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Ania hat ihren Vater jahrelang kaum gesehen. Da erreicht sie eines Tages ein Anruf seiner neuen Frau: Gabriel hat in der Nacht Selbstmord begangen. Der Freitod scheint im Zusammenhang mit dem Skandal zu stehen, den der als linker Intellektueller bekannte Radiojournalist ausgelöst hat, als er öffentlich Partei für zwei junge Einheimische ergriff, die an seinem Wohnort einen afrikanischen Sans-Papiers brutal ermordet haben.

Als sich Ania zur Beerdigung in der Pariser Peripherie aufmacht, schlägt ihr in dem tief gespaltenen Dorf eine hasserfüllte Atmosphäre entgegen. Aber auch in ihrem alten Elternhaus stößt sie einzig auf Fremdheit und muss sich die Frage stellen, wie es dazu kommen konnte, dass ihr Vater eine solch unerträgliche Wendung vollzog.

Pascale Kramer seziert in Autopsie des Vaters ein Land im Kippzustand. Das Skalpell ansetzend, erzählt sie vom Wegschauen sowie von der Abschottung einer ganzen Gesellschaftsschicht und wirft gleichzeitig ein schmerzhaft klares Licht auf das Innerste einer Familie, die verpasste Verständigung zwischen Vater und Tochter.

Pascale Kramer

Autopsie
des Vaters

Roman

Aus dem Französischen von Andrea Spingler

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Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Institut Français sowie mit Unterstützung der Republik und dem Kanton Genf.

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Die Übersetzung wurde von Pro Helvetia gefördert. Verlag und Übersetzerin bedanken sich dafür.

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Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Die Originalausgabe ist 2016 unter dem Titel Autopsie d’un père bei den Editions Flammarion erschienen.

© 2016 Editions Flammarion, Paris

Umschlagbild: Panther Media GmbH / Alamy Stock Foto

eISBN 978-3-85869-767-7

Für Agnes an diesem traurigen 10. Juni

Inhalt

Prolog

Autopsie des Vaters

Dank

Über die Autorin

Prolog

Der Zug hatte gerade die Rückhaltebecken passiert. Jetzt durchquerte er die letzten gepflügten, von der tief stehenden Herbstsonne kupfern gestreiften Felder. Bald kämen der Wald, die Tunnel, dann erschienen die vollgepfropften Waggons auf dem Viadukt, vor der unendlichen Ausdehnung der Stadt in der Ferne. Gabriel drückte die Stirn an die Scheibe. Unten war ein Mann in Stiefeln aus einem Weg hervorgekommen und strauchelte in den Dornenranken, als er den Schotter des Gleisbetts erklomm. Ein langer Schrei gellte, dann tauchte im Fahrtwind das Gesicht des Mannes auf, ein gezeichnetes Gesicht, halb verdeckt von der Kapuze eines Parkas. Gabriel beugte sich vor, um ihm nachzuschauen. Dieses kurze Bild der Einsamkeit hatte ihm seine eigene vor Augen geführt.

Es war sinnlos wegzufahren, die Stille und der Zweifel wären in Monceau auch nicht erträglicher. Er hätte besser in Les Épinettes auf Claras Rückkehr gewartet. Aber ohne sie war Gabriel nicht mehr in der Lage, die Angst der tristen Abendstunden zu verscheuchen, wenn vor den Fenstern des großen Wohnzimmers die Weite des Gartens zu einer dunklen Masse zusammenzuklumpen begann. Er war nicht einmal mehr sicher, ob sie heute Abend zurückkommen wollte. Sie hatte nicht angerufen vor dem Abflug, war weder zu Hause noch auf dem Handy zu erreichen. Vielleicht hatte sie die Hetzkampagne gegen ihn mehr erschüttert, als sie zugab. Eigentlich war es zum Lachen, sagte er sich, dass er überhaupt nichts geahnt hatte von der Isolation des Ausgestoßenen, zu der er sich selbst verurteilt hatte, und zwar letztlich durch einen einzigen Satz, den er übrigens nicht leugnete.

