Richard Grosse
Russengold
Ein Berlin-Krimi
Kommissar Birchers zweiter Fall
Bild und Heimat
Von Richard Grosse liegt bei Bild und Heimat außerdem vor:
Mordshochhaus (2015)
Dank an Herrn Dr. Jäger-Hülsmann für wertvolle sachliche und formale Hinweise und Frau Dr. E. Fietze für die Beratung bei medizinischen Fragen.
eISBN 9783959587501
1. Auflage
© 2017 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin
Umschlagabbildung: © bpk | Gisela Stappenbeck
Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:
BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat
Alexanderstr. 1
10178 Berlin
Tel. 030 / 206 109 – 0
www.bild-und-heimat.de
Für G.
Die Handlung ist frei erfunden. Jedweder Bezug der Romanfiguren zu realen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Prolog
An das Ende der Party auf der Datscha von Wladimirs Eltern vor den Toren Moskaus konnte sich Rainer nicht erinnern. Es war eigentlich wie immer gewesen: Zusammen mit Wladimir, Ullrich, Boris und Lena hatte er ausgiebig den Beginn einiger unbeschwerter Tage gefeiert. Irgendwann war Boris verschwunden, wahrscheinlich draußen rauchen, dachte Rainer anfänglich, dann war Lena weg, weil sie wohl müde war, und schließlich er selbst beziehungsweise sein Gedächtnis. Das Ende der Party blieb in ihm verschüttet wie ein flüchtiger Traum. Er wachte mit dem Gefühl auf, als hätte man ihn innerhalb weniger Minuten um die Erde kreisen lassen. Es war ihm unmöglich, einen einzigen Eindruck präzise zu schildern, die einzelnen Bilder vermischten sich, als wären sie übereinandergelagert oder in rasendem Tempo aneinandergereiht. Wo war Wolodja, als ich abging? Und Ullrich, war er bei Boris? War ich zum Schluss allein? Hatte es geschneit? War ich überhaupt anwesend?
Den ganzen Morgen fühlte sich sein Kopf wie unter einem Presslufthammer an; es dröhnte und rauschte hinter seinen Schläfen, als würde jemand unter Hochdruck seine Ohren spülen, alle paar Sekunden raubte ihm ein stechender Schmerz fast die Besinnung. Er berührte mit beiden Händen vorsichtig seine Schläfen, als müsste er sich vergewissern, dass sein Schädel keine Risse aufwies. Er spähte durchs Fenster und versuchte sich zu erinnern, wie das Fest zu Ende gegangen war. Irgendetwas war vorgefallen, das ihnen die Stimmung verhagelt hatte. Aber was? Ratlos starrte er hinaus in den russischen Frost, der das Holzhaus wie ein Eisschrank in sich einschloss. Von den vier Wodkaflaschen, die sie am Tage zuvor in den Schnee gesteckt hatten, grüßte noch eine wie vergessen aus der Winterlandschaft.
Langsam keimte in Rainer ein verschwommenes Bild auf: es stellte Boris dar, der vor dem Fenster rauchte und ihm wie ein Zauberkünstler erschien, der sich in einer Wolke auflöst. Später hatte er Boris’ Rauchpausen nicht mehr wahrgenommen, Boris kam und ging wie ein ruheloser Gastgeber. Bis zu dem Moment, als Rainer sich kurz wunderte, warum es so leer und ruhig im Wohnzimmer war. Er sah draußen im Glimmen einer Zigarette die Umrisse seiner Freunde, die irgendwelche Mätzchen im Garten aufführten. Das Letzte, woran sich Rainer erinnerte, war Ullrichs gleichgültiges Achselzucken, als er ihn irgendwann nach dem Befinden ihres gemeinsamen Freundes befragte. Wo Boris eigentlich sei, ob er im Bett sei, wie üblich stocknüchtern und bedacht auf einen ungestörten Schlaf, flachste Rainer, und schenkte sich noch ein Gläschen ein. Ullrich reagierte mit einer abwertenden Geste, als wäre die Frage überflüssig. Gleich darauf schlief Rainer ein.
