für Karin
Einleitung
Katholizismus in der Moderne
Unternehmensgeschichte als Religionsgeschichte
Quellen und Literatur zum Benziger Verlag
Gliederung und Vorbemerkungen
Wallfahrt und Wirtschaft (1750–1900)
Ein Dorf im Schatten des Klosters? Einsiedler Wirtschaft (1750–1900)
Entstehung und Entwicklung der Firma Benziger (1750–1897)
Einfluss der Firma Benziger auf die regionale Entwicklung
Expansion: Von Einsiedeln nach New York
Internationalisierung des Geschäfts
Die amerikanischen Filialen
Prinzipale und Agenten
Ware für den katholischen Markt (1800–1920)
Religiöse Medien in der Moderne
Gebetbücher im Benziger Verlag
Andachtsbilder im Benziger Verlag
Kalender, Zeitschriften und Belletristik im Benziger Verlag
Bildstrecke I: Beispiele aus Werbung und Produktion
Katholische Verlage: Filialen der Kanzel?
Katholische Verlagshäuser – fünf Fallbeispiele
Topografie des internationalen katholischen Verlagswesens
Handlungsspielräume katholischer Verleger
Innenansichten: Familie, Unternehmenskultur, Politik (1800–1920)
Eine neue Elite – Besitz, Heiratspraxis, Bildung
Eine katholische Unternehmenskultur?
Politische Positionen der Verleger
Bildstrecke II: Fotografien aus der Verlagsgeschichte
Kontinuitäten und Zäsuren im 20. Jahrhundert (1914–1995)
Erster Weltkrieg, Sanierung des Geschäfts und die Dynastie der Familie Bettschart
Katholisch und schweizerisch
Verlagsprogramm im Wandel (1930–1970)
Niedergang und jähes Ende (1970–1995)
Schluss
Anhang
Quellen und Literatur
Karten
Tabellen
Kurzbiografien
Bildnachweis
Dank
«Katholisch von der Wiege bis zur Bahre» – dieser geflügelte Ausdruck wird oft bemüht, um die Lebenswelt von Katholiken früherer Generationen zu beschreiben. Die konfessionelle Zugehörigkeit und ihre spezifischen religiösen Praktiken prägten lange Zeit wichtige Übergangsrituale eines Lebenslaufs, den Jahresablauf, ja den Alltag vieler Katholiken. Die Art und Weise sowie das Ausmass dieser Prägung haben sich im Lauf der Zeit aber stark gewandelt. Der Ausdruck «katholisch von der Wiege bis zur Bahre» bezeichnet deshalb keine überhistorische Wahrheit, sondern bezieht sich auf eine spezifisch moderne Ausprägung des Katholizismus, wie sie sich etwa ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte. Dieser «neue» oder «moderne» Katholizismus war uniformierter, zentralisierter und «römischer», als er noch im 18. Jahrhundert gewesen war, und durchdrang die Lebenswelt der Gläubigen stärker als in früheren Jahrhunderten.1 Dennoch war der Katholizismus mit seinen Milieus bei Weitem nicht so geschlossen und von der säkularen Umwelt abgetrennt, wie dies die ältere Forschung manchmal darstellte, und kein eindimensionales, antimodernes Bollwerk. Er wurde nicht einfach zentral «von oben» gesteuert, sondern erhielt auch «von unten» und aus der Peripherie Impulse. Insgesamt beteiligte sich eine Vielzahl von Akteuren mit ganz unterschiedlichen Anliegen, Ideen und Interessen an der Dynamik des modernen Katholizismus.
Akteure, deren Stimmen die historische Forschung bislang weitgehend ignorierte, waren katholische Verlage und Verleger, welche die Katholiken mit Devotionalien, frommen Bildern, belehrenden Büchern und unterhaltenden Kalendern und Zeitschriften versorgten. Katholische Verlagsunternehmen stellten in ihren Fabriken jene materielle Ware her, die dazu beitrug, den modernen Katholizismus gegen aussen zu repräsentieren und im Innern zusammenzuhalten. Dieses Buch erzählt die Geschichte eines solchen Unternehmens: Im abgelegenen Einsiedeln in den Schweizer Voralpen nutzte die Familie Benziger die ökonomischen Chancen des allgemeinen religiösen Aufschwungs und baute – sozusagen im Windschatten der ultramontanen, sich am Papsttum orientierenden Bewegung – einen transnationalen katholischen Medienkonzern mit Absatzgebieten in ganz Europa, Nord- und Südamerika auf. Die Publikation untersucht die Geschichte des Benziger Verlags aus verschiedenen Blickwinkeln. Die wechselseitigen Beziehungen zum lokalen Umfeld – in den Wirtschaftswissenschaften oft verkürzt «Standort» genannt – werden genauso in die Untersuchung einbezogen wie die internationale Expansion des Unternehmens mit ihren Voraussetzungen und Folgen, die sich wandelnde Produktion des Verlags genauso wie die Unternehmenskultur und die «Vergesellschaftung» der Verlegerfamilie. Die Leitfragen zielen auf die Katholizität des Unternehmens und der Unternehmer. Was soll das sein, ein «katholisches Unternehmen»? Was lässt sich anhand der Geschichte der Firma Benziger zum viel diskutierten Verhältnis zwischen Katholizismus, Moderne und Unternehmertum sagen? Und welche Rolle spielte ein katholisches Medienhaus wie Benziger bei der «katholischen Mobilisierung»? Die Studie ist thematisch und methodisch zwischen verschiedenen Disziplinen wie der Wirtschafts-, der Sozial- und der Kulturgeschichte angesiedelt; sie bewegt sich zwischen der modernen Religions- und Katholizismusgeschichte auf der einen und der modernen Unternehmensgeschichte auf der anderen Seite. Im Folgenden sollen deshalb einige Argumente aus diesen beiden grossen Forschungsfeldern aufgegriffen und diskutiert werden.
Die Moderne ist eine religionsproduktive Epoche. Sie hat weltweit zahlreiche neue Religionen und religiöse Bewegungen hervorgebracht, die heute global verbreitet sind.2 Auch traditionelle Religionen wie das Christentum erlebten in der Moderne ein Revival. Auf der evangelischen Seite lassen sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mehrere Wellen religiöser «Erweckungsbewegungen» beobachten, die sich teilweise innerhalb der bestehenden Landeskirchen vollzogen, häufig aber auch zur Gründung von neuen kleineren und grösseren Gruppierungen und Freikirchen führten.3 Auf der katholischen Seite ist ab den 1830er-Jahren ebenfalls eine Intensivierung der Religiosität festzustellen, die in der Ausprägung des Ultramontanismus besonders sichtbar wurde. Die klassische Säkularisierungsthese, die davon ausging, dass Religionen im Fortschreiten der Moderne vollständig verschwinden würden, wird – angesichts der evidenten Bedeutung von Religiosität in der Moderne – heute kaum mehr in dieser Form vertreten.4
Die historische Forschung hat verschiedene Indikatoren verwendet, um den Aufschwung der christlichen Konfessionen im 10. Jahrhundert zu belegen und zu beschreiben. Für den Katholizismus als Indikatoren häufig genannt wurden die Zahl neuer Kirchenbauten, die Gründung neuer Orden, Kongregationen oder religiöser Laiengesellschaften, die Anzahl an Konvertiten, die Partizipation der Gläubigen an Wallfahrten und Gottesdiensten oder die Präsenz religiöser Themen auf dem Buchmarkt. Es mag fragwürdig erscheinen, Religiosität quantitativ messen zu wollen. Veränderungen der Kirchen in ihrer Beziehung mit der Gesellschaft und sich wandelnde Praktiken der Gläubigen – kurz: Konjunkturen des Religiösen – dürfen dem Historiker aber nicht gleichgültig sein. Religionen wandeln sich, obschon sie selbst häufig den Anspruch auf eine zeitlose Wahrheit erheben.
