|3| Christoph Flamm

Modest Mussorgski
Bilder einer Ausstellung

Erinnerung an Viktor Hartmann

Bärenreiter
Kassel · Basel · London · New York · Praha

|66| Zur Musik

Ein Werk im Abseits

Mussorgskis Bilder einer Ausstellung heben sich in ihrer Bedeutung, in ihren Dimensionen und in ihrer Stilistik weit von seinen anderen erhaltenen Klavierwerken ab. Diese sind fast ausschließlich einzeln stehende Miniaturen, eigentlich Petitessen. Dabei hatte er das Komponieren als Dreizehnjähriger tatsächlich auf dem Klavier, seinem eigenen Instrument, mit einer Fähnrichspolka (Porte-enseigne Polka, 1852) begonnen. Er pflegte zwar das Klavierspiel bis zum Ende seines Lebens intensiv, insbesondere als auf Gesellschaften bewunderter Unterhalter mit halb-improvisierter Tanzmusik sowie als Begleiter von Sängerinnen und Sängern, doch bedachte er das Klavier als Komponist nur mit Nebenwerken: mit weiteren Kleinformen wie dem Souvenir d’enfance (1857), zwei Scherzi (1858), dem Impromptu passionné (1859), dem Kinderscherz (1859/60), nochmals Kindheitserinnerungen (Njanja und ich, Die erste Strafe, 1865), einer Rêverie (1866) oder den Charakterstücken La Capricieuse (1865) und Die Näherin (1871). Viele dieser Stücke blieben zu Lebzeiten ungedruckt. Der Versuch, eine Sonate (für Klavier zu vier Händen) zu schreiben, endete 1860 als Fragment aus Allegro und Scherzo.

Allein Mussorgskis Intermezzo in modo classico von ca. 1863 kann als größeres Klavierwerk vor den Bildern einer Ausstellung gelten. Es ist auch das einzige, das sich stilistisch nicht in den gesamteuropäischen Mustern der Salonmusik des mittleren 19. Jahrhunderts bewegt, sondern gleich mit einem gravitätischen Unisono anhebt, das »chorisch« beantwortet wird – wie später das Thema der Promenade (Notenbeispiel 1). Das Stück zeugt einerseits von seiner damaligen Auseinandersetzung mit Bach, andererseits weist es typische Stil-Eigenheiten des »Mächtigen Häufleins« auf.1 Wie Stassow überliefert, hatte Mussorgski dieses Intermezzo als »russisch im Geheimen« bezeichnet und die Inspiration dazu während eines Besuches bei seiner Mutter auf dem Lande im Gouvernement Pskow erhalten: An einem sonnigen Wintertag sah er dort eine Reihe von Bauern schwer durch den hohen Schnee stapfen. »›Das alles zusammen bot ein Bild‹, so erzählte Mussorgski, ›das schön und malerisch, aber auch ernst und gleichzeitig |67| heiter war. Und plötzlich‹, so fuhr er fort, ›zeigte sich in der Ferne eine Gruppe junger Bauernmädchen, die mit Liedern und Gelächter auf einem ausgetretenen Pfad immer näher kam. Dieses Bild verwandelte sich in meinem Kopf in seine musikalische Entsprechung, so daß sich wie von selbst und völlig unerwartet die erste von oben nach unten schreitende Melodie à la Bach formte: die fröhlichen, lachenden, jungen Mädchen erschienen mir in Gestalt einer Melodie, aus der ich später den Mittelteil oder das Trio aufbaute. Und das alles in modo classico, d. h. in Entsprechung zu meinen damaligen musikalischen Exercitien. So ist also mein Intermezzo auf die Welt gekommen.‹«2 In Mussorgskis Umfeld wurde dieses Intermezzo, das er 1867 für Orchester bearbeitete und Borodin widmete, ganz besonders geschätzt, sicherlich wegen des russischen Tonfalls und vermutlich, weil die Geschichte mit der ländlichen Inspiration allgemein bekannt war.

Notenbeispiel 1: Mussorgski, »Intermezzo in modo classico«, T. 1–8.

|68| Aber trotz dieses fernen Vetters stehen die Bilder seltsam isoliert in Mussorgskis Klavierwerk, und eigentlich nicht nur in seinem: Es fällt schwer, diesem Werk, in dem »alles ungewöhnlich«3 ist, überhaupt ein anderes an die Seite zu stellen. Begriffe wie »Album« oder »Suite«, mit denen die Bilder schon in der Erstausgabe und in Stassows Erinnerungen bezeichnet wurden, treffen Form und Inhalt nur ungenügend. Es handelt sich um einen auf mehreren Ebenen planmäßig konstruierten Zyklus aus programmatischen Miniaturen, die durch eine poetische Idee ebenso wie durch musikalische Brücken miteinander verbunden sind. Wenn man ein bekanntes Vorbild benennen möchte, liegt wohl Schumann mit seinen poetischen Zyklen wie den Papillons op. 2 oder den Davidsbündlertänzen op. 6 am nächsten, vor allem aber sein Carnaval op. 9, denn auch dort bilden Selbstporträt, poetische Bilder, der Gedanke an Freunde und die musikalisch-thematische Substanz eine komplexe zyklische Einheit, ganz zu schweigen von der Bezeichnung »Promenade« (Nr. 18) in Schumanns Zyklus. Daneben könnte auch ein heute obskures Klavierwerk aus Mussorgskis näherer Umgebung als unmittelbare Inspiration neben Schumann gedient haben (s. S. 124ff.).

Die Wiederkehr der Promenade in der Mitte der Bilder einer Ausstellung, die Transformation des Promenaden-Themas in mehreren Zwischenspielen sowie dessen Integration in das Schlussstück stellen die sichtbarste äußere Zyklusklammer dar. Auch die Tonartendisposition, der Wechsel von langsamen und schnellen, dunklen und lichten Stücken sowie das Aufgreifen mancher melodischer Wendungen sorgen für Balance und Zusammenhalt. Und wie bei Schumann geht es dabei nicht nur um größere musikalische Strukturen, sondern auch um größere inhaltliche Dimensionen. So stellte die sowjetische Pianistin Maria Judina anlässlich ihrer eigenen Aufnahme des Werkes klar: »Der Form nach ist dies ein Zyklus. Keine Suite, wie er gelegentlich von Mussorgskis Zeitgenossen naiv genannt wurde, sondern tatsächlich ein Zyklus. Der Begriff ›Zyklus‹ beinhaltet bereits für sich in seiner Benennung Vorstellungen von Vielfältigkeit, Architektonik, Synthese und großem Maßstab.«4