Die Wand schlug gegen seine Schläfe, als ein Zug vorbeifuhr. Gabriel richtete sich auf; ein goldenes Flimmern brach durch den Wald, den die Gleise zerschnitten, und machte die Scheiben blind. Er erhob sich von seinem Sitz, um im Gepäcknetz über ihm nach einer liegen gebliebenen Zeitung zu greifen. Und da entdeckte er sie, Ania und den kleinen Théo, in der ersten Sitzreihe bei der Wagentür.

Es war verrückt, dass sie sich auf dem Bahnsteig nicht gesehen hatten, seltsam auch, dass sie erst so spät zurückfuhr. Gabriel fragte sich, was sie gemacht haben, wen sie getroffen haben mochte, nachdem sie ohne Vorwarnung in Les Épinettes aufgetaucht war, ausstaffiert mit einer Art Zigeunerinnenkopftuch, in einem so offensichtlichen Wunsch zu provozieren, dass er gar nicht darauf eingegangen war. Es sah ihr nicht ähnlich, dass sie im Dorf Beziehungen aufrechterhalten hatte. Es sei denn, sie war immer noch mit Chloé befreundet, überlegte er und sah die Züge des etwas schmuddeligen Mädchens mit sehr blassen Augen vor sich, das von seiner Mutter begleitet zu einem Geburtstag gekommen war, vor mindestens dreißig Jahren.

Ein Bein untergeschlagen, saß der kleine Théo träumend vor dem Fenster. Gabriel sah, wie er den Daumen auf die Scheibe drückte, als wollte er die vorbeiziehende Landschaft anhalten, die überlagert sein musste vom Spiegelbild seines zarten Gesichts mit den hoch und gerade abgeschnittenen Stirnfransen. Der Junge hatte noch nicht gemerkt, dass seine Mutter weinte, rasche Tränen, die sie mit den Fingerspitzen verwischte. Doch bald versuchte er, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, er wandte sich ihr zu, berührte ihre feuchte Wange und schlang in einer Aufwallung von Betroffenheit und Schmerz seine Arme um sie. Gabriel staunte über diese Reife und Empathie, vorhin war ihm der Junge gehemmt, schüchtern und farblos vorgekommen.

Ania ließ sich trösten, mit dem Oberkörper an ihr Kind gelehnt, den Blick ins Leere gerichtet. Es war sonderbar, dass er, von ihr unbemerkt, seine eigene Tochter beobachten konnte, ausgerechnet an diesem Tag. Gabriel verzichtete darauf, sich bemerkbar zu machen, was hätten sie sich noch weiter zu sagen? Aber er wäre neugierig gewesen zu erfahren, ob sie wegen ihm oder vielmehr über ihn weinte, den skandalösen Vater, dessen Stellungnahmen solchen Anstoß erregt oder eher – wie er ihr im Garten gesagt hatte, um jeden Kommentar zu unterbinden – den Scheinheiligen und Naiven einen Moment wohlfeiler Einmütigkeit beschert hatten.

Der Zug erreichte den westlichen Stadtrand, ein von Bäumen gesäumtes Geschachtel alter, wenige Stockwerke hoher Mietshäuser, die sich in den Bürotürmen spiegelten. Bisweilen überlebte ein Gemüsegarten neben einer Backsteinhütte oder, unkrautüberwuchert, zwischen den Pfeilern des Viadukts. Vom vordersten Waggon aus, in dem Gabriel saß, schien der Himmel in Reichweite zu sein; ein Zeppelin schob sich unmerklich durch einen Wolkenstreifen.

Die auf Gleishöhe gesunkene Sonne durchflutete mit ihren Strahlen den ganzen Waggon, Théo zog Schutz suchend den Kragen seines Polohemds hoch. Ania hatte sich wieder gefangen; mit raschen Handbewegungen erzählte sie ihm etwas. Die beiden wurden von den Erschütterungen aneinandergestoßen. Der Junge hing an den Lippen seiner Mutter, ab und zu streichelte er vorsichtig ihr immer noch verweintes Gesicht. Worüber mochte sie mit ihm sprechen? Gabriel fragte sich, was für ein Bild sie wohl von diesem strengen Vater zeichnete, dem sie sich schon lange vor der Pubertät widersetzt hatte. Sie hatte mit dem Jungen den vertrauten Umgang alleinstehender Mütter, notgedrungen Freundinnen ihrer an den Sorgen der Erwachsenen zu früh gereiften Kinder. Vielleicht (bestimmt sogar) war sie geschieden, Gabriel hätte ohnehin nichts davon erfahren. Seit vier Jahren hatte sie nichts mehr von sich hören lassen, ohne dass es eine Erklärung dafür gab oder es sich angekündigt hätte. Dieser so erwachsen rücksichtsvolle Enkel musste also sechs sein. Gabriel wusste nicht, was man in diesem Alter verstand. Er hatte so gut wie keine Erinnerung an seine eigene Kindheit.

