XXIV.
Das Morgengrauen.

Inhaltsverzeichnis

An der Stelle, an der wir niedergesunken waren, erwarten wir den Tagesanbruch. Er kommt ganz allmählich, eisig und düster, und fliesst finster über die fahle Ebene.

Es regnet nicht mehr. Der Himmel hat allen Regen hergegeben. Die bleifarbne Ebne taucht mit ihren blinden Wasserspiegeln nicht nur aus der Nacht, sondern scheinbar aus einem Meer hervor.

Halb eingenickt, halb schlafend, öffnen wir dann und wann die Augen, um sie wieder zu schliessen; wir sind gelähmt, entkräftet und erstarrt. So erleben wir die unglaubliche Wiedergeburt des Lichtes.

Wo sind die Schützengräben?

Man sieht Seen und zwischen den Seen milchige Streifen stehenden Wassers.

Es hat noch mehr Wasser, als man glaubte. Das Wasser hat alles aufgesogen; es hat alles überschwemmt und die nächtliche Prophezeiung der Leute ist in Erfüllung gegangen: es hat keine Schützengräben mehr; sie sind in jenen Kanälen untergegangen, die man dort sieht. Das Schlachtfeld schläft nicht, es ist tot. In der Ferne dauert das Leben vielleicht fort, aber so weit sieht man von hier aus nicht.

Ich richte mich mühsam halb auf, um mir die Gegend anzusehn, und schwanke wie ein Kranker. Mein Mantel erdrückt mich mit seiner ungeheuren Last. Neben mir liegen drei unförmige Gestalten. Die eine ist Paradis; ein ungewöhnlicher Kotpanzer bedeckt ihn und sein Gurt ist an der Stelle, wo die Patronentaschen hängen, aufgebläht. Er richtet sich ebenfalls auf. Die andern schlafen regungslos.

Welch eine Stille! Eine gewaltige Stille. Nicht ein Geräusch; nur dann und wann hört man inmitten der geisterhaft gelähmten Welt eine Erdscholle ins Wasser fallen. Niemand schiesst ... Kein Geschoss, es würde ja doch nicht platzen. Keine Kugel, denn die Menschen ...

Die Menschen, wo sind die Menschen?

Allmählich sieht man sie. Nicht weit von uns liegen welche auf der Erde und schlafen. Der Kot bedeckt sie von oben bis unten; es sind beinahe nur noch Gegenstände.

Etwas weiter sehe ich andre Soldaten; sie sind in sich zusammengesunken und kleben wie Schnecken an dem runden Hügel, den das Wasser halb aufgesogen hat. Es ist eine unbewegliche Reihe roher Klumpen, die wie Haufen nebeneinander liegen, von Kot und Wasser triefend und sie haben die gleiche Farbe, wie die Erde, zu der sie gehören.

Ich raffe mich auf und unterbreche das Schweigen und sage zu Paradis, der nach derselben Richtung blickt:

– Sind sie tot?

– Gleich wollen wir sehn, antwortet er leise. Aber bleiben wir noch ein bisschen hier. Nachher werden wir den Mut finden, hinzugehn.

Wir schauen uns beide an und wenden unsre Blicke auf die, die sich bis hierher geschleppt haben und hier niedergefallen sind. Die Gesichter sind so müde, dass es keine Gesichter mehr sind; nur etwas schmutziges, verwischtes und zerschundenes, mit blutigen Augen oben im Kopf. Wir haben seit Anfang schon nach allem Möglichen ausgesehn und dennoch erkennen wir uns jetzt nicht mehr.

Paradis dreht den Kopf und schaut anderswo hin.

Plötzlich seh ich, wie ihn ein Zittern packt. Er streckt die Kotkruste seines ungeheuren Armes aus:

– Dort ..., dort ..., ruft er aus.

Auf dem Wasser, das in einem besonders zerhackten und ausgehöhlten Gelände aus dem Schützengraben fliesst, schwimmen runde Massen wie Felsriffe.

Wir schleppen uns dorthin. Es sind Ertrunkene.

Ihre Köpfe und ihre Arme stecken im Wasser. Man sieht ihre Rücken mit dem Lederzeug durch die Oberfläche der kalkigen Flüssigkeit durchschimmern, und ihre Waffenröcke aus blauem Tuch sind aufgeblasen; die Füsse sitzen schief an den aufgeblähten Beinen wie an den schwarzen, unförmigen Beinen von Lederpuppen. Auf einem eingesunkenen Schädel stehn die Haare senkrecht im Wasser wie Seegräser. Hier schwimmt ein Gesicht oben auf: der Kopf hängt am Ufer fest und der Leib verschwindet im trüben Grab. Das Gesicht ist gegen den Himmel gekehrt. Die Augen sind nur noch zwei weisse Löcher, der Mund ein schwarzes Loch. Die gelbe, aufgeblasne Haut dieser Maske ist weich und gefältelt wie kalter Teig.

Es sind die im Schlamm erstickten Wachtposten. Die steile Böschung der Grube war schlüpfrig, das Wasser stieg, und die Anstrengung herauszukommen, zog die Leute nur noch tiefer hinein, – langsam und rettungslos. Sie starben angeklammert am Ufer der Erde, die ihnen entwischte.

Dort liegen unsre ersten Linien und auch die deutsche vorderste Linie, über beide die gleiche Stille, beide unter Wasser.

Wir gehen bis zu jenen aufgeweichten Trümmern über das Gelände, das gestern noch eine Gegend des Schreckens war, über den furchtbaren Zwischenraum, an dessen Schwelle der kolossale Ansturm unserer letzten Attacke stehen blieb, über das Gelände, über welches seit anderthalb Jahren die Kugeln und die Geschosse ohne Unterlass den Raum durchfurcht hatten und wo sich in diesen Tagen ihr wagerechter Platzregen über die Erde hin wütend kreuzte, von einem Horizont zum andern.

Jetzt ist es ein übernatürliches Feld der Ruhe. Ueberall liegen fleckenartig schlafende Wesen; andere bewegen sich leise, heben einen Arm oder den Kopf und denken wieder ans Leben oder liegen gerade im Sterben.

Der feindliche Graben stürzt, kotüberladen, vollends im Schosse wogender Hügel und sumpfiger Trichter in sich zusammen; dort zieht sich der Graben durch Lachen und Wassergraben. Stellenweise bewegt sich sein Ufer, bröckelt ab und wirft die noch überhängenden Ränder ab. An einer Stelle kann man sich darüberbeugen.

In diesem unglaublichen Kotgelände sieht man keine Leiche. Aber dort ragt, schrecklicher als ein Leichnam anzusehn, starr und einsam, nackt und bleich wie ein Stein, ein Arm aus dem Loch einer verworrenen, feuchten Wand. Der Mann wurde in seinem Unterstand verschüttet und konnte nur noch seinen Arm ausstrecken.

Ganz in der Nähe erkennt man gewisse Erdschichten, die auf den Trümmern der Böschung dieses erstickten Schlundes nebeinander liegen; es sind menschliche Wesen. Sind sie tot? Schlafen sie? Man weiss es nicht. Jedenfalls ruhen sie.

Sind es Deutsche oder Franzosen? Man weiss es nicht.