Die folgende Betrachtung der Musik, die weniger die Beleuchtung von Details als ein Verständnis des großen Ganzen anstrebt, beginnt mit der Promenade und ihren vielgestaltigen Varianten und führt dann über die einzelnen Bilder zur Frage nach der zyklischen Einheit in der Vielfalt – und damit zurück zu den inhaltlichen Deutungen, die im ersten Kapitel angesprochen wurden.5

|69| »Promenade« und Zwischenspiele

»Promenade«

Wie wir gesehen haben, bezeichnete Mussorgski in seinem während des Komponierens geschriebenen Brief an Stassow die Promenade als ein Selbstporträt, das seine räumliche Bewegung beim Spaziergang in der Ausstellung versinnbildlicht (s. S. 35f.). Die Promenade eröffnet den Zyklus als eigenständiges, geschlossenes Stück, sie »bildet eine Art epischen Prolog«,6 ein »monumentales Epigramm des ganzen Zyklus«.7 Auch ohne die kuriose (weil im Italienischen fehlerhafte) Vortragsanweisung Allegro giusto, nel modo russico; senza allegrezza, ma poco sostenuto tritt das russische Kolorit dieses Selbstporträts unmissverständlich zutage. Es ist eine motivisch in sich symmetrisch (je nach Betrachtungsweise differierend) strukturierte, aber in asymmetrische Taktmaße gegossene Phrase:

Notenbeispiel 2: Symmetrische Struktur des Themas der »Promenade«.

Wodurch stellt sich die Konnotation des Russischen hier ein? Da ist zum einen die wie im Intermezzo in modo classico episierende Einstimmigkeit, die etwa auch den Anfang von Borodins Lied des dunklen Waldes aus dem Jahr 1873 oder seiner h-Moll-Sinfonie kennzeichnet – welche übrigens gerade deswegen im Russischen den Spitznamen »Die Heldische« (»Bogatyrskaja«) trägt, also mit demselben Begriff wie das Heldentor bezeichnet wird, weil das wuchtige Schreiten der Legenden-Recken gleichsam klingend vor Augen steht:

|70|

Notenbeispiel 3: Borodin, 2. Sinfonie, I. Satz, T. 1–7.

Dann basiert die Melodik der Promenade auf für russische Volkslieder typischen Dreiton-Strukturen aus Sekunde und Quarte, wie sie etwa auch im berühmten Lied der Wolgatreidler hervortreten, das Balakirew 1866 in seine Sammlung russischer Volkslieder aufgenommen hatte (Notenbeispiel 4). Zudem imitiert die Promenade, ebenso wie Balakirews Wolgatreidler, den charakteristischen Wechsel von solistischem Vorsänger und chorischer Antwort (zapev und pripev), wie er gerade im volkstümlichen Gesang auftritt. Außerdem spiegelt der Wechsel von 5/4- und 6/4-Takt die asymmetrische Metrik russischer Volkslieder wider, speziell jene charakteristischen 11/4-Strukturen, die später beispielsweise auch Rimski-Korsakow in seinen Opern Schneewittchen und Sadko in Chorszenen anwendete.

Notenbeispiel 4: Lied der Wolgatreidler (aus: Balakirew, Sammlung russischer Volkslieder, 1866).

|71| Der gravitätische, diatonisch strahlende und akkordisch triumphale Charakter der Promenade weist schließlich wohl nicht zufällig eine gewisse melodische Verwandtschaft mit dem berühmten Huldigungschor (Slava) aus der Krönungsszene der Oper Boris Godunow auf, wie Alfred Schnittke herausgearbeitet hat:8

Notenbeispiel 5: Vergleich des Themas der »Promenade« mit dem »Slava«-Chor aus »Boris Godunow« (nach Šnitke 1954).

Diese melodische Nähe impliziert eine semantische Affinität, die schließlich im hymnischen, von Glockenklang und Kirchengesang durchzogenen Heldentor von Kiew explizit werden wird. Anders als im Ruhmeschor der Oper verwendet Mussorgski hier kein konkretes Zitat, ebensowenig wie im Hymnus und Kirchengesang des Heldentors. Er erzeugt nationales Kolorit also nur in Anlehnung an die genannten Eigenheiten russischer Volksliedtypen, die aber zugleich verdichtet werden. Diese Verdichtung wird besonders deutlich, wenn man ein mögliches Vorbild aus der 1872 (!) erschienenen Sammlung ukrainischer Volkslieder von Alexander Rubez gegenüberstellt (hier zum besseren Vergleich transponiert, ohne Textierung):9

Notenbeispiel 6: »Blagoslovi, mati, vesnu zaklikati« aus der Volksliedsammlung von Alexander Rubez, 1872 (transponiert).

Diese ebenfalls halbtonlose, pentatonische, aus Quarten und Sekunden bestehende, symmetrisch konstruierte Phrase ist durch Pausen in gleiche Stücke getrennt, während diese in der Promenade wie ineinandergeschoben wirken. |72| Harmonisch meidet das Promenadenthema die traditionellen Kadenzstufen europäischer Kunstmusik, es steuert stattdessen oft die Nebenstufen an. Im weiteren Verlauf der Promenade findet die thematische Entwicklung auf Grundlage der genannten Dreiton-Strukturen statt. Die – wie in praktisch allen Stücken des Zyklus stark verkürzte – Reprise in Takt 21 wird kunstvoll vorbereitet durch den wiederkehrenden Sekundfall des Themenkopfs schon ab Takt 18.

Was die Promenade also letztlich vorführt, ist das prototypische Konzentrat aus Merkmalen russischer Volkslieder, die eben nicht zitiert werden, sondern deren Essenz sie destilliert, kondensiert, potenziert. Noch »russischer« geht es nicht. Und doch setzt der Komponist »in modo russico« zusätzlich darüber. Ob Mussorgski die Vokabel »russico« absichtlich oder versehentlich gewählt hat, ist eine offene, aber seltsamerweise extrem selten gestellte Frage. Korrekt müsste es im Italienischen ja »russo« heißen. Vielleicht erklärt sich das »russico« als Versuch des Komponisten, in Unterscheidung zum russischen Adjektiv »russkij« (russisch) das auf das Staatsgebilde bezogene Adjektiv »rossijskij« (russländisch) zu imitieren, also ganz bewusst das Nationale als den Nationalstaat zu verstehen.10 Der Musikwissenschaftler Levon Hakobian hat dagegen die Hypothese aufgestellt, dass der Komponist hier einen Neologismus geschaffen haben könnte, indem er das Russische (»russo«) mit dem Ländlich-Bäuerlichen (»rustico«) zu einer unlösbaren Verbindung »russico« amalgamierte.11 Damit wäre die wahre russische Kultur als die traditionelle Kultur der bäuerlichen Lebenswelt definiert. Beide Hypothesen finden in Mussorgskis Denken Rückhalt, sodass wir zumindest vermuten dürfen, der Komponist handelte bei seiner sprachlichen Neuschöpfung nicht unabsichtlich. (Diese Feststellung ist umso wichtiger, als das Klischee vom ungebildeten oder gar »dummen« Komponisten Mussorgski noch allzu verbreitet ist.)

