An der Stelle, an der wir niedergesunken waren, erwarten wir den Tagesanbruch. Er kommt ganz allmählich, eisig und düster, und fliesst finster über die fahle Ebene.
Es regnet nicht mehr. Der Himmel hat allen Regen hergegeben. Die bleifarbne Ebene taucht mit ihren blinden Wasserspiegeln nicht nur aus der Nacht, sondern scheinbar aus einem Meer hervor.
Halb eingenickt, halb schlafend, öffnen wir dann und wann die Augen, um sie wieder zu schliessen; wir sind gelähmt, entkräftet und erstarrt. So erleben wir die unglaubliche Wiedergeburt des Lichtes.
Wo sind die Schützengräben?
Man sieht Seen und zwischen den Seen milchige Streifen stehenden Wassers.
Es hat noch mehr Wasser, als man glaubte. Das Wasser hat alles aufgesogen; es hat alles überschwemmt und die nächtliche Prophezeiung der Leute ist in Erfüllung gegangen: es hat keine Schützengräben mehr; sie sind in jenen Kanälen untergegangen, die man dort sieht. Das Schlachtfeld schläft nicht, es ist tot. In der Ferne dauert das Leben vielleicht fort, aber so weit sieht man von hier aus nicht. Ich richte mich mühsam halb auf, um mir die Gegend anzusehn, und schwanke wie ein Kranker. Mein Mantel erdrückt mich mit seiner ungeheuren Last. Neben mir liegen drei unförmige Gestalten. Die eine ist Paradis; ein ungewöhnlicher Kotpanzer bedeckt ihn und sein Gurt ist an der Stelle, wo die Patronentaschen hängen, aufgebläht. Er richtet sich ebenfalls auf. Die andern schlafen regungslos.
Welch eine Stille! Eine gewaltige Stille. Nicht ein Geräusch; nur dann und wann hört man inmitten der geisterhaft gelähmten Welt eine Erdscholle ins Wasser fallen. Niemand schiesst ... Kein Geschoss, es würde ja doch nicht platzen. Keine Kugel, denn die Menschen ...
Die Menschen, wo sind die Menschen?
Allmählich sieht man sie. Nicht weit von uns liegen welche auf der Erde und schlafen. Der Kot bedeckt sie von oben bis unten; es sind beinahe nur noch Gegenstände.
Etwas weiter sehe ich andre Soldaten; sie sind in sich zusammengesunken und kleben wie Schnecken an dem runden Hügel, den das Wasser halb aufgesogen hat. Es ist eine unbewegliche Reihe roher Klumpen, die wie Haufen nebeneinender liegen, von Kot und Wasser triefend und sie haben die gleiche Farbe wie die Erde, zu der sie gehören.
Ich raffe mich auf und unterbreche das Schweigen und sage zu Paradis, der nach derselben Richtung blickt:
– Sind sie tot? – Gleich wollen wir sehn, antwortet er leise. Aber bleiben wir noch ein bisschen hier. Nachher werden wir den Mut finden hinzugehn.
Wir schauen uns beide an und wenden unsre Blicke auf die, die sich bis hierher geschleppt haben und hier niedergefallen sind. Die Gesichter sind so müde, dass es keine Gesichter mehr sind; nur etwas Schmutziges, Verwischtes und Zerschundenes, mit blutigen Augen oben im Kopf. Wir haben seit Anfang schon nach allem Möglichen ausgesehn und dennoch erkennen wir uns jetzt nicht mehr.
Paradis dreht den Kopf und schaut anderswohin.
Plötzlich seh ich, wie ihn ein Zittern packt. Er streckt die Kotkruste seines ungeheuren Armes aus:
– Dort ..., dort ..., ruft er aus.
Auf dem Wasser, das in einem besonders zerhackten und ausgehöhlten Gelände aus dem Schützengraben fliesst, schwämmen runde Massen wie Felsriffe.
Wir schleppen uns dorthin. Es sind Ertrunkene.
Ihre Köpfe und ihre Arme stecken im Wasser. Man sieht ihre Rücken mit dem Lederzeug durch die Oberfläche der kalkigen Flüssigkeit durchschimmern, und ihre Waffenröcke aus blauem Tuch sind aufgeblasen; die Füsse sitzen schief an den aufgeblähten Beinen wie an den schwarzen, unförmigen Beinen von Lederpuppen. Auf einem eingesunkenen Schädel stehn die Haare senkrecht im Wasser wie Seegräser. Hier schwimmt ein Gesicht obenauf: der Kopf hängt am Ufer fest und der Leib verschwindet im trüben Grab. Das Gesicht ist gegen den Himmel gekehrt. Die Augen sind nur noch zwei weisse Löcher, der Mund ein schwarzes Loch. Die gelbe, aufgeblasne Haut dieser Maske ist weich und gefältelt wie kalter Teig.