Einer von ihnen hat die Augen aufgeschlagen und schaut uns kopfschüttelnd an. Man fragt ihn:

– Franzose?

Dann:

– Deutsch?

Er antwortet nichts; er schliesst die Augen und verfällt wieder in seinen Todesschlaf. Wir haben nie gewusst, wer es war.

Man kann die Identität dieser Wesen unmöglich feststellen, weder an den Kleidern, die eine dichte Kotschicht bedeckt, noch an der Kopfbedeckung; denn die Leute sind barhäuptig oder in Wollzeug eingewickelt und stecken in nassen und stinkigen Kutten; auch an den Waffen erkennt man sie nicht; das Gewehr haben sie verloren, oder ihre Hand gleitet über ein Etwas, das sie hergeschleppt haben, eine unförmige, klebrige Masse, die einem Fisch ähnlich ist.

Alle diese Männer mit Leichengesichtern vor uns und hinter uns, die am Ende ihrer Kräfte sind, ohne Stimme und ohne Willen, alle diese erdbeladenen Männer, die sozusagen ihre eigene Bestattung besorgen, sehn sich gleich, als wären sie nackt. Aus dieser furchtbaren Nacht tauchen hin und wieder einige Uebriggebliebene auf; sie tragen die gleiche Uniform des Elendes und des Schmutzes.

Alles hat jetzt ein Ende. Es ist die Stunde der ungeheuren Rast, die epische Pause des Krieges.

Einst glaubte ich, das höllischste im Kriege seien die Flammen der Geschosse; dann habe ich lange gemeint, es sei das Ersticken in den Erdlöchern, die sich für ewig über uns schliessen. Auch das ist es nicht, sondern die Hölle ist das Wasser.

*

Der Wind setzt ein. Er ist eisigkalt und sein Eishauch dringt uns durch die Haut. Auf dieser wässerigen und schiffbrüchigen Ebene, wo die Leichen zwischen wurmartigen Wasserschlünden liegen, zwischen den starren Menscheninseln, die wie Reptilien aneinanderkleben, in diesem Chaos, der sich senkt und untergeht, sieht man leichte, wellende Bewegungen: Gruppen bewegen sich leise in abgebrochenen Karawanen von Menschen, gebückt unter der Last ihrer Helme und des schweren Kotes; sie schleppen sich, zerstreuen sich und kriechen im Widerschein des verdunkelten Himmels. Das Morgenlicht ist so schmutzig, dass es aussieht, als sei der Tag schon zu Ende.

Die Ueberlebenden wandern durch die trostlose Steppe; es jagt sie ein unsagbares Unglück, das sie elendiglich erschöpft und sie bestürzt; einige darunter haben bei genauerem Hinsehen etwas theaterhaft groteskes an sich; das ewige Einsinken, vor dem sie sich retten, hat sie halb entkleidet.

Im Vorübergehn blicken sie um sich, betrachten uns und erkennen Menschen in uns; dann sprechen sie in den Wind hinein.

– Dort ist es noch schrecklicher als hier. Die Leute sinken in die Löcher und man kann sie nicht mehr herausziehn. Alle diejenigen, die nachts auf den Rand eines Geschosstrichters getreten sind, sind umgekommen ... Dort, wo wir herkommen, siehst du einen eingesunkenen Kopf, der die Arme bewegt; dort hat's einen Weg und Flechtwerk drüber, das ist eingestürzt und 's hat ein Loch gegeben, wie eine Menschenfalle. Dort, wo's kein Flechtwerk mehr hat, steht das Wasser zwei Meter hoch ... Und 's Gewehr haben manche nicht mehr rausziehn können. Schau dir die an: man hat ihnen die untere Hälfte des Mantels abgeschnitten, jetzt hat der Mantel keine Taschen mehr, aber es schadet nichts; man musste ihn rausziehn; zudem konnte er das Gewicht nicht mehr tragen ... Dem Dumas haben sie den Mantel abgenommen, der war bestimmt vierzig Kilo schwer: zwei hatten dran mit beiden Händen zu tragen ... Da, der da mit den nackten Beinen, der Dreck hat ihm alles abgerissen, seine Hose, die Unterhose, die Schuhe, alles das von der Erde abgerissen. Nie hat man so was erlebt.

Und diese zerstreuten Nachzügler haben wiederum ihre eignen Nachzügler; sie fliehen in der allgemeinen Schrecknis, wobei ihre Füsse schwere Kotwurzeln aus dem Boden reissen. Man sieht hergewehte Menschen wieder verwehn und die Blöcke ihrer ungeheueren Kleider, die sie einmauern, werden immer kleiner.

Wir gehn mit kurzen Schritten weiter, quer übers Land; eine seltsame Masse zieht unsre Aufmerksamkeit auf sich; zwei merkwürdig ineinander verschlungene Menschen stehn dort, Schulter an Schulter, die Arme gegenseitig um den Hals gelegt. Ist es der Nahkampf zweier Ringer, die einander in den Tod gezerrt haben und sich, auf ewig aneinander gekettet, festhalten? Nein, es sind zwei Soldaten, die zum Schlafen aneinander lehnen. Sie konnten sich nicht auf die tückische Erde legen, da sie darin ertrunken wären; so beugten sie sich einer zum andern und sind, bis zu den Knien in der Ebene steckend, eingeschlafen.

Dann bleiben auch wir stehn. Wir haben unsere Kräfte zu hoch eingeschätzt. Wir können noch nicht fort. Es ist noch nicht aus. Von neuem stürzen wir in ein Kotloch mit dem Geräusch eines hingeworfenen Mistklumpens.

Man schliesst die Augen. Von Zeit zu Zeit öffnet man sie. Stolpernd kommen Leute auf uns zu. Sie neigen sich über uns und sprechen leise mit matter Stimme. Der eine von ihnen sagt auf deutsch:

– Sie sind tot. Wir bleiben hier.

– Der andere antwortet seufzend: Ja.

Aber sie sehn, dass wir uns bewegen. Dann sinken sie plötzlich vor uns nieder. Mit leiser, tonloser Stimme sagt der eine zu uns:

– Nous levons les bras, sagt er.

Dann rühren sie sich nicht mehr.

Sie lassen sich vollends niederfallen, getröstet, als ob ihr Leiden ein Ende hätte; der eine, dem der Kot wie einem Wilden das Gesicht bemalt, lächelt leise.

– Bleib da, sagt ihm Paradis, ohne seinen Kopf, der nach hinten auf einem Erdrücken liegt, zu drehen. Nachher kommst du mit uns, wenn du willst.

– Ja, sagt der Deutsche. Ich hab's satt.

Man gibt ihm keine Antwort.

Dann fragt er:

– Die andern auch?

– Ja, sagt Paradis, sie sollen auch hier bleiben, wenn sie wollen.

Darauf haben sich vier Leute auf die Erde gelegt. Der eine von ihnen fängt an zu röcheln. Es ist wie ein schluchzender Gesang, der aus seinem Munde kommt. Dann richten sich die andern halb auf, knien vor ihm nieder und rollen grosse Augen in ihren kotbespritzten Gesichtern. Wir stehn auf und betrachten die Gruppe. Aber das Röcheln erlischt, und die schwarze Kehle, die sich an jenem grossen Körper wie ein kleiner Vogel bewegte, erstarrt.