Wie Alfred Schnittke in seiner umfassenden Analyse der Bilder festgestellt hat, vereinheitlicht die Promenade die buntscheckige Bilderwelt des Zyklus nicht nur äußerlich durch ihre (transformierte) Wiederkehr, sondern auch dadurch, dass sie semantisch einen roten Faden legt, der funktional meist als Kontrast angelegt ist: »Die Gestalt der Promenaden ist episch-national, eine Exposition der Gedanken und Gefühle von Mussorgski selbst. Die Musik der Promenaden ist erfüllt von beseelter Menschlichkeit und lyrischer Wärme. […] Wo immer die Promenaden erscheinen, in welcher verwandelten oder transformierten Gestalt sie auch immer vor unseren Augen im Verlauf des Zyklus auftreten, überall |73| bedeutet ihr Erscheinen eine Rückkehr zum Leben, zur Realität«.12 In diesen Zeilen schwingen natürlich die stereotypen Postulate des sogenannten sozialistischen Realismus mit, der zum Zeitpunkt von Schnittkes Aufsatz das sowjetische Musikleben bleiern lähmte; zu fragen wäre, welche »Lebensrealität« in den Promenaden und Zwischenspielen eigentlich gemeint ist.

Der ostdeutsche Musikforscher Dieter Lehmann hat in einer eng an Schnittke angelehnten Untersuchung der Promenaden dargestellt, dass Mussorgski in den Zwischenspielen bewusst auf Distanz zum salonhaften Tonfall und dem lyrischen Subjektivismus der russischen Klaviermusik gehen wollte: Zwar ist die Ich-Bezogenheit seines ritornellartigen Selbstporträts unvermeidlich, aber dennoch bemühte er sich, »den egozentrisch-subjektiven Faktor in der musikalischen Aussage zu Gunsten des Objektiv-Allgemeingültigen so weit als möglich auszuschließen. Zur musikalischen Darstellung persönlicher emotionaler Haltungen gelangt der Komponist durch Objektivierung der eigenen Erlebnisse, das heißt im vorliegenden Falle der gewonnenen Eindrücke von den Bildern Hartmanns. Er projiziert seine Gedanken und Empfindungen in ein Objekt Mussorgski und stellt sie dar, wie sie sich ihm in diesem Objekt zu erkennen geben.«13 Das Mittel zur Objektivierung und Anbindung an die russische Lebenswirklichkeit sieht Lehmann in den Anleihen beim russischen Bauerngesang und epischen Lied, wodurch es Mussorgski gelang, »die auf Objektivierung gründende Darstellung persönlicher geistiger und emotionaler Haltungen musikalisch zu konsolidieren. Von einem subjektiven Charakter der Promenaden kann somit keine Rede sein.«14

Auch in Lehmanns Deutung zeichnen sich nur zu deutlich Prämissen des sozialistischen Realismus ab; sie scheint in einigen Punkten stimmig, zwingt aber die Bedeutungsebenen der Musik ganz unnötig in ein Korsett. Mussorgskis »Lebenswirklichkeit« ist eben doch viel mehr ein subjektiv erträumtes Reich als ein objektiver Zustandsbericht; seine Zwischenspiele sind der seismografisch feine Widerhall des Betrachteten im betrachtenden Subjekt. Ganz zu schweigen von der in den eigentlichen Bildern extremen Fixierung auf alles Pychologische, auf das komplexe, mal heitere, mal abgründige menschliche Innenleben, demgegenüber alles lautmalerische Ambiente zur Staffage verblasst.

Die Wiederholung der Promenade nach dem sechsten Bild, durch die der Zyklus in zwei Teile gegliedert wird (wie es Stassow in seinem Brief an Rimski-Korsakow auch ausgedrückt hat, s. S. 36), erfolgt nicht ganz wörtlich. Es handelt sich um eine einerseits intensivierte, andererseits |74| gestraffte Variante des Eingangsstückes. Die eröffnende Einstimmigkeit ist nun oktaviert, die Akkorde der chorischen Antwort sind verdickt, der Bass erhält im Mittelteil mehr fließende und springende Achtelbewegungen statt statischer Viertel, sodass das Gesamtbild festlicher und opulenter wirkt. Dieses strahlende Klangsymbol für das National-Russische schlechthin tritt also in der Zyklusmitte, nach dem Eintauchen in verschiedene Bildwelten, nochmals gestärkt hervor, was schon auf den Triumph am Ende vorausdeuten mag.

Zwischenspiele

Dass Mussorgski die Zwischenspiele brieflich als »Intermezzi« bezeichnet, könnte möglicherweise ein begriffliches Echo des in Teilen sinnverwandten Intermezzo in modo classico sein. Dass sie weder Überschrift noch Tonartenvorzeichnung haben, entspricht ihrer reduzierten Funktion als Reflexion über das Gesehene ebenso wie ihre schwankende Tonalität, die bisher nur selten thematisiert worden ist. Auch hierin unterscheiden sie sich von der Wiederkehr der eigentlichen Promenade als eigenständiges, geschlossenes Stück in der Zyklusmitte. Dass Rimski-Korsakow in der Erstausgabe der Bilder alle Zwischenspiele mit der Bezeichnung »Promenade« versah, ignoriert diesen Bedeutungsunterschied und sicherlich auch die dahinterliegenden Intentionen des Komponisten. Auch die Entscheidung von Pawel Lamm, in der ersten kritischen Ausgabe nach dem Autograph (1932) die Zwischenspiele mit Tonartenvorzeichnungen zu versehen, widerspricht Mussorgskis Absicht, diese kleinen Brücken zwischen den Bildern in einer Art Schwebezustand zu belassen.

