3Gunnar Hindrichs

Philosophie der Revolution

Suhrkamp

7Vorwort

Die Revolution markiert den Unterschied zwischen Natur und Handeln. Einem alten Gedanken zufolge sind die Bedingungen, unter denen wir handeln, von Menschen gesetzt (θέσει) statt von Natur aus gegeben (φύσει). Hiernach bestimmt sich Handeln im Abstand zum Natürlichen. Das vorliegende Buch führt diesen Gedanken weiter und gibt das Kennzeichen des Abstandes an: die Revolution.

Ihm liegt die folgende Erwägung zugrunde. Eine Minimalbestimmung des Handelns lautet, Handeln sei Regelfolgen. Von ihr geht das Buch aus. Regelfolgen darf nicht mit Regelmäßigkeit verwechselt werden. Das läßt sich an dem jeweiligen Gegenbegriff einsehen. Der Gegenbegriff zur Regelmäßigkeit ist der Begriff der Regelabweichung, der Gegenbegriff zum Regelfolgen ist der Begriff des Regelbruchs. Eine Regel brechen bedeutet etwas anderes als von einer Regel abweichen, weil mit jenem die Beziehung auf einen Anspruch verbunden ist, während dieses sich auf einen Vergleichswert bezieht. Regelfolgen und Regelmäßigkeit sind daher zweierlei. Entsprechend ist ein Grund anzugeben, durch den das Handeln, dessen Minimalbestimmung das Regelfolgen darstellt, sich von der bloßen Regelmäßigkeit unterscheidet. Dieser Grund besteht darin, daß Regeln keine Gegebenheiten darstellen, sondern Einrichtungen. Als Gegebenheiten wären sie Vergleichswerte, von denen man abweichen kann; als Einrichtungen erheben sie Ansprüche, die man brechen kann. Für die Minimalbestimmung des Handelns bedeutet das: es ist im Rahmen von Einrichtungen und nicht von Gegebenheiten zu verstehen.

8Man bedarf deshalb eines Begriffes, der den Einrichtungscharakter der Regeln markiert und sie vom Gegebenen abgrenzt. Hierfür ist eine Diskontinuität von Regeln anzusetzen. Erfolgte die Einrichtung der Handlungsregeln kontinuierlich, so ließen sich diese Regeln auf Funktionen von Stetigkeit bringen. Als solche Funktionen von Stetigkeit hätte man sie als Regelmäßigkeiten zu verstehen, die man nicht brechen könnte, sondern von denen man abwiche. Entsprechend wäre der Unterschied zwischen Regelmäßigkeit und Regelfolgen nicht artikulierbar, und die Einrichtung von Regeln wäre auf die Gegebenheit von Vergleichswerten reduzierbar. Um der Artikulation dieses Unterschiedes willen hat daher an die Stelle einer stetigen Evolution von Regeln deren Revolution zu treten. Sie bezeichnet das Diskontinuum der Regeln und markiert deren Einrichtungscharakter. Auf das Handeln bezogen bedeutet das: da Handeln ein Regelfolgen und keine Regelmäßigkeit darstellt, läßt es sich nur dann begreifen, wenn der Unterschied zwischen dem Einrichtungscharakter von Regeln und ihrem Gegebenheitscharakter markiert werden kann, was in der Revolution erfolgt, die die stetige Evolution von Regeln unterbricht. Anders gesagt: handeln selber findet sein Kennzeichen in der Revolution.