– Er ist tot, sagt einer von ihnen.

Er fängt an zu weinen. Die andern legen sich wieder schlafen. Auch der Weinende schläft schluchzend ein.

Ein paar Soldaten sind hergetorkelt, bleiben plötzlich hängen, wie Betrunkene, oder kriechen wie Würmer und flüchten hierher, in das Loch, wo wir schon eingesunken liegen, und alles schläft durcheinander liegend im Massengrabe ein.

*

Paradis und ich wachen auf und schauen einander an; alles kommt uns wieder zum Bewusstsein. Wir sinken wieder ins Leben und in den Tag zurück, wie in einen bösen Traum. Vor unsern Augen taucht die zerstörte Ebene wieder auf; verschwommene Erdhügel ragen aus der Stahlebene und werden sichtbar; stellenweise ist die Ebene verrostet und Wasserlinien und feuchte Flächen glänzen – und in dieser Unendlichkeit liegen hie und da gleich verwehten Schuttabfällen die zerstörten Leiber, atmend oder verwesend.

Paradis sagt zu mir:

– Das ist der Krieg.

– Jawohl, das ist der Krieg, wiederholt er mit abwesender Stimme. Nichts anderes.

Ich verstehe, was er sagen will:

»Mehr noch als die Attacken, die einer Parade gleichen, mehr als die sichtbaren Schlachten, die wie Oriflammen sich ausbreiten, mehr noch als der ringende Nahkampf, bei dem man schreiend sich ereifert, mehr als das alles ist dieser Krieg: es ist die furchtbare, die übernatürliche Erschöpfung, Wasser bis an den Unterleib, und der Kot, und der Schmutz, und der gemeine Dreck. Dazu die verwesten Gesichter, zerfetzte Leiber und die Leichen, die keinem Leichnam ähnlich sind und auf der gefrässigen Erde schwimmen. Das ist der Krieg, jenes endlose, eintönige Elend, unterbrochen durch wilde Tragödien; das ist der Krieg, und nicht das Bajonett, das wie das Silber blitzt, auch nicht der Hahnenruf der Trompete im Sonnenglanz!«

Paradis dachte so ernsthaft darüber nach, dass er eine Erinnerung widerkaute und knurrend sprach:

– Weisst du noch, das Weib in der Stadt, wo wir vor kurzem waren, wie sie vom Angriff sprach, dass ihr die Spucke heraustropfte, als sie sagte: »Ein schöner Anblick muss das sein! ...«

Ein Jäger, der auf dem Bauch lag, flach wie ein Mantel, hob den Kopf aus dem Schatten, der ihn verdeckte, und schrie:

– Schön! Ha! Verdammich! – Das ist grad, wie wenn eine Kuh sagen würde, der Anblick der Ochsenherden, die man in der Villette vorwärtspeitscht sei schön!

Und der besudelte Mund seines tierischen Leichengesichtes spie in den Kot.

– Wenn sie sagen, es sei nötig, meinetwegen murmelte er mit seltsam abgebrochener, zerrissner und gähnender Stimme. Aber schön! Ha! Gottverdamm mich!

Er wehrte sich gegen diesen Gedanken und fügte laut hinzu:

– Mit solchem Zeug schwatzt man uns zu Tode und futiert sich um uns bis auf's Blut!

Dann spie er wieder aus; die Anstrengung aber, die er gemacht hatte, erschöpfte ihn und er fiel zurück in seine Kotlache und legte den Kopf in seinen Speichel.

*

Paradis, den sein Gedanke nicht ruhn liess, fuhr mit der Hand über die unbeschreibliche Landschaft und wiederholte starren Blickes seinen Satz:

– Das ist der Krieg ... und überall ist er so. Und wir, was sind wir, und was hat das hier alles zu bedeuten? Gar nichts. Alles, was du hier siehst, ist nur ein Punkt. Stell dir vor, heute morgen gibt's auf der Welt dreitausend Kilometer Menschen, die ebenso, oder nicht viel weniger unglücklich, oder noch unglücklicher sind als wir.

– Und dann, sagt neben uns ein Kamerad, den man auch an der Stimme, die aus seinem Inneren kommt, nicht mehr erkennt, und dann geht's morgen wieder von neuem los. Vorgestern und früher hatte es auch wieder von neuem angefangen.

Der Jäger riss seinen Köper mühsam von der Erde hoch, als ob er sie zerreissen wolle; feucht wie ein Grab war die Mulde, die er in die Erde eingedrückt hatte und er setzte sich in dieses Loch. Er zwinkerte mit den Augen, schüttelte den Kot von seinem Gesicht ab und sagte:

– Diesmal kommen wir noch davon. Und vielleicht kommen wir morgen auch noch davon! Wer weiss?

Paradis sass, den Rücken gebeugt, unter einer Humus- und Lehmschicht und versuchte zu erklären, dass man sich den Krieg nicht vorstellen könne, dass er unermesslich sei in der Zeit und im Raum.

Wenn man vom ganzen Krieg sprechen will, dachte er ganz laut, ist's, als ob man nichts sagen könnte. Es ersticken einem die Worte. Man sitzt da und starrt es an wie ein Blinder ...

Eine etwas entferntere Stimme rollte ihren Bass und meinte:

– Nein, man kann sich's nicht vorstellen.

Diese Worte zerriss ein plötzliches Lachen.

– Ueberhaupt, wie soll sich's einer vorstellen, der nicht dabei war?

– Da müsste einer schon verrückt sein! sagte der Jäger.

Paradis beugte sich über eine Masse, die neben ihm ausgebreitet lag.

– Schläfst du?

– Nein, aber ich rühr mich nicht, murmelte gleich darauf eine erstickte und angsterfüllte Stimme; sie rieselte aus der Masse, die eine dichte und derart höckerige Lehmschicht bedeckte, dass es aussah, als sei man darauf getreten. Ich will dir was sagen: ich glaub, ich hab ein Loch im Bauch, ich weiss es nicht sicher, und ich fürchte mich, es zu wissen.

– Lass mal sehn ...

– Nein, jetzt noch nicht, sagte der Soldat. Ich möchte noch ein wenig so liegen bleiben.

Die andern plätscherten im Dreck herum, schleppten sich auf den Ellbogen vorwärts und schüttelten die höllische, teigige Kotschicht ab, die sie erdrückte. Allmählich taute dieses gemarterte Häuflein aus der lähmenden Kälte auf, obwohl der Tag über dem grossen, unregelmässigen Teiche der sinkenden Ebene nicht heller wurde. Die Trübsal ging weiter, aber der Tag blieb stehn.

Einer von uns sprach traurig wie eine Glocke und sagte:

– Und nachher kannst du lange erzählen, keiner wird's glauben. Nicht aus Böswilligkeit oder um dich aufzuziehn, aber man wird's einfach nicht können. Wenn du später mal sagst, wenn du überhaupt noch lebst und reden kannst: »Wir haben Nachtarbeiten gemacht, dann sind wir beschossen worden und dann sind wir beinah im Kot ertrunken«: »So!«, wird's da einfach heissen; oder vielleicht sagt einer: »Um's lachen war's euch wohl nicht dabei.« Weiter nichts. Keiner wird davon eine Ahnung haben, nur du alleine wirst es wissen.