1
März 1977
Karl Bircher legte den Telefonhörer auf und ließ sich langsam nach hinten fallen. Er runzelte die Stirn und presste aus verkniffenem Mund einen Schwall Luft über die leere Schreibtischplatte. Wie immer, wenn ihn eine unangenehme Nachricht erreichte, griff er mit der rechten Hand nach dem Brillenbügel, hob das Gestell an und knetete mit der anderen Hand seine Nasenwurzel. Seine Augen glitten zur Tür, als hoffte er, dass ihn dahinter ein leichteres Schicksal erwartete.
»Mist«, murmelte er, »warum ausgerechnet ich. Gibt doch andere, bessere Kandidaten für diesen Zweck.« Ich muss mir was einfallen lassen, grübelte er, und kniff die Augen wie bei einem plötzlichen Kopfschmerz zusammen. Er raffte sich hoch und angelte mit ausgestrecktem Arm lustlos nach einem Aktendeckel, warf einen kurzen Blick auf die erste Seite und wollte ihn gerade wieder zur Seite schieben, als es klopfte. Bevor er noch »Herein!« rufen konnte, tauchte der Rotschopf seiner Sekretärin Manuela Riescher auf.
»Was gibt’s, Manuela?«, brummte Bircher, ohne den Blick zu heben. Wer sonst außer ihr würde es wagen, unaufgefordert einzutreten. Vielleicht wollte sie nur wissen, ob er sie noch brauchte.
»Das Sekretariat des Generals ist in der Leitung. Genosse General Meier will dich sprechen«, flüsterte sie geheimnisvoll.
Es kam nicht so häufig vor, dass er außerhalb der wöchentlichen Lagebesprechung nach ihm verlangte. Bircher hob den Blick und nickte ihr wortlos zu. Manuela war lange genug an seiner Seite, um zu ahnen, dass ihn in den letzten Minuten irgendetwas Unerwartetes verärgert haben musste. Grübelnd schloss sie die Tür.
Bircher atmete kurz durch, stellte sich neben seinen Schreibtisch, blickte teilnahmslos in Richtung Volkspark Friedrichshain und griff nach dem Hörer.
»Also, stell bitte durch«, sagte er ruhig.
»Karl, ich grüße dich«, hörte er an seinem Ohr die sonore Stimme Meiers, die ihn immer wieder an die des Nachrichtensprechers der »Aktuellen Kamera« erinnerte, »ich habe hier eine Anfrage aus Moskau. Es handelt sich um den Tod eines sowjetischen Studenten, der uns eigentlich nicht tangieren würde, wäre darin nicht auch ein DDR-Bürger verwickelt. Der war mit auf einer Party bei Moskau, in deren Verlauf sein Freund verschwand. Es war sibirisch kalt in der Nacht. Die Genossen vermuten, dass der junge Mann nicht freiwillig aus dem Leben geschieden ist. Also Verdacht auf Mord oder Totschlag.«
Meier machte eine Pause, als würde er Birchers Reaktion abwarten. Der schwieg und hoffte, nicht nach Moskau geschickt zu werden. Lange Reisen waren ihm ein Gräuel. Da Bircher keine Anstalten machte, den naheliegenden Dienstreiseauftrag selbst auszusprechen, nahm Meier das Gespräch wieder auf.
»Die Miliz bittet uns, jemand rüberzuschicken. Der Student Ullrich Mann, der in der bewussten Nacht dabei war, muss befragt werden. Vielleicht auch noch ein gewisser Rainer Krohn, der mit dem Toten befreundet war. Krohn teilt sich das Zimmer mit Wladimir Schukin, der eingeladen hatte. Seinen Eltern gehört die Datscha, wo sie feierten. Und dann war da noch ein Mädchen. Steht alles in der Handakte, die auf dem Weg zu dir ist. Alles klar?«, schloss er, als hätte er einen Beschluss vom Blatt abgelesen.
Bircher schwirrten die russischen Namen durch den Kopf. In seinen Ohren klang Meiers Frage wie »Gute Reise«.
»Also, dann schicke ich Schmidter rüber. Der kann das übernehmen, versteht sogar drei Sätze auf Russisch und ist auch sonst ein geübter Reisender«, stellte sich Bircher unwissend.