Der Zug war jetzt gut gefüllt, an jeder Station gab es beim Einsteigen ein Gedränge. Gabriel hatte vergessen, was für eine Qual die Fahrt um diese Zeit geworden war. Er hatte sich in seinem Sitz zurückgelehnt und zögerte den Moment hinaus, da er seine Tasche würde wegstellen müssen. An der Tür stand ein junger Bursche, der in einer unbekannten, von französischen Flüchen verschandelten Sprache telefonierte, während unaufhörlich Musik aus einem Kopfhörer pulsierte. Eine Frau mit rot umspannten Schenkeln war zwischen den Sitzen stehen geblieben und wartete genervt, dass ein Platz frei wurde. Gabriel nahm schließlich seine Sachen weg, ohne dass ihm ein Blick oder ein Danke gewährt wurde. Die Frau legte eine aus goldenen Ketten gestrickte Tasche auf ihren Schoß und zog das weiße Kabel eines Kopfhörers heraus. Gabriel musterte einen Augenblick ihren fleischigen Mund, der eine Melodie summte, während ihre künstlichen, paillettenverzierten Nägel über das Display des Telefons huschten. Starker Vanilleduft breitete sich aus wie öliger Nebel. Er drehte sich zum Fenster und zog sich die Jacke vors Gesicht. Ein Gefühl fast jubelnden Schreckens überkam ihn plötzlich. Würden sie ihn lynchen, diese Leute, wenn sie wüssten, dass er sich nicht mehr genierte, von dem schlecht erzogenen Gesindel zu sprechen, mit dem man jetzt im Zug sein musste? Doch diese Leute wussten weder, wer er war, noch kannten sie die Äußerungen, die dazu geführt hatten, dass man sich von ihm abwandte. Sie lasen diese Dinge nicht, sagte er sich, und hätten sie vielleicht nicht einmal verstanden. Es ging schließlich in dieser Sache weniger um sie als um die Vorstellung, die sich jeder von sich selbst und seinem Land machen wollte; er für seinen Teil sah verzweifelt, wie dieses Land Anspruch und Geist nach und nach einbüßte.

Im Geratter der dem Bahnhof zustrebenden Weichen durchfuhr der Zug einen Tunnel nach dem anderen. Er war vollgestopft mit müden Menschen, erschlafften Bäuchen unter zerknitterten Hemden, unerschrockenen Mädchen mit rot oder blau gesträhnten Frisuren, Scharen junger Typen mit geschlossenen Lidern, von gleicher Hautfarbe und gleicher Erschöpfung in ihren gewürzgetränkten Kleidern. Gabriel nahm es seiner Generation und sich selbst übel, aus Nachlässigkeit oder Idealismus zugelassen zu haben, dass sich diese Leute da breitmachten. Ania hatte in diesem Gemisch Zuflucht gesucht. Es tröstete sie über ihre Unzulänglichkeiten hinweg. Sie war sogar eine Zeit lang in Moscheen und Hamams gegangen, nachdem sie aus sentimentalen Gründen eine Reise in den Iran unternommen hatte, der letztlich doch so wenig – und so schmerzlich – das Land ihrer Mutter gewesen war. Damit hatte er sie endgültig verloren. Bei ihm hatte das Schuldgefühle ausgelöst, bei ihr Aggressivität, von der er sich dann einfach fernhielt, was immer sie darüber denken mochte.