– Nicht einmal wir, nicht einmal wir! schrie einer.

– Ich glaub's auch, wir werden's vergessen, wir ... werden's schon vergessen, Alter!

– Wir haben zu viel gesehn!

– Und alles, was wir gesehn haben, ist zuviel. So viel Zeug kann man gar nicht aufbewahren; dazu ist man nicht geschaffen. Es entwischt nach allen Seiten; unsereins ist halt zu klein.

– Und nicht zu knapp werden wir vergessen! Nicht nur wie lang's gedauert hat mit dem Elend, das unberechenbar ist, wie du sagt; nicht nur die Märsche, die die Felder pflügen und überpflügen, die Füsse abschinden, die Knochen abnützen unter der Last des Gepäcks, das in den Himmel hineinwächst und die Müdigkeit, dass du deinen Namen nicht mehr weisst, das Rumstehn und die Unbeweglichkeit, die einen erschöpft, die Arbeiten, zu denen die Kräfte nicht ausreichen, die endlosen Wachen, wo du dem Feind auflauerst, der überall ist, und dich gegen den Schlaf wehrst und gegen das Mist- und Läusekissen. Nicht nur das, sondern die Hundsgeschichten mit den Platzgranaten und den Maschinengewehren, den Minen, dem Stickgas und den Gegenangriffen. Im Augenblick selbst ist man voll vom Eindruck der Wirklichkeit. Aber das verblasst in der Erinnerung und verfliegt, du weisst nicht wie, und weisst nicht wohin; und es bleibt nur der Name übrig, nur die Worte, wie in einem Generalstabsbericht.

– Er hat recht, sagte einer, der seinen Kopf unbeweglich wie in einem Schandpfahl hielt. Als ich auf Urlaub war, hab ich gemerkt, dass ich schon manches vergessen hatte. Ich hab Briefe von mir wieder durchgelesen; dabei glaubte ich, in einem fremden Buche zu lesen. Und auch das hab ich vergessen, was ich im Krieg gelitten hab. Vergess-Maschinen sind wir. Der Mensch ist ein Ding, das ein wenig nachdenkt; vor allem aber vergisst er. Das ist der Mensch.

– Wir nicht, und die andern werden's auch nicht wissen! Soviel Unglück ist also verloren gegangen.

Diese Aussicht erhöhte noch das Elend dieser Menschen und bedeutete für sie soviel wie die Nachricht eines noch grösseren Unheils, das sie noch tiefer in den Untergang zerrte.

– Ja! wenn einem das alles in der Erinnerung bliebe! rief einer aus.

– Wenn man's nicht vergessen würde, sagte der andere, so gäb's keinen Krieg mehr!

Ein dritter aber fügte feierlich hinzu:

– Ja, wenn die Erinnerung daran bliebe, so wäre dieser Krieg weniger nutzlos, als er es ist.

Da hob sich mit einemmale einer dieser liegenden Ueberlebenden auf die Knie, schüttelte seine schmutzigen Arme, von denen der Kot herunterfiel, und schrie dumpf und schwarz wie eine grosse, klebrige Fledermaus:

– Nach diesem Kriege darf es keinen andern Krieg mehr geben!

Aus der kotigen Ecke heraus, in der uns Schwache und Machtlose der Wind anfauchte und so wütend anpackte, dass die Erde wie ein Wrack zu beben schien, drang der Schrei jenes Menschen, der davonzufliegen schien, und weckte andre ähnliche Ausrufe:

– Es darf nach diesem Kriege kein andrer Krieg mehr kommen!

Die dumpfen, wütenden Worte dieser Menschen, die an die Erde gefesselt, von Erde durchdrungen waren, stiegen und flogen in den Wind wie Flügelschläge.

– Keinen Krieg mehr, keinen Krieg mehr!

– Ja, es ist genug!

– Es ist zu blöd ... zu blöd, murrten sie. Was soll das alles eigentlich bedeuten, all das, was nicht einmal in Worte zu fassen ist!

Sie redeten alles mögliche durcheinander und knurrten wie wilde Tiere, mit düsteren, zerfetzten Gesichtsmasken, auf ihrer Eisbank, von der sie die Elemente zu vertreiben trachteten. Die Empörung, die sie aufpeitschte, war so gross, dass sie an ihr erstickten.

– Zum Leben ist man doch geboren und nicht um derart zu verrecken!

– Die Männer sollen doch Gatten und Väter sein – Menschen überhaupt! – und nicht Bestien, die einander hetzen, erwürgen und verpesten.

– Und überall, überall sind's Bestien, wilde Bestien oder zertretene Tiere. Schau, schau dich um!

... Nie werde ich den Anblick jener grenzenlosen Felder vergessen, deren Farben vom Wasser zerfressen waren, und die Höcker, die, von der Fäulnis angefressen, allenthalben zerbröckelten, überall an den zerschlagenen Gerippen der Pfähle, der Drähte, der Holzgerüste – und über die finstren Endlosigkeiten des Styx die Vision, das Beben einer Vernunft, einer Logik und einer Einfachheit, die jene Menschen urplötzlich wie ein Wahnsinn erschüttert hatte.

Man sah, wie sie der Gedanke quälte: dass nämlich der Versuch, auf Erden sein Leben zu leben und glücklich zu sein, nicht nur ein Recht sei, sondern eine Pflicht – ein Ideal sogar und eine Tugend; dass die Gesellschaft nur dazu da ist, jedem Innenleben mehr Lebensmöglichkeit zu verschaffen.

– Leben! ...

– Wir! ... Du ... Ich ...

– Kein Krieg mehr ... Nein, nie wieder! ... Es ist zu dumm ... Schlimmer noch als das, es ist ...

Da kam ein Wort und antwortete wie ein Widerhall ihrem wirren Gedanken, und dem zerstückelten Gemurmel dieser Masse ... Ich sah eine kotgekrönte Stirne sich erheben, und der Mund sprach am Rande der Erde:

– Zwei Armeen, die sich bekämpfen, sind eine grosse Armee, die Selbstmord an sich übt!

*

– Was sind wir denn seit zwei Jahren? Arme, unglaublich unglückliche Menschen, aber wir sind auch Wilde, brutale Banditen, Hunde.

– Noch mehr als das! knurrte einer, der keinen andern Ausdruck mehr fand.

– Ja, ich gestehe es!

In der trostlosen Stille jenes Morgens begannen diese Männer, die die Erschöpfung gefoltert, der Regen gepeitscht und eine ganze Donnernacht erschüttert hatte, diese Ueberlebenden, die dem Feuer und dem Ertrinken entwischt waren, diese Menschen begannen zu verstehn, wie scheusslich der Krieg ist, moralisch und physisch, und dass er nicht nur den Verstand schändet, die grossen Ideen beschmutzt und alle Verbrechen befiehlt – sondern sie erinnerten sich, wie sehr er in ihnen und in ihrer Umgebung die schlechten Triebe ohne Ausnahme entfesselt hatte: die Bösartigkeit bis zum Sadismus, die Ichsucht bis zur tierischen Wut, die Genussucht bis zum Wahnsinn.