»Nein, du musst wohl selbst fahren. Ich befürchte, dass die Sache nicht ganz so einfach wird. Nicht nur was den Fall selbst betrifft, auch die äußeren Umstände könnten deinen Einsatz erfordern. In wenigen Monaten werden die Diplome an der Lomonossow-Universität verteilt, und dann geht’s für die deutschen Studenten zurück in die Heimat. Davor würden die Moskauer Kollegen gerne den Fall abschließen. Also, du fährst. Ich habe angekündigt, dass du in den nächsten Tagen in Scheremetjewo landen wirst. Ist mal was anderes, oder?«
Bircher schielte auf den Kalender an der Wand. Demnach wäre er am achten März in Moskau, stellte er fest, und ein leichtes Grienen überzog sein Gesicht. Seine müden Augen hellten sich ein wenig auf, die schweren Lider strafften sich, und für einen Moment ging etwas Schelmisches von seinem Gesicht aus. Wie ein Junge, der sich diebisch an einem gelungenen Streich erfreut.
»Gut. Dann fliege ich also selbst nach Moskau.«
»So ist es. Bis bald, Karl.« Meiers Stimme klang aufgeräumt. Vielleicht freute er sich auf einen interessanten Fall, der auch ihn nach Moskau führen würde.
Bircher stand in seinem Arbeitszimmer und überlegte, was er jetzt tun sollte. Seine Frau Karola benachrichtigen? Nein, das hat Zeit bis zum Abend, schob er den Gedanken zur Seite. Ist schließlich keine FDGB-Reise, die wir angeboten bekommen haben. Also, erst mal Schmidter und Manuela informieren. Angler ist bis zum Jahresende zur Schulung. Der hätte sich um die Reise gerissen. Bircher öffnete die Tür zu seinem Vorzimmer und nickte seiner Sekretärin zu.
»Soll ich reinkommen?«, fragte sie.
»Ne, bleib ruhig sitzen. Also, ich muss nach Moskau. Bitte benachrichtige Genossen Schmidter. Und setze dich mit der Reisestelle in Verbindung, die haben Befehl vom General, mich ins Flugzeug zu setzen«, klärte Bircher sie auf.
Manuela schaute ihn an, als hätte sie sich verhört. Der Chef ins Flugzeug nach Moskau? Sie konnte sich seine Gelassenheit nicht erklären, schließlich wusste jeder im Präsidium, dass er Reisen so hasste wie schlechten Wein. Nun aber schien er alles andere als verärgert zu sein.
Bircher hielt Schmidter für einen zurückhaltenden und umsichtigen Ermittler. Nach der erfolgreichen Überführung des Mörders vom Haus des Kindes am Strausberger Platz war er um einen Dienstgrad befördert worden. Schmidter ist ein guter Ehemann und auch noch Vater, der ist bestens für die Frauentagsrede geeignet, beschloss Bircher.
»Was ist, Manuela, habe ich dich erschrocken? Hast du Angst, dass mir in Moskau etwas zustoßen könnte? Also, bereite alles vor«, sagte er ruhig und wollte bereits zurück in sein Zimmer gehen, als ihm noch etwas einfiel. Er verharrte für einen Moment, drehte sich noch mal um und grinste wie nach einem gelungenen Trick: »Ja, das habe ich fast vergessen. Vorhin kam noch ein Anruf vom Parteisekretär Huber, der mich bat, die Rede zur Frauentagsfeier zu halten. Also, das macht Schmidter. Soll sich vorher den Frauenförderungsplan ansehen.«
Manuela blies leicht die Wangen auf, als müsste sie gleich losprusten.
»Tut mir leid, dass du auf mich als Festredner verzichten musst«, sagte er tonlos.
Beide lächelten kurz, wie nach einem gelungenen Scherz. Er schloss die Tür hinter sich.