Die Masse der im Gang stehenden Fahrgäste versperrte ihm jetzt die Sicht auf Ania. Am Ziel angekommen, fand Gabriel sie auch nicht mehr auf dem Bahnsteig. Er stellte sich vor, wie sie zu einer RER-Bahn eilte, der Junge, auf gleicher Höhe mit Hosenschlitzen, Taschen, Kinderwagen, hinterher. Falls sie nicht umgezogen war, was durchaus auch sein könnte, hätte sie noch mindestens eine Stunde in diesem unsäglichen Zusammengepferchtsein mit den Einsamkeiten der ganzen Welt, bis sie nach Hause kam. Für welche mutmaßlich von ihm verursachte Verletzung wollte sie sich durch dieses armselige Leben rächen? Man hätte darauf bestehen müssen, dass sie ihm zumindest nicht verwehrte, den Kleinen zu sehen. Das jedenfalls dachte Clara, zweifellos mit Recht und vor allem mit mehr Überzeugung als er.

Als er aus dem Bahnhof trat, überraschte ihn die Nacht, mild und windig. Er ging zu Fuß den Boulevard Malesherbes entlang. Von den Kastanien segelten braune Blätter herab, groß wie Hände. In einer Viertelstunde war er in Monceau, in der kleinen Wohnung, die er vor dreißig Jahren gekauft hatte, als seine wöchentliche Geschichtssendung ins Programm genommen wurde.

Aus seinem Briefkasten quoll ein ganzer Wust von Werbeprospekten und Briefen, die er in der Diele ablegte. Der Kühlschrank war leer, draußen am Parkgitter breitete ein Mann sorgfältig seine Kartons und Packtaschen für die Nacht aus. Gabriel hatte auf nichts Appetit, der Ekel hatte gewonnen, der Ekel und die Angst. Die Rolle des Geächteten, in der er sich seit mehreren Wochen befinde, bereite ihm ein Missbehagen, das Müdigkeit und Distanz noch verschärften, schrieb er in sein Tagebuch als Einleitung zu mehreren Seiten über das Gefühl der Beklemmung, das ihm in Claras Abwesenheit das Haus feindselig und seine Einsamkeit plötzlich so überwältigend erscheinen lasse.

Er erwähnte auch Anias Auftauchen, beschrieb das verquollene, im Oval des Kopftuchs beinahe unkenntliche Gesicht, den unangenehmen Schock, sie nach all der Zeit vor seiner Tür stehen zu sehen, ohne darauf vorbereitet zu sein, die Gleichgültigkeit, die sie ihm gegenüber an den Tag legte, eine Gleichgültigkeit, die ihn wahrhaftig getroffen habe.

Es war neun, als er das Heft zuklappte. Er hatte sich ein Nudelgericht aufgewärmt und in ein Senfglas einen Rest Wodka eingeschenkt. Claras Flugzeug war pünktlich gelandet, aber sie war immer noch nicht zu Hause. Er hinterließ ihr eine letzte Nachricht, um ihr mitzuteilen, dass er in der Stadt sei. Bevor er auflegte, sagte er noch, er habe zu sehen geglaubt, dass sich ein Mann auf die Gleise stürzte, ein Arbeiter oder ein Eisenbahner, ein Mann aus einer Welt der Mühsal, wie es die seiner Eltern gewesen sei, einer vergangenen, in Verruf geratenen Welt, der nachzuweinen inakzeptabel und unerträglich sei.

Die Zeitschrift lag auf dem Tisch des kleinen Mitarbeiterraums der Krippe. Eine Programmseite war aufgeschlagen, Gabriels Foto illustrierte einen kurzen Artikel, über den jemand mit leichtem Federstrich etwas hinweggekritzelt hatte. Es war ein gestelltes Foto, schön, irgendwie bitter, an das Ania sich sehr gut erinnerte: Es war vielleicht zehn Jahre alt und stammte aus der Zeit, als mehrere Zeitungen die Kandidatur ihres Vaters für die Leitung eines staatlichen Rundfunksenders unterstützt hatten. Ania lebte damals zusammen mit einer Mitbewohnerin in einer Mietskaserne von Suresnes und fühlte sich immer seltener bemüßigt, nach Les Épinettes zurückzukehren. Gabriel hatte ihr den Artikel geschickt, wie alles Bemerkenswerte, was über ihn erschien, begleitet von einem kurzen Damit Du es weißt, Gruß und Kuss, Dein Vater. Damit sie was weiß?, hatte sie sich oft gefragt. Dass er erfolgreich war? Dass er die Verbindung aufrechterhielt, auch wenn sie ihm aus dem Weg ging? Diese Briefe waren Zeugnisse eines Lebens, von dem sie nur die Randerscheinungen gekannt hatte: die Vertrautheit mit der Macht, die stillen, langweiligen Lesestunden auf den tiefen Sofas des Wohnzimmers, die Gäste am Sonntag mit ihrer behäbigen Herablassung dem Dorf gegenüber. Gabriel erwartete nicht, dass Ania ihn auf diese Artikel ansprach oder stolz darauf war. Bekanntheit hatte ihm nie viel bedeutet, schon gar nicht seine eigene.