Auf der Grundlage dieser Erwägung läßt sich der alte Gedanke, die Bedingungen des Handelns seien von Menschen gesetzt statt von Natur aus gegeben, regeltheoretisch umformulieren. Wären die Bedingungen des Handelns von Natur gegeben, so müßte die Revolution der Handlungsregeln ein natürlicher Vorgang sein. Wäre wiederum die Revolution der Handlungsregeln ein natürlicher Vorgang, so stünde sie unter den übergreifenden Gesetzen der Natur. Aber das Diskontinuum der Regeln erfordert die Selbstgesetzlichkeit des Handelns. Es beinhaltet die Möglichkeit, Regeln von selbst neu zu setzen, und etwas von selbst setzen können erfordert die Autonomie der Setzung. 9Diese Autonomie kann von Naturgesetzen nicht erklärt werden. Denn ein jedes Naturgesetz würde die autonome Regelsetzung zum Fall eines übergreifenden Gesetzes machen. Sie wäre innerhalb natürlicher Zusammenhänge als eine Unstetigkeitsstelle bestimmt, die einen Vergleichswert umfassender Strukturen darstellt. Als solch ein Vergleichswert unterläge sie dem übergreifenden Gesetz. Sie wäre heteronom. Das bedeutet: die Autonomie der Setzung gelangt in natürlichen Erklärungen nicht in den Blick. Sosehr das Diskontinuum des Handelns unter dem Gesichtspunkt von Naturgesetzen als Unstetigkeitsstelle bestimmt werden kann, so wenig kann es auf diese Weise als die Möglichkeit bestimmt werden, Regeln von selbst neu zu setzen. An die Stelle seiner naturgesetzlichen Erklärung hat daher seine Erklärung aus der Selbstgesetzlichkeit des Handelns zu treten. Mit ihr grenzt sich das Diskontinuum des Handelns gegen die Gesetze der Natur ab.

Somit lautet die Begründungsreihe wie folgt: die Diskontinuität der Handlungsregeln erfordert die Autonomie des Handelns; die Autonomie des Handelns beinhaltet die Unzulänglichkeit ihrer natürlichen Erklärung; also weist die Diskontinuität der Handlungsregeln ihre Erklärung durch Naturgegebenheiten zurück. Auf diese Weise markiert das Diskontinuum der Revolution den Abstand zum Natürlichen. Hierin besteht der sachliche Grund dafür, daß das revolutionäre Denken immer wieder gegen die Naturalisierung der Gesellschaft kämpfte. Im Vorspruch zu Brechts Die Ausnahme und die Regel heißt es:

Vor dem oben Dargelegten läßt sich der Skopus dieser Verse so verstehen: die Naturalisierung der Gesellschaft macht diese stetig. Sofern Gesellschaft als Natur begriffen wird, und zwar ganz gleich, ob als erste oder als zweite Natur, schließt sich das Diskontinuum, das der revolutionäre Sprung erfordert, zum Kontinuum zusammen. Mit der Revolution hingegen bricht es auf, und der autonome Einrichtungscharakter von Handlungsregeln wird gegen die natürliche Heteronomie begründet. In dieser Überlegung liegt der Gedanke beschlossen, daß in der Revolution die Gesellschaft sich als Gesellschaft und nicht als Natur zeigt. Die Revolution ist etwas Unnatürliches. Allerdings ist sie es nur insoweit, als auch das Handeln etwas Unnatürliches ist: nicht etwas, das der Natur zuwiderläuft, sondern etwas, das sich mit den Gesetzen der Natur nicht erfassen läßt. Man muß daher besser sagen, die Revolution mache den Eigensinn des Handelns geltend. Sie stellt das dar, was unsere Praxis den natürlichen Erklärungen entzieht. Dadurch tritt die Gesellschaft als Gesellschaft ins Licht. Sie kommt zu sich selber.

Hier wird allerdings ein Problem sichtbar. Wenn die Revolution das Diskontinuum des Handelns darstellt, dann kann ihr Regelsetzen nicht als Regelfolgen verstanden werden. Vielmehr unterbricht sie das Weiterhandeln unter gegebenen Regeln. Das Regelfolgen aber war als eine Minimalbestimmung des Handelns eingeführt worden. Entsprechend wäre die Revolution in Wahrheit kein Handeln. Aber die Revolution stellt den Vollzug eines Handelns dar. Wie kann sie dann noch als Regeldiskontinuum begriffen werden? Ersichtlich vermag das Problem nicht dadurch gelöst zu werden, daß man die Revolution der Handlungsregeln in das sie umgebende Regelkontinuum einbettet. Diesem Lösungsversuch zufolge unterbräche die Revolution 11das Weiterhandeln unter bestimmten gegebenen Regeln, indem sie anderen Regeln gemäß weiterhandelte, die in Geltung blieben. Eine solche Abmilderung der Regelunterbrechung verfehlt den Sachverhalt. Zwar richtet sich keine Revolution auf die Gesamtheit aller Handlungsregeln; aber sie ist nur dann eine Revolution, wenn sie das Weiterhandeln, auf das es ankommt, in der Tat unterbricht, ohne auf andere Regeln, die in Geltung bleiben, zurückgreifen zu können. Die Lösung des Problems muß daher ohne ein Netz anderwärts verbindlicher Regeln auskommen. Sie besteht darin, daß das revolutionäre Handeln den Regeln folgt, die es im Diskontinuum des Handelns selber setzt. Regelsetzen und Regelfolgen schließen sich in seinem Fall zusammen. Das heißt: revolutionäres Handeln besitzt seine Bestimmtheit darin, seine Regeln zugleich zu setzen als auch zu befolgen.