Wie nun gestaltet Mussorgski diese Zwischenspiele, wo platziert er sie (und wo nicht), wie sind sie mit den vorausgehenden oder nachfolgenden Stücken verbunden – und wie viele gibt es überhaupt? Diese Fragen berühren das Verständnis für das Zyklusganze, das sich im Überblick wie folgt darstellt:

|75| Titel

Tempo

Tonart

Takt-

art

Takt-

anzahl

Schluss

Promenade

Allegro giusto

B-Dur

5/4, 6/4

24

Attacca

1. Gnomus

Sempre vivo

es-Moll

3/4

99

Fermate

(Intermezzo)

Moderato comodo

Es-Mixolydisch / As-Dur

5/4, 6/4

12

Attacca

2. Il vecchio Castello

Andantino

gis-Moll

6/8

107

Fermate

(Intermezzo)

Moderato non tanto

H-Dur / Fis-Mixolydisch

5/4, 6/4

8

Attacca

3. Tuilleries

Allegretto non troppo

H-Dur

C

30

4. Bydło

Sempre moderato

gis-Moll

2/4

64

Fermate

(Intermezzo)

Tranquillo

d-Moll / A-Dur / A-Phrygisch

5/4, 6/4

10

Attacca

5. Ballett der unausgeschlüpften Küken

Vivo

F-Dur

2/4

42

Attacca

6. »Samuel« Goldenberg und »Schmuÿle«

Andante. Grave

b-Moll

C

25

Fermate

Promenade

Allegro giusto

B-Dur

5/4, 6/4

25

Fermate, Attacca

7. Limoges. Le marché

Allegretto vivo

Es-Dur

C

40

Attacca

8. Catacombae

Largo

h-Moll

3/4

30

Attacca

[Cum mortuis in lingua mortua]

Andante non troppo

h-Moll / H-Dur

6/4

20

Fermate

9. Die Hütte auf Hühnerfüßen

Allegro con brio

»C-Dur«

2/4

211

Attacca

10. Das Heldentor

Allegro alla breve

Es-Dur

C

174

Fermate

|76| Der sowjetische Musikforscher Viktor Bobrowski hat der Gesamtanlage von Mussorgskis Klavierzyklus eine eigene Analyse gewidmet. Er unterscheidet zunächst fünf vollgültige Erscheinungen des »Refrains« (die beiden Promenaden und die drei zwischen ihnen liegenden Zwischenspiele) von zwei bedingten: Durch den lateinischen Titel rücke die Verwandlung des Promenadenthemas in Cum mortuis in lingua mortua in die Nähe eines eigenen Bildes, die synthetisierende Wiederkehr dieses Themas im Heldentor dagegen komme einer »Ersatzreprise« des Refrains gleich.15 Somit werden Rondomerkmale und Variationsprinzipien im Zyklus kombiniert – das Thema der Promenade kehrt nicht einfach wieder, sondern entwickelt sich zugleich, zudem haben die Episoden insgesamt größeres Gewicht als das »Ritornell«.

Bobrowski versucht (nicht ganz zwanglos), auf allen Ebenen die Planmäßigkeit hinter der zunächst willkürlich scheinenden Vielfalt von Bildern und »Refrain« aufzudecken. Das betrifft zunächst den offensichtlichen konstanten Wechsel von schnellen (Nr. 1, 3, 5, 7, 9) und langsamen Stücken (Nr. 2, 4, 6, 8). Viel weniger sicher ist, ob die nicht ganz gleichmäßige Verteilung von mehrteiligen Stücken mit Binnenkontrast (Nr. 1, 5/6, 9) gegenüber den monothematischen ohne Kontrastteil (Nr. 2–4 und 7/8) auch einem gestalterischen Willen unterliegt. Und inwiefern es einer eigenen kompositorischen Logik entspricht, dass anfangs nach jedem Bild eine Promenadenvariante folgt, ab Nr. 4 aber nur noch nach jedem zweiten, muss wohl eine ganz offene Frage bleiben.

Ihre Beantwortung ist auch abhängig davon, ob man Cum mortuis in lingua mortua als weiteres Zwischenspiel (nach wiederum zwei Stücken) betrachten möchte oder als Hybrid aus Bild und Zwischenspiel. Formale und inhaltliche Gründe sprechen dafür, hier in erster Linie ein letztes Zwischenspiel in Form eines Nachspiels zu erblicken, also eine besonders bedeutsame und umfassende Variation des »Ritornells«: Mussorgski hat zum einen im Autograph die Idee eines lateinischen Titels nur schwach mit Bleistift angedeutet und nicht selbst ausgeführt, das Stück ist in der Partitur genauso abgesetzt wie alle anderen Zwischenspiele auch und trägt de facto (noch) keinen Titel. Zum anderen sind die vorausgegangenen Zwischenspiele semantisch als Reflex auf das jeweils vorausgegangene Bild gedacht gewesen, und ganz genau das ist auch die Funktion von Cum mortuis in lingua mortua. Zum dritten folgt dieses Zwischenspiel im mittlerweile etablierten Abstand von wiederum zwei Bildern. Im direkten Einsatz der chorischen Phrase sowie dem Gebrauch leerer Oktaven ähnelt es am |77| meisten dem Zwischenspiel nach Bydło. Beide verbindet zudem, dass – als unmittelbare Reaktion auf die Atmosphäre der vorausgegangenen Bilder – sowohl nach Bydło als auch nach Catacombae das Promenaden-Thema jeweils nach Moll gewendet wird. Schließlich ist Cum mortuis in lingua mortua wie alle vorausgegangenen Zwischenspiele tonal uneinheitlich, es bewegt sich – wenn auch eher konventionell – von h-Moll nach H-Dur.

Die Zwischenspiele blicken funktional gesehen sowohl zurück wie nach vorne: Sie überführen zum einen das zuvor »objektiv« Dargestellte in eine subjektive Gefühlswelt, auch wenn sich diese stets auf ihre paradigmatische Russizität stützt. Dieses verinnerlichte Echo ist oft als Kontrast dargestellt. Zum anderen bilden sie eine Überleitung zum folgenden Bild: Die Promenaden und Zwischenspiele leiten jeweils attacca in das nächste Stück über, nur bei Cum mortuis in lingua mortua verhält es sich umgekehrt – hier setzt die Replik auf das Grabesszenario attacca ein, um wie ein Nachspiel abzuschließen. Dort, wo zwei Bilder unmittelbar aufeinander folgen, gehen auch diese attacca ineinander über, sodass der Fluss der Musik nicht unterbrochen wird; mit einer Ausnahme: Tuilleries und Bydło trennt ein ganz gewöhnlicher Schlussstrich. Aber bezeichnenderweise erhält der Schlussklang von Tuilleries keine Fermate, es kommt also zu keinerlei retardierendem Innehalten. Und überdies hat Mussorgski ja den Ochsenkarren in seinem Brief (s. S. 36) mit dem Ausdruck »mitten ins Gesicht« charakterisiert, womit er den abrupten Eintritt der Musik ganz besonders hervorhob: Es handelt sich also um ein Attacca einer anderen, geradezu brutalen Art, auch diese beiden Bilder sind auf eigene Weise nahtlos miteinander verbunden, wenn auch eher in der Art eines Faustschlages.

