkel sie einhüllten wie ein Seidenkokon und sie sich so sicher fühlte wie nie mehr später in ihrem Leben. Geblieben waren die Songs von Sinatra und eine unbestimmte Sehnsucht, die sie ergriff, wenn sie sie hörte.
Und nun war sie auf jemanden gestoßen, der den alten Frank Sinatra ebenso liebte wie sie! Manchmal malte Nelly sich aus, wie sie mit dem Professor zu Somethin’ stupid tanzen würde – ihrem Lieblingssong. Und das war ja nur eine Sache, die sie mit Daniel Beauchamps teilte. Frank Sinatra, die alten Filme mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall, seine Vorliebe für Soupe de Poisson mit Rouille (das war ja nun wirklich etwas durch und durch Bretonisches!) und Birnentarte. Dass er wie sie das Meer den Bergen vorzog, dass er den spanischen Maler Sorolla schätzte (wo doch alle Welt nur von den französischen Impressionisten sprach) und zu einer Zeit, als sie sich noch gar nicht kannten, in der Galerie 21 an der Place des Vosges ein Bild von Laurence Bost gekauft hatte (Nelly besaß von der Künstlerin zwar nur den Katalog, dennoch, welch unerhörter Zufall!). Dass er seinen Café crème mit genau einem Löffel Zucker nahm war eine weitere Gemeinsamkeit. Und dann natürlich Paul Virilio! Zwar hatte Nelly von diesem Denker, dessen kritischen Blick auf die postmoderne Welt sie aus persönlichen Gründen überaus schätzte, genau genommen erst in einer Vorlesung von Beauchamps gehört, aber auch dies schien ihr ein Wink des Schicksals zu sein.
Mit großer Akribie hatte Nelly über die letzten Monate eine »Liste der Übereinstimmungen« angefertigt, und wenn man diese Liste anschaute, konnte es keinen Zweifel geben, dass der Professor und sie füreinander bestimmt waren. Die Grundlage jeder guten Beziehung waren ähnliche Vorlieben und Interessen – das hatte schon ihre bretonische Großmutter gesagt, und Claire Delacourt war eine lebenserfahrene tüchtige Frau, auf die Nelly immer große Stücke gehalten hatte.
Nelly schob den Riemen ihrer schweren Tasche, der stets herunterzugleiten drohte, wieder über die Schulter ihres Trenchcoats, und ihre Mundwinkel zuckten belustigt. Professor Beauchamps wäre sicher ziemlich erstaunt gewesen, wenn seine zurückhaltende Assistentin ihm ihre »Liste der Übereinstimmungen« unter die Nase gehalten hätte. Eigentlich war die Sache zwischen ihnen so sonnenklar wie dieser strahlende Pariser Herbsttag, doch wann würde der Professor ihr endlich seine Liebe gestehen? Dieser tapsige, große Mann, der auf eine Art herzlich zu ihr war, die Nelly stets neuen Nährboden für romantische Szenerien bot (welche sich bedauerlicherweise nur in ihrer Phantasie abspielten), und der doch nie (nicht ein einziges Mal!) die Grenzen der Schicklichkeit übertreten hatte – sah man von dem einen Mal ab, als er nach dem Sommerfest ihre Hand ein wenig länger in seiner gehalten hatte als vielleicht üblich.
»Ein hübsches Kleid haben Sie da an, Mademoiselle Delacourt, ganz bezaubernd. Es steht Ihnen gut, wenn Sie mal nicht so heftig arbeiten«, hatte er gesagt, als sie sich vor dem Rosa Bonheur verabschiedeten, einem entzückenden kleinen Restaurant, das inmitten des Parc des Buttes Chaumont lag und in das Beauchamps die Leute aus seinem Seminar zum Semesterende eingeladen hatte. »Glauben Sie mir – kein Buch auf der Welt ist es wert, dass man seinetwegen das Leben verpasst. Gehen Sie öfter mal aus, amüsieren Sie sich!«
Nelly hatte erfreut gelächelt und verlegen auf die hübschen bunten Lampions geschaut, die draußen zwischen den Bäumen gespannt waren und die perfekte Kulisse für einen romantischen Abendspaziergang geboten hätten. Aber sie war nicht schlagfertig genug gewesen, um etwas Cooles zu antworten. Etwas wie: »Soll das etwa ein Angebot sein, Monsieur Beauchamps?«
So hätte es Lauren Bacall gemacht und sich mit einer aufreizenden Geste Feuer für ihre Zigarette geben lassen. Sie hingegen hatte zigarettenlos dagestanden, geschwiegen wie ein Schaf und gebetet, dass ihr nicht die Röte ins Gesicht schoss. Und dann hatte sie doch tatsächlich gesagt: »Aber die Arbeit macht mir großen Spaß, wissen Sie …«
Aber die Arbeit macht mir großen Spaß! Das machte jeden Zauber zunichte. Das war nun wirklich mehr als langweilig. Fehlte nur noch die große schwarze Nerd-Brille! Wütend über sich selbst sah Nelly sich im Geiste wie das Rumpelstilzchen durch den nächtlichen Park springen.
