3Achille Mbembe

Politik der Feindschaft

Aus dem Französischen von Michael Bischoff

Suhrkamp

7 
 
 
 

Für Fabien Éboussi Boulaga,
Jean-François Bayart
und Peter L. Geschiere

9Einleitung
Die Welt auf dem Prüfstand

Wer ein Buch in die Hand nimmt, weiß darum noch nicht, was er damit anfangen soll. Ursprünglich wollte ich eines schreiben, das kaum von Geheimnissen umgeben wäre. Herausgekommen ist am Ende ein kurzer Essay, der aus hingeworfenen Skizzen und parallelen Kapiteln besteht, aus mehr oder weniger durchgezogenen Linien und zahlreichen Punkten, aus lebhaften und rasch ausgeführten Strichen oder gar leichten Rückzugsbewegungen, gefolgt von plötzlichen Kehrtwenden.

Gewiss, das sperrige Thema eignete sich kaum für ein Geigensolo. So reicht es denn, die Präsenz eines Knochens, eines Totenschädels oder eines Skeletts im Innern des Elements erahnen zu lassen. Dieser Knochen, dieser Totenschädel und dieses Skelett haben Namen — die Neubesiedlung der Erde, das Ende der Demokratie, die Gesellschaft der Feindseligkeit, die unerwünschte Beziehung, die Stimme des Blutes, Terror und Gegenterror als Heilmittel und Gift unserer Zeit (Kapitel 1 und 2). Den besten Zugang zu diesen verschiedenen Skeletten bot eine Form, die sich keineswegs zögerlich, sondern zielstrebig und energisch gibt. Wie dem auch sei, dies ist ein Text, über dessen Oberfläche der Leser frei, ohne Kontrolle und ohne Visum hinweggleiten kann. Er kann verweilen, solange er will, sich ganz nach Belieben bewegen und jederzeit durch jede beliebige Tür hinausgehen oder zurückkehren. Er kann jede Richtung einschlagen und dabei gegenüber jedem 10Wort und jeder These kritische Distanz und bei Bedarf auch eine gewisse Skepsis bewahren.

Es heißt, Schreiben entfalte stets eine Kraft oder spreche einen Streitpunkt an — was ich hier ein Element nenne. Im vorliegenden Fall handelte es sich um ein rohes Element oder eine einengende Kraft, um eine Kraft, die eher trennt als Bindungen verstärkt — eine Kraft der Spaltung und einer realen Isolierung, die sich allein um sich selbst dreht und sich vom Rest der Welt abzuschotten versucht, zugleich aber behauptet, deren bestmögliche Regierung zu sein. Die nachfolgenden Überlegungen betreffen in der Tat die erneute Erhebung der Feindschaftsbeziehung und ihrer zahlreichen Ausprägungen unter den heutigen Gegebenheiten auf die globale Ebene. Der Platonische Begriff des pharmakon — eines Medikaments, das zugleich als Heilmittel und als Gift wirkt — bildet hier den Dreh- und Angelpunkt. Zum Teil gestützt auf das politische und psychiatrische Werk Frantz Fanons, werde ich zeigen, wie im Gefolge der Dekolonisierungskonflikte der Krieg (in Gestalt von Eroberung und Besetzung, Terror und Aufstandsbekämpfung) am Ende des 20. Jahrhunderts zum Sakrament unserer Zeit wurde.

Diese Transformation hat wiederum leidenschaftliche Bewegungen freigesetzt, die Schritt für Schritt die liberalen Demokratien drängen, Notstandsmaßnahmen zu verhängen, ein rigoroses Vorgehen ins Auge zu fassen und diktatorische Mittel gegen sich selbst und ihre Feinde einzusetzen. Ich frage unter anderem, welche Folgen diese Umkehrung hat und wie sich unter diesen neuen Bedingungen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gewalt und Recht, zwischen Norm und Ausnahme, zwischen Krieg, Sicherheit und Freiheit stellt. Im Kontext einer immer kleiner werdenden Welt und einer Neubesiedlung der Erde zugunsten neuer Zirkulationszyklen der 11Bevölkerungen versucht dieser Essay nicht nur, neue Wege zu einer Kritik atavistischer Nationalismen zu öffnen. Er fragt auch indirekt, worin die Grundlagen einer gemeinsamen Genealogie und damit auch einer über die Menschheit hinausreichenden Politik des Lebendigen bestehen könnten.