Es sind die im Schlamm erstickten Wachtposten. Die steile Böschung der Grube war schlüpfrig, das Wasser stieg, und die Anstrengung herauszukommen, zog die Leute nur noch tiefer hinein, – langsam und rettungslos. Sie starben angeklammert am Ufer der Erde, die ihnen entwischte.
Dort liegen unsre ersten Linien und auch die deutsche vorderste Linie, über beide die gleiche Stille, beide unter Wasser.
Wir gehen bis zu jenen aufgeweichten Trümmern über das Gelände, das gestern noch eine Gegend des Schreckens war, über den furchtbaren Zwischenraum, an dessen Schwelle der kolossale Ansturm unserer letzten Attacke stehen blieb, über das Gelände, über welches seit anderthalb Jahren die Kugeln und die Geschosse ohne Unterlass den Raum durchfurcht hatten und wo sich in diesen Tagen ihr wagrechter Patzregen über die Erde hin wütend kreuzte, von einem Horizont zum andern.
Jetzt ist es ein übernatürliches Feld der Ruhe. Ueberall liegen fleckenartig schlafende Wesen; andere bewegen sich leise, heben einen Arm oder den Kopf und denken wieder ans Leben oder liegen gerade im Sterben.
Der feindliche Graben stürzt, kotüberladen, vollends im Schosse wogender Hügel und sumpfiger Trichter in sich zusammen; dort zieht sich der Graben durch Lachen und Wassergruben. Stellenweise bewegt sich sein Ufer, bröckelt ab und wirft die noch überhängenden Ränder ab. An einer Stelle kann man sich darüberbeugen.
In diesem unglaublichen Kotgelände sieht man keine Leiche. Aber dort ragt, schrecklicher als ein Leichnam anzusehen, starr und einsam, nackt und bleich wie ein Stein, ein Arm aus dem Loch einer verworrenen, feuchten Wand. Der Mann wurde in seinem Unterstand verschüttet und konnte nur noch seinen Arm ausstrecken.
Ganz in der Nähe erkennt man gewisse Erdschichten, die auf den Trümmern der Böschung dieses erstickten Schlundes nebeneinander liegen; es sind menschliche Wesen. Sind sie tot? Schlafen sie? Man weiss es nicht. Jedenfalls ruhen sie.
Sind es Deutsche oder Franzosen? Man weiss es nicht.
Einer von ihnen hat die Augen aufgeschlagen und schaut uns kopfschüttelnd an. Man fragt ihn:
– Franzose?
Dann:
– Deutsch?
Er antwortet nichts; er schliesst die Augen und verfällt wieder in seinen Todesschlaf. Wir haben nie gewusst, wer es war.
Man kann die Identität dieser Wesen unmöglich feststellen, weder an den Kleidern, die eine dichte Kotschicht bedeckt noch an der Kopfbedeckung, denn die Leute sind barhäuptig oder in Wollzeug eingewickelt und stecken in nassen und stinkigen Kutten; auch an den Waffen erkennt man sie nicht; das Gewehr haben sie verloren, oder ihre Hand gleitet über ein Etwas, das sie hergeschleppt haben, eine unförmige, klebrige Masse, die einem Fisch ähnlich ist.
Alle diese Männer mit Leichengesichtern vor uns und hinter uns, die am Ende ihrer Kräfte sind, ohne Stimme und ohne Willen, alle diese erdbeladenen Männer, die sozusagen ihre eigene Bestattung besorgen, sehn sich gleich, als wären sie nackt. Aus dieser furchtbaren Nacht tauchen hin und wieder einige Uebriggebliebene auf; sie tragen die gleiche Uniform des Elendes und des Schmutzes.
Alles hat jetzt ein Ende. Es ist die Stunde der ungeheuren Rast, die epische Pause des Krieges.
Einst glaubte ich, das Höllischste im Kriege seien die Flammen der Geschosse; dann habe ich lange gemeint, es sei das Ersticken in den Erdlöchern, die sich für ewig über uns schliessen. Auch das ist es nicht, sondern die Hölle ist das Wasser.
*
Der Wind setzt ein. Er ist eisigkalt und sein Eishauch dringt uns durch die Haut. Auf dieser wässerigen und schiffbrüchigen Ebene, wo die Leichen zwischen wurmartigen Wasserschlünden liegen, zwischen den starren Menscheninseln, die wie Reptilien aneinanderkleben, in diesem Chaos, das sich senkt und untergeht, sieht man leichte, wellende Bewegungen: Gruppen bewegen sich leise in abgebrochenen Karawanen von Menschen, gebückt unter der Last ihrer Helme und des schweren Kotes; sie schleppen sich, zerstreuen sich und kriechen im Widerschein des verdunkelten Himmels. Das Morgenlicht ist so schmutzig, dass es aussieht, als sei der Tag schon zu Ende.