Beauchamps hatte sie einen Moment nachdenklich angeschaut.
»Manchmal möchte ich wirklich wissen, was hinter der Netzhaut dieser schönen Augen vor sich geht«, hatte er schmunzelnd erklärt.
»Mein Geheimnis«, hatte Nelly verlegen geantwortet, und sicherlich ist es nicht nötig zu erwähnen, dass sie diesen gar nicht langweiligen Satz des Professors mit nach Hause getragen hatte wie einen kostbaren Schatz und noch lange daran herumdeutete.
Und dann hatte sie weiterhin das getan, worin sie wirklich gut war: Sie arbeitete mehr als alle anderen, sie arbeitete länger als alle anderen – kaum, dass sie dazu zu bewegen war, ihren Urlaub zu nehmen – und wartete auf ein Zeichen, auf diesen einen, alles entscheidenden Moment. In der Hoffnung, sich unentbehrlich zu machen und diesem Moment den Raum zu geben, den er benötigte, war sie immer zur Stelle, und selten war sie glücklicher als am Ende eines langen Tages, wenn sie, nachdem alle anderen gegangen waren, ein paar private Worte mit Daniel Beauchamps wechseln konnte, der sich allmählich etwas beunruhigt fragte, ob diese hübsche und beängstigend gewissenhafte junge Frau überhaupt ein Privatleben hatte.
Anders als viele Menschen heutzutage, denen es nicht schnell genug gehen kann, verstand Nelly Delacourt sich auf die Kunst dessen, was sie als »angemessenes Warten« bezeichnete. Doch elf Monate, drei Wochen und fünf Tage des süßen Wartens schienen selbst ihr angemessen genug, und als sie jetzt weiter am Ufer der Seine entlangging, hatte sie mit einem Mal das Gefühl, dass der heutige Tag eine fulminante Wende bringen würde. Professor Beauchamps wollte etwas mit ihr besprechen – Nelly spürte, wie ihr Herz einen freudigen Hüpfer machte.
Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie die Menschentraube am Pont Neuf erst im letzten Moment bemerkte. Staunende Rufe wurden laut, die Passanten legten verzückt die Köpfe in den Nacken, für einen Augenblick verweilten alle wie in einer Luftblase, als ob sich da oben ein beglückendes Wunder ereignete.
Nelly beschattete ihre Augen, blinzelte gegen das Licht, und dann sah sie es auch: Eine prächtige Montgolfiere schwebte über dem Fluss, sie schimmern rosafarben und golden in der Nachmittagssonne und zog langsam und still ihre Bahn über Paris.
Wie wunderbar musste es sein, einfach so am blauen Himmel entlangzusegeln, in luftigen Höhen, so leicht und schwerelos und losgelöst von allem, und man bräuchte nur die Finger ausstrecken und könnte die Wolken streifen wie ein liebendes Herz auf seiner zärtlichen Reise! Für den Bruchteil einer Sekunde sah Nelly sich selbst dort oben fliegen. Dann schüttelte sie mit einem kleinen Schauder den Kopf.
»Das könnte ich nie«, murmelte sie und sah dem Heißluftballon nach, bis er am Horizont verschwand.
1
Das Gute, wenn man an Zeichen glaubte, war, dass sie einem auf der verwirrenden Landkarte des Lebens eine Orientierung geben konnten. Das Schlechte an Zeichen war, dass sie einen auf die eigenen Unzulänglichkeiten zurückwarfen, und zwar immer dann, wenn man nicht in der Lage war, ihre richtungsweisende Botschaft aufzugreifen.
Sie hatte es vermasselt. Es war die große Chance gewesen, und sie hatte es vermasselt. Fünf ganze Tage zusammen mit Professor Beauchamps, sie beide, auf der anderen Seite des Atlantiks … Ein verzweifeltes Stöhnen entrang sich Nelly, als sie wie betäubt durch die lebhaften Straßen des Quartier Latin taumelte. Liebespaare, überall nur Liebespaare, die Händchen haltend an den Cafés und Restaurants vorbeischlenderten oder sich über einem Glas Rotwein tiefe Blicke zuwarfen! Es war entsetzlich! Nicht auszuhalten! Und weil das alles noch nicht genug war, stand am Ende der Rue Julien le Pauvre, unweit der Buchhandlung Shakespeare and Company, ein amerikanischer Student, der auf seiner Gitarre spielte und mit Inbrunst Sinatras Come fly with me sang.
Let’s fly, let’s fly away … Der junge Mann mit den blonden Locken wippte gut gelaunt mit dem Oberkörper und lächelte Nelly schon von weitem entgegen. Als sie näher kam, legte er seinen ganzen Schmelz in die nächsten Worte. Once I get you up there … I’ll be holding you so near … Jetzt zwinkerte dieser Blondschopf ihr doch tatsächlich verschwörerisch zu und begleitete das »up there« mit einem Kreisen seiner Hüften. Nelly warf ihm einen bitterbösen Blick zu und überlegte einen Augenblick, gegen den Gitarrenkoffer zu treten, in dem bereits einige Münzen und Scheine lagen.