Der Essay behandelt in der Tat jene Art von Arrangement mit der Welt — oder mit der Nutzung der Welt —, die zu Beginn dieses Jahrhunderts darin besteht, dass man alles, was nicht man selbst ist, für nichts erachtet. Dieser Prozess hat eine Genealogie und einen Namen: den Kurs auf Trennung und die Auflösung von Bindungen. Das geschieht vor dem Hintergrund einer Angst vor der eigenen Vernichtung. Tatsächlich empfinden heute viele Menschen Angst. Sie befürchten, Opfer einer Invasion zu werden und bald zu verschwinden. Ganze Völker haben das Gefühl, nicht mehr die nötigen Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Identität zu besitzen. Sie glauben, es gebe kein Außen mehr und man müsse zum Schutz vor den Bedrohungen immer mehr Mauern errichten. Sie wollen sich an nichts mehr erinnern, vor allem nicht an eigene Verbrechen und Untaten, und fabrizieren bösartige Objekte, die ihnen am Ende tatsächlich nachgehen und die sie dann mit Gewalt zu bekämpfen versuchen.

Von den bösen Geistern verfolgt, die sie unablässig erfinden und von denen sie nun in einer spektakulären Verkehrung umzingelt sind, stellen sie sich ganz ähnliche Fragen wie jene, mit denen sich vor gar nicht langer Zeit zahlreiche außerwestliche Gesellschaften auseinandersetzen mussten, die im Netz weitaus zerstörerischer Mächte gefangen waren — der Kolonisierung und des Imperialismus.[1] Kann ich den Anderen unter diesen Umständen noch für meinesgleichen halten? Worauf 12beruht denn unter den extremen Bedingungen, die wir hier und jetzt erleben, mein Menschsein und das der Anderen? Wäre es angesichts der erdrückenden Last, zu der der Andere geworden ist, nicht besser, wenn mein Leben nicht mit dem seinigen und seines nicht mit dem meinigen verbunden wäre? Warum muss ich gegenüber allen und gegen alle unbedingt über den Anderen und sein Leben wachen, wenn er seinerseits doch nur meinen Untergang im Sinn hat? Und wenn Menschlichkeit letztlich nur dann existiert, wenn sie in der Welt und von dieser Welt ist, wie lässt sich dann eine Beziehung zu den Anderen begründen, die auf der wechselseitigen Anerkennung unserer gemeinsamen Verwundbarkeit und Endlichkeit basierte?

Es geht offenbar nicht darum, den Kreis zu erweitern, sondern darum, aus den primitiven Formen des Fernhaltens von Feinden, Eindringlingen und Fremden — also von allen, die nicht zu uns gehören — Grenzen zu machen. In einer Welt, die von einer größeren Ungleichheit der Mobilitätschancen als jemals zuvor geprägt ist und in der Bewegung und Weggehen die einzige Überlebenschance darstellen, ist die Brutalität der Grenzen nur eine Grundgegebenheit unserer Zeit. Die Grenzen sind keine Linien mehr, die man überquert, sondern Linien, die trennen. In diesen mehr oder weniger miniaturisierten und militarisierten Räumen soll alles zum Stillstand kommen. Zahllose Menschen finden dort heute ihr Ende; sie werden deportiert, falls sie nicht einfach ertrinken oder an tödlichen Stromstößen sterben.

Der Gleichheitsgrundsatz wird sturmreif geschossen, und zwar sowohl durch das Recht des gemeinsamen Ursprungs 13und der Herkunftsgemeinschaft als auch durch die Zerstückelung der Staatsbürgerschaft und deren Zerfall in eine »reine« Staatsbürgerschaft (die der Einheimischen) und eine erworbene Staatsbürgerschaft (die längst prekär geworden und kaum vor Aberkennung geschützt ist). Angesichts der für unsere Zeit so typischen Gefährdungslagen geht es zumindest dem Anschein nach nicht mehr um die Frage, wie sich Lebensführung und Ausübung der Freiheit mit dem Wissen um die Wahrheit der Fürsorge für Andere vereinbaren lassen. Jetzt geht es vielmehr um die Frage, wie man den Willen zur Macht in einer Art Ausbruch primitiver Strebungen durch den Einsatz teils grausamer, teils tugendhafter Mittel aktualisieren kann.

