Achtung, Baby! Wie normale Menschen in 40 Wochen zu Hubschraubern werden

Oh ja, wir verstehen das: Es ist so wahnsinnig aufregend, ein Baby zu bekommen. Man könnte fast durchdrehen vor Freude auf das, was kommt, oder aus Angst vor dem Ungewissen. Und zwar ab Tag eins der Schwangerschaft. Und mit jeder Woche, in der der Babybauch anschwillt, wird der Wirbel heftiger. Wie im Film »Transformers« verwandeln die Eltern sich allmählich in Helikopter – bis die Rotoren glühen. Aus Angst, etwas Falsches zu essen, verzichten ­einige werdende Mütter auf praktisch alles und sind kurz davor, die Katzen aus der gesamten Nachbarschaft ins Tierheim zu geben, Stichwort: Toxoplasmose. Sie überwachen ihren ­Fötus stündlich mit modernster Technik und frieren für viel Geld Blut aus der Nabelschnur ein, für den Fall, dass das Kind später einmal an einer Blutkrankheit leidet. Sie planen das Leben des Ungeborenen bis zur Hochzeit durch – schließlich muss bei der Namenswahl beachtet werden, in welchem Sprachraum sich das Kind später be­wegen wird. Und ist das Baby dann auf der Welt, fangen die Sorgen erst richtig an. Wer sich ein wenig unsicher fühlt in den ersten Wochen, lässt sich da von Werbung, die Ängste erst schürt, um dann die sichere Lösung zu versprechen, offenbar schnell beeinflussen. Nur so kann der Einsatz von intelligenten Schlafsäcken erklärt werden, von Sensormatten und Infrarotkameras am Babybettchen, falls der Kirsch­sauger-Schnulli aus Naturkautschuk mal verlorengeht. Doch ­lesen Sie selbst.

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Volle Kontrolle im Mutterleib –
wie die Angst der Eltern zu Geld ­gemacht wird

Sind die Hormone schuld? Aus Angst, in der Schwangerschaft könnte etwas schieflaufen, lassen sich Eltern etliche Produkte andrehen, die die Welt nicht braucht. Eine große Baby-Industrie schlägt aus der Verunsicherung werdender Eltern Kapital, wie etwa die Hersteller von Mini-Ultraschallgeräten, die die Herztöne ihres Fötus übertragen. Sie ­sollen die Sorgen nehmen, das Baby könnte im Mutterleib sterben.

Empfohlene Anwendung: täglich. Faktische Anwendung: minütlich.

Doch nicht alle werdenden Mütter beruhigt das:

»Ich habe während der Schwangerschaft jeden Tag die Herztöne meines Krümels gehört. Einerseits war es toll, das Herzchen klopfen zu hören, und es hat mich dann auch beruhigt. Andererseits bin ich fast durchgedreht, wenn Lea ungünstig in meinem Bauch lag und ich die Herztöne einfach nicht finden konnte.«

»Wer sowieso unsicher ist, kann sich da schnell verrückt machen. Immer, wenn ich ein ungutes Gefühl hatte, bin ich sowieso lieber zum Arzt gegangen, anstatt weiter selbst nach dem Herzton zu suchen.«

Der arme Arzt!

Mehr Panik also als Entspannung. »Ein privates Ultraschallgerät führt oft zu maximaler Verunsicherung«, so die Erfahrung von Frauenarzt Dr. B. Er rät deshalb von den sogenannten Dopplern ab, denn: »Wenn Ihr Kind einmal auf der Welt ist, werden Sie es ja auch nicht dauerhaft mit einem EKG herumlaufen lassen.« Auch eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2015 kommt zu dem Schluss, dass werdende Mütter in Deutschland eher überversorgt sind. Schwangerschaft und Geburt seien ein Geschäft für eine große Branche. Dies führe jedoch nicht zu mehr Sicherheit, sondern zu noch mehr Angst, so das Fazit der Autorinnen.

So bieten etwa etliche Firmen in Deutschland an, Stammzellen aus dem Nabelschnurblut von Neugeborenen für Jahrzehnte einzufrieren. Ein Münchener Unternehmen wirbt auf seiner Webseite zum Beispiel damit, einem Baby damit das »beste Geschenk für eine gesündere Zukunft« machen zu können. Es handele sich um die »nachhaltigste Gesundheitsvorsorge« für das eigene Kind. Wer will das nicht? Ob jedoch die medizinische Forschung jemals so weit sein wird, Krankheiten mit den eigenen eingelagerten Stammzellen zu heilen, ist völlig ungewiss.

Ein Vater berichtet stolz:

»Wir haben bei der Geburt das Nabelschnurblut unserer Tochter für 25 Jahre einfrieren lassen. Die 2600 Euro haben wir über eine Ratenzahlung finanziert. Ich ­würde mir nie verzeihen, wenn sie später mal eine Krankheit bekäme, die man mit diesen Stammzellen heilen kann, und ich hätte die Möglichkeit nicht ­genutzt. Und ich habe gehört, dass in den USA damit tatsächlich auch schon Kinder geheilt wurden.«

Leben bedeutet immer auch Risiko. Helikopter-Eltern fliegen jedoch der Illusion einer Rundum-Versicherung hinterher.