It’s such a lovely day … sang der Straßenmusikant lauthals hinter ihr her und verdrehte sich den Hals nach dieser hübschen jungen Frau im Trenchcoat, die mit durchgedrücktem Oberkörper und wehendem Haar in dem kleinen Park in der Nähe der Buchhandlung verschwand und sich auf eine Bank setzte.
Eine Weile starrte Nelly stumm auf ihre dunkelblauen Spangenschuhe. Dann murmelte sie: »Das gibt’s doch nicht!«
Vor einer Stunde hatte Professor Beauchamps mit ihr in seinem Büro gesessen und lächelnd verkündet, er habe einen kleinen Anschlag auf sie vor. »Ich weiß, es kommt etwas überraschend, aber …«
»Ja?« Nellys Mund war plötzlich staubtrocken.
»Ich habe mich gefragt, ob Sie nicht vielleicht Lust hätten, mit mir auf diesen Philosophie-Kongress in New York zu fahren? Sabine Marceau, die eigentlich mitkommen sollte, ist dummerweise verhindert. Es geht unter anderem um Virilio und die neuen Techniken der augenblicklichen Interaktivität, und ich halte dort meinen Vortrag ›Wo bin ich, wenn ich überall bin‹. Wär vielleicht nicht ganz uninteressant für Ihre Masterarbeit …«
Wie schade für Sabine Marceau, wie schön für sie! Nelly hatte sich beherrschen müssen, um nicht in lautes Jubeln auszubrechen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Da war er, der Moment, die Gelegenheit, auf die sie die ganze Zeit gewartet hatte. »Aber das ist ja … das ist ja …« Sie wurde rot vor Freude und wollte gerade begeistert zusagen, als ihr etwas einfiel, das ihr Glück wie eine Seifenblase zerplatzen ließ.
Nach New York fahren, hieß nach New York fliegen. Sicherlich hatte Professor Beauchamps nicht an eine Schiffspassage auf der Queen Mary gedacht. Und Fliegen war das Einzige, was Nelly niemals, nie und unter keinen Umständen tun würde. Nicht einmal für Daniel Beauchamps wäre sie in der Lage gewesen, ihren Fuß in ein Flugzeug zu setzen. Seit sie denken konnte, litt Nelly unter fürchterlicher Flugangst – und das hatte seinen Grund (auch wenn dieser Grund zugegebenermaßen ein bisschen verquer war). Die Angst vorm Fliegen war ein wohl gehütetes Geheimnis, das in ihrer Kindheit wurzelte. Es war gleichwohl eine Angst, die Nelly ungeheuer peinlich war. Etwas, das sie niemals zugegeben hätte – schon gar nicht vor diesem wunderbaren Mann, den sie stets beeindrucken wollte. Flugangst war lächerlich. Sie war lächerlich. Heutzutage flog man eben. Selbst Paul Virilio, der einmal gesagt hatte, dass die Erfindung des Flugzeugs gleichbedeutend sei mit der Erfindung des Absturzes (was ihr sehr gefallen hatte!), jettete sicher unbekümmert um die halbe Welt, um seine Vorträge über die Theorie der Geschwindigkeit und des Unfalls zu halten. Ja, selbst ihre Großmutter Claire, die nach dem Tod ihres Mannes mit siebenundfünfzig Jahren zum ersten Mal geflogen war, fand diese Art zu reisen ganz wunderbar. »Du hustest einmal – und schon bist du in Italien. Ach, Italien! Wenn ich bedenke, wie lange dein Großvater und ich früher mit dem Auto gefahren sind, um nach Rom zu kommen …«
Obwohl sie aus dem bretonischen Finistère stammte, war der Süden ganz offenkundig Claires große Liebe gewesen. Wie ihre Augen glänzten, wenn sie von Ischia, der Amalfiküste, Neapel oder Venedig sprach. In diesen Augenblicken sah Nelly plötzlich die junge blonde Frau in ihrem gepunkteten Rock und den spitzen Schuhen mit den Pfennigabsätzen vor sich, die sie nur von alten Photographien kannte.
Nelly rutschte unbehaglich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch des Professors herum und drehte an ihrem alten Granatring, der ihr wie eine Brombeere am Mittelfinger hing und den sie zu ihrem zwanzigsten Geburtstag von ihrer Großmutter bekommen hatte. Claire, die eine von den wenigen Personen war, die um die Flugangst ihrer Enkeltochter wusste, hatte ihn ihr mit den Worten gegeben: »Ich wünsche dir wirklich, dass du eines Tages einen Menschen findest, mit dem du fliegen kannst, mein Kind.«
Erst viel später hatte Nelly die verblassten Worte entdeckt, die in den Ring eingraviert waren: AMOR VINCIT OMNIA.
Die Liebe besiegt alles.
Mag sein, dass die Liebe alles besiegt und einen sogar fliegen lässt, aber alles, was fliegt, kann auch abstürzen, hatte Nelly damals gedacht. Da kannte sie die Theorien von Paul Virilio noch gar nicht. Doch der alte Granatring aus der Schatulle der Großmutter war ihr Glücksbringer geworden, und sie legte ihn so gut wie nie ab.