Damit hat sich der Krieg nicht nur in der Demokratie, sondern auch in Politik und Kultur als Zweck und als Notwendigkeit etabliert. Er ist nun Heilmittel und Gift — unser pharmakon. Die Verwandlung des Kriegs in das pharmakon unserer Zeit hat wiederum verhängnisvolle Affekte freigesetzt, die unsere Gesellschaften nach und nach drängen, den Weg der Demokratie zu verlassen und sich in Gesellschaften der Feindschaft zu verwandeln, wie das unter der Kolonialherrschaft geschah. Von dieser weltweiten Fortführung des Kolonialismus und seiner zahlreichen aktualisierten Ausprägungen bleiben auch die Gesellschaften des Nordens nicht verschont. Der Krieg gegen den Terror und die Ausrufung eines weltweiten »Ausnahmezustands« verstärken diese Entwicklung noch.

Wer könnte sich heute mit dem Krieg als pharmakon unserer Zeit auseinandersetzen, ohne sich auf Frantz Fanon zu beziehen, in dessen Schatten dieser Essay geschrieben worden ist? Der Kolonialkrieg — und darüber spricht er in erster Linie — ist vielleicht nicht die letzte Matrix des nomos der Erde, 14aber zumindest doch eines der bevorzugten Mittel seiner Institutionalisierung. Als Eroberungs- und Besetzungskriege und in vielerlei Hinsicht als Vernichtungskriege waren die Kolonialkriege zugleich auch Belagerungskriege, im Ausland geführte Kriege und Rassenkriege. Aber wie könnte man vergessen, dass sie auch Elemente von Bürgerkriegen, von Verteidigungskriegen aufwiesen, wenn die Befreiungskriege nicht im Gegenzug sogar Kriege zur sogenannten »Aufstandsbekämpfung« auslösten. Gerade wegen der Verschränkung und Verkettung von Kriegen wie auch von Ursachen und Wirkungen gaben sie Anlass zu solchem Schrecken und solchen Grausamkeiten. Deshalb auch führten sie bei den Menschen, die sie erlitten oder daran teilnahmen, manchmal zum Glauben an eine illusorische Allmacht und manchmal zum reinsten Horror und dem Gefühl vollkommener Ohnmacht.

Wie die meisten heutigen Kriege — der Krieg gegen den Terror einschließlich diverser Formen der Besetzung — waren die Kolonialkriege Ausbeutungs- und Raubkriege. Auf allen Seiten — denen der Besiegten wie auch denen der Sieger — führten sie unausweichlich zum Untergang von etwas Ungreifbarem, nahezu Namenlosem, schwer Auszudrückendem: Wie erkennt man auf dem Gesicht des Feindes, den man zu töten versucht, aber dessen Wunden man auch zu pflegen vermöchte, ein anderes Gesicht des Menschen in seiner vollen Menschlichkeit, der damit unseresgleichen wäre (Kapitel 3)? Die Kolonialkriege setzten leidenschaftliche Kräfte frei, durch die sich die Fähigkeit der Menschen, Trennungslinien zu ziehen, noch beträchtlich vergrößerte. Sie zwangen die einen, ihre am stärksten unterdrückten Wünsche offener denn je zu zeigen und ihre dunkelsten Mythen noch direkter aufzugreifen. Anderen boten sie die Möglichkeit, aus ihrem Tiefschlaf zu erwachen, zum ersten und vielleicht einzigen Mal die Macht zu spüren, Teil 15der umgebenden Welt zu sein, und dabei ihre eigene Verwundbarkeit und Unfertigkeit zu ertragen. Brutal dem Leid unbekannter Dritter ausgesetzt, ließen wieder andere schließlich sich anrühren. Angesichts dieser zahllosen leidenden Körper traten sie plötzlich aus dem Kreis der Gleichgültigkeit heraus, in den sie sich bislang eingemauert hatten.