In der Geschichte des Katholizismus lassen sich ab 1750 zwei Phasen intensiven Wandels feststellen: einmal zwischen etwa 1760 und 1830 und einmal in den Jahrzehnten um 1960. Die erste Phase prägten die Ideen der Aufklärung, die auch das Feld der Religiosität unmittelbar berührten. Lange wurde übersehen, dass die Exponenten der Kirche aufklärerische Ideen nicht unisono ablehnten. Erst in jüngerer Zeit ist eine Debatte über die katholische Aufklärung entstanden.5 Es gab in den Jahrzehnten um 1800 eine starke Bewegung einer katholischen Aufklärung, die sich nicht nur in theoretischen Reflexionen und Abhandlungen, sondern gerade auch in der kirchlichen Praxis äusserte. Aufklärerisch und antibarock gesinnte katholische Geistliche sahen sich als «Volkserzieher», pflegten den interkonfessionellen Austausch und forderten unter anderem einen stärkeren Einbezug der Gemeinde, neue Bibelübersetzungen und allgemein eine Hinwendung zu den Landessprachen auch in der Liturgie. Die katholischen Aufklärer verloren im Verlauf des 19. Jahrhunderts gegenüber den ultramontan-konservativ gesinnten Katholiken an Gewicht und gerieten schliesslich so weit in Vergessenheit, dass die ökumenischen Bestrebungen in den 1960er-Jahren den meisten Betrachtern als etwas komplett Neues erschienen.6
Die zweite Übergangsphase wird in der Regel mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) assoziiert. Das Konzil war allerdings viel eher Folge als Ursache des gesellschaftlichen Wandels in der Nachkriegszeit, der auch die katholischen Gebiete erfasst hatte. Eine bestimmte Ausprägung der katholischen Kultur verschwand in dieser Phase innerhalb weniger Jahrzehnte beinahe vollständig. Das «katholische Milieu» brach weitestgehend in sich zusammen, die Zahl der Gottesdienstbesucher und der Priesterordinationen ging rapide zurück, die letzten Überbleibsel einer barock-agrarischen Frömmigkeit verschwanden.7
Die Zeit zwischen den beiden Phasen des Übergangs, also zwischen etwa 1830 und 1960, beschreibt die Forschung verschiedentlich als eine Zeit homogener Geschlossenheit und hoher öffentlicher Sichtbarkeit für den Katholizismus. Olaf Blaschke hat für diese Phase den Epochenbegriff «Zweites Konfessionelles Zeitalter» geprägt.8 Diese Etikettierung wurde mit Hinweis auf regionale, zeitliche und auch interkonfessionelle Vielstimmigkeiten von verschiedenen Seiten kritisiert.9 Dass es im 19. Jahrhundert ein Revival der christlichen Konfessionen und ihrer Traditionen – häufig in gewandelter Form und mit neu besetzten Inhalten – gegeben hat, ist allerdings weitgehend unbestritten.
Wie hat die katholische Kirche auf die Herausforderungen der Moderne reagiert? Ist sie selbst als ein gestaltungsfähiger Akteur in einer modernen Welt zu verstehen oder doch eher eine Überlebende aus vormodernen Zeiten, die den Prozessen der Modernisierung reaktiv ausgesetzt war? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen hat eine lange Tradition, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Im Gesamtfeld der Fortschritts- und Modernisierungstheorien nahm die Religion bis vor wenigen Jahrzehnten eine randständige Position ein. Die meisten Modernisierungstheoretiker interessierten sich primär für Ökonomie und Politik, hingegen kaum für Religion. Umgekehrt interessierten sich Religions- und Kirchenhistoriker nur am Rand für Ökonomie und Politik.10 Dies änderte sich ab den 1970er-Jahren, als weltweit orthodoxe und teilweise fundamentalistische Kirchen sowie religiöse Bewegungen aufkamen, die so gar nicht ins Bild einer fortschreitenden Säkularisierung passten. Plötzlich war von einer «De-Säkularisierung», einer «Wiederverzauberung der Welt» und einer «Rückkehr der Götter» die Rede.11
Zunehmend begannen sich auch Historiker und Sozialwissenschaftler mit religiösen Themen in der Moderne zu beschäftigen.12 Die Hinwendung zum Religiösen geschah allerdings langsam. Noch im Jahr 1989 sah sich Urs Altermatt veranlasst, seinem Buch «Katholizismus und Moderne» ein «Plädoyer für die Sozialgeschichte des Religiösen» voranzustellen. Heute ist die Situation eine andere. Das Feld der Forschungsliteratur zum Thema ist mittlerweile stark gewachsen und unüberschaubar breit geworden. Wir behelfen uns im Folgenden damit, einige Argumente dreier Forscher kurz vorzustellen, die dem Feld seit den 1980er-Jahren wichtige Impulse verliehen haben.
Der Schweizer Historiker Urs Altermatt führte in seinem Buch von 1989 verschiedene seiner in den zwei Jahrzehnten zuvor erarbeiteten Thesen und Themen zusammen. Wie es der Untertitel «Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert» andeutet, ist die Schweiz Altermatts Untersuchungsraum, die er aber in einem internationalen Kontext situiert. Spätere Übersetzungen auf Französisch, Italienisch, Polnisch und Ungarisch zeugen von der Relevanz des Buches über die Schweizer Grenzen hinaus. Zeitlich behandelt Altermatt – mit Vor- und Rückgriffen – die Periode zwischen 1850 und 1950. Damit setzt er sich über gängige Epochengrenzen hinweg und nimmt in gewisser Weise auch die oben erwähnte These eines «Zweiten Konfessionellen Zeitalters» in der Moderne vorweg. Wie es der Titel des Buches andeutet, betont Altermatt die Ambivalenzen zwischen dem Katholizismus und der modernen Welt. Die katholische Kirche habe einen «Antimodernismus mit modernen Mitteln» betrieben, so eine breit rezipierte These des Buches, und gezielt moderne Neuerungen wie die Presse und Massenmedien oder das Vereins- und Verbandswesen dazu genutzt, gegen diese Moderne gerichtete Botschaften zu verbreiten.