Toxoplasmose lauert
hinter jedem Salatblatt

Auch in Sachen Ernährung sind viele werdende Mütter ängstlich. Ein Katzenbesitzer beschwert sich, er habe seine damalige beste Freundin während ihrer Schwangerschaft kaum mehr zum Essen einladen können. Die Bekannte ­habe zu viel Angst vor Toxoplasmose gehabt – einer Infek­tionskrankheit, die von Katzen übertragen wird und die zu Schäden an ungeborenen Kindern führen kann.

»Ich wurde von den Helikopter-Eltern mehrfach darauf hingewiesen, dass die Toxoplasmose sogar im Topf der Yucca-Palme lauere. Ich sollte nicht über Rasen ­laufen, denn da könnte ja Katzenkot liegen. Sie sahen Todesgefahr in der Salami, Todesgefahr im Fisch, ­Todesgefahr überall.«

Eine Schwangere in der neunten Woche räumt selbst ein:

»Wir werden häufig zum Essen eingeladen, doch meist esse ich nur Brot, weil ich in allem eine Gefahr sehe. Ich weiß halt nie sicher, ob der Salat ausreichend gewaschen wurde, ob der selbstgemachte Kartoffelsalat mit pasteurisierter Mayonnaise gemacht wurde, ob der frische Rucola im Nudelsalat genießbar ist.«

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Marie-Therese schlägt Kimberley: Beim Vornamen fängt’s an

Während der neun Monate malen sich einige Eltern gerne aus, wie ihr Kind sein Leben verbringen wird und welche Vorlieben es zu haben hat. Das kann dann auch Auswirkungen auf die Namenswahl haben.

Friedrich der Große

»Sie wollte das Kind Emil nennen, er war für Friedrich. Der Vater setzte sich dann durch mit dem Argument: ›Emil heißt kein Abteilungsleiter!‹ Gleichzeitig wurde dem Bekanntenkreis noch vor der Geburt des kleinen Friedrich eingeschärft, dass sie den Kontakt zu den Leuten abbrechen würden, die es wagten, den Kleinen einfach Fritz zu nennen.«

Ein Maximilian hängt den Cedric ab, eine Marie-Therese schlägt jede Kimberley – werdende Helikopter-Eltern spüren sofort, dass mit dem Vornamen womöglich die ersten Weichen für ein erfolgreiches Leben gestellt werden könnten. Tatsächlich gibt es psychologische Studien, die belegen, dass Lehrer Vorurteile gegen Kinder hegen, die Justin, ­Kevin, Chantal oder Mandy heißen. Eine Schweizer Agentur bietet deshalb für gut 26.000 Euro an, den perfekten Kinder­namen zu finden. Die Idee sei spontan entstanden, erklärt Inhaber Marc Hauser:

»Ein Kunde, für den wir ein Produkt benennen sollten, hatte sich mit seiner Frau wegen des Namens für ihr ­Baby gestritten und meinte dann: Könnt ihr das nicht übernehmen? Wir arbeiten eng mit den Eltern zusammen und besuchen sie auch zu Hause. Der Kulturkreis und die Werte der Eltern sind wichtig, genauso wie Phonetik, Rhythmus und Takt.«

Internationale Schule? Karriere in den USA? Eine Ehe in Frankreich? Für ein Premium-Kind muss vieles bedacht werden. Das findet auch dieser Leser:

»Die Namenswahl ist wichtig, wenn es international ­werden soll, was man den Kindern mit genug Geld ja ermöglichen kann. In den USA spricht man sich nur mit Vornamen an, dann ist es gut, einen ausgefallenen Namen zu haben, um nicht immer ›the other Joe‹ ­genannt zu werden. Und wird eine Ehe oder Karriere im französischsprachigen Raum angestrebt, sollte der Name nicht mit ›H‹ beginnen – wäre ja blöd, immer nur ›Olgèr‹ gerufen zu werden.«

Was ein ungeborenes
Qualitätskind braucht

Und nicht nur der vermeintlich wegweisende Vorname des Babys beschäftigt fürsorgliche Eltern. Es gibt Menschen, die überzeugt sind, die Gebärmutter sei das erste Klassenzimmer des Menschen – deshalb spielen sie ihren Ungeborenen Geigenmusik vor und versuchen, mit Lichtimpulsen einer Taschenlampe erste mathematische Anreize zu setzen. Es gibt so vieles, was man schon vor der Geburt planen kann, damit das Kind zum Statussymbol wird: Womit wird das Baby spielen? Welche Hörspiele wird es hören? Oder: Wie soll seine Hebamme aussehen?