Die verbindende Funktion der Zwischenspiele wird schließlich auch durch ihre tonale Anlage definiert. Die Tonart des ersten Zwischenspiels nach Gnomus wird in der Literatur mal als Es-Mixolydisch, mal als As-Dur (so bei Lini Hübsch und Michael Russ) gelesen. Warum diese Unsicherheit? Während in den tonal stabilen Promenaden der 3. Ton der Anfangsphrase den Grundton (und der 2. die Dominante, der 6. die Terz) klar definiert, oszillieren die Zwischenspiele in tonaler Hinsicht. So steht das erste Zwischenspiel nur scheinbar in As-Dur (der Subdominante der Grundtonart des Zyklus), da die Phrase grundsätzlich auf Es-Mixolydisch ausharmonisiert wird, also eine modale Variante der Tonika darstellt. Auch das Zwischenspiel nach Il vecchio Castello steht nicht wie meist angegeben in eindeutigem H-Dur (wenn man die Anfangsmelodie liest), sondern eher |78| in Fis-Mixolydisch, jedenfalls unter Berücksichtigung der harmonischen Gestaltung und des weiteren Verlaufs der Melodie: Takt 4 schließt mit einer vollständigen Kadenz nach Fis-Dur und verlässt dieses eigentlich nicht mehr. Das Zwischenspiel nach Bydło beginnt zwar recht deutlich in d-Moll, öffnet sich aber jeweils zur Dominante A-Dur und löst dieses ab Takt 5 modal auf in eine Art von A-Phrygisch, bis schließlich das Anfangsmotiv des Balletts der unausgeschlüpften Küken als Antizipation einbricht.

Wie ist die bunte Abfolge von Tonalitäten im ganzen Zyklus zu deuten? Lini Hübsch hat als große Linie »eine auskomponierte Kadenz« erblickt: Ausgehend von der Dominante B, führt sie von der Molltonika es zum enharmonisch umgedeuteten Subdominantbereich as/gis und über die Doppeldominante F und die Dominante B zurück zur Tonika Es, um nach einem mediantischem Einschub samt neapolitanischer Wendung (von h nach C) erneut in die Grundtonart Es zu münden. Den von allen Autoren als offenen Bruch interpretierten Übergang von gis-Moll nach d-Moll sieht sie legitimiert durch die »Leittondeutung des Tones gis zu a«.16 Der rote Faden einer großen Kadenzformel wird also durch enharmonische Umdeutungen, mediantische Wendungen und gewisse modale Ambiguitäten zu einem vielgestaltigen Tonartenfächer ausgestaltet. Bobrowski erblickt als Leitidee, »dass die tonale Entwicklung von den einfachen Tonartenbeziehungen zu den komplexeren gerichtet ist.«17

Die tonale Verbindung zwischen Bildern und den Promenaden-Elementen ist mal mehr voraus-, mal mehr zurückschauend. Man könnte vereinfachend auch sagen, dass sich auf tonaler und harmonischer Ebene wie auch motivisch-thematisch gleichermaßen straffere wie losere Fäden durch die Bilder einer Ausstellung ziehen, und dass die Vorstellung einer durchgehenden Planmäßigkeit kaum glaubhaft zu belegen ist. Michael Russ warnt insgesamt vor einer strukturellen Überinterpretation: »Wir sollten diese Denkweise nicht zu weit treiben, in vieler Hinsicht ist die Struktur der Bilder eher wie die Struktur einer Kunstausstellung: Es gibt stärkere und schwächere Arten, das Material zu arrangieren, aber keine ideale Art.«18

|79| Die Bilder

Nr. 1: »Gnomus«

Als eines der exzentrischsten Bilder des Zyklus hat Gnomus die Aufmerksamkeit der Musikforscher erregt. Allgegenwärtige Tritoni und Chromatik, abrupte Wechsel von Rhythmus und Tempo – in praktisch jeder Hinsicht verweigert sich das Stück einem »easy listening«, es ist eine geradezu provozierende Herausforderung für die Analytiker. Aber über den diversen Details gerät das große Ganze mitunter aus dem Auge. Was den Eindruck der Exzentrik vor allem hervorruft, sind die absonderlichen musikalischen Gesten und die radikale Kontrastdramaturgie des Stückes. Zumindest die Anfangsidee ist nicht ganz ohne Vorbild: Mussorgski hat sich in Tonart, Oktavlage, Achtelbewegung sowie in der rund um den Achsenton der Terz ges symmetrisch angeordneten Einkreisung von Grundton es und Quinte b durch die chromatischen Nebentöne d und c sehr deutlich an Chopins es-Moll-Prélude aus op. 28 orientiert (Notenbeispiel 7).19 Damit hat er zielsicher das auch in Chopins Zyklus rätselhafteste und exzentrischste Stück aufgegriffen. Doch anders als bei Chopin wird der düstere Bewegungsfluss nicht weitergeführt, sondern abrupt eingefroren. Nach dramatisch aufgeladener Fermate kehrt die Fortissimo-Geste im Piano und verlangsamt wieder, hält erneut inne, dann bricht sie wieder ungestüm aus und findet dank chromatisch absteigender motivischer Abspaltung zu einem barschen Ende auf der Dominante B, die in jähen Oktaven über die Tastatur nach oben geschleudert wird und in emphatische Stille mündet.20 Das Ganze wiederholt sich dann in leicht verkürzter Form.

Notenbeispiel 7: Chopin, Prélude op. 28 Nr. 14, im Vergleich mit »Gnomus«.