Fanon hatte verstanden, dass es in der Kolonialherrschaft und dem gleichnamigen Krieg kein Subjekt des Lebens gibt (Kapitel 3). Als lebendiges Subjekt ist es stets offen gegenüber der Welt. Indem es das Leben der anderen Lebewesen und Nichtlebewesen begreift, begreift es sein eigenes, existiert es erst als Lebensform, vermag es nun die Asymmetrie der Beziehung zu korrigieren, dort eine Dimension der Gegenseitigkeit einzubringen und Sorge für das gemeinsame Menschsein zu übernehmen. Andererseits erblickte Fanon in Fürsorge und Pflege eine Resymbolisierung, in der stets die Möglichkeit der Reziprozität und Gegenseitigkeit (der echten Begegnung mit anderen) ins Spiel kommt. Dem Kolonisierten, der sich weigerte, kastriert zu werden, riet er, Europa den Rücken zu kehren, das heißt bei sich selbst zu beginnen und sich jenseits der Kategorien aufzurichten, die ihn gebeugt hielten. Das Problem bestehe nicht nur darin, dass man einer bestimmten Rasse zugeordnet wird, sondern auch in der Tatsache, dass man die Voraussetzungen dieser Zuordnung verinnerlicht hat; dass man diese Kastration am Ende selbst wünscht und sich zu ihrem Komplizen macht. Denn das fiktive Bild, das der Andere vom kolonisierten Subjekt fabriziert hatte, trieb den Kolonisierten nun vollständig oder nahezu vollständig dazu, sich darin einzurichten wie in seiner Haut und seiner Wahrheit.

Dem Unterdrückten, der sich von der Last der Rasse zu befreien versuchte, riet Fanon deshalb zu einem langen Hei16lungsprozess. Diese Therapie begann mit und in der Sprache und in der Wahrnehmung, mit der Einsicht in jene fundamentale Realität, wonach in der Welt Mensch zu werden bedeutet, dass man akzeptiert, dem Anderen ausgesetzt zu sein. In der Therapie folgt nun eine gewaltige Arbeit an sich selbst, mit neuen Erfahrungen des Körpers, der Bewegung, des Zusammenseins (und der Kommunikation) als des lebendigsten und verwundbarsten gemeinsamen Fundaments des Menschen und schließlich mit der Ausübung von Gewalt. Diese Gewalt richtete sich gegen das Kolonialsystem. Zu den Besonderheiten dieses Systems gehörte die Schaffung eines ganzen Spektrums von Leid, das keine Reaktion, kein Verantwortungsgefühl, keine Fürsorge, keine Sympathie und oft auch kein Mitleid auslöste. Im Gegenteil, man tat alles, um bei allen die Fähigkeit abstumpfen zu lassen, wegen des Leidens der einheimischen Bevölkerung selbst zu leiden und sich davon berühren zu lassen. Und mehr noch, die koloniale Gewalt diente dem Zweck, die Kraft der Wünsche bei den Unterdrückten einzufangen und auf unproduktive Ziele umzuleiten. Unter dem Vorwand, nur das Wohl der einheimischen Bevölkerung im Sinn zu haben, versuchte der Kolonialapparat nicht nur, deren Lebenswunsch zu blockieren, sondern auch ihre Fähigkeit zur Selbstachtung als sittlich Handelnde zu beeinträchtigen und zu schwächen.

Genau dagegen richtete sich Fanons politische und klinische Praxis ganz entschieden. Deutlicher als andere verwies er auf einen der großen aus der Neuzeit überkommenen Widersprüche, dessen Lösung seiner Zeit jedoch große Mühe bereitete. Die gewaltige Neubesiedlung der Welt, die zu Beginn der Neuzeit ihren Anfang genommen hatte, führte schließlich zu einer massiven »Landnahme« (der Kolonisierung), in einer Größenordnung und mit Hilfe von Techniken, wie man 17sie in der Geschichte der Menschheit noch nicht erlebt hatte. Statt die Demokratie auf dem gesamten Erdball zu verbreiten, brachte der Wettlauf um neue Territorien ein neues Recht (nomos) der Erde hervor, dessen Hauptmerkmal darin bestand, dass Krieg und Rasse zu den beiden bevorzugten Sakramenten der Geschichte erhoben wurden. Die Sakramentalisierung des Kriegs und der Rasse in den Hochöfen des Kolonialismus machte sie zugleich zum Gegengift und zum Gift der Neuzeit, zu deren zweifachem pharmakon.

Unter diesen Umständen, so glaubte Fanon, könne die Dekolonisierung als konstituierendes politisches Ereignis kaum ohne Gewalt ablaufen. Jedenfalls existierte sie als aktive Urkraft bereits zuvor. Die Dekolonisierung setzte einen belebten Körper in Bewegung, der fähig war, sich erschöpfend auszudrücken, und dies in einem Zusammenstoß mit allem, was ihm vorausging oder ihm äußerlich war und ihn hinderte, zu seinem Begriff zu finden. Doch so schöpferisch die reine und grenzenlose Gewalt auch sein mochte, war sie doch niemals vor einer möglichen Verblendung gefeit. In steriler Wiederholung gefangen, konnte sie jederzeit entarten und ihre Energie in den Dienst der Zerstörung um der Zerstörung willen gestellt werden.