Altermatt sah in Teilbereichen aber auch eine Modernisierung des Katholizismus. Deutlich kommt dies in seinen Überlegungen zur «katholischen Subgesellschaft» und zur Emanzipation der Katholiken in derselben zum Ausdruck. Altermatt argumentiert, die Schweizer Katholiken, die nach dem verlorenen Sonderbundskrieg 1847 nicht nur quantitativ, sondern auch sozial und politisch in eine Minderheitenposition geraten waren, hätten sich im jungen Schweizer Bundesstaat in eine organisierte und durchstrukturierte «Subgesellschaft» zurückgezogen. Von dort aus hätten sie sich letztlich – etwa über die Gründung von eigenen Parteien – auch politisch Gehör verschafft, sich also von der protestantischliberal geprägten Mehrheitsposition «emanzipieren» können.
Zahlreiche in Fribourg und anderswo verfasste Qualifikationsarbeiten haben Altermatts Thesen später empirisch unterfüttert.13 Er selbst hat seine Argumente in späteren Publikationen immer wieder variiert, tendenziell in Richtung Vielstimmigkeit verschoben und die modernisierenden Tendenzen innerhalb des Katholizismus betont.14
Der niederländische Historiker Staf Hellemans vertritt eine radikalere Position als Altermatt. In mehreren seit den frühen 1990er-Jahren entstandenen Publikationen entwickelte er sein Argument der «religiösen Modernisierung».15 Unter Modernisierung versteht er dabei nicht einen teleologischen Prozess, der auf einen wie auch immer gearteten Idealzustand zuläuft. Vielmehr ortet er eine Bewegung innerhalb des «sozialen Gebildes der Moderne», das den Rahmen für das gesamtgesellschaftliche Leben, also auch für den Bereich der Religiosität, bilde. Eine konservative Bewegung wie der Ultramontanismus gehört in dieser Optik genauso zur Moderne wie liberale Reformbestrebungen: Beide spielen sich im selben gesamtgesellschaftlichen Rahmen ab und reagieren auf dieselben Herausforderungen – wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise.16
Die Modernisierung ist für Hellemans etwas Unvermeidbares. Folglich, so sein Argument, habe sich der Katholizismus nicht weniger modernisiert als andere Konfessionen und Religionen oder andere Bereiche des Lebens wie die Politik oder die Ökonomie. Die Geschichte des Katholizismus in der Moderne sei deshalb konsequent als eine Geschichte der Modernisierung zu erzählen.
Der Blick auf diese religiöse Modernisierung sei allerdings rhetorisch verstellt, schreibt Hellemans, da Säkularisierungsbefürworter stets propagiert hätten, der Katholizismus sei nicht kompatibel mit der Moderne; auf der anderen Seite hätten die katholisch-konservativen Strömungen die Kontinuitäten zu vormodernen Zuständen auf Kosten des historischen Wandels in den Vordergrund gerückt.17 Hellemans seinerseits zieht daraus den Umkehrschluss und betont radikal den historischen Wandel gegenüber der Präsenz vormoderner religiöser Traditionen in der Moderne.
Der französische Islamwissenschaftler und Religionshistoriker Olivier Roy wendet sich in seinem Buch «La Sainte Ignorance» (2008)18 – in diesem Punkt Hellemans nicht unähnlich – gegen die Vorstellung einer «Rückkehr des Religiösen» im ausgehenden 20. Jahrhundert. Er vertritt die These, dass die Säkularisierung die Religionen zwar nicht ausgelöscht, diese aber verändert habe, indem sie sie aus ihrem kulturellen Kontext herauslöste. Die «Rückkehr des Religiösen» sei nicht mehr als eine «optische Täuschung», hervorgerufen durch eine Säkularisierung, die das Religiöse erst hervorhebe und sichtbar mache, indem sie die Religionen zu einer Neuformulierung in einem «säkularisierten Raum» zwinge. Fundamentalistische Formen von Religion seien so gesehen nicht vor- und auch nicht antimodern, sondern eben gerade besonders moderne Phänomene, da sie ihre eigene Dekulturation akzeptieren und daraus ihren «Anspruch auf Universalität» ableiten würden. Der Weg zum Heil führe bei solchen modernen Religionen nicht über das Wissen, sondern über den Glauben: Roy spricht von einer «sainte ignorance». Das Argument ist universal gedacht. Es bezieht sich nicht auf eine bestimmte Religion oder eine einzelne Region, sondern auf alle religiösen Bewegungen in der modernen Welt. Seine Überlegungen zum Verhältnis von Säkularisierung, Religion und Kultur lassen sich indes auch als Ausgangspunkt für konkrete, problembezogene Fragestellungen anwenden.
Die drei Beispiele zeigen uns erstens, dass wir gut daran tun, Prozesse der religiösen Modernisierung genau zu studieren – auch dort, wo lange Traditionen und Formen vermeintlich zeitloser Religiosität vorliegen. Wir sollten also nicht nur danach fragen, welche modernen Mittel die Kirche einsetzte, sondern auch danach, wie sie alte Traditionen im 19. Jahrhundert umdeutete.19 Mit welchen neuen Funktionen und Attributen wurden beispielsweise die Heiligen ausgestattet? Und blieb die barocke Andachtsliteratur, die ihren Titeln nach bis ins 20. Jahrhundert in Tausenden von Ausgaben und Millionen von Exemplaren verbreitet wurde, die ganze Zeit dieselbe?
Die drei Beispiele zeigen uns zweitens aber auch, dass es sich lohnt, auf das Verhältnis zwischen Religion und Kultur zu achten. Die Epoche zwischen 1830 und 1960 war in der Geschichte des Katholizismus ein historischer Sonderfall. Den Einfluss, den die katholische Kirche bis in die hintersten Winkel des Alltags und des Familienlebens der Katholiken ausübte, gab es weder vorher noch nachher. Franz-Xaver Kaufmann sprach für diese Epoche von einer «Verkirchlichung»20 des Katholizismus, in der die Kirche sakralisiert, hierarchisiert und klerikalisiert und die Katholiken damit einhergehend diszipliniert wurden. Die Disziplinierung funktionierte durch eine tiefe Inkulturation des katholischen Glaubens und seiner Wertvorstellungen. Die Inkulturation vollzog sich in allen Sphären des Lebens: in der Schule, in Vereinen und im Gottesdienst genauso wie bei der Lektüre von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern.