Die Ueberlebenden wandern durch die trostlose Steppe; es jagt sie ein unsagbares Unglück, das sie elendiglich erschöpft und sie bestürzt; einige darunter haben bei genauerem Hinsehen etwas theaterhaft Groteskes an sich; das ewige Einsinken, vor dem sie sich retten, hat sie halb entkleidet.
Im Vorübergehn blicken sie um sich, betrachten uns und erkennen Menschen in uns; dann sprechen sie in den Wind hinein:
– Dort ist es noch schrecklicher als hier. Die Leute sinken in die Löcher und man kann sie nicht mehr herausziehn. Alle diejenigen, die nachts auf den Rand eines Geschosstrichters getreten sind, sind umgekommen ... Dort, wo wir herkommen, siehst du einen eingesunkenen Kopf, der die Arme bewegt; dort hat's einen Weg und Flechtwerk drüber, das ist eingestürzt und 's hat ein Loch gegeben, wie eine Menschenfalle. Dort, wo's kein Flechtwerk mehr hat, steht das Wasser zwei Meter hoch ... Und 's Gewehr haben manche nicht mehr rausziehn können. Schau dir die an: man hat ihnen die untere Hälfte des Mantels abgeschnitten, jetzt hat der Mantel keine Taschen mehr, aber es schadet nichts; man musste ihn rausziehn; zudem konnte er das Gewicht nicht mehr tragen ... Dem Dumas haben sie den Mantel abgenommen, der war bestimmt vierzig Kilo schwer: zwei hatten dran mit beiden Händen zu tragen ... Da, der da mit den nackten Beinen, der Dreck hat ihm alles abgerissen, seine Hose, die Unterhose, die Schuhe, alles das von der Erde abgerissen. Nie hat man so was erlebt.
Und diese zerstreuten Nachzügler haben wiederum ihre eignen Nachzügler; sie fliehen in der allgemeinen Schrecknis, wobei ihre Füsse schwere Kotwurzeln aus dem Boden reissen. Man sieht hergewehte Menschen wieder verwehn und die Blöcke ihrer ungeheuren Kleider, die sie einmauern, werden immer kleiner.
Wir gehn mit kurzen Schritten weiter, quer übers Land; eine seltsame Masse zieht unsre Aufmerksamkeit auf sich; zwei merkwürdig ineinander verschlungene Menschen stehn dort, Schulter an Schulter, die Arme gegenseitig um den Hals gelegt. Ist es der Nahkampf zweier Ringer, die einander in den Tod gezerrt haben und sich, auf ewig aneinander gekettet, festhalten? Nein, es sind zwei Soldaten, die zum Schlafen aneinander lehnen. Sie konnten sich nicht auf die tückische Erde legen, da sie darin ertrunken wären; so beugten sie sich einer zum andern und sind, bis zu den Knien in der Ebene steckend, eingeschlafen.
Dann bleiben auch wir stehn. Wir haben unsere Kräfte zu hoch eingeschätzt. Wir können noch nicht fort. Es ist noch nicht aus. Von neuem stürzen wir in ein Kotloch mit dem Geräusch eines hingeworfenen Mistklumpens.
Man schliesst die Augen. Von Zeit zu Zeit öffnet man sie. Stolpernd kommen Leute auf uns zu. Sie neigen sich über uns und sprechen leise mit matter Stimme. Der eine von ihnen sagt auf deutsch:
– Sie sind tot. Wir bleiben hier.
– Der andere antwortet seufzend: Ja.
Aber sie sehn, dass wir uns bewegen. Dann sinken sie plötzlich vor uns nieder. Mit leiser, tonloser Stimme sagt der eine zu uns:
– Nous levons les bras, sagt er.
Dann rühren sie sich nicht mehr.
Sie lassen sich vollends niederfallen, getröstet, als ob ihr Leiden ein Ende hätte; der eine, dem der Kot wie einem Wilden das Gesicht bemalt, lächelt leise.
– Bleib da, sagt ihm Paradis, ohne seinen Kopf, der nach hinten auf einem Erdrücken liegt, zu drehen. Nachher kommst du mit uns, wenn du willst.
– Ja, sagt der Deutsche. Ich hab's satt.
Man gibt ihm keine Antwort.
Dann fragt er:
– Die andern auch?
– Ja, sagt Paradis, sie sollen auch hier bleiben, wenn sie wollen.