Alles das stellen sie sich jetzt vor, wie sie sich vorhin ihr Elend vorgestellt haben. Verwünschungen bersten in ihnen, versuchen auszubrechen und möchten in Worten aufgehn. Sie stöhnen; sie schreien. Es hat den Anschein, als möchten sie sich mit aller Anstrengung vom Irrtum und von der Unwissenheit befreien, die sie wie der Kot beschmutzt, und als möchten sie endlich den Grund ihrer Strafe erkennen.

– Und was dann? rief der eine.

– Was dann? wiederholt der andere noch feierlicher.

Der Wind lässt die überschwemmte Ebene erzittern, und indem er die knienden und liegenden Menschenhaufen aufrüttelt, entreisst er ihnen bebende Worte.

– Es wird keinen Krieg mehr geben, schimpft ein Soldat, wenn's kein Deutschland mehr gibt

– Nein, so ist es nicht richtig gesagt! schreit ein anderer. Das genügt noch nicht. Erst wenn der Geist des Krieges besiegt sein wird, wird's keinen Krieg mehr geben!

Da aber der tobende Wind seine Worte halb erstickt, hebt er den Kopf und wiederholt, was er gesagt hatte.

– Deutschland und der Militarismus, stottert schnell die Wut eines andern, das ist dasselbe. Sie haben den Krieg mit Vorbedacht gewollt. Sie sind der Militarismus.

– Der Militarismus ... fährt ein Soldat fort.

– Was ist Militarismus? fragt eine Stimme.

– Es ist ... es ist die brutale Gewalt, die plötzlich und zu einer gewissen Zeit niederfährt. Es heisst ein Bandit sein.

– Jawohl und heute heisst der Militarismus Deutschland.

– Ja, aber morgen, wie wird er morgen heissen?

– Ich weiss es nicht, sagt eine Stimme feierlich wie ein Prophet.

– Solang der Geist des Krieges nicht getötet ist, wird's Keilereien geben, solang die Weltgeschichte geht.

– Man muss ... Man muss ...

– Man muss den Krieg auskämpfen! gurgelt die rauhe Stimme eines Körpers, der seit unserm Aufwachen in dem alles verschlingenden Kot zum Steinklotz geworden ist. Man muss! – und der Körper dreht sich schwerfällig um. – Alles was wir haben, müssen wir hergeben, unsre Kraft und unsre Haut, und unsre Herzen und unser ganzes Leben, auch die Freuden, die uns noch übrig blieben! Unser Sklavenleben müssen wir mit beiden Händen annehmen! Alles muss ertragen werden, sogar die Ungerechtigkeit, die jetzt regiert, und der Skandal und alle Schweinereien, die man sieht – alles das, um dem Krieg ein Ende zu setzen, um zu siegen! Aber, wenn ein derartiges Opfer gebracht werden muss, fügt die unförmige Gestalt verzweifelt hinzu, indem sie sich noch mehr umkehrt, so ist das nur, weil man für einen Fortschritt kämpft und nicht für ein Land; gegen einen Irrtum und nicht gegen ein Land.

– Der Krieg muss getötet werden, sagt der erste, der Krieg muss in Deutschlands Bauch getötet werden!

– Jawohl, meint einer, der wie ein Schössling im Boden eingewurzelt dasass, allmählich wird's einem klar, wofür man in den Krieg gezogen ist.

– Und doch, murmelt seinerseits der Jäger, der zusammengekauert sass, es gibt welche, die sich mit einer andern Idee im Schädel schlagen. Ich hab welche gesehn, junge Kerle, die sich nicht schlecht über die Humanitätsgedanken lächerlich machten. Die Hauptsache war für sie die nationale Frage und weiter nichts und der Krieg eine vaterländische Sache: dabei rückt ein jeder das eigne Vaterland ins hellste Licht, und weiter nichts. Und die schlugen sich und schlugen sich tapfer.

– Sie sind noch jung, die kleinen Burschen, die du meinst. Jung sind sie, musst ihnen verzeihn.

– Man kann schon seine Pflicht tun, ohne recht zu wissen, was man eigentlich tut.

– Wahr ist es schon, die Menschen sind verrückt. Das wird man nie oft genug wiederholen können!

– Die Chauvinisten, das ist das Ungeziefer ..., knurrt ein Schatten.

Dann wiederholten sie mehrere Male, als ob sie sich daran vorwärtstasteten:

– Man muss den Krieg töten. Den Krieg, ihn! Einer von uns, der seinen Kopf im Gerüste seiner Schultern unbeweglich hielt, versteifte sich auf seine Idee:

– Das sind alles leere Sprüche. Ob du dies oder jenes glaubst, ist ganz Wurst! Siegen musst du, weiter nichts.

Aber die andern hatten zu grübeln angefangen. Sie wollten wissen und über die Gegenwart hinausblicken. Sie bebten und versuchten aus sich selbst eine leuchtende Weisheit und einen Willen zu erzeugen. Unzusammenhängende Ueberzeugungen wirbelten ihnen im Kopf herum und über ihre Lippen kamen verworrene Glaubensfragmente.

– Jawohl ... Ja ... Aber man muss die Dinge ins Auge fassen ... Alterchen, musst immer ans Endresultat denken.

– Das Endresultat! In diesem Kriege Sieger sein, versteift sich der Ecksteinmensch, ist das kein Endresultat?

Da antworteten zwei Stimmen miteinander:

– Nein!

*

In diesem Augenblick entstand ein dumpfer Lärm. Schreie fuhren auf und ein Schaudern überkam uns.

Eine ganze Lehmwand hatte sich vom Hügel, an dem wir durcheinander angelehnt waren, losgelöst und deckte mitten unter uns eine Leiche auf, die mit gestreckten Beinen auf dem Boden sass.

Vom Erdrutsch barst oben am Hügel eine Erdfalte, in der sich das Wasser angesammelt hatte; ein Wasserfall ergoss sich über die Leiche und spülte sie, während wir herumhockten und zuschauten.

– Er hat ein ganz schwarzes Gesicht! schrie einer.

– Was ist das für ein Gesicht? fragte ein andrer mit bebender Stimme.

Die es noch konnten, krochen wie Kröten im Kreise heran. Das Gesicht stand wie ein Relief an der Wand, die der Erdrutsch blossgelegt hatte, aber man konnte seine Züge nicht mehr erkennen.

– Sein Gesicht! Das ist gar nicht sein Gesicht!

An Stelle des Antlitzes entdeckte man einen Haarschopf.

Dann bemerkte man, dass dieser scheinbar sitzende Leichnam geknickt und im Kreuz gebrochen war.

Wir betrachteten in schrecklichem Schweigen den senkrechten Rücken, den uns diese ausgerenkten Ueberreste zukehrten, diesen hängenden und nach vorn gebogenen Arm und die beiden Beine, die auf dem Boden ausgestreckt waren und ihre Fusspitzen in der weichen Erde stützten.