Was Mussorgski hier ausbreitet, ist der Beginn eines Mini-Dramas, ist musikalische Psychologie: Der Zwerg betritt eine imaginäre Bühne |80| und spielt uns eine Szene. Und so richtig es ist, den intervallischen und tonalen Strukturen dieses ersten Abschnittes von Gnomus mit der scharfen Lupe der Musiktheorie nachzuspüren, so wichtig bleibt andererseits die Erkenntnis, was Mussorgski eigentlich darstellen möchte und wie er es darstellt, nämlich das Psychogramm einer Bühnenfigur, die – wie im ersten Kapitel gezeigt – sich wohl doch nicht vom steifen Spielzeug-Nussknacker oder einem fast ganz verdeckten Männlein hinter einem Paravent ableitet, sondern von Glinkas bösem Zauberer Tschernomor, mit dem Hartmann durch seine Entwürfe besonders eng verbunden war. Die erste Facette des musikalischen Porträts erweist sich als cholerisch, grob, aggressiv und unberechenbar, vielleicht sogar hinterhältig. Im zweiten Abschnitt, einer über Tritonus- und Septimschritten grotesk »verfremdeten Kadenz«,21 hören wir möglicherweise das synkopische Hinken auf krummen Beinen, von dem Stassow sprach, und wohl eher nicht die »bittere Klage«, die Schnittke trotz der forschen Straffheit dieser Passage zu erkennen glaubte.22 Wieder ausdrucks-, ja angstvolle Pausen, dann die unvermittelte Wiederkehr der Anfangsgeste, auf neue Weise zerklüftet, das Vorschlagsmotiv ces–b (welches die Idee des Abwärtssteigens extrem komprimiert) aufgreifend und dieses schließlich zu grotesker Länge dehnend (T. 36 f.).

Der kontrastierende Mittelteil ist von pathetischer Düsternis, die sich zu gewaltiger Größe erheben möchte. Mit der Pendelbewegung zu Tritonus und dann Quinte greift Mussorgski ein Kernmotiv aus seinem einzigen anderen größeren Instrumentalwerk auf, nämlich der 1867 in erster Orchesterfassung beendeten Nacht auf dem Kahlen Berge mit ihrer Schilderung eines Hexensabbats während der Johannisnacht:

Notenbeispiel 8: Mussorgski, »Eine Nacht auf dem Kahlen Berge«, 1867, Ausschnitt.

Diese unheilvolle, geradezu rituelle Formel23 erklingt in hohlen Oktaven, dann wird sie in oktavierten Dezimenparallelen fortgeführt, deren |81| ungeheure Weite in bizarrem Widerspruch zur Enge ihres chromatischen Kreisens steht. Doch das Anfangsmotiv des Gnomen schneidet wie mit dem Messer die Linie ab. Nochmals will das dumpfe Grauen anwachsen, nochmals wird es abgehackt, beim dritten Mal schließlich schon nach zwei Takten. Im Autograph hatte Mussorgski zunächst statt dieser rasiermesserartigen Schnitte gleitende Übergänge vorgesehen; sein Gespür für effektvolle Inszenierung ließ sie ihn tilgen.

Schnittke spricht hier von einer gleichsam improvisatorischen Struktur, doch ist das aus der Perspektive der Formenlehre gedacht, während es Mussorgski ganz offensichtlich um das Nachzeichnen einer imaginären Bühnenszene geht, die sich musikalisch an der Handlung orientieren muss. Aber gibt es denn eine solche »Handlung«? Vielleicht wäre es neutraler und angemessener zu sagen, dass das evozierte Seelengemälde »in Szene gesetzt« wird, dass die Musik zur »Bühne« eines Psychogramms wird. Mussorgskis Ansatz, musikalische Strukturen nicht am tradierten Formenkanon auszurichten, sondern so eng wie möglich an der je individuellen Erzählung zu orientieren, führt zu einer völlig freien Gestaltung (auf allen Ebenen), die mit herkömmlichen Methoden zu erklären so große Schwierigkeiten bereitet. Der Versuch von Gordon McQuere,24 bei völliger Ausblendung der poetischen Idee durch Verbindung von westlichem und vor allem russischem Musikdenken die Eigentümlichkeiten von Gnomus musiktheoretisch zu fassen, macht das Unmögliche dieses Vorhabens deutlich: Den wirklichen Schlüssel zur Erscheinung des Werkes liefert sein Inhalt. Man könnte es (mit E. A. Poes Wendung) als »das poetische Prinzip« bezeichnen, das die Bilder einer Ausstellung im Großen wie im Kleinen durch und durch prägt. Wir werden immer wieder darauf stoßen.

Jedenfalls bricht sich die lange angestaute und andauernd unterbrochene, angeschwollene Kraft nun Bahn: Dezimenparallelen und die Idee des chromatischen Abstiegs aus dem ersten Teil verbinden sich zu einem lautstark-majestätischen und dabei unaufhaltsam abwärts schreitenden, ja fatalistischen Oktavenband in zwei Stimmen, die in der Wiederholung die Rollen tauschen. Auf diese apodiktische Passage folgt der Synkopen-Teil in verwandelter Form, sozusagen unter dem Diktat zurückgewichen: Das Tritonuspendel ist nun zu einer brodelnden Trillerfigur im Bass geworden, die bedrohlich an- und abschwillt, und die über ihr herabfallenden Synkopen-Akkorde zeigen sich stärker als zuvor von Pausen zersetzt. Doch der Protest erhebt sich: Der drohende Bass-Triller schwingt sich crescendierend empor, und das Synkopen-Motiv wendet sich in äußerster Anspannung |82| nach oben und mündet in einen hart dissonierenden Akkord, Zeichen extremer Qual, verübter oder erlittener Grausamkeit. Schnittke hat als Vorbild dieser Stelle einen dramatischen Moment aus Boris Godunow erkannt, in der sich Boris und Schuiski gegenüberstehen.25 Auf diese in den Raum hinausgeschriene Seelenqual – oder ist es eine Frage? – gibt es keine Replik mehr. Nach langer Pause entlädt sich die Spannung con tutta forza, als würde ein Glas umstürzen und seine Flüssigkeit ringsum verströmen, in einer aus der Achtelfigur des Anfangsmotivs sich zickzackartig entspinnenden, scherenförmig auseinanderstrebenden Doppellinie, die das Stück so rätselhaft beendet, wie es begonnen hat.