Und nun saß sie also vor ihrem Professor, dessen freundliche Worte sie bereits nur noch wie durch Watte hörte, und spürte, wie ihr allein bei der Vorstellung, von Paris nach New York zu fliegen und mehrere Stunden ohne festen Boden unter den Füßen zu sein, ganz schwindelig wurde.
»Ich denke, man kann den Flug noch umbuchen«, erklärte Beauchamps gerade. »Na, was sagen Sie, Mademoiselle Delacourt? Sind Sie mit von der Partie? Ich würde mich freuen.«
»Äh … ja«, antwortete Nelly und blätterte unglücklich in ihrem Terminkalender. »Wann genau wäre denn das?«, fragte sie dann.
»Mittwoch in zwei Wochen.«
»Oh … tja also …«, Nelly senkte den Kopf und blätterte weiter. »Ich fürchte … also, ich fürchte, das wird leider nicht möglich sein, weil … da … geht es leider nicht.«
Und dann tischte sie dem Professor eine ziemlich verworrene Geschichte auf, in der es um ihre Cousine Jeanne ging, deren kleinen Hund sie bedauerlicherweise gerade in der Kongresswoche zu betreuen versprochen habe, weil besagte Cousine am Knie operiert werden müsse (»Der Meniskus, eine unangenehme Sache!«) und es sehr, sehr wichtig war, dass sie ihren kleinen kläffenden Liebling Loula in guten Händen wusste.
»Ich kann das jetzt nicht so kurzfristig absagen, verstehen Sie?« Nelly hörte selbst, wie ihre Stimme auf dem besten Weg war, ins Hysterische umzuschlagen. Sie räusperte sich und versuchte wieder zu einer normalen Tonlage zu finden. »Tja! Loula ist leider sehr eigen. Ein Chihuahua – kennen Sie diese Rasse? Na, jedenfalls, wenn Loula jemanden nicht mag, kann sie ein richtiges kleines Biest sein. Glücklicherweise mag sie mich. Und deswegen … nein, tut mir wirklich leid.« Nelly seufzte, klappte ihren Terminkalender entschlossen zu und starrte den Professor an.
Nicht alles an ihrer hastig vorgetragenen Geschichte war erfunden: Jeanne Delacourt, Nellys sechs Jahre ältere Cousine, war vor Jahren schon nach Paris gezogen und führte bei bester Gesundheit und ohne jegliche Knieprobleme in St. Germain ein kleines Café namens Les amis de Jeanne, in das Nelly den Professor liebend gern einmal mitgenommen hätte. Die Spezialität des Hauses war nämlich eine überaus köstliche Birnentarte mit Lavendel. (»Die Birne wird unterschätzt«, pflegte Jeanne zu sagen, wann immer sie einen der duftenden Birnenkuchen aus dem Ofen zog.) Und was Loula anging – sie war eine friedliche kleine Hundedame, die mühelos in jede Handtasche passte.
»Hmmm«, machte Beauchamps, und sein Blick ruhte einen Moment ratlos auf seiner Assistentin, die mit hochrotem Kopf vor ihm saß und sichtlich aufgeregt war. Dann meinte er beschwichtigend: »Es war ja auch nur so eine Idee, Mademoiselle Delacourt. Wenn es bei Ihnen nicht passt, ist das doch überhaupt kein Problem. Es wird sich schon jemand finden, der Zeit hat.« Der Professor lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück, legte die Fingerspitzen gegeneinander und grinste. »Das kleine Biest Loula hat jedenfalls Glück mit so einer netten Hundesitterin. Trotzdem ist es natürlich schade.«
»Ja, sehr schade«, erwiderte Nelly kläglich.
Die Glocken von Notre-Dame läuteten herüber, und Nelly, die noch immer auf der Bank saß und auf ihre Schuhe starrte, fragte sich einmal mehr, wie es sein konnte, dass man einen so großen Namen trug und doch so ein Versager war. Denn Nelly, die eigentlich Eleonore hieß, war leider nicht so stark und unerschrocken wie die berühmte Eleonore von Aquitanien, nach der ihre Mutter (die in der Zeit der Schwangerschaft eine Biographie über diese beeindruckende Königin las), sie benannt hatte. Wie sich allzu bald und zum großen Kummer der Mutter herausstellte, war die kleine Eleonore eher ängstlich als mutig und eher zart als stark geraten und schien nicht so recht in die Reihe der beherzten bretonischen Frauen der Familie Delacourt passen zu wollen. Eleonore! Wie konnte ihre Mutter ihr so etwas antun! Nelly stieß wütend ein Steinchen zur Seite. Sie hatte diesen Namen immer gehasst, von dem sie ahnte, dass sie ihn niemals würde ausfüllen können. Während ihre stämmigen Cousinen sich vor Vergnügen kreischend in die Brandung des bretonischen Meeres warfen, flüchtete die kleine Eleonore vor den anrollenden Wellen und versteckte sich in den Dünen. Wenn bei Tisch jemand ein falsches Wort sagte, sprang sie auf und riegelte sich in ihrem Zimmer ein. Als junges Mädchen war sie wegen jeder Kleinigkeit beleidigt. Und mit dreizehn hatte sie das mütterliche Vermächtnis abgelegt und sich einfach nur noch Nelly genannt – eine Kurzform von Eleonore.