Dann begann die Diskussion angesichts dieses grauenhaften Schläfers von neuem. Dabei schrien sie wütend, als ob der Tote lauschte.

– Nein! der Sieg ist kein Resultat, nicht sie, sondern den Krieg muss man erwischen.

– Hast du's denn noch nicht verstanden, dass man erst mit diesem Krieg aufräumen muss? Wenn das verschoben werden soll, dann nützt alles, was bis jetzt gemacht worden ist, rein nichts. Schau her, es nützt nichts. Die zwei oder drei oder noch mehr Jahre, die ganze Katastrophe war für die Katz.

*

– Ja, wenn alles, was man erlitten hat, nicht das Ende dieses grossen Unglückes bedeutet, – ich halte am Leben fest: hab Frau und Kinder und 's Haus drum herum; ich hab mir schon für nachher alles zurecht überlegt, ja ... und doch, möcht ich sonst lieber sterben.

– Ich sterbe, klang es genau in demselben Augenblick neben Paradis wie ein Echo; der Verwundete hatte offenbar seine Bauchwunde angesehn; dann sagte er noch:

– Ich sterbe ungern wegen meiner Kinder.

– Ich, murmelte eine andre Stimme, ich sterbe gern, weil ich Kinder hab. Ich sterbe, also weiss ich, was ich sage, und sag mir: »Sie werden Frieden haben, die Kinder!«

– Ich werde vielleicht nicht sterben, sagte ein andrer mit zitternder Hoffnung, die er selbst angesichts der Verurteilten nicht beherrschen konnte, aber ich werde leiden. Darum sage ich: meinetwegen, ich sage sogar: um so besser; ich werd noch mehr Leiden ertragen können, wenn ich weiss, dass es für etwas nützlich ist!

– Ja, wird man sich nach dem Krieg noch weiter rumhauen müssen?

– Vielleicht ja ...

– Hast du so noch nicht genug!

– Grad weil ich keinen Krieg mehr will! schimpfte einer.

– Und diesmal vielleicht nicht gegen Fremde.

– Kann schon sein ...

Ein noch wütenderer Windstoss blies uns die Augen zu und erstickte uns. Als er vorbei war und man sah, wie der Sturm über die Ebene jagte, ihre Kotfetzten schüttelte und in die Wassergräben fuhr, die wie das lange Grab eines Heeres klafften, meinte einer:

– Was macht letzten Endes die Grösse und die Schrecken des Krieges aus?

– Die Grösse der Völker.

– Und die Völker, das sind wir!

Der dies sagte, schaute mich fragend an.

– Ja, sagte ich zu ihm, es ist wahr, alter Bruder! Mit uns allein macht man die Schlachten. Wir sind der Stoff, aus dem der Krieg gemacht wird. Der Krieg besteht allein aus dem Leib und aus der Seele des einfachen Soldaten. Wir bilden die Totenfelder und die Blutströme, wir alle, die wir als einzelner unsichtbar und stumm in der ungeheuern Zahl aufgehn. Die verlassenen Städte, die zerstörten Dörfer, alles das ist Wüste, weil wir nicht mehr dort sind. Ja das alles sind wir selbst, voll und ganz.

– Ja, es ist wahr. Die Völker sind der Krieg; ohne sie wäre nichts, nichts oder nur ein wenig Lärm, ein Gekreische aus der Ferne. Aber es sind nicht die Völker, die den Krieg entscheiden. Das besorgen die Herren, die ihn führen.

– Die Völker kämpfen heute, um sich frei zu machen von den Herren, die sie führen. Dieser Krieg ist, wie die Fortsetzung der französischen Revolution.

– In diesem Falle also arbeiten wir auch für die Preussen?

– Hoffentlich wohl, sagte einer jener Unglücklichen, die in der Ebene lagen.

– Das soll der Teufel holen! knirschte der Jäger. Aber er nickte mit dem Kopf und schwieg.

– Denken wir an uns! Die fremden Angelegenheiten gehn uns nichts an, murrte der verdriessliche Dickkopf.

– Doch! Die gehn uns wohl was an ... denn was du die Fremden nennst, das sind eben nicht die Fremden, sondern die sind wie wir!

– Warum sollen wir denn immer für die ganze Welt herhalten!

– Das ist mal so, sagte einer und wiederholte die Worte, die er soeben ausgesprochen hatte: Um so schlimmer oder um so besser!

Die Völker bedeuten nichts und sollten doch alles sein, meinte der, der mich befragt hatte; dabei sprach er, ohne es zu wissen, einen historischen und über hundert Jahre alten Satz aus, verlieh ihm aber endlich seine grosse, universelle Bedeutung.

Der Sprechende, der der Katastrophe entkommen war, hockte auf allen Vieren im öligen Schlamm der Erde, hob sein aussätziges Gesicht und blickte gierig vor sich hin ins Unendliche.

Er schaute und schaute. Er versuchte die Tore des Himmels zu öffnen.

*

– Die Völker müssten sich verständigen durch die Haut derer und auf dem Bauch jener, die sie auf die eine oder die andere Art ausbeuten. Alle Massen sollten sich verständigen.

– Alle Menschen sollten endlich gleich sein.

Dieses Wort tönte uns wie eine Rettung entgegen.

– Gleich ... ja ... ja ... Es gibt grosse Gedanken der Gerechtigkeit und der Wahrheit. Es gibt Dinge, an die man glaubt, denen man entgegensieht und an die man sich festklammert wie an eine Lichtquelle. Vor allem die Gleichheit.

– Es gibt auch Freiheit und Brüderlichkeit.

– Vor allen gibt es Gleichheit!

Ich sage ihnen dann, dass die Brüderlichkeit ein Traum sei, ein verschwommenes Gefühl, ohne Bestand; es ist zwar nicht menschlich, einen Unbekannten zu hassen, aber es ist auch nicht menschlich, einen Unbekannten zu lieben. Auf die Brüderlichkeit kann man nichts aufbauen. Ebenso wenig auf die Freiheit: sie ist etwas zu relatives in einer Gesellschaft, in der die Gegenwart eines jeden die Existenz des andern beeinträchtigt.

Aber die Gleichheit bleibt sich ewig gleich. Die Freiheit und die Brüderlichkeit sind Worte. Die Gleichheit (die soziale Gleichheit natürlich, denn die Individuen haben mehr oder weniger Wert; aber jeder soll im gleichen Mass an der Gesellschaft Anteil haben; dies ist gerecht, denn das Leben des einen ist ebenso gross wie das Leben des andern). Die Gleichheit ist die grosse Formel der Menschheit. Ihre Bedeutung ist ungeheuer. Die Gleichheit der Rechte einer jeden Kreatur und die Gleichheit des heiligen Willens der Mehrheit sind unfehlbar und müssen unbesiegbar sein – sie wird alle Fortschritte bringen, alle, mit einer wahrhaft göttlichen Kraft. Vor allem wird dieses Prinzip die grosse, ausgeglichene Basis für jeden Fortschritt schaffen: die Regelung der Streitigkeiten durch die Gerechtigkeit, was dem allgemeinen Interesse genau gleichkommt.