Wie könnte die furchtbare Dramatik und Tragik von Gnomus je zum Sujet einer steifen Spielzeugfigur – falls sie nicht lebendig wird wie in Hoffmanns Nussknacker und Mäusekönig – passen? Wie viele andere hat Schnittke diesen offensichtlichen Widerspruch einfach hingenommen: »Die beeindruckende Kraft dieses Rufmotivs ist so stark, seine Harmonik so dramatisch und angespannt, dass man für einen Augenblick unwillkürlich vergisst, dass vor uns nicht mehr als ein Kinderspielzeug ist, das nach Hartmanns Zeichnung für den Weihnachtsbaum im Club der Künstler angefertigt wurde.«26 Viktor Bobrowski sieht, wie andere auch, hier vor allem eine kreative Umdeutung der Vorlage durch den Komponisten: »So hat […] ein Spielzeugmodell – der Gnom – bei Mussorgski das zutiefst tragische Bild eines vom Schicksal gekränkten Menschen hervorgerufen.«27 Unter der Perspektive einer generellen Vermenschlichung des Spielzeugs (die in der Musik und speziell im Ballett bis mindestens zu Strawinskys Petruschka eine lange Tradition hat, auch in Russland) scheint sich, so Schnittke, der Komponist inhaltlich frei gefühlt zu haben: »Das ganze Stück hindurch verläuft die Tendenz, die Emotionen des Spielzeug-Gnoms zu vermenschlichen, des Seelenleben aus der Position des Menschen zu kommentieren, indem die furchtbare Geschichte seines Leben erzählt wird – und zweifellos auch seines Todes!«28 Für Maria Judina stand fest: »Das ist nicht nur ein Märchenzwerg (in der Folklore fast aller Völker). Das ist die Verzerrung der menschlichen – von Natur aus edelmütigen – Natur.«29

Alle diese Äußerungen laufen auf dasselbe Ergebnis hinaus: Mussorgskis Gnomus behandelt keinen geschnitzten Nussknacker am Weihnachtsbaum. Sollte er überhaupt eine Rolle bei der Komposition gespielt haben, so nur, weil ihm Mussorgski den Charakter jenes Zwerges einhauchte, der sowohl mit Hartmann als auch mit der Vorstellung von übermächtiger Bosheit verbunden war – Tschernomor.

|83| Nr. 2: »Il vecchio Castello«

Das zweite Bild zeigt, so Mussorgskis Titel, ein altes Schloss oder eine alte Burg in Italien. Hörbar machen lässt sich ein solches Gebäude nicht. Stattdessen erklingt vor diesem eine in weiten Kantilenen gestaltete Melodie, die Stassow als »halbtrauriges mittelalterliches Lied« eines Troubadours bezeichnet hat, was also eher auf Burg statt Schloss schließen lässt. Alfred Schnittke nennt das Stück »eine romantische Ballade«, Lini Hübsch eine »Romanze«. Mussorgski selbst gibt uns indirekt einen Hinweis, dass hier eine Art von Ständchen gemeint ist: Unter seinen Liedern und Tänzen des Todes befindet sich eine im Mai 1875 entstandene Serenade, in der eben jene punktierten Siciliano-Rhythmen und jener ostinat repetierte trochäische Orgelpunkt auftreten wie im Klavierstück;30 auch die darüber gestalteten Akkord-Bewegungen und manche melodische Wendung sowie die Idee des fragmentierenden Verklingens am Ende samt letztem Forte-Aufbäumen sind in der Serenade erstaunlich ähnlich gestaltet (Notenbeispiel 9). Während dort in einer Frühlingsnacht der Tod unter dem Fenster einer kranken jungen Frau wartet, bleibt der Inhalt des wortlosen Liedes in den Bildern einer Ausstellung unbekannt. Doch im Nachvollzug der musikalischen Dramaturgie dieses Stückes lässt sich zumindest so etwas wie sein typologischer Inhalt erkennen.

Diesen Inhalt als »halbtraurig« zu charakterisieren, ist vermutlich etwas zu schwach. Zwar macht sich insgesamt der Eindruck einer endlos schweifenden Gleichförmigkeit breit, der jähe Ein- oder Ausbrüche praktisch ganz fehlen (im Gegensatz zu Gnomus), und wohl nicht zufällig verzichtet Mussorgski abgesehen von Anfang und Schluss völlig auf dynamische Angaben (nur in T. 87 steht ein Pianissimo, das eine generelle reliefartige Unterscheidung von Melodie und Begleitung impliziert). Aber dieser außerordentlichen Gleichförmigkeit, die als Ausdruck von Melancholie verstanden werden kann, fehlen eigentlich jegliche Momente einer Auflichtung – das Zwielicht verschwindet nirgends. Ist das Lied also nicht doch eher »ganz traurig«? Es lässt sich mit Blick auf die musikalischen Strukturen jedenfalls zeigen, dass diese Musik ganz bewusst die Stagnation, die Nicht-Überwindung der elegischen Ausgangsstimmung als zentrales Konzept verfolgt.

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Notenbeispiel 9a: Mussorgski, »Serenade«, aus: »Lieder und Tänze des Todes«, T. 62–66.

Notenbeispiel 9b: T. 103–111.

In vielen Darstellungen (zum Beispiel bei Maria Judina) wird Il vecchio Castello eher beiläufig behandelt, weil alles so klar und einfach erscheint: formal eine dreiteilige Liedform in stabiler Tonalität, inhaltlich das musikalische Bild eines Sängers, der sein Lied instrumental begleitet. Das |85| Statische und im Wortsinn Monotone hat auch zu völliger Ablehnung geführt, etwa bei Michel Calvocoressi, der das Stück als »völlig mißlungen« bezeichnete.31 Aber diese vermeintliche Einfachheit birgt in fast jedem Punkt Widersprüche. Beispielsweise die poetische Idee vom Troubadour, der ja richtiger in Südfrankreich statt in Italien anzusiedeln wäre. Und wie darf man sich die instrumentale Begleitung, die in den ersten sieben Takten ausgebreitet wird, genau vorstellen: als eine »Gitarre«32 oder als ein »Volksinstrument mit Bordunsaiten«?33 Zwar spielt der Quintbordun eine wichtige Rolle, aber wohl eher abstrakt, als eine archaische Klangfarbe, denn in dieser Gestalt, wo die Oberquinte in eine flexible Oberstimmenmelodie übergeht, lässt sich kaum ein passendes (historisches) Instrument denken, allenfalls eine Drehleier. Wohl eher kommt der Gedanke an ein einfaches Blasinstrument wie eine Flöte oder Schalmei in den Sinn, die vom endlos gleichförmigen Pochen einer kleinen Trommel begleitet wird.