Nelly erinnerte sich noch gut an all die Nachmittage, als sie auf dem abgewetzten blauen Samtsofa in der Küche des alten Bruchsteinhauses mit den taubenblauen Schlagläden saß und ihrer Großmutter von den großen und kleinen Kümmernissen erzählte, die ihr das Herz schwer machten. Claire Delacourt hörte geduldig zu, während sie an dem riesigen Herd stand, der noch mit Kohle befeuert wurde, und süße Crêpes mit Mandeln und Schokoladensauce zubereitete, deren wunderbar tröstlicher Duft bald schon die Küche erfüllte. Und stets hatte Claire einen Rat für ihre Enkeltochter, die ihr von allen Enkelkindern das liebste war. »Kind«, hatte sie dann gesagt (sie nannte Nelly noch ›Kind‹, als diese schon Anfang zwanzig und lange kein Kind mehr war). »Kind, du darfst dir nicht immer alles so zu Herzen nehmen. Sonst wirst du es einmal schwer haben im Leben.« Sie hatte ihrer Enkeltochter aufmunternd übers Haar gestrichen. »Sei nicht so eine Mimose, Nelly. Sei lieber eine Rose!«
Nelly saß auf der Bank, drehte den alten Granatring hin und her und merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Wie gern wäre sie eine Rose gewesen. Aber sie war nun mal keine Scarlett O’Hara. Sie war nur Nelly, die sich nicht traute und Angst vorm Fliegen hatte. Eine Träne rollte ihr über die Wange, als sie bemerkte, dass sich etwas Weißes in ihr Gesichtsfeld schob. Es war ein Taschentuch.
Überrascht blickte sie auf. Der blonde Straßenmusiker stand vor ihr, hatte den Kopf schiefgelegt und sah sie auf seinen Gitarrenkoffer gestützt voller Mitgefühl an.
»Why are you so blue, Mademoiselle? Eine schöne Mädchen wie Ihnen, sollte nikt sou traurig sein.« Er wies auf die Bank. »Darf ich?«
Nelly griff nach dem Taschentuch und nickte. Es gibt Situationen im Leben, da ist es nur logisch, sich von einem freundlichen Straßenmusiker trösten zu lassen.
»Well … what happened? Was ist passiert? Sie haben mir eben schon so bittersauer ausgestarrt, als Sie vorbeigestormt sind.«
Gegen ihren Willen musste Nelly lächeln. »Vorbeigestürmt«, korrigierte sie.
»Yeah … vorbeige…stürmt«. Er lachte. »Meine Gute, für eine Moment ich hatte echt Ongst, Sie wollten meine Gitarrenkasten eintreten.« Er verzog das Gesicht zu einer komischen Grimasse, und seine Augen funkelten amüsiert.
»So schlekt hab ich aber nikt gesungen, dass Sie daruber weinen mussen, oder was?«
Nelly wischte sich energisch über die Augen und schüttelte den Kopf.
»Well, ich bin jedenfalls glucklich, dass ich nikt schuld bin an Ihre Kummer, Mademoiselle.«
Es wäre der richtige Moment gewesen, um aufzustehen und sich in Würde zu verabschieden. Aber Nelly blieb sitzen.
»Fliegen Sie?«, fragte sie unvermittelt, während sie weiter auf ihre Schuhe starrte.
»Sie meinen … mit … äh«, er fuhr sich mit der Hand durch die halblangen Haare, »mit der Fliegzeug? Sure … ich bin nikt durch den Atlantik geschwommen, oder was?« Er grinste.
Nelly nickte ein paar Mal und wandte sich dann zu ihm um.
»Wissen Sie eigentlich, wie gefährlich das ist?« Sie senkte die Stimme und sah ihn aus großen Augen bedeutungsvoll an. »Die Erfindung des Flugzeugs ist die Erfindung des Absturzes.«
»Oh!« Er zuckte unbeeindruckt die Schultern. »Das ganze Leben ist eine gefährliche Sake. No risk, no fun!«
»Ich fliege nicht, wissen Sie? Das würde ich nie tun! Um nichts in der Welt!«
Er sah sie aufmerksam an. »Und das … macht Sie jetzt unglucklich, oder was?«, fragte er und zog die Augenbrauen hoch.
Irgendjemand musste ihm erzählt haben, dass es von Vorteil war, an jeden französischen Satz ein »oder was?« anzuhängen, dachte Nelly, dann ließ sie sich gegen die Rücklehne der Bank sinken und seufzte tief.
»Ich hätte nach New York fliegen können … aber ich musste es ausschlagen, verstehen Sie … weil ich eben in kein Flugzeug steige … und jetzt ärgere ich mich über mich selbst.« Wieder stieß sie einen kleinen Stein mit der Schuhspitze weg.