Diese Männer aus dem Volk, die hier beisammen liegen, ahnen eine noch unbestimmte Revolution, die noch grösser sein wird als die andre und deren Quelle sie sind und die ihnen bereits in die Kehle steigt; sie rufen aus:

– Gleichheit! ...

Es ist, als ob sie das Wort buchstabierten und dann überall klar geschrieben sähen – und als gäb es auf der Welt kein Vorurteil, kein Vorrecht und keine Ungerechtigkeit, die davor nicht zu Schanden würde. Das Wort birgt die Lösung aller Fragen und ist ein göttliches Wort. Sie betrachten es von allen Seiten und entdecken in ihm eine Art Vollkommenheit. Und sie sehn alle Ungerechtigkeiten in einem blendenden Lichte brennend untergehn.

– Es wäre schön, sagt einer.

– Es ist zu schön, um wahr zu sein! antwortet ein anderer.

Aber ein dritter sagt:

– Es ist schön, weil es wahr ist; das ist seine einzige Schönheit. Und dann ... nicht weil es schön ist, wird es einmal sein. Die Schönheit ist nicht im Kurs, ebensowenig wie die Liebe. Aber es ist wahr, und ist deshalb unabwendbar.

– Wenn doch die Völker Gerechtigkeit wollen und die Völker die Macht vorstellen, so sollen sie auch die Gerechtigkeit einführen.

– Sie beginnen bereits damit, sagte eine dunkle Stimme.

– So wie alle Dinge ins Rollen kommen, verkündete eine andere Stimme.

– Wenn alle Menschen gleich sein werden, werden sie notgedrungen zusammenstehn.

– Dann werden nicht mehr dreissig Millionen Menschen unter dem Himmel Dinge ausführen, die sie selbst nicht wollen.

Das ist wahr. Dagegen lässt sich nichts sagen. Welchen Schatten eines Argumentes, welchen Schein einer Antwort könnte man, wagte man, diesem Satze entgegenzuhalten: »Dann werden nicht mehr dreissig Millionen Menschen unter dem Himmel Dinge ausführen, die sie selbst nicht wollen.« Ich lausche und folge der Logik jener Armseligen, die in die Schmerzensebene verschlagen sind und aus deren Wunden und aus deren Schmerzen die Worte quellen, die Worte, die sie blutend von sich geben.

Und jetzt bedeckt sich der Himmel. Dichte, bläuliche Wolken bepanzern ihn nach der Erde zu. Darüber fegen Riesenstreifen feuchten Staubes durch den zinnernen Glanz des schwachen Lichtes. Ein düsteres Wetter steigt auf. Es wird noch regnen. Der Sturm ist noch nicht zu Ende und auch die lange Leidenszeit ist noch nicht vorbei.

– Und das wird man sich fragen, sagte der eine: »Weshalb schliesslich wird Krieg geführt?« Weshalb, man weiss es nicht; aber für wen er geführt wird, das kann man sagen. Schliesslich wird man notgedrungen erkennen, dass, nachdem alle Nationen dem Kriegsgötzen die frischen Leiber von fünfzehnhundert jungen Männern täglich als Schlachtopfer bringen, es nur im Interesse einiger Führer geschieht, die man an den Fingern abzählen kann; dass sich ganze Völker herdenweise zur Schlachtbank führen lassen, damit eine goldbetresste Kaste ihre Prinzennamen ins Buch der Geschichte schreiben kann, und damit die andern, ebenfalls goldgeschmückten Leute, die zur selben Gesellschaft gehören, mehr Geschäfte machen können – aus persönlichen Rücksichten und im Interesse einzelner Krämer also. – Und den sehenden Augen wird es klar werden, dass die Trennung, die zwischen den Menschen besteht, nicht diejenige ist, die man annimmt, und dass jene, an die man bisher glaubte, gar nicht besteht.

– Horch! unterbrach ihn plötzlich einer.

Man verstummt und hört in der Ferne das Donnern der Kanone. Dort erschüttert ihr Rollen die Luft, und das ferne Gewitter schlägt schwach an unsre vergrabenen Ohren; um uns aber dringt die Ueberschwemmung immer tiefer in die Erde und zieht langsam die Höhen mit hinein.

Es geht wieder los ...

Dann meint einer von uns:

– Herrgott, wogegen werden wir nicht alles noch ankämpfen müssen!

Schon spricht eine Angst, ein Zweifel aus der tragischen Unterredung, die sich unter diesen verlorenen Menschen wie ein ungeheures Meisterwerk des Schicksals verbreitet. Es beginnt nicht nur das endlose Leiden wieder und die Gefahr und die elenden Zeiten, sondern auch die Feindseligkeit der Dinge und der Menschen gegen die Wahrheit, gegen die aufgestapelten Vorrechte, gegen die Unwissenheit, gegen die tauben Ohren und den schlechten Willen, gegen die vorgefassten Meinungen und die Starrköpfigkeit der bestehenden Zustände, die nicht ins Schwanken zu bringen und deren Knoten nicht zu lösen sind.

Und der tastende Traum der Gedanken geht in jene Vision über, in der die ewigen Feinde aus den Schatten der Vergangenheit hervortreten und in die wütenden Schatten der Gegenwart hineinstürmen.

Da sind sie ... Als fahre am Himmel die Vision über die Kämme des Gewitters, das die Welt in Trauer stürzt; sie kommen, die reitenden Kämpfer, im blendenden Galopp – Schlachtpferde und Rüstungen, Tressen und flatternde Federbüsche, Kronen und Schwerter ... Man sieht sie deutlich, sie wälzen sich vorüber und blitzen in prunkender Pracht, und hängen voller Waffen. Und die kriegerischen Reiter spalten mit ihren altmodischen Gesten die Wolken, die am Himmel stehn wie auf der Theaterbühne.

Von allen vier Ecken des Horizontes wogt es heran über die fiebernden Blicke hinweg, die von der Erde aufsteigen, über die Leiber, die der gemeinste Kot der Erde und der zertretenen Felder überhäuft, es verdrängt die Unendlichkeit des Himmels und verdeckt die blauen Tiefen.

Und es sind Legionen. Nicht nur die Kaste der Krieger, die zum Kriege brüllen und ihn anbeten, nicht nur die, denen die allgemeine Knechtschaft eine magische Macht verleiht: die erblichen Machthaber, die hier und dort aufrecht stehn über der kniefälligen Menschheit und plötzlich auf die Wage der Gerechtigkeit drücken, weil's gilt, für sie zu einem bedeutenden Schlag auszuholen. Ihnen gesellt sich die grosse Masse, die bewusst oder unbewusst, ihren fürchterlichen Privilegien dienen.