Ania drehte die Zeitschrift um, während sie sich einen Tee kochte und sich versicherte, dass ihre Kollegin Lucia immer noch draußen war. Die Vorsicht war jedoch unnötig, Lucia hätte niemals geglaubt, dass der Mann auf dem Foto Anias Vater war, und vor allem hätte sie sich gar nicht dafür interessiert. Sie rauchte da draußen, auf den Fersen hockend, das Gesicht bis zu den Wangen im Kragen eines roten Kunstfellmantels versunken, den Gabriel früher witzig gefunden hätte.

Die Geschäftsführung der Rundfunkanstalt hatte tags zuvor bekannt gegeben, dass Gabriel auf Verlangen der gesamten Redaktion entlassen werden solle. Der Artikel ging nicht mehr auf die »Entgleisung« ein, die zu dieser Einmütigkeit geführt hatte, das war wohl schon hinreichend kommentiert worden. Ania hatte nichts davon gehört, sie hielt sich wenig auf dem Laufenden, aber sie konnte sich sehr gut vorstellen, in welche Extreme ihr Vater abgeglitten sein mochte.

Der Bildausschnitt zeigte nur das Gesicht. Der scharf gezeichnete Mund lächelte schief, der Blick fixierte das Objektiv durch die Reflexe der Brillengläser. Es war genau jenes sinnliche und intelligente Gesicht, dessen Ironie sie seit ihrem achten Lebensjahr in Panik versetzt und ihn ihr entfremdet hatte. Doch an diesem Tag, in der turbulenten Nähe der aus dem Mittagsschlaf erwachenden Kinder, erschien es ihr vollkommen bedeutungslos, ob sie in seinen Augen unzulänglich war. Die gedrungenen Rosenstöcke unter den Fenstern des Spielzimmers trugen noch ein paar schöne samtrote Blüten. Anja hatte wunderbare Erinnerungen an diese schläfrig milden Frühherbsttage auf der Wiese von Les Épinettes mit dem breiten Band des dunklen Wassers unten. Théo hatte Fotos gesehen, er verstand nicht, dass sie nie kommen durften. Ania nahm sich vor, am nächsten Wochenende mit ihm hinzufahren, wenn das Wetter so bleiben sollte. Gabriel hatte immer Interesse für kleine Kinder gezeigt, in den ersten Jahren, als sie beide allein waren, hatte er es sogar verstanden, als Vater Sicherheit zu geben.

Während Ania auf dem Kilometer, der den Bahnhof von Les Épinettes trennte, durch das hohe Gras des Straßenrands stapfte und dabei auf Théos Schritte achtete, der in seinen Turnschuhen vorwärtsstolperte, fiel ihr ein, dass Gabriel vielleicht gar nicht da sein könnte oder bestimmt nicht allein war. Schon vier Jahre hatten sie nichts mehr voneinander gehört, überlegte sie. Sie hätte sich zumindest erkundigen sollen, was der Grund für seinen Rausschmiss aus der Rundfunkanstalt gewesen war. Je näher sie dem Haus kam, desto mehr erwachte ihre alte Angst, nicht Bescheid zu wissen.