»Hey, Sie mussen sich nikt ärgern, Mademoiselle. No worries! Und uberhaupt – was wollen Sie in New York, ik bin doch hier«, scherzte er.
Nelly ging auf seinen Flirtversuch nicht ein. »Es wäre aber mit jemandem gewesen, den ich sehr, sehr mag, verstehen Sie?«
»Und weiß dieser … jemand … dass Sie Angst vor der Fliegen haben?«
»Nein!« Nelly sah ihn entsetzt an. »Das darf er nie erfahren.«
»Oh … well.« Der Straßenmusiker überlegte einen Moment. »Flügsimulator?«, meinte er dann.
»Zu spät«, erwiderte Nelly. »Der Flug ist ja schon in zwei Wochen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Und jetzt nimmt Professor Beauchamps sicher eine andere Kollegin zu dem Kongress mit«, erklärte sie düster. »Dabei hätte ich ihn so gern begleitet.«
»Das ist bitterlich«, meinte der Straßenmusiker und drückte anteilnehmend ihren Arm.
»Das ist Ironie des Schicksals«, sagte Nelly. »Immerhin war es doch Virilio selbst, der gesagt hat, dass Flugzeuge ›Unorte‹ sind und dass diese ganze vehikulare und extra-vehikulare Beschleunigung, welcher der Mensch permanent ausgesetzt ist, zu seiner Entwirklichung führt.«
»Okaaay …« Der Straßenmusiker verstand kein Wort. »Und dieser Virilio – sind Sie an dem auch interessiert, oder was?«
»Nein.« Nelly überlegte. »Ich meine … jedenfalls nicht als Mann.«
»Sondern als Freund?«, versuchte es der Straßenmusiker erneut. »So wie in Harry und Sally?«
Nelly seufzte. »Hören Sie, ich kenne diesen Mann gar nicht persönlich. Würde ich ihn persönlich kennen, wäre ich möglicherweise mit ihm befreundet. Aber sicher nicht wie in Harry und Sally. Virilio ist einfach jemand, dessen Theorien ich sehr bewundere, verstehen Sie? Er ist Dromologe.«
»Dromo… was?«
Nelly lehnte sich auf der Bank zurück und ließ den Blick träumerisch über die Türme von Notre-Dame schweifen, die so unerschütterlich wie eine Festung in den wolkenlosen Himmel ragten.
»Dromologe«, wiederholte sie.
»Oh, wow! Das klingt wirklich super. Und was makt so ein Dromologe?«
»Er beschäftigt sich mit der Geschwindigkeit und deren Auswirkungen auf die menschliche Spezies.«
»Cool«, sagte der Straßenmusiker. Er strich sich über seinen blonden Dreitagebart und schien angestrengt nachzudenken. »Also … von Dromologen habe ik noch nie was gehort. Gibt es viele davon in Frankreich?« Er sagte es so, als ob es sich um eine gefährdete Saurierart auf der roten Liste handelte, und Nelly musste lachen.
»Nein, höchstwahrscheinlich nicht. Es ist auch kein Beruf, sondern mehr eine Form, das Leben zu sehen. Paul Virilio ist ein bedeutender französischer Philosoph und Medienkritiker, und er hat die Lehre von der Dromologie quasi erfunden. Deswegen bezeichnet er sich selbst als Dromologen.«
»Ik verstehe«, sagte der Amerikaner, und das war glatt gelogen. Er spitzte die Lippen und nickte ein paar Mal, bevor er beschloss, den Faden wieder aufzunehmen. »Aber was hat das alles jetzt mit diese Professor zu tun, der mit Sie nach New York fliegen will?«, meinte er. »Und vor allem – kommt der Dromologe auch mit, oder was?«
Nelly stöhnte innerlich auf. Es war ein Fehler gewesen, sich auf eine Unterhaltung mit diesem unbedarften amerikanischen Barden einzulassen, der von philosophischen Denkansätzen so viel Ahnung hatte wie sie von der Steuerung eines Flugzeugs. Ein Moment der Schwäche. Sich mit Fremden einzulassen, war noch nie eine gute Idee gewesen.
Sie setzte sich auf und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, vergessen Sie’s einfach! Zu kompliziert. Ich will Sie nicht länger langweilen und sollte jetzt besser gehen.« Sie stand auf und zog ihren Trenchcoat glatt.