Andererseits verfolgte die Therapie nicht hauptsächlich das Ziel, die Krankheit vollständig auszurotten oder den Tod zu unterdrücken und Unsterblichkeit herzustellen. Der kranke Mensch war der Mensch ohne Familie, ohne Liebe, ohne zwischenmenschliche Beziehungen und ohne Verbundenheit mit einer Gemeinschaft. Es war der Mensch ohne jede Möglichkeit einer echten Begegnung mit anderen Menschen, zu denen er keine vorgängigen Abstammungs- oder Herkunftsbande besaß (Kapitel 3). Diese Welt aus bindungslosen Menschen (oder aus Menschen, die ohne die anderen auskommen möch18ten) gibt es auch heute noch, wenn auch in ständig wechselnden Ausprägungen. Es gibt sie in den Windungen der erneuerten Judenfeindlichkeit wie auch ihres Gegenstücks, der Islamfeindlichkeit. Es gibt sie in Gestalt des Wunsches nach Apartheid und Endogamie, der unsere Zeit quält und uns in einen halluzinierenden Traum stürzt, in den einer »Gemeinschaft ohne Fremde«.

Fast überall treten Blutrecht, Talionsprinzip und Rassenpflicht — als konstitutive Elemente des atavistischen Nationalismus — wieder an die Oberfläche. Die bislang mehr oder weniger verdeckte Gewalt der Demokratien kommt gleichfalls wieder zum Vorschein und zeichnet einen todbringenden Kreis, der die Phantasie einengt und aus dem man nur schwer zu entkommen vermag. Die politische Ordnung formiert sich fast überall neu als Organisationsform für den Tod. Schritt für Schritt sucht ein im Wesen molekularer und angeblich defensiver Terror sich zu rechtfertigen, indem er die Beziehungen zwischen Gewalt, Mord und Gesetz, Glaube, Geboten und Gehorsam, Norm und Ausnahme oder auch Freiheit, Verfolgung und Sicherheit vernebelt. Es geht nicht darum, den Mord durch Recht und Justiz aus dem Gemeinschaftsleben auszuschließen. Vielmehr gilt es nun, immer wieder den höchsten Einsatz zu riskieren. Weder der Terrorist noch der Terrorisierte — beide der jüngste Ersatz des Bürgers — lehnen den Mord ab. Im Gegenteil, wenn sie nicht ganz einfach an den (zugefügten oder erlittenen) Tod glauben, halten sie ihn wenigstens für den letzten Garanten einer in Blut und Eisen getauchten Geschichte — der Geschichte des Seins.

Die Unauflöslichkeit der menschlichen Bande, die Untrennbarkeit des Menschen und der übrigen Lebewesen, die Verwundbarkeit des Menschen im Allgemeinen und des kriegskranken Menschen im Besonderen oder auch die Sorgfalt, de19ren es bedarf, um das Leben auf Dauer zu sichern — mit alledem befasste sich Fanon intensiv in seinem Denken wie auch in seinem Tun. Um diese Fragen wird es — auf Umwegen und in wechselnder Gestalt — in den folgenden Kapiteln gehen. Da Fanon eine ganz besondere Fürsorge für Afrika entfaltete und sein eigenes Schicksal definitiv mit dem dieses Kontinents verband, liegt es auf der Hand, dass Afrika bei diesen Überlegungen im Vordergrund steht (Kapitel 4).

Es gibt in der Tat Namen, die kaum auf die Sache, sondern über sie hinweg oder an ihr vorbei weisen. Sie entstellen und verdecken. Deshalb widersetzt sich die eigentliche Sache oft der Bezeichnung und jeglicher Übersetzung. Nicht weil sie hinter einer Maske verborgen wäre, sondern weil sie derart zu wuchern vermag, dass jedes Adjektiv überflüssig wird. Das galt in Fanons Augen für Afrika und dessen Maske, den Neger. Eine verschwommene, nebulöse, gewichtslose Entität ohne historisches Profil, über die nahezu jeder nahezu alles sagen könnte, ohne dass dies irgendwelche Folgen hätte? Oder eine eigenständige Kraft und ein Projekt, die aus eigener Lebenskraft zu ihrem Begriff zu finden und sich in das neue Weltzeitalter einzuschreiben vermöchten?