Dem heutigen Betrachter mag das «katholische Milieu» des 19. und 20. Jahrhunderts zunächst als eine Art religiöser Monolith erscheinen. Diese hohe Sichtbarkeit könnte indes, liesse sich in Anlehnung an Olivier Roy sagen, damit zusammenhängen, dass die Säkularisierung weite Bereiche der Gesellschaft tatsächlich erfasste und dadurch die (noch) nicht säkularisierten Bereiche umso deutlicher hervortreten liess. Für die Katholiken aber, die sich innerhalb ihres Milieus bewegten, liessen sich Kultur und Religiosität kaum voneinander trennen. War es ein religiöser Akt, eine Fortsetzungsgeschichte in einer Missionszeitschrift zu lesen? Oder sonntags den Gottesdienst und anschliessend das Wirtshaus zu besuchen? Erfolgte der Eintritt in einen katholischen Turnverein aus religiöser Überzeugung? Dieser «kulturelle Katholizismus» ist, genauso wie aufgeklärt-liberale oder auch fundamentalistische Formen, eine von mehreren möglichen Gestalten, die Religionen in der Moderne annehmen können.
Diese Arbeit versteht sich nicht als klassische Unternehmensgeschichte. Sie verfolgt keine betriebswirtschaftlichen Ansätze und versucht nicht, Kapitalverwertungsprozesse historisch zu analysieren. Sie nimmt aber mehrfach Ansätze aus der neueren Unternehmensgeschichtsschreibung auf. Diese begann sich seit den frühen 1990er-Jahren gegenüber anderen Disziplinen zu öffnen und bietet mittlerweile zahlreiche methodische und argumentative Anknüpfungspunkte auch für Historiker aus anderen Forschungsfeldern. Im Folgenden sollen einige für diese Arbeit zentrale Argumente aufgenommen und diskutiert werden. Ausgangspunkt sind zwei stark rezipierte Forscher, die sich in der Vergangenheit mit Unternehmensgeschichte und Unternehmenstheorie befasst haben.
Hartmut Berghoff hat im Rahmen einer 1997 veröffentlichten Monografie zum deutschen Harmonikaproduzenten Hohner und in mehreren folgenden Aufsätzen seinen Ansatz der «Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte» entwickelt.21 Er geht aus von der allgemeinen Gesellschaftsgeschichte Hans-Ulrich Wehlers, die er zu «entnationalisieren» sucht und auf «kleinere soziale Systeme» wie Unternehmen überträgt. Die Multidimensionalität – Wirtschaft, Sozialstruktur, Politik, Kultur – des wehlerschen Ansatzes komme im begrenzten Raum eines Unternehmens besser zum Tragen als im nationalstaatlichen Rahmen, da dieser ein «hohes Mass an Konkretheit» und eine grössere Tiefenschärfe erlaube. Berghoff wendet sich gegen esoterische Formen der Unternehmensgeschichte, die sich auf innere Vorgänge und Organisationsprobleme konzentrieren, und sieht Unternehmen als eine Art offene Systeme. Die Isolierung der Betriebe von der Aussenwelt gelte es aufzubrechen, so Berghoff. Insbesondere die Wechselbeziehungen zwischen der Firma und ihrem lokalen Umfeld müssten stärker berücksichtigt werden. Darüber hinaus soll aber auch den überregionalen Faktoren, die das unternehmerische Handeln von aussen beeinflussen und strukturieren, grössere Beachtung zukommen: etwa kultureller und sozialer Wandel, technologische Entwicklungen oder sich verändernde Moden. Auch da sollen die Unternehmen als Akteure ernst genommen und nach ihren Instrumenten gefragt werden, mit denen sie die Gesellschaft und die Märkte aktiv prägen. Insgesamt, so lassen sich Berghoffs Überlegungen zusammenfassen, sollte die (deutsche) Unternehmensgeschichtsschreibung von ihrer lange Zeit betriebenen Esoterik wegkommen. Ein Unternehmen kann ein Ort sein, an dem, gleichsam wie durch eine Lupe, auch übergeordnete Fragen historischen Wandels beobachtet und untersucht werden können.22
Zwischen Unternehmen und Umwelt bestehen also fliessende Grenzen. Bereits Ende der 1970er-Jahre führte der Betriebsökonom R. Edward Freeman den Begriff «Stakeholder» ein, um Manager von Firmen dafür zu sensibilisieren, welchen Akteursgruppen – neben Mitarbeitern, Kunden, Aktionären – man besondere Aufmerksamkeit schenken müsse.23 Stakeholder waren für Freeman Gruppen oder Individuen, die in irgendeiner Form ein Interesse an den inneren Vorgängen, am Erfolg oder Misserfolg einer Firma haben.24 Klassische Stakeholder sind nach Freeman beispielsweise Gewerkschaften, Verbände oder die Standortgemeinde. Alle diese Akteure seien für die Entwicklung einer Firma relevant, weshalb es einen Minimalkonsens zwischen ihnen herzustellen gelte. Freeman machte damit auf die Notwendigkeit für eine Firma aufmerksam, ein soziales Gleichgewicht mit ihrer Umwelt herzustellen, und rückte gegenüber den firmeninternen Organisationsstrukturen allgemein soziale Faktoren in den Vordergrund. Der Stakeholder-Ansatz wurde in der ökonomischen Theorie und Praxis breit rezipiert. Einfluss hatte er insbesondere auf die Literatur in den Bereichen der Unternehmensstrategie. Er diente aber auch als theoretische Grundlage für die Behandlung von Fragen über die ethische und soziale Verantwortung von Unternehmen. Insgesamt ist der Stakeholder-Ansatz im Feld der «Koalitionstheorien» anzusiedeln, die ein Unternehmen als eine Koalition verschiedenster Interessengruppen auffassen. Koalitionstheorien fanden in den vergangenen beiden Jahrzehnten vermehrt auch Eingang in die unternehmenshistorische Forschung.25
Die beiden skizzierten Ansätze stammen aus unterschiedlichen Disziplinen. Sie haben allerdings mindestens zwei Punkte gemeinsam: Erstens legen sie den Fokus auf den Austausch eines Unternehmens mit seiner Umwelt, und zweitens interessieren sich beide für die an einem Unternehmen beteiligten Akteure und ihre Handlungsspielräume. Eine Unternehmensgeschichte, die von diesen Ansätzen ausgeht, interessiert sich also für Aushandlungsprozesse, die in einem sozialen Raum stattfinden, kurz: für die von den Unternehmern und mit einem Unternehmen verbundenen Gruppen betriebene «Mikropolitik».