»Nein, sollten Sie nicht!« Auch er war eilig aufgestanden und versperrte ihr mit seinen zwei Metern den Blick auf Notre-Dame. »Ich finde, jetzt wird es gerade spannend, oder was?! Bitte, erzählen Sie mir mehr von das alles.«
»Ich kenne Sie doch gar nicht.«
»Ich bin Sean.« Er schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln. »Und ich liebe komplizierte Geschichten. Wissen Sie, was man bei uns in Maine sagt?«
Nelly schüttelte den Kopf. »Nein, was sagt man in Maine?«
»So lange du lebst, ist nikts einfach. Life is trouble. Only death is not, you know.« Sean schulterte seinen Gitarrenkasten und hielt ihr seine kräftige Hand hin. »Kommen Sie, wir gehen jetzt etwas drinken.« Er grinste, als er ihr Zögern bemerkte. »Na, kommen Sie schon! In Maine wir sagen auch, dass man eine ungluckliche Frau nie darf allein lassen, bis sie wieder gelacht hat.«
Nelly biss sich auf die Lippen. »Sehr witzig! Ich wette, das haben Sie sich gerade ausgedacht.«
2
Eine Viertelstunde später saßen sie im Les amis de Jeanne. Ohne lange zu überlegen, hatte Nelly ihren neuen Bekannten durch das Gewirr der quirligen kleinen Straßen des Quartier Latin geführt, bis sie zu dem Café ihrer Cousine kamen, das in einer Seitenstraße der Rue de Buci lag und nicht viel größer als ein Wohnzimmer war. Jeanne stand hinter dem dunklen, glänzenden Holztresen und staunte nicht schlecht, als ihre kleine Cousine in Begleitung eines Zwei-Meter-Manns hereinkam und sich an einem Tischchen in der hintersten Ecke niederließ.
»Mon Dieu! Wo hast denn den Kerl aufgegabelt?«, zischte sie Nelly zu, als Sean sich in der Vitrine die Kuchen und kleinen Speisen anschaute. »Der sieht ja zur Abwechslung mal richtig passabel aus.«
»Nun ja, er hat eher mich aufgegabelt«, entgegnete Nelly spitz und warf einen nervösen Blick in Richtung Vitrine. »Und bitte schrei nicht so, Jeanne.«
Jeanne stellte unbeeindruckt zwei große Tassen Café crème auf dem runden Tischchen ab. »Na, hör mal, ich hab doch geflüstert.«
»Du kannst gar nicht flüstern.«
»Oh vielen Dank, Mademoiselle Etepetete!« Jeanne grinste und steckte eine Strähne ihres dicken blonden Haars in den locker geschlungenen Knoten zurück, den sie mit einem einfachen Gummiband zusammenhielt.
Anders als Nelly hatte die großgewachsene Jeanne kein Problem mit gutaussehenden Männern. Niemals wäre es ihr in den Sinn gekommen, einen Mann auszusortieren, nur weil er gut aussah. Ganz im Gegenteil. Ein Mann fing bei ihr überhaupt erst ab einem Meter achtzig an. »Ich bin groß, meine Liebe, da macht es keinen Sinn, mich mit Zwergen abzugeben, die überlasse ich Schneewittchen. Und was soll das überhaupt heißen, er sieht zu gut aus. Quatsch keine Opern, Nelly. Es gibt kein zu gut, so wenig, wie es ein zu reich oder ein zu gesund oder ein zu köstlich gibt.«
Jeannes Kriterien waren also ziemlich klar umrissen. Bei jeder Party steuerte sie mit ihrem vollen Champagnerglas zielstrebig auf den bestaussehenden Mann im Raum zu und hatte jede Menge Spaß. Die Meinung ihrer jüngeren Cousine zu diesem Thema fand sie mehr als sonderbar. »Du steckst voller Vorurteile, Süße, weißt du das eigentlich?«, sagte sie, wann immer die Rede auf Männer kam – was von Jeannes Seite oft und von Nellys Seite aus weniger oft passierte. »Warum willst du unbedingt einen hässlichen Glatzkopf, wenn du einen Adonis haben kannst?«
»Ich hatte noch niemals einen hässlichen Glatzkopf«, entgegnete Nelly dann pikiert. »Aber warum willst du einen Dummkopf, wenn du einen klugen Mann haben kannst? Du hast doch wohl nicht Angst vor intelligenten Männern?«
»Pah! Das eine schließt das andere doch nicht aus.« Jeanne vertraute offensichtlich auf die Intelligenz aller Männer, auch jener, die strahlende Augen, eine gerade Nase, ein markantes Kinn, volles Haar und einen athletischen Körperbau hatten. »Weißt du, Nelly, ich hab da eine ganz andere Theorie.« Ihre grünen Katzenaugen funkelten.
»Ach ja?«
»Du traust dich nicht an gutaussehende Männer ran, weil du dir selbst nichts zutraust, c’est tout!«
»Oh, was würde ich nur ohne deine hilfreiche Küchenpsychologie tun?«
»Ja, das frage ich mich auch manchmal.«
Auch wenn ihre Meinungen über Männer auseinandergingen, war Nelly im Grunde ihres Herzens froh, dass sie bei ihrer bodenständigen Cousine, die sie seit Kindertagen kannte, eine Anlaufstelle hatte. Jeanne war ein Stück Heimat – mitten im großen Paris –, und Nelly kam immer gerne in ihrem gemütlichen Café vorbei, und das nicht nur wegen der exzellenten Birnentarte, die schon die Großmutter an den Sonntagen für die Mädchen gebacken hatte.
Jeanne war stets guter Dinge und einfach nicht zu erschüttern. Es war beruhigend, jemanden zu kennen, der, würde selbst die ganze Welt untergehen, noch wie ein Fels in der Brandung dastand, fand Nelly.