Um der Vielfalt der Lebenswelten gerecht zu werden, ohne in Wiederholungen zu versinken, richtete Fanon den Blick auf die Erfahrung der Menschen mit den oberflächlichen und den tiefen Schichten, mit der Welt des strahlenden Lichts und den Schattenwelten. Da es sich um letztgültige Bedeutungen handelte, wusste er, dass er sowohl in den Strukturen als auch in den dunklen Bereichen des Lebens danach suchen musste. Daher die außergewöhnliche Aufmerksamkeit, die er der Sprache, dem gesprochenen Wort, der Musik, dem Theater, dem Tanz, dem Pomp, dem Dekor und allen erdenklichen Arten technischer Objekte und psychischer Strukturen 20widmete. Allerdings geht es in diesem Essay nicht darum, einen Toten zu besingen, sondern darum, auf bruchstückhafte Weise einen großen Denker der Verwandlung in Erinnerung zu rufen.

Ich habe nichts gefunden, was für diesen Zweck besser geeignet wäre als eine bildhafte Sprache, die zwischen Schwindel, Auflösung und Zerstreuung schwankt. Eine Sprache, die aus ineinander verschlungenen Schleifen besteht und deren Kanten und Linien sich jeweils in ihrem Fluchtpunkt treffen. Diese Sprache soll ins Leben zurückholen, was den Mächten des Todes überantwortet war. Sie soll den Zugang zu den Grundfesten der Zukunft wieder eröffnen, angefangen bei der Zukunft derer, die vor gar nicht langer Zeit nur schwer zu sagen vermochten, worin der Anteil des Menschlichen liegt und worin der des Tiers, des Objekts, der Sache oder der Ware (Kapitel 4).

Johannesburg, 24. Januar 2016

Dieser Essay entstand während meines langen Aufenthalts am Witwatersrand Institute for Social and Economic Research (WISER) der University of the Witwatersrand in Johannesburg.

In diesen Jahren habe ich größten Nutzen gezogen aus dem ständigen Gedankenaustausch mit meinen Kolleginnen und Kollegen Sarah Nuttall, Keith Breckenridge, Pamila Gupta, Sara Duff, Jonathan Klaaren, Cath Burns und in jüngerer Zeit Hlonipa Mokoena sowie Shireen Hassim. Adam Habib, Tawana Kupe, Zeblon Vilakazi, Ruksana Osman und Isabel Hofmeyr haben mich unablässig ermutigt. Das Postdoc-Seminar, das ich gemeinsam mit meiner Kollegin Sue Van Zyl am Wiser abhielt und zu dem Charne Lavery, Claudia Gastrow, Joshua Walker, Sarah Duff, Kirk Side und Timothy Wright 21regelmäßig Beiträge leisteten, bildete einen Forschungsraum von unschätzbarer Kreativität.

Paul Gilroy, David Theo Goldberg, Jean Comaroff, John Comaroff, Françoise Vergès, Éric Fassin, Laurent Dubois, Srinivas Aravamudan, Elsa Dorlin, Grégoire Chamayou, Ackbar Abbas, Dilip Gaonkar, Nadia Yala Kisukidi, Eyal Weizman, Judith Butler, Ghassan Hage, Ato Quayson, Souleymane Bachir Diagne, Adi Ophir, Célestin Monga, Siba Grovogui, Susan van Zyl, Henry Louis Gates und Xolela Mangcu waren fruchtbare Inspirationsquellen für mich und — oft ohne ihr Wissen — Gesprächspartner allerersten Ranges.

Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen am Johannesburg Workshop in Theory and Criticism (JWTC) Leigh-Ann Naidoo, Zen Marie und Kelly Gillespie für ihre unermüdliche Zusammenarbeit und Najibha Deshmukh wie auch Adila Deshmukh für ihre tiefe Freundschaft.

Mein Verleger Hugues Jallon und sein Team, Pascale Iltis, Thomas Deltombe und Delphine Ribouchon, waren wie stets eine zuverlässige Stütze.

Ich widme diesen Essay einem unserer ganz Großen, Fabien Éboussi Boulaga, und zwei unerschütterlichen Freunden, Jean-François Bayart und Peter L. Geschiere.