In diesem Zusammenhang ist eine weitere Bedingung von Bedeutung. Die eingeführte Gleichzeitigkeit von Regelsetzen und Regelfolgen muß im Rahmen eines Handelns vieler Handelnder zu erklären sein. Denn Revolutionen erfolgen im Miteinanderhandeln. Dieses Miteinanderhandeln wiederum muß in dem Diskontinuum geschehen, das die Revolution markiert. Es geht in Revolutionen also darum, in der Unterbrechung des Weiterhandelns miteinander zu handeln. Hieraus folgt die Grundforderung der Revolutionsbestimmung: ein Verständnis davon zu entwickeln, wie man miteinander Handlungsregeln zugleich zu setzen und zu befolgen vermag und dadurch die Geltung bestehender Regeln aufhebt. Weil der Eigensinn unseres Handelns von der Revolution geltend gemacht wird, betrifft diese Grundforderung die Handlungstheorie selbst. Ohne einen Begriff vom Miteinanderhandeln in der Gleichzeitigkeit von Regelsetzen und Regelfolgen steht Handeln immer unter dem Vorbehalt, die Funktion eines übergeordneten Nichthandelns zu sein.

12Ein solcher Begriff ist das Ziel des Buches. Sein Anlaß ist der hundertste Jahrestag der Oktoberrevolution. Die Oktoberrevolution war nicht irgendein Ereignis. Zwar kann man die Bedeutung der zehn Tage, die die Welt erschütterten, in ihrem historischen Kontext relativieren; leugnen kann man sie nicht. Das kurze zwanzigste Jahrhundert besitzt in ihnen einen maßgeblichen Bestimmungsgrund. Und auch unsere eigene Zeit, die mit dem Ende der sozialistischen Staaten aus dem Schatten des Roten Oktobers herausgetreten ist, bleibt unterschwellig auf ihn bezogen. Ihre Verhärtungen und ihre Möglichkeiten ringen mit einer Krise, deren Entscheidungsresistenz mit dem Gespenst der vergangenen revolutionären Welt verbunden scheint. Die Alternativlosigkeit, deren einzige Alternative politische Destruktion zu heißen scheint, wirkt wie der Nachhall der untergegangenen Alternative — und verweist damit auf deren Beginn 1917.

Dieser Beginn darf nicht für sich genommen werden. Sosehr die Oktoberrevolution ihre Gestalt — im Guten wie im Schlechten — den besonderen Umständen Rußlands schuldete, so sehr verstand sie sich selber aus der kommunistischen Tradition der europäischen Arbeiterbewegung. Diese wiederum wußte sich als Weiterführung einer unterlegenen Richtung der Französischen Revolution, die dort zuletzt in Babeufs Verschwörung der Gleichen zum Ausdruck gelangte, sowie als Einlösung der unverwirklichten Ansprüche von 1789, sodann außerdem als Aufgriff gewisser Forderungen der Revolutionen von 1830 und 1848. In dieser Linie tritt die Pariser Kommune von 1871 als der erste Versuch einer Arbeiterrevolution in Erscheinung. Zumal Marx und Engels haben das immer wieder betont. Als der bolschewistische Flügel der russischen Sozialdemokratie 1917 die Zarenherrschaft stürzte, begriff er sich in Fortsetzung der skizzierten Linie. Einerseits sah er sich als die Erfüllung dessen, was seit der Großen Revolution der Franzo13sen immer wieder verlangt worden war. Anderseits hatte er die Schrecken der Niederlage vor Augen: nach dem Ende der Pariser Kommune wurden rund 30 ‌000 Menschen von den Regierungstruppen ermordet und 40 ‌000 eingekerkert. Man wußte, was beim Scheitern der Revolution droht. Neben dieses Selbstverständnis der Russischen Revolution tritt ihre Auslegung als Wiederaufführung der Französischen Revolution. Für Albert Mathiez etwa wurde 1789 im Spiegel von 1917 zum Paradigma der Moderne, und seine Lesart hat die Revolutionsgeschichtsschreibung noch im Widerspruch gegen sie geprägt.