Der Weg zum Eingang des Anwesens war noch tiefer ausgewaschen und ganz glatt von den halb freigelegten Steinen. Das Tor stand wie immer weit offen; Ania wusste nicht, wie sie Théo diesen Nonkonformismus Gabriels, Türen nie zu verschließen, erklären sollte. Der wuchernde Efeu hing über die Gartenmauer wie nasse Wäsche, und die Wipfel der hohen, von Misteln besiedelten Linden vereinten sich jetzt über dem Werkzeug- und Fahrradschuppen. Der alte Audi, den Gabriel für seine Ausflüge ins Dorf benützte, stand noch immer am gleichen Platz im Schatten der Äste.

Es dauerte lang, bis er aufmachte, obwohl die Musik beim ersten Läuten verstummt war. Ihr Erscheinen überraschte ihn weniger, als dass es ihn störte, ganz gleich, was er vorzutäuschen versuchte. Sein Gesicht war schmaler geworden unter dem vollkommen weißen Kranz seiner Haare, die er schon seit einigen Jahren kurz trug. Sein Blick aus den von kleinen Äderchen getrübten Augen beobachtete amüsiert die Veränderungen bei ihr, ihre Beleibtheit, ohne Zweifel, die er sich aber hütete zu kommentieren. Dann wandte er sich Théo zu, musterte ihn lange, als suchte er in ihm das Kleinkind wiederzufinden, das er vor vier Jahren hier gesehen hatte. Ihr kommt ungelegen, stellte er schließlich fest und schenkte Ania ein Lächeln. Nach all der Zeit hättest du Bescheid sagen können, meinst du nicht? Ania erwiderte, es sei einfach über sie gekommen, als sie in einer Zeitung sein Foto gesehen habe. Gabriel würdigte ihre Offenheit mit einem spöttischen Hochziehen der Brauen. Er bat sich fünf Minuten aus, sie könnten sich ja nach draußen setzen, die Sessel stünden bereit.

Für Théo war dieser Besuch bei seinem Großvater ein Ereignis. Der Empfang und die Wildnis des großen Gartens versetzten ihn in fiebrige Erregung. Er hatte die Hand seiner Mutter losgelassen und verhielt sich plötzlich, als würde er beobachtet. Ania entdeckte mit seinen an die Anarchie der Vorstädte gewohnten Augen den Ort ganz neu. Die Kirschbäume begannen sich rot zu färben. Die Schaukelseile, die jahrelang an einem der Äste vor sich hin rotteten, waren verschwunden. Im Gras vor dem Haus standen tatsächlich die Korbsessel. Sie waren weiß gestrichen worden. Ganz unten im Garten bemerkte Ania auch Bambusmatten, die die Sicht auf ein Nebengebäude des Nachbaranwesens verdeckten: ein hübscher Flachdachbau, den Ania stets mit verrammelter Tür und vernagelten Läden gekannt hatte. Hier und da blühten noch einige dicke Hortensienbälle.

Wenn du wegen der Vorfälle hier bist, begann Gabriel, der mit einer Kanne frischem Verbenentee und einem Rest Eiscreme für Théo zu ihnen kam, will ich dir lieber gleich sagen, dass deine Meinung mich nicht interessiert. Seine bitteren, listigen Augen blickten sie an. Ania hätte ihm gern gesagt, seine Spielchen könnten ihr nichts mehr anhaben. Aber er hätte es nicht verstanden, er hätte bei dem Wort Spielchen im schmerzlichen Bemühen, ihr zu folgen, die Stirn gerunzelt, wie er es tat, als sie ein Kind war, wenn er ihre zögernden, nie wohlformulierten Antworten hörte. So lehnte sie sich in ihren Sessel zurück, der Sonne zugewandt, und ließ ihn reden, hörte ihm nur halb zu. Er wollte nicht wissen, was sie machte, wie es ihr ging. Das war die Regel, seit sie das Haus verlassen hatte, ostentativ fragte er nichts, wie um ihr zu zeigen, dass er sich ihrem Wunsch beugte, ihr Leben anders und anderswo zu leben. Dafür redete er umso mehr über sich, antwortete auf ungestellte Fragen, nach seiner Wohnung in Monceau und was er damit zu tun gedenke, nachdem ihm die paar Sendungen, die ihm noch blieben, entzogen worden wären, oder was mit dem Haus der Verwalter passieren sollte, wenn das Paar in drei oder vier Jahren in Rente ginge.