Auch wenn es ihr in diesem Moment lieber gewesen wäre, wenn Jeanne in ihrer langen dunkelgrünen Schürze nicht wie angewurzelt an dem kleinen Tisch stehen geblieben wäre, um auf den Amerikaner zu warten, der sich nun von der Vitrine abwandte und zu ihnen herüberkam.
»Und … haben Sie gewählt, Monsieur?«, fragte sie und musterte Sean, der gerade versuchte, eine halbwegs bequeme Position auf dem Bistro-Stühlchen zu finden, wohlgefällig.
»Ihre Kuchlein sehen alle sou kostlich aus, das ist eine schwere Entscheidung«, radebrechte Sean. »Aber ich denke, es musste diese Brinnentarte sein – Brinnentarte? – nein, wie sagt man – Bürnentarte, so etwas hab ik noch niemals geschlungen.«
Die beiden Cousinen sahen sich an und brachen in Gelächter aus.
»Die werden Sie ganz bestimmt hinunterschlingen, Monsieur, die Birnentarte mit Lavendel ist meine Spezialität. Eine gute Wahl.« Jeanne lächelte zufrieden, und Nelly wusste genau, was als Nächstes kommen würde.
»Ich sage immer, die Birne wird unterschätzt.«
Nelly verdrehte die Augen.
»Ich bin übrigens Jeanne, aber das hat meine Cousine Ihnen sicher schon erzählt«, erklärte Jeanne, als sie einen Moment später zwei üppige Stücke Birnentarte an den Tisch brachte.
»Oh ja … ja!« Sean lächelte die blonde Cafébesitzerin an, die über ihm aufragte wie ein dunkelgrüner Leuchtturm, und schoss in seinem Bestreben, etwas Nettes zu sagen, weit übers Ziel hinaus. »Sie sehen gor nikt aus wie Cousinen«, scherzte er.
Nelly ließ ihre Kuchengabel in die weiche Birne sinken, die goldgelb aus der gestockten Crème fraîche herausragte. Jeder, der nicht gerade Tomaten auf den Augen hatte, konnte erkennen, dass sich die Ähnlichkeit zwischen ihr und Jeanne in Grenzen hielt.
»Sie konnten Schwestern sein!«, rief er aus und lächelte.
Nelly hätte sich fast verschluckt.
»Sind alle Frauen aus der Brittonnie sou hübsch? Dann müss ich schnell dört hinfahren.« Sean lachte. Jeanne lachte. Nelly sah die beiden an und kaute weiter an ihrem Kuchen.
»Nicht alle«, erwiderte Jeanne schließlich und warf Nelly einen Blick zu, der besagte, dass sie den Amerikaner äußerst amüsant fand. »Bleiben Sie also lieber hier in Paris.« Sie rückte umständlich Seans Teller und die Milchkaffeetasse auf der kleinen Marmorplatte zurecht, so das alles seinen Platz fand. Dann wandte sie sich wieder Nelly zu. »Willst du mir deinen neuen Freund nicht mal vorstellen?«
Nelly schluckte das Stück Birnentarte herunter, aber bevor sie auch nur den Mund aufmachen konnte, schoss der Amerikaner in die Höhe und stieß gegen das kleine Tischchen, auf dem die großen weißen Tassen mit dem dunkelgrünen Rand gefährlich ins Schwanken gerieten.
»Oh, Entschüldigung, Entschüldigung!«, rief er. »Wie unhoflich von mich. Ich hätte mir schon längst vorstellen sollen. Ich bin Sean. Sean O’Malley.«
»Jean?« Jeanne lächelte erfreut. »Dann heißen Sie ja wie ich.«
»Er heißt nicht Jean, sondern Sean«, schaltete sich Nelly ein, die fand, dass ihre Cousine, die dazu neigte, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, allmählich wieder hinter ihrem Tresen verschwinden konnte.
»Yeah, Sean«, bekräftigte Sean, und so, wie er es sagte, klang es tatsächlich ein bisschen wie Jean. »Ich bin aus Maine, aber mein Familie kommt ursprunglich from Ireland. Ihre Cousine und ich haben uns eben auf einer Parkbonk kennengelernt. Sie war gerade sou « Er schwieg verblüfft, als er einen Tritt unter dem Tisch erhielt, der unzweifelhaft von einem zierlichen blauen Spangenschuh herrührte.
»Sean interessiert sich für Paul Virilio«, erklärte Nelly rasch. Sie musste verhindern, dass der Mann aus Maine in seiner unbedarften Art noch irgendwelche Dinge ausplauderte, von denen Jeanne besser nichts wissen sollte. Jeanne Delacourt hatte nämlich keine Ahnung von den großen Gefühlen, die ihre kleine Cousine in aller Heimlichkeit für ihren Professor hegte. Und so sollte es auch bleiben, bis Fakten geschaffen waren, die jede unpassende Bemerkung im Keim erstickten. Zwar war der Name Daniel Beauchamps in Gesprächen schon des Öfteren gefallen – das ließ sich eben nicht vermeiden, wenn man für jemanden schwärmte, und schließlich arbeitete Nelly ja für ihn –, aber ihr war auch klar, dass ihr verehrter Professor es niemals unter die Top Ten der sexiest men alive