Was bedeutet dies nun für unser Thema? Zunächst erscheint es mir wichtig, die Geschichte des Benziger Verlags aus verschiedenen Blickwinkeln und im Austausch mit seiner Umwelt zu untersuchen. Es ist beispielsweise kein Zufall, dass sich das Unternehmen gerade in Einsiedeln, einem religiösen Zentrum und Wallfahrtsort, entwickelte. Die Ausrichtung und die unternehmerische Strategie, ja überhaupt die Entwicklung des Unternehmens, waren stets eng mit dem Standort Einsiedeln verbunden. Die Wechselwirkungen zwischen Benziger und dem lokalen Umfeld gilt es deshalb ernst zu nehmen. Genauso lohnt es sich aber auch das Verhältnis des Unternehmens zu grösseren, sich international vollziehenden historischen Entwicklungen im Auge zu behalten. So prägten beispielsweise zahlreiche Innovationen im Bereich der Reproduktionstechnologie die Firma. Wann hat sie welche neuen Technologien übernommen? Hat sie allenfalls auch zu deren Weiterentwicklung aktiv beigetragen? Vor allem aber ist die Firmengeschichte im Kontext des allgemeinen religiösen Revivals im 19. Jahrhundert zu sehen. Der religiöse (Wieder-)Aufschwung – gerade auch des Katholizismus – hat erst den Nährboden für den Massenabsatz eines katholischen Medienunternehmens wie Benziger und zahlreicher weiterer in ganz Europa geschaffen. Dabei gilt es allerdings, die Handlungsspielräume der an dieser neuen Industrie beteiligten Akteure nicht zu vernachlässigen. Wie und entlang welcher Netzwerke wurde der Markt für katholische Waren geschaffen? Wie genau hat sich ein Unternehmen wie Benziger aktiv am religiösen Revival beteiligt?
Zweitens gilt es die Mehrfachidentitäten der Unternehmer als Unternehmer und Katholiken ernst zu nehmen. Es soll in dieser Arbeit nicht um die wirkmächtige These Max Webers beziehungsweise seiner Epigonen über die Unvereinbarkeit des Katholizismus mit dem Kapitalismus gehen, sondern vielmehr darum, zu untersuchen, was der Katholizismus, katholische Überzeugungen und nicht zuletzt das Verhalten von Kirchenvertretern konkret für die Verleger und ihr Unternehmen bedeuteten. Wie stellte sich das Unternehmen beispielsweise zur im 19. Jahrhundert zunehmend dominierenden ultramontanen Richtung? Ich gehe davon aus, dass die katholische Kirche beziehungsweise ihre Exponenten auf unterschiedlichen Stufen der Hierarchie ein Interesse am Erfolg eines katholischen Medienhauses wie Benziger hatten, sich also als Stakeholder des Unternehmens verstehen lassen. Es stellt sich somit die Frage, welche katholischen Individuen und Gruppen in welcher Form an der Firma beteiligt waren, wie sich das Verhältnis über die Zeit entwickelte und wo es allenfalls auch Zielkonflikte gab. Gerade die Frage nach den Zielkonflikten erscheint mir ergiebig, zumal ein katholisches Verlagshaus in stärkerem Masse als etwa ein in der Textil- oder Maschinenindustrie tätiges Unternehmen ideologisch diffizile Produkte – Gebetbücher, Zeitschriften und religiöse Bilder – herstellte, deren Inhalte von verschiedenen Interessengruppen begleitet und allenfalls auch kritisiert wurden. Die Geschichte des Benziger Verlags lässt sich also in Anlehnung an Berghoff als eine «Unternehmensgeschichte als Religionsgeschichte» erzählen oder genauer: als eine Geschichte des Katholizismus in der Moderne.
Die Arbeit stützt sich hauptsächlich auf das umfangreiche und bislang noch kaum bearbeitete Material im Nachlassarchiv des Verlags in Einsiedeln. Das Nachlassarchiv wurde nach der Übernahme des Benziger Verlags durch die Patmos Verlagsgruppe 1994 und der Schliessung der grafischen Betriebe in Einsiedeln 2003 in die Stiftung Kulturerbe Einsiedeln überführt und ist seit 2010 öffentlich zugänglich.26 Es umfasst rund 500 Laufmeter mit Buch- und Bildpublikationen des Verlags vom frühen 19. bis ins späte 20. Jahrhundert, zahlreiche Druckplatten, Lithographiesteine, Klischee-, Farb- und Musterbücher sowie rund 200 Laufmeter Akten und weitere Materialien zur Firmengeschichte, darunter Kataloge, Rechnungsbücher, Verwaltungsratsprotokolle und Hunderte von Kopierbüchern mit Korrespondenz zwischen dem Mutterhaus in Einsiedeln und den Filialen, zwischen dem Verlag und Lieferanten, Kunden, Autoren, Künstlern und weiteren Personen. Seit den späten 1990er-Jahren wurde das Archiv zudem mit Material zur Geschichte der Verlegerfamilie Benziger und weiteren am Verlag beteiligten Familien geäufnet, das sich noch bei den Nachkommen befand und auch einen stärker sozialhistorisch orientierten Blick auf die Verlagsgeschichte ermöglicht.
Der Archivbestand ist weitgehend erschlossen, wenn auch auf einer sehr summarischen Ebene. Für diese Arbeit wurden die Bestände für den Zeitraum bis etwa 1920 systematisch gesichtet und daraus ein vielfältiger Quellenkorpus zusammengestellt. Besondere Berücksichtigung fanden die zahlreichen überlieferten Kataloge (ab 1800), die einen guten Überblick über die Produktion geben, die Korrespondenz mit Künstlern und Autoren (ab dem Generationenwechsel 1860 zunehmend systematisch), die Kopierbücher mit der ausgehenden Korrespondenz in die amerikanischen Filialen (1862–1897) sowie die Protokolle des Verwaltungsrats (ab 1897). Es hat sich gezeigt, dass die Zeit bis etwa 1850 nur sehr lückenhaft dokumentiert ist. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steigt die Materialdichte – analog zur Expansion des Unternehmens – sprunghaft an, was insbesondere mit der Modernisierung und der Professionalisierung der firmeninternen Verwaltungsstrukturen zusammenhängen dürfte. Die Darstellung der Zeit nach 1920 stützt sich weitestgehend auf Sekundärliteratur, Zeitungsartikel sowie Fest- und Jubiläumsschriften; für diesen Zeitraum wurde Material aus dem Nachlassarchiv nur punktuell hinzugezogen.