Auch die formale Deutung als dreiteilige Liedform gerät bei genauerer Betrachtung ins Wanken. Der erzählerische, episierende Duktus des Stückes beruht nämlich nicht nur auf dieser Konstanz des niemals verlassenen und unentwegt pochenden gis im Bass (vielleicht ein sehr vages Echo von Chopins sogenanntem Regentropfen-Prélude), sondern auch auf der formelhaften häufigen Wiederkehr melodischer Einheiten. Schon die in der rechten Hand con espressione erklingende Liedmelodie selbst greift eigentlich ziemlich genau die Kontur der Instrumentaleinleitung auf, indem ein langer Anfangston in die Oberterz aufspringt, von der aus ein langsamer stufenweiser Abstieg beginnt, um die Phrase mit einem markant fallenden Intervall zu beenden. Die kadenzierende Schlussbildung des Einleitungsthemas wird zudem als Ganzes, en bloc aufgegriffen, um mit ihr die meisten »Liedstrophen« abzuschließen. Schnittke sprach daher von einer rondoartigen Überlagerung der dreiteiligen Liedform. Doch hat Michael Russ auf die große Material-Verwandtschaft von Mittelteil und Rahmenteil hingewiesen, aufgrund der er daher statt einer Dreiteiligkeit eine durchgehende Folge von unregelmäßig langen und frei variierten Strophen erblickt, die von Einleitung und Coda gerahmt werden.34 Auch das ist nur eine annähernde Beschreibung, denn die sogenannte Einleitung, das »instrumentale« Vorspiel, kehrt ja mehrmals als Zwischenspiel wieder. Dieses ritornellartige Element ist zu unterscheiden von der viel ungewöhnlicheren Idee der wiederkehrenden Schlussformel, die das gesamte Stück durchzieht. Juri Cholopow benutzt hierfür den der Dichtungstheorie entlehnten Begriff der Epipher und weist darauf hin, dass ein solches |86| Prinzip einerseits in mittelalterlichen Sequenzen oder auch dem Palästinalied Walthers von der Vogelweide zu finden sei; andererseits wäre es in jüngerer Musik extrem selten und erst in Messiaens Téchnique de mon langage musical als Kompositionsprinzip anzutreffen.35

Auf der Mikro- wie Makroebene hat die alte Burg also formale Besonderheiten aufzuweisen. Wozu? Sowohl die ununterbrochen pochende Begleitfigur als auch die stete Wiederkehr der herabsinkenden Schlusswendung an allen Strophen- und Phrasenenden, wie überhaupt die explizit immer als Abstieg gestaltete Melodik, dienen demselben Zweck: der Schilderung eines unabänderlichen Sinkens, einer monotonen schweifenden Klage, die mit »vergeblichem Werben« und »unbeantworteter Liebe«36 wohl wenig zu tun hat. Am Ende erstirbt das Klagelied nicht nur durch Ausdünnung und dynamische Reduktion, sondern besonders durch Zersetzung des melodischen Flusses mit Pausentakten (das gleiche Prinzip wird in Bydło wiederkehren). Dieses Zerfallen der kantablen Phrasen in isolierte Bruchstücke ist nicht zuletzt eine sinnbildliche Analogie zur mutmaßlich halb verfallenen Architektur: Die Musik zerbröckelt wie der Stein des Gemäuers.

Die im sogenannten Mittelteil gestaltete Idee des nicht gelingen wollenden, in matte Enttäuschung mündenden Ausbruchs aus dieser stillen Klage manifestiert sich vor allem im Bereich der Harmonik. Der eröffnende archaisierende Quint-Bordun verlässt die Szenerie nur vorübergehend, bleibt aber als klangliche Grundierung über weite Strecken präsent. Besonders apart werden die Harmonien, wenn sich über dem permanent beibehaltenen Orgelpunkt gis Akkorde bewegen, die zur Grundtonart in zunehmender Entfernung stehen. Nach der reinen Diatonik der linearen 1. Liedstrophe vollzieht sich in der 2. Strophe (T. 19–28) eine »normale« harmonische Entwicklung überwiegend auf den Hauptstufen der Grundtonart gis-Moll, nämlich E-Dur, dis-Moll und cis-Moll als VI., V. und IV. Stufe. Das in Takt 22 nach der Zwischendominante E-Dur vorübergehend erreichte A-Dur wird gleich darauf in der 3. Liedstrophe (T. 29 ff.) zu einer Fläche von A- und D-Dur geweitet, die zu gis schon in deutlicher Spannung steht; hier zeichnet sich die Dissoziation der beiden Schichten von Orgelpunkt und darüberliegender harmonischer Entwicklung bereits ab.

Ihren Höhepunkt erreicht dieses Auseinanderdriften ab Takt 55:

Notenbeispiel 10: »Il vecchio Castello«, harmonische Progression ab T. 55.

Es handelt sich hier in der oberen Schicht zunächst um eine Sequenz mit verminderten Septakkorden (Dv Ais-Dur, dann |87| derselbe Akkord eine kleine Terz höher: Dv Cis-Dur), deren Verlauf von den auseinanderstrebenden Außenstimmen gerahmt wird. Zu erwarten wäre nach diesem Modell, demzufolge unter einem aufsteigenden Leitton im Diskant ein verminderter Septakkord liegt, in Takt 59 als weiterer Dv eis–gis–h–cisis, der sich dann in die Dominante dis/Dis der Grundtonart auflöst. Doch stattdessen setzt Mussorgski ganz unerhörte andere Klänge. Unter dem cisis im Diskant erscheint völlig unerwartet ein dis-Moll-Dreiklang, also eigentlich schon die Zieltonart, es erklingen Leitton und Auflösung zugleich; darunter aber tönt der Orgelpunkt gis weiter, sodass wir summarisch einen terzlosen Undezimenakkord über Gis mit Septime und None hören. Zwei ganze Takte lang dehnt sich dieser so sehnsuchtsvolle und spannungsgeladene Klang, um dann nicht in sein erlösendes Ziel zu münden, sondern in einen schwer deutbaren Akkord, der, was immer er musiktheoretisch sein mag, das schließlich erreichte hohe dis – nun endlich könnte der herausgezögerte Dominant-Dreiklang vollständig sein! – untergräbt. Es ist dieses Moment des Untergrabens, also die harmonische »Enttäuschung«, die an dieser Stelle zählt – nicht die funktionstheoretische Bezeichnung. Im Gegenteil, diese kann uns sogar in die Irre führen: So deutet Juri Cholopow diesen Akkord als durch imaginären Quintfall erreichten, aber grundtonlosen Nonakkord der Dur-Subdominante Cis37 – ein Befund, den unser Ohr ungern teilen möchte, wenn man auf dem Klavier versuchsweise diesen Grundton cis im Bass ergänzt. Im hörenden Nachvollzug plausibler scheint es, das eis in der Oberstimme der linken Hand als einen Vorhalt zu deuten, der bis auf die Bordunquinte dis herabsteigen möchte, sodass sich hier also gar nicht mehr die zuvor beschädigte Dominante, sondern bereits die Grundtonart gis-Moll selbst eingestellt hätte. Aber auch das wird uns verwehrt: Chromatisch pendelnd bewegt sich der Stimmverband auf die gewöhnliche Subdominante cis-Moll zu, um dann in der altbewährten, ritornellartigen Manier die ganze Strophe in der Tonika abzuschließen.