Jetzt fahre ich nach Hause und suche mein Russisch-Wörterbuch, dachte Bircher. Vorher könnte er zur Feier des Tages noch am Delikatladen in den Rathauspassagen anhalten, kam ihm eine verlockende Idee. Er wuchtete sich aus dem Stuhl, ging gemächlich die paar Schritte zum Kleiderständer und zog seinen Mantel über. Vielleicht hatte er Glück und bekam einen Weißwein aus Meißen. Den letzten hatten sie vor über einem Jahr zu Weihnachten getrunken, als der Nachbar, ein Arzt an der Charité, mit einer Flasche vor der Tür gestanden hatte. Das ist ja ein echter aus Sachsen, hatte Karola später gerufen, die Flasche wie eine Trophäe halb hoch haltend. Na ja, hatte Karl gemurmelt, gelobt seien die Ärzte, die uns treu bleiben.
Die Aktentasche unter die Achsel geklemmt, suchte Bircher nach den Mantelknöpfen. Umständlich hantierte er mit angezogenen Ellenbogen an der Knopfleiste, ließ leise schnaufend die Arme fallen und schloss im offenen Mantel die Tür hinter sich. Er schritt langsam den Korridor entlang, der in eine kleine Halle mündete, wo sich die Schächte für die zwei Paternoster befanden. Für einen Moment blieb Bircher stehen und musterte die offenen Kabinen, in denen wie in einer Geisterbahn Menschen auftauchten und verschwanden – zunächst die Füße, dann die Beine, schließlich die Oberkörper und endlich die ganze Gestalt, und wenn man sich dem benachbarten Schacht zuwandte, wiederholte sich das Schauspiel in umgekehrter Folge. Bircher erinnerte sich an die verspiegelten Wände auf dem Rummelplatz, die einen auf den Kopf stellten. Was wäre, so dachte er ein ums andere Mal, würde man in dem winzigen Augenblick, wenn Kabine und Etagenboden eine Ebene bildeten, den Absprung verpassen? Aus den Augenwinkeln hatte Bircher mehr als einmal wahrgenommen, wie einige Kollegen mit dem Kopf im Nacken den Kabinenlauf verfolgten, die Blicke verstohlen an die davonschwebenden Röcke geheftet.
Bircher wollte sich gerade der Treppe zuwenden, als er bemerkte, wie jemand besonders schwungvoll aus der Kammer sprang, obwohl die sich noch einen Meter über dem Fußboden befand. Gleich darauf hörte er seinen Namen. Natürlich, Schmidter. Wer sonst hüpft wie ein Frosch aus dem Fahrstuhl? Wie hat der mich erkennen können, fragte sich Bircher. Mit dem Kopf war der doch noch im Schacht.
»Schmidter, was gibt’s denn so Wichtiges?«, fragte Bircher mürrisch.
Sein hochaufgeschossener Mitarbeiter nahm unwillkürlich Haltung an. Unschlüssig, etwas verlegen, sah er aus. Es war ihm nicht entgangen, dass Bircher im Begriff war, das Präsidium zu verlassen. Der schaute ihn kurz an, von den Gondeln abgelenkt, in denen die Mitarbeiter des Präsidiums wie Kasperlepuppen auf- und absegelten. Er riss sich von dem Anblick los und fixierte ihn.
»Entschuldigen Sie, aber mich hat gerade Manuela angerufen. Sie fliegen nach Moskau?« Schmidter verstummte, als erhoffte er eine nähere Erläuterung.
Bircher nickte und schwieg beharrlich.
»Ja, also, ich soll an Ihrer Stelle die Rede zum Frauentag halten«, fügte er hastig hinzu.
Bircher nickte erneut. Spuck es aus, deinen Wunsch, davon befreit zu werden, dachte er im Stillen.
»Ich habe das noch nie gemacht und habe eigentlich auch keine Zeit, mich vorzubereiten. Und überhaupt, müsste bei diesem Anlass nicht jemand aus dem zentralen Leitungsgremium sprechen?«, sprudelte es aus Schmidter heraus.