Das Material aus dem Nachlassarchiv wurde ergänzt mit Quellen aus weiteren Archiven: so etwa dem Klosterarchiv Einsiedeln und dem Bezirksarchiv Einsiedeln. Im Staatsarchiv Schwyz wurde unter anderem der Nachlass von Direktor Oskar Bettschart (1882–1960) konsultiert, in dem sich vereinzelt auch Quellenmaterial aus der Zeit vor 1850 befindet; im Staatsarchiv Nidwalden die Briefsammlung von Kunstmaler Melchior Paul von Deschwanden (1811–1881); in der Sondersammlung der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern ein Briefnachlass von Nikolaus Benziger (1830–1908); im Literaturarchiv in Bern ein Teilnachlass des Verlags für die Zeit ab 1948.27 Insgesamt wenig ergiebig waren die Recherchen im Vatikanischen Geheimarchiv, wo sich nur vereinzelte, für unser Thema wenig gehaltvolle Quellen finden liessen.28 Hinzugezogen wurden indes zahlreiche Nekrologe von Mitgliedern der Verlegerfamilie Benziger, die zwischen 1864 und 1972 in verschiedenen Zeitungen erschienen.29
Es gibt bislang keine umfangreichere Untersuchung zum Benziger Verlag, die wissenschaftlichen Kriterien entspricht und mehr als einen einzelnen Aspekt der Verlagsgeschichte im Blick hat. In der religions- und kirchenhistorischen, der volkskundlichen Literatur sowie in der Buchgeschichte fristete der Benziger Verlag bislang eine Art Fussnotenexistenz. Man hat, sich in der Regel auf ältere Jubiläumsschriften beziehend, immer wieder auf den Verlag und seine Bedeutung verwiesen, ohne allerdings länger bei seiner Geschichte zu verweilen.30 In der lokal- und regionalhistorischen Forschung ist der Benziger Verlag etwas ausführlicher thematisiert worden. Bereits Odilo Ringholz verfasste für seine 1896 erschienene Einsiedler Wallfahrtsgeschichte einen kurzen Abriss der Firmengeschichte.31 Auch in der jüngeren Vergangenheit wurde die ehemalige wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bedeutung des Verlags in mehreren Publikationen hervorgehoben, beispielsweise in verschiedenen Beiträgen der Schwyzer Kantonsgeschichte von 2012;32 2010 war die Verlagsgeschichte auch Thema einer Ausstellung in Einsiedeln zum populären Zeitgeschmack um 1900, die vor allem die Produktion religiösen «Kitschs» thematisierte;33 2003 erschienen in der Reihe «Die Kunstdenkmäler der Schweiz» zwei Bände über das Kloster und das Dorf Einsiedeln, in denen die beiden Autoren Werner Oechslin und Anja Buschow der Firma Benziger viel Raum zugestehen. Neben dem Einfluss von Benziger auf die bauliche Entwicklung Einsiedelns thematisieren sie in anregender Weise auch kulturhistorische Aspekte der Verlagsgeschichte, die weit über das Lokale hinausreichen.34
Daneben bestehen einige Untersuchungen zu einzelnen Aspekten der Verlagsgeschichte: Ursula Brunold-Bigler widmete in einer 1982 erschienenen Studie über religiöse Volkskalender in der Schweiz dem «Einsiedler Kalender» von Benziger mehrere Seiten; Elisabeth Joris thematisiert in ihrer 2011 erschienenen Doppelbiografie von Josephine Stadlin und Emilie Paravicini-Blumer auf einigen Seiten die Schulpolitik, welche die Gebrüder Benziger in den 1840er-Jahren in Einsiedeln betrieben;35 Matthias Christen gibt in einem 2010 erschienenen Buch über fotografische Totengedenken in der Zentralschweiz einige Hinweise auf die Produktion von Totenbildern bei Benziger, wobei er sich teils auf Quellenmaterial aus dem Nachlassarchiv stützt;36 2001 verfasste Dominik Feusi eine Lizenziatsarbeit zur Konfessionalisierung im Kanton Schwyz am Beispiel der politischen Tätigkeit von Josef Karl B.-Meyer (1799–1873); Daniel Meienberg schrieb 2009 eine sozialhistorisch orientierte Lizenziatsarbeit zum Arbeiterstreik bei Benziger im Jahr 1900; 1999 und 2004 erschienen in Chicago zwei kunsthistorisch orientierte Aufsätze von Rachel Bean beziehungsweise Saul Zalesch zur von Benziger um 1900 in den USA produzierten und vertriebenen religiösen Kunst.37
Den narrativen Rahmen bezüglich der allgemeinen Verlagsgeschichte bilden in den genannten Arbeiten in der Regel ältere Jubiläumsschriften sowie Familiengeschichten. Vor allem zu nennen ist eine 1923 von Carl Josef B.-Berling (1877–1951) für die noch deutsch lesende Verwandtschaft in den USA verfasste Familiengeschichte, die umfangreiche Porträts und eine insgesamt ziemlich ausgewogene Darstellung der Verlagsgeschichte für die Zeit bis etwa 1900 enthält. Diese Arbeit ist bis heute die wichtigste Referenz zur Verlagsgeschichte des 19. Jahrhunderts geblieben. Carl Josef B.-Berling, Sohn des letzten Verlagsdirektors aus der Gründerfamilie, Historiker und während Jahrzehnten in der eidgenössischen Diplomatie tätig, verfasste zuvor bereits ein Werk über die Geschichte des Buchgewerbes im Kloster Einsiedeln, worin er auch auf die Anfänge des Benziger Verlags zu sprechen kommt. 1971 erschien das Buch «Beiträge zur Geschichte der Benziger von Einsiedeln und der ersten Buchdruckereien im Dorfe» von Bruno Lienhardt-Schnyder, der mit der Familie Benziger verwandtschaftlich verbunden war. Das Buch stützt sich teils auf die Familiengeschichte von 1923, teils auf eigenes Quellenstudium.38 Zu Adelrich Benziger (1864–1942), dem späteren Erzbischof Alois Maria Benziger in Indien, gibt es zwei Biografien aus den Jahren 1944 und 1977;39 zu seinem Bruder August Benziger (1867–1955), einem erfolgreichen Porträtmaler, erschienen 1922 und 1958 ebenfalls zwei Biografien.40 Die Biografien der beiden Brüder enthalten, in der Regel anekdotisch gehaltene, Informationen über das familiäre und geschäftliche Milieu, in das sie hineingeboren wurden. Zu erwähnen sind insbesondere auch mehrere Schriften anlässlich von Firmenjubiläen.41 Auch erschienen zu den Direktoren Oskar Bettschart-Spörri (1882–1960), seinem Sohn Oscar Bettschart-Fahrländer (1921–1990) sowie Gustav Keckeis-Barth (1884–1967), welche die Geschicke des Verlags im 20. Jahrhundert massgeblich prägten, zwischen 1951 und 1990 mehrere, teilweise gehaltvolle Festschriften und Nachrufe.
Zusammen mit weiteren kleineren Schriften, familienhistorischen und familieninternen Arbeiten ergibt sich das Bild einer insgesamt äusserst disparaten, aber auch reichhaltigen Literatur zum Thema. Alle Texte zusammengenommen bilden ein vielstimmiges und differenziertes Mosaik der Verlagsgeschichte von seinen Anfängen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Arbeit stützt sich auf die genannte familien- und unternehmensnahe Literatur, geht in vielerlei Hinsicht aber darüber hinaus. Revisionsbedürftig ist insbesondere das eindimensionale Fortschrittsnarrativ, das in diesen Texten konstruiert wird. Es ist – insbesondere für das 19. Jahrhundert – weitestgehend die Erzählung von Generationen von «grossen Männern», und ganz am Rande auch von deren Frauen und Töchtern: Im abgeschiedenen Hochtal von Einsiedeln bauen sie durch schiere Tatkraft und gestützt durch ihren unerschütterlichen Glauben ein Unternehmen auf, das sie wie durch Vorsehung steuern und auch durch harte Arbeit von Generation zu Generation weiter ausdehnen. Die Umwelt des Unternehmens und der grössere historische Kontext werden dabei weitgehend ausgeblendet. Es ist indes nicht mein Anspruch, mit dieser Arbeit ältere Erzählungen der Verlagsgeschichte aufzuheben oder zu ersetzen. Doch soll der Blick auf das Thema geweitet, einige Lücken geschlossen, neue Schwerpunkte gesetzt und Fragen gestellt, die Verlagsgeschichte in gewisser Weise also vergegenwärtigt werden.