Planwirtschaft

»Ein befreundetes Pärchen hat bereits in der Schwangerschaft geplant, was das Kind in seinen ersten ­Lebensjahren bis zur Einschulung darf. Sie haben ­Pläne erstellt über Süßigkeitenkonsum, passend zu ­jeder Altersstufe, haben Kinderserien und Hörspiele rausgesucht, Vorgaben gemacht zum Kleidungsstil und eine Liste geschrieben, in der Spielzeug mit Pro und Kontra bewertet wurde. Natürlich durfte es nur Holzspielzeug sein.«

Alle, die bereits Eltern sind, grinsen jetzt, weil sie wissen, dass auch sehr viel weniger detaillierte Pläne in der Regel binnen Sekunden am Wesen und Willen des Kinds zerschellen, das man nun einmal hat. Aber der erwähnte Plan, so finden wir, ist so toll, dass er es immerhin verdient, schön eingerahmt zu werden, bevor er feierlich in die Mülltonne fliegt.

Schöne Geschichten können auch Hebammen erzählen:

Model gesucht

»Ich erhielt von einer Erstgebärenden in der 33. Schwangerschaftswoche eine Anfrage zur Nach­sorgebetreuung. Ich hatte noch Kapazitäten frei und schlug wie üblich vor, einen Kennenlerntermin zu ­vereinbaren, der von der Krankenkasse bezahlt wird. Ihre Antwort kam zügig: Erst einmal solle ich ein Bild von mir per Mail schicken, denn ihr Kind hätte einen Anspruch auf Ästhetik, und zwar vom ersten Lebenstag an. Ich habe der Dame dann mitgeteilt, dass wir uns nicht auf dem Mailänder Laufsteg befinden und ­abgesagt.«

Prenzlauer-Berg-Mütter

»Die Frauen sind um die vierzig Jahre alt, top ausgebildet, super hip und wissen bereits alles, wenn sie zu mir kommen. Die haben eine riesige Checkliste dabei, was alles Schlimmes passieren kann. Sie wollen nicht nur Geburtsvorbereitung und Nachsorge im Wochenbett, sondern auch Akupunktur, Traditionelle Chinesische Medizin, Schwangeren-Yoga, Ernährungsberatung und Musik, die sie ihrem Baby im Bauch vorspielen können.«

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Bitte nicht sprechen,
mein Baby schläft!

Der Schlaf eines Babys ist heilig – so heilig, dass überfürsorgliche Eltern gern mal die Welt ausschalten würden, wenn Prinz oder Prinzessin die Äuglein schließen. Sie ­stellen das Telefon auf lautlos, deaktivieren die Türklingel und bedienen selbst die Toilettenspülung erst wieder nach dem Mittagsschlaf. Dabei hat sich noch jedes Kind ­daran gewöhnt, wie laut oder leise es bei seinen Eltern nun mal zugeht. Geht ja auch nicht anders.

Alles so laut hier

»Bei jedem kleinsten Mucks sprang meine Freundin Kati auf und rannte zu ihrer Tochter. Den Thermomix durfte man nicht mehr anstellen – zu laut. Wenn die Kaffeemaschine mahlte, hielt sie trotz einiger Meter Entfernung dem Baby die Ohren zu und flüsterte: ›Es ist gleich vorbei.‹ Auch Spaziergänge mit dem Kinderwagen lehnte sie ab: ›Da rauscht dann ein Auto vorbei, und schon ist sie wach!‹«

Schließlich ließ sich die besorgte Mutter doch zu einem Ausflug mit dem Kinderwagen überreden. Unser Leser bot an, den Wagen zu schieben, doch die Mutter zweifelte: »Ich weiß nicht, wie die Kleine darauf reagiert, wenn sie mich dann nicht mehr direkt beim Schieben sieht.« Der Freund erklärte beherzt: »Weißt du was, das finden wir jetzt einfach raus«, schob die Kleine den Berg hoch – und sah ein pflegeleichtes, versonnenes Kind im Wagen liegen. Trotz vorbeirasender hochgiftiger Autos und einer über dem Kinderwagen kreisenden, hypernervösen Mutter.

Für besorgte Eltern hält die Baby-Industrie auch Folgegeräte für die Zeit nach dem Doppler-Ultraschall bereit: Einige ­Babyphones sind nicht nur simple Walkie-Talkies, in die das Baby plärrt, sondern eines 007 würdig: Sie kommen mit Infrarot-Video und Temperaturüberwachung sowie Atem-Sensormatte daher, die Alarm schlägt, wenn das ­Baby im Schlaf unregelmäßig schnauft. Damit wäre die ­Totalüberwachung im Gitterbettchen komplett – wie sonst sollten es Eltern aushalten, auf der Terrasse zu sitzen, während das Kind drinnen schläft? »Das Videogerät gibt mir großen Frieden, wenn mein kleiner Junge oben schläft und ich unten bin. Ich höre und sehe ihn perfekt«, schreibt ein Vater. Manche Helikopter-Mama findet ohne Hightech ­keine Nachtruhe. »Ich habe durch die Sensormatte wesentlich besser geschlafen«, empfiehlt eine Mutter, »und wenn DU es brauchst für DICH, dann lass es dir nicht ausreden.« Deutlicher kann man nicht ausdrücken, worum es bei Helikopter-Eltern geht: nicht etwa um das Baby, sondern um sie selbst.


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