– Es gibt, schreit in diesem Augenblick einer jener finstern und dramatischen Zwischenredner, und streckt dabei die Hand aus, als ob er's sähe, es gibt solche, die sagen: »Wie ist das alles schön!«

– Und solche, die sagen: »Die Rassen hassen einander!«

– Und solche, die sagen: »Ich werde fett vom Krieg, und mein Bauch wächst dabei!«

– Und solche, die sagen: »Es hat von jeher Kriege gegeben, also wird es auch fürderhin Kriege geben!«

– Dann gibt es solche, die sagen: »Ich sehe nicht weiter als meine Nasenspitze und verbiete den andern, weiter zu sehn!«

– Es gibt solche, die sagen: »Die Kinder kommen zur Welt mit roten oder blauen Hosen am Hintern!«

– Es gibt, fluchte eine heisere Stimme, es gibt solche, die sagen: »Schlagt die Augen nieder und glaubt an Gott!«

*

Jawohl! Recht habt ihr, ihr arme, zahllose Handwerker des Krieges, ihr, die ihr den ganzen, grossen Krieg mit euern eignen Händen vollbracht haben werdet, du Allmacht, die der Erfüllung des Guten noch nicht dient, du irdischer Haufe, darunter jedes Antlitz eine Welt voll Schmerzen ist, ihr, die ihr unter dem Himmel, wo lange Wolken zerreissen und wie böse Engel sich wirr entfalten, träumt gebeugt unter dem Joch eines Gedankens! – Ja, ihr habt recht. Alles das ist gegen euch. Alles das ist gegen euch, gegen euer grosses, allgemeines Interesse, das in der Tat eins ist mit der Gerechtigkeit, – und nicht nur die Säbelrassler, die Hamsterer und die, die im Trüben fischen, sind eure Feinde.

Es hat nicht nur die verruchten Anteilhaber, die Geldleute, die grossen und kleinen Geschäftemacher, die eingepanzert in ihren Banken und in ihren Häusern vom Kriege leben und während des Krieges in Frieden davon leben, mit ihrer versteckten Doktrin, die ihre Stirnen vernagelt, mit ihren Gesichtern, die wie ein Geldschrank verschlossen sind.

Es hat solche, die die Blitze der gekreuzten Klingen bewundern, und wie die Frauen von dem bunten Tuch der Uniformen träumen und schreien. Solche, die sich berauschen an der Militärmusik oder an Liedern, die man dem Volk einschenkt wie Schnaps, die Geblendeten, die Schwachen an Geist, die Fetischisten, die Wilden.

Die, die von der Vergangenheit leben und deren Wort im Munde führen, die Traditionellen, für die eine Vergewaltigung Gesetzeskraft hat, weil sie von jeher besteht; die, die sich von den Taten regieren lassen und die Zukunft und den leidenschaftlichen, bebenden Fortschritt den Geistern der Verstorbenen und den Ammenmärchen unterwerfen.

Zu ihnen gehören alle Priester, die euch aufreizen und mit dem Morphium ihres Paradieses einlullen möchten, damit alles beim Alten bleibe. Dazu die Advokaten – Nationalökonomen, Historiker und weiss ich noch was alles! – die euch mit theoretischen Phrasen verwirren, die den Kampf der nationalen Rassen unter sich proklamieren, wobei doch die geographische Einheit der modernen Nationen nur willkürlich durch die abstrakten Linien ihrer Grenzen bestimmt ist, und aus künstlich zusammengewürfelten Rassen besteht; und die zweifelhaften Geneologen, die der Eroberungssucht und der Raubgier falsche, philosophische Atteste und erfundene Adelsbriefe ausstellen. Die Gelehrten sind vielfach in einer Hinsicht Unwissende, die die Einfachheit der Dinge aus dem Auge verlieren und sie auswischen und durch Formeln und Einzelheiten verdunkeln. In den Büchern lernt man die kleinen Dinge, nicht die grossen.

Und wenn sie auch sagen, dass sie den Krieg nicht wollen, so machen sie doch alles, um ihn am Leben zu erhalten. Sie nähren die nationale Eitelkeit und die Vorliebe für das Machtprinzip. »Wir allein, schreit ein jeder hinter seinem Gitter, wir allein haben den Mut, die Ehrlichkeit, das Talent und den guten Geschmack für uns gepachtet!« Unter ihnen wird die Grösse und der Reichtum eines Landes zu einer gefrässigen Krankheit. Aus der Vaterlandsliebe, die wohl recht und gut ist, solange sie die Grenzen des Gefühlsmässigen und Künstlerischen nicht überschreitet, genau wie der ebenso heilige Familiensinn und die Vorliebe für die Provinz, aus all dem machen sie einen utopistischen und unmöglichen Begriff, der das Gleichgewicht der Welt stört, eine Art Krebsschaden, der alle Lebenskräfte aufsaugt, alles für sich in Anspruch nimmt und das Leben würgt und schliesslich durch Ansteckung den Krieg heraufbeschwört, oder einen gewappneten Frieden, der zur Erschöpfung und zur Lähmung führt.

Sie fälschen die anbetungswürdige Moral: Wie viele Verbrechen haben sie mit einem Wort zu Tugenden gemacht, indem sie sie nationale nannten! Selbst die Wahrheit gestalten sie um. An Stelle der ewigen Wahrheit setzt ein jeder seine nationale Wahrheit. Soviel Völker, soviel Wahrheiten, die einander nicht gelten lassen und die Wahrheit fälschen und sie verzerren.

Alle die Leute, die jene kindischen, ekelhaft lächerlichen Reden führen und die sich über eure Köpfe hinweg herumzanken: »Ich hab nicht angefangen, du hast angefangen! – Nein, ich bin's nicht gewesen, du warst es! – Fang doch du an! Nein, fang du an!« Alle diese Kindereien, die die ungeheure Weltwunde offen halten; denn nicht die eigentlichen Beteiligten haben das Wort, im Gegenteil; somit fehlt aber auch der rechte Wille, der Geschichte ein Ende zu machen; alle die Leute, die auf Erden keinen Frieden machen können oder wollen; alle die Leute, die sich aus dem einen oder andern Grund an die frühere Weltordnung anklammern, sie begründen und zu ihren Gunsten Beweise erfinden, diese Leute sind eure Feinde!

Sie sind eure Feinde wie heute die deutschen Soldaten, die hier bei euch liegen, eure Feinde und nur arme Leute sind, die man schnöde betrogen und abgestumpft hat, und die zu zahmen Tieren geworden sind ... Jene sind eure Feinde, wo sie auch geboren sind, ganz gleich, wie man ihren Namen ausspricht, ganz gleich, in welcher Sprache sie lügen. Schaut sie euch an im Himmel und auf Erden. Schaut sie euch überall an! Und merkt sie euch ein für allemal, damit ihr sie nie wieder vergesst!

*

– Sagen werden sie, schimpfte einer, der schief auf den Knien lag, die beiden Hände in der Erde hatte und seine Schultern wie eine Dogge schüttelte: »Mein Lieber, ein Held bist du gewesen, wunderbar!« Ich will nicht, dass mir einer so was sagt!

»Helden, ausserordentliche Wesen, Götzen? Dummes Zeug! Henker sind wir gewesen. Wir haben ehrlich das Henkerhandwerk ausgeübt. Und wir werdens noch weiter betreiben und sogar gründlich weil es gross und wichtig ist, dieses Handwerk auszuführen, um den Krieg zu rächen und zu ersticken. Die Hand, die zum Töten ausholt, ist immer gemein – manchmal muss sie es, aber sie ist immer gemein. Jawohl, rohe und unermüdliche Schlächter sind wir gewesen, weiter nichts. Aber es soll mir keiner kommen und von Soldatentugenden sprechen, weil ich Deutsche getötet habe.