Das Buch ist in sechs thematische Hauptkapitel gegliedert, die sich nach einer groben Chronologie richten. Das Kapitel «Wallfahrt und Wirtschaft» fragt nach der Entstehung des Unternehmens im 18. Jahrhundert, seiner weiteren Entwicklung im 19. Jahrhundert und nach den Wechselbeziehungen zum lokalen Umfeld in Einsiedeln bis etwa 1900. Das Kapitel «Expansion» fragt nach der internationalen Umwelt der Firma und nach den Bedingungen und Konsequenzen der Errichtung überseeischer Filialen. Das Kapitel «Ware für den katholischen Markt» gibt nach einer generellen Einführung zur Funktion religiöser Medien in der Moderne eine Übersicht über die wichtigsten Medientypen des Verlags im 19. Jahrhundert – Gebetbücher, Andachtsbilder, Periodika und Belletristik – und fragt nach den Produktions- und Distributionsprozessen dieser Medien sowie den daran beteiligten Akteuren. Das Kapitel «Filialen der Kanzel?» stellt die Firma Benziger in einen internationalen Kontext, wagt eine Topografie des katholischen Verlagswesens in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich und Belgien und schlägt eine grobe Periodisierung des katholischen Verlagswesens im 19. Jahrhundert vor. Das Kapitel «Innenansichten» versucht eine soziale und politische Verortung der Verlegerfamilie und fragt nach der firmenspezifischen Unternehmenskultur. Das Kapitel «Kontinuitäten und Zäsuren im 20. Jahrhundert» schliesslich behandelt in summarischer Weise die Verlagsgeschichte von rund 1920 bis etwa 1970 und thematisiert in der gebotenen Kürze auch das eigentlich ausserhalb der gewählten Untersuchungsperiode liegende Ende des Benziger Verlags als eigenständiges Unternehmen in den 1980er- und 1990er-Jahren.
Hinzu kommen zwei kommentierte Bildstrecken: Die Erste beinhaltet Beispiele aus der Verlagswerbung und der Produktion; sie stammen hauptsächlich aus der Zeit zwischen 1850 und 1920. Die zweite Bildstrecke enthält Fotografien aus der Verlagsgeschichte zwischen 1860 und 1989. Eine Auswahl von Tabellen und Kurzbiografien von für die Verlagsgeschichte massgeblichen Personen – Verleger, Direktoren, Verwaltungsräte, Autoren, Künstler, Experten – befindet sich im Anhang. Die Namen der Mitglieder der Familie Benziger werden in dieser Arbeit, um Verwechslungen zu vermeiden, mit doppeltem Nachnamen angeführt, wobei der Name «Benziger» abgekürzt wird (z.B. Adelrich B.-Koch). Das Unternehmen wird wahlweise als «Firma Benziger» oder «Benziger Verlag» bezeichnet. Eine Auflistung der juristisch korrekten und ab 1883 auch im Handelsamtsblatt eingetragenen Firmennamen findet sich im Anhang (Tab. 2, S. 371). Ebenfalls im Anhang zu finden, ist eine gesonderte Bibliografie mit der zusammengetragenen Literatur zu katholischen Verlagen und Verlegern.
Im Juni 1892 feierte der Benziger Verlag in Einsiedeln sein hundertjähriges Bestehen.42 Zum Jubiläum gestalteten Angestellte der Firma ein reich illustriertes Buch, das einen ersten Überblick über die damaligen weitverzweigten Geschäftsbereiche gibt.43 Der Verlag unterhielt nebst einer eigenen Buchdruckerei und Setzerei verschiedene weitere grafische Abteilungen, eine Buchbinderei und Falzerei, ein eigenes Photoatelier sowie eine Fabrikationsabteilung für Spitzenbilder und Rosenkränze. Das Unternehmen betrieb auch einen Devotionalienladen und eine Sortimentsbuchhandlung in Einsiedeln sowie ein Kosthaus für die Angestellten. Der Gebetbuchverlag der Firma Benziger galt damals nach eigenen Angaben als der grösste der Welt.44
Die Verlagswaren von Benziger fanden in der ganzen katholischen Welt Absatz. Geschäftsreisende bereisten für Benziger nebst den katholischen Ländern Europas auch Süd-, Zentral- und Nordamerika. Über die aufstrebende katholische Mission gelangten die Verlagswaren auch in andere überseeische Weltgegenden. Die Amerikagründung von Benziger galt zu jener Zeit als führendes katholisches Verlagshaus der ganzen USA.45
Der Verlag datierte seine Gründung auf den 17. Februar 1792. An diesem Tag schloss Johann Baptist Karl B.-Schädler (1719–1801) einen Gesellschaftsvertrag mit dem Kloster Einsiedeln, der es ihm erlaubte, in Einsiedeln einen Devotionalienhandel auf eigene Rechnung zu betreiben. Die Wurzeln des Unternehmens reichen aber noch weiter zurück. Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten Vorfahren der späteren Verleger Devotionalien gehandelt.
Betrachtet man die Entwicklung des Unternehmens in Einsiedeln von seinen Ursprüngen bis etwa ins Jahr 1900, lassen sich zwei Beobachtungen machen: Erstens scheint der vergleichsweise bescheidene Devotionalienhandel, den einzelne Familienmitglieder im 18. Jahrhundert oft neben einer anderen Tätigkeit als Wirt, Posthalter oder Metzger ausübten, für die spätere Entwicklung des Unternehmens von entscheidender Bedeutung. Die Familie schuf ein Netzwerk von Handelspartnern, das sich über die Region Einsiedeln hinaus ins Elsass und in den süddeutschen Raum spannte.46 Mit einzelnen Handelspartnern wurden damals Geschäftskontakte geknüpft, die teilweise bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bestanden. Zudem erarbeiteten sich einzelne Familienmitglieder in dieser Zeit ein stabiles Know-how in Handelsgeschäften und als Angestellte in der Klosterdruckerei im Druckerei- und Verlagswesen. Es scheint deshalb lohnenswert, die Geschichte des Benziger Verlags nicht erst mit dem offiziellen Gründungsjahr von 1792 beginnen zu lassen und einem genau festlegbaren Gründungsdatum einen offenen Beginn ungefähr in der Mitte des 18. Jahrhunderts gegenüberzustellen.