Aus beiden Blickwinkeln wird deutlich: begreifen läßt sich die Oktoberrevolution nur im Gesamthorizont europäischer Revolutionen. Deren Bogen ist vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu schlagen, um den Bestimmungsgrund des zwanzigsten Jahrhunderts nicht zu verfehlen. So bringt der hundertste Jahrestag der Oktoberrevolution den europäischen Gedanken der Revolution insgesamt zur Erinnerung. Er soll in seiner Fülle, auch in seinen bedenklichsten Seiten, zum Thema werden. Eine Begrenzung muß freilich eingestanden werden: die Früchte, die der Rote Oktober außerhalb Europas trug, gelangen nur am Rande zur Sprache. Das hat seinen Grund darin, daß in ihnen Faktoren wirksam wurden, deren Untersuchung den Rahmen des Buches sprengen würde. Über diesen blinden Fleck darf man nicht hinweggehen. Allerdings widmet sich das Buch einer philosophischen Deutung der Revolution, im Unterschied zur geschichtlichen oder politischen Deutung. Es sieht daher ohnehin von vielem ab, was ein volles Verständnis von Revolutionen beinhalten müßte. Im Gegenzug wird dadurch die Artikulation eines Begriffes gewonnen. Einem solchen Begriff geht das Buch in der Hoffnung nach, daß er auch für die Sachverhalte erschließend sein möge, von deren dichter Beschreibung er um seiner Konstruktion willen absehen muß.

Zur philosophischen Deutung der Revolution kann sich das 14Buch auf vorliegende Selbstverständnisse und Interpretationen stützen, muß diese aber in einen eigenständigen Gedankengang integrieren. Die Selbstverständnisse und Interpretationen werden zu Modellen, die die Schritte des Gedankenganges bilden. Entsprechend stehen sie nicht in geschichtlicher Reihenfolge, sondern in argumentativer Ordnung. Von Bedeutung sind hier zumal Fragestellungen, die spätestens mit den verfassungsgebenden Versammlungen von Philadelphia und Paris im achtzehnten Jahrhundert in die Wirklichkeit eingriffen und von der Oktoberrevolution in eine neue Gestalt gebracht wurden. Sie kreisen um das Recht und um die Macht. Allerdings kann sich die Deutung auf diese Fragen nicht beschränken. Über sie hinaus muß sie ästhetische und theologische Ausmaße untersuchen, die der Revolutionsbegriff besitzt. Ästhetische Fragen der Moderne sind so sehr mit der gesellschaftlichen Revolution verbunden, daß diese als die »Tochter der ästhetischen Revolution« (Jacques Rancière) bezeichnet wurde. Das ist übertrieben; dennoch bleiben die Fragen einer Ästhetik der Revolution nicht zuletzt im Blick auf das Konzept der Avantgarde drängend. Eine ähnlich enge Verbindung gibt es zwischen Theologie und Revolution. Auffassungen wie die, daß Revolutionen ein säkularisiertes Heilsgeschehen oder Momente politischer Religionen darstellten, verfehlen das Verhältnis von Theologie und Politik ebenso sehr, wie sie seine Bedeutung bezeugen. Insbesondere die eschatologische Geschichtsdeutung verschmilzt die Revolution der Gesellschaft mit der Ankunft des Gottesreiches, und der Auszug aus Ägypten wie die prophetischen Verkündigungen weisen auf Wurzeln des Revolutionsbegriffes zurück, die dessen Modernität übersteigen. Auch sie sind philosophisch zu begreifen. Folglich lauten die Explikate der Revolution: ihr Recht, ihre Macht, ihre Schönheit, ihr Gott.