»Alles macht man bekanntlich zum ersten Mal, und vorbereiten müssen Sie sich nicht. Holen Sie sich von Manuela den Frauenförderungsplan und sehen Sie zu, dass Sie alle Punkte abarbeiten. Und nicht länger als zwanzig Minuten sprechen, die Frauen wollen gutgelaunt zum Büfett.«
»Darf ich fragen, ob Sie Material von früheren Reden haben?«
»Ne, wäre ja auch meine erste Frauentagsrede gewesen. Jetzt kommen Sie mir zuvor. Also heben Sie die Rede schön auf«, sagte Bircher gleichmütig und wandte sich den Stufen zu. »Wir sehen uns morgen.«
Schmidter sah ihm ratlos hinterher, wie er mit wehendem Mantel langsam die breite Treppe hinunterstieg.
Bircher überquerte den Alexanderplatz, streifte mit einem Blick die Weltzeituhr und besann sich kurz: Zwei Stunden Zeitunterschied zwischen Berlin und Moskau. Falls ich mittags fliege, wird es Abend sein, wenn ich im Hotel bin, dachte er. Dann geht’s wahrscheinlich direkt ins Restaurant.
Er erreichte die Rathausstraße und stieg langsam die wenigen Stufen zur Einkaufspassage hoch. Vor einem Jahr hatte die Regierung beschlossen, sogenannte Delikatläden zu eröffnen. »Delikat« stand hier nicht für »heikel« oder »zart«, sondern für »wohlschmeckende« Lebensmittel. Obwohl Bircher und seine Frau beim Essen wählerisch waren, hatten sie bisher noch keinen Delikatladen aufgesucht. Das Angebot war ziemlich teuer, obwohl es zum größten Teil aus einheimischer Produktion stammte. Das rief insbesondere bei Karola einen leichten Widerstand hervor.
Bircher betrat den Laden und ließ seinen Blick über die Regale und Auslagen schweifen. Die Größe des Geschäfts überraschte ihn ein wenig. Es gibt sogar eine Käsetheke, stellte er fest, natürlich die Wurstauslage und eine Spirituosenabteilung. Am stärksten beeindruckte ihn der Stand, an dem eine Vielzahl von Schüsselchen, Schalen und Platten seine Neugierde entfachte. Bircher schluckte genießerisch und trat näher, um das Sortiment zu studieren: Geflügelsalat, Rindfleischsalat, Eiersalat, Champignonsalat, aber auch feingeschnittenes Roastbeef mit einer Meerrettichcreme und Medaillons vom Schwein, auf denen Mayonnaisehäubchen thronten.
Das wär mal was Neues, sagte er sich. Schimmelkäse, Mandarinen in der Büchse, Hackbratenfix oder Britzer Knacker, das hatten sie zur Genüge, aber so eine kalte Vorspeisenplatte war etwas Besonderes und passte zum Dienstreiseauftrag. Sakuski1* nannten es die Freunde. Ein Häppchen und ein Gläschen, Karola würde es freuen.
»So machen wir das«, murmelte er zufrieden und gab seine Bestellung auf. Stirnrunzelnd zählte er das Geld ab und nahm sich vor, nicht vor Weihnachten wiederzukommen. Er wollte das Geschäft gerade verlassen, da streifte sein Blick das Weinregal. Er trat näher, um das Angebot zu prüfen. Da war nichts, was ihn hätte begeistern können. Die üblichen Sorten aus Ungarn, Rumänien und Bulgarien, dazu der Gotano, ein gefährlich süßer Wermut aus Gotha, von dem Bircher nur wusste, dass er beim Abiball die Mädchen hinraffte. Ein Etikett fiel ihm auf, weil er es nicht kannte und es ihn an seine Heimat erinnerte. Es bildete inmitten einer dörflichen Landschaft die Umrisse einer Kirche ab. Bircher schob die Brille eine Idee nach vorn.
»Liebfrauenmilch«, las er und nickte einer Verkäuferin zu, die sich ihm bedächtig zuwandte. »Sagen Sie, ist das ein Riesling oder ein Silvaner?«
»Där kummt aus der Bundesrepublik. Is ä Weißähr«, antwortete sie in unverkennbarem Sächsisch.
»Ja, aber können Sie mir die Rebsorte nennen?«
Unschlüssig angelte sich die Verkäuferin eine Flasche aus dem Regal und drehte sie wie einen fremden Gegenstand in der Hand.