Die zweite Beobachtung betrifft die regionale Verankerung des Verlagsunternehmens. Es ist auf den ersten Blick erstaunlich, dass der Benziger Verlag seinen Hauptsitz stets in Einsiedeln beliess, das mit seiner peripheren Lage in den Innerschweizer Voralpen wahrlich keine günstigen Bedingungen für Massenproduktion und den internationalen Absatz bot. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass Einsiedeln zwar in geografischer Hinsicht randständig, auf einer konfessionellen «mental-map» als Wallfahrtsort hingegen ein in der ganzen katholischen Welt bekanntes religiöses Zentrum war. Die Entstehung des Verlagsunternehmens ist ohne die Wallfahrt und die ihr zudienenden Dienstleistungs- und Gewerbezweige nicht zu verstehen. Die Wallfahrt war das Rückgrat, auf das sich der Benziger Verlag stützen konnte, und der durch die Wallfahrt bekannte Name Einsiedeln ein Label, das sich zu Werbezwecken eignete und mit dem sich manche Tür öffnen liess.
Die Wirtschaftsgeschichte der Region Einsiedeln im 18. und 19. Jahrhundert ist bisher wenig untersucht. Zwar gibt es einige – häufig ältere – Arbeiten zu einzelnen Wirtschaftszweigen, vor allem zu jenen, die für das Kloster wichtig waren; umfassende Arbeiten aber fehlen. Zu anderen Regionen der Zentralschweiz sowie zur Innerschweiz und zum Kanton Schwyz als Ganzes hingegen sind in jüngerer Vergangenheit einige gehaltvolle Studien erschienen.47 Diese Arbeiten betonen, wie wenig sich die Innerschweiz im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert industriell entwickelte. Einen Hauptgrund für die insgesamt sehr schleppende Industrialisierung in der Innerschweiz sehen die Autoren nicht in einer allgemeinen Mentalität katholischen Müssiggangs, wie ältere Publikationen oft nahelegten, sondern in der ausbleibenden Initiative potenzieller privater Unternehmer, denen das Kapital oder die Risikobereitschaft für Investitionen fehlten. Gerade in jenen Orten, in denen eine starke, alteingesessene Führungsschicht bestand, blieben unternehmerische Investitionen häufig aus, weil die Elite kein Interesse an risikoreichen Geschäften hatte oder weil sie ihr Vermögen in Liegenschaften investiert hatte, aus denen sie es nicht ohne grössere Verluste herauslösen konnte.48 Im Kanton Schwyz mag auch der lukrative Export von Milchkühen nach Norditalien, der bis Ende des 19. Jahrhunderts konkurrenzlos blieb, eine Rolle gespielt haben. So gab es wenige Anreize für unternehmerische Investitionen.49
Zu Recht wiesen verschiedene Historiker in der Vergangenheit auch auf die grosse Heterogenität der Innerschweizer Kantone hin, die sich in einer regional sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung spiegelte.50 Das Beispiel des Kantons Schwyz zeigt, dass selbst innerhalb eines einzelnen Kantons beträchtliche Unterschiede bestehen konnten. Zwischen dem Hauptort Schwyz im Talkessel, Gersau und Küssnacht am Vierwaldstättersee, den Ausserschwyzer Bezirken am Zürichsee und Einsiedeln im Hochtal bestanden seit jeher nicht nur geografische, sondern auch politische und kulturelle Unterschiede. Es erstaunt deshalb wenig, dass sich die verschiedenen Regionen innerhalb des Kantons auch wirtschaftlich selektiv entwickelten. Das politische Zentrum im Schwyzer Talkessel blieb im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert tendenziell ländlichen und traditionellen Wirtschaftsformen verhaftet. Demgegenüber entwickelten sich im alten Gewerbezentrum Einsiedeln, in näher an den Kantonsgrenzen liegenden Orten wie Gersau, Küssnacht und in den Bezirken Höfe und March am Zürichsee lokal begrenzte industrialisierte Inseln. Die geografische Nähe zu den früh industrialisierten Regionen Zürich und Glarus gilt als Hauptgrund dafür, dass an diesen Orten im 19. Jahrhundert unternehmerischer gedacht und gehandelt wurde als an anderen.51
Die Region Einsiedeln liegt in den Voralpen im Kanton Schwyz auf einer Hochebene rund 900 Meter über dem Meer. Geografisch bildet sie neben dem inneren Kantonsteil und Ausserschwyz eine von drei Kammern im Kanton Schwyz. Am Rande der Innerschweiz und weniger als zwanzig Kilometer vom Zürichsee entfernt hielt die Region beständige Handelsbeziehungen mit Zürich. Der «Einsiedlerhof» war der Verwaltungssitz des Klosters in der Stadt Zürich und bestand bereits in der Mitte des 13. Jahrhunderts: Von dort aus wurden auch die Handelsbeziehungen organisiert.52 Kulturell war das katholische Einsiedeln aber stets ein Teil der Innerschweiz. Nach der Neueinteilung der Kantonsgrenzen in der Helvetischen Republik bildete Einsiedeln ab 1798 den Kanton Waldstätten: zusammen mit Zug, dem inneren Kantonsteil von Schwyz, der ehemals freien Republik Gersau, Uri, Ob- und Nidwalden sowie der Fürstabtei Engelberg. Der äussere Kantonsteil von Schwyz wurde dem Kanton Linth zugeschlagen.
Zum Bezirk Einsiedeln gehören neben dem Dorf Einsiedeln die sechs umliegenden Dörfer, «Viertel» genannt: Bennau, Egg, Euthal, Gross, Trachslau und Willerzell. Schon im 18. Jahrhundert prägte der Kontrast zwischen einem relativ urbanisierten Kern mit einer hohen Gewerbedichte und den umliegenden bäuerlich-ländlichen Vierteln die Region. Das Dorf Einsiedeln war die grösste «bauliche Einheit» des Kantons Schwyz und gehörte 1850 zu den 15 grössten Ortschaften der Schweiz.53 Zwischen 1749 und 1888 lag das Bevölkerungswachstum Einsiedelns im innerkantonalen Vergleich jeweils deutlich über dem Durchschnitt.54 1799 zählte Einsiedeln knapp 5000 Einwohner.55 Bis 1888 stieg die Zahl der Bevölkerung auf 8506 Personen. Einsiedeln war damals bevölkerungsreicher als früh industrialisierte Zürcher Gemeinden wie Wädenswil (6338 Einwohner) oder Uster (6798) und zählte mehr Einwohner als Städte wie Thun (8286) oder Zug (5120).56
Die Einwohner in den Vierteln lebten im 18. und 19. Jahrhundert hauptsächlich von der Viehwirtschaft und exportierten Milchkühe nach Norditalien. Der sogenannte «Welschlandhandel» war in der Region bis Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet und zeigte sich erstaunlich krisenresistent.57 Ein Zusatzeinkommen konnten sich die Bauern in den Vierteln mit saisonaler Heimarbeit verdienen. Einsiedeln wurde bereits im 18. 58