»Geehne Ahnung, is jedenfolls äh Weißwein.«
»Ist das ein trockener Wein, wissen Sie das zufällig?«, fragte Bircher in gleichbleibend ruhigem Ton, als würde er bei der Zugauskunft stehen.
»Ich globe, is ä Sießer, wie unser Rotgäbchensekt.«
»Aha, na danke«, erwiderte er und verließ den Laden. Zufrieden schielte er auf seine Aktentasche mit den in Papier eingeschlagenen Pappbechern. Er überquerte den Alexanderplatz, um die Straßenbahn auf der Mollstraße zu nehmen. Bei dem Gedanken, wie Karola gleich die Delikatessen auspacken würde, huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
Als Bircher die Wohnung betrat, empfing ihn eine ungewohnte Stille. Nichts wies auf Karolas Anwesenheit hin, weder hing Tabakrauch in der Luft, noch schwebten klassische Klangwellen durch das Wohnzimmer, noch musste er ihren Stiefeln ausweichen. Das gelöste Kreuzworträtsel vom Frühstück lag noch auf dem Tisch. Er sah auf die Küchenuhr, es war kurz nach neunzehn Uhr, also würde sie jeden Moment eintreffen. Ihre Lehrtätigkeit als Dozentin für Kunstgeschichte verlief in einem vergleichsweise geordneten Rhythmus. Dein Arbeitstag ist geregelt wie der von Nonnen im Kloster und wird dir ein langes Leben bescheren. Wir ungläubigen Polizisten sterben früher, spöttelte er gelegentlich. Mit einer Ausnahme, bemerkte Karola dann immer.
Behutsam entnahm Karl Bircher seine kleinen Becher aus der Aktentasche und stapelte sie in den Kühlschrank. In diesem Moment hörte er seine Frau die Wohnung betreten.
»Hallo, Karl, bist du etwa schon zu Hause?«, schallte ihre Stimme durch den kleinen Korridor.
»Ja, bin ich.«
Karola betrat im Mantel die Küche und schaute ihn verwundert an. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihn zum letzten Mal vor der »Aktuellen Kamera« begrüßt hatte.
»Ist was passiert, fühlst du dich nicht gut, oder musst du noch einmal weg?«, fragte sie besorgt und umarmte ihn gleichzeitig.
»Oh, du bringst die Kälte ins Haus«, murmelte er und zog sie fest an sich. »Nein, es ist nichts. Alles ist in Ordnung, meine kleine Dozentin«, flüsterte er ihr ins Ohr, »ich fahre nach Moskau.«
Karola wand sich vorsichtig aus seinem Arm, trat einen Schritt zurück und neigte den Kopf, als müsste sie den Inhalt der Nachricht überprüfen.
»Jetzt gleich, heute noch?«, fragte sie besorgt.
»Ne, natürlich nicht, in ein paar Tagen. Eigentlich nichts Besonderes, aber Meier hat es befohlen.«
»Warum fährt dann nicht dein Mitarbeiter Angler, der würde doch am liebsten nebenberuflich als Reiseführer arbeiten, warum schickst du den nicht?«
»Angler ist wegen seiner Schulung freigestellt.«
Es klang, als müsste sie ihren Mann in Schutz nehmen. Seine Unlust, in fremden Hotels übernachten zu müssen, war sprichwörtlich. Nun ja, das Glück unserer Ehe liegt halt hier in der Leninallee, pflegte er mit schiefem Lächeln zu sagen, wenn ihn seine Frau darauf ansprach. Aber wir können uns ja einen Garten zulegen, dann hätten wir ein Ausflugsziel. Du spinnst wohl, wir beide im Trainingsanzug gebückt beim Unkrautjäten, fegte sie den Gedanken vom Tisch.
»Meier besteht darauf. Leider kann ich deshalb die Rede zur Frauentagsfeier nicht halten«, bemerkte er beiläufig.
»Wie kommen die denn auf dich?« Karola sah ihn entgeistert an. Es schien, als hätte man ihr soeben mitgeteilt, dass Karl Bircher zum Direktor eines Interhotels ernannt worden wäre.
»Keine Ahnung. Vielleicht haben es die Frauen gefordert«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen.
Karolas Augen glitten langsam über sein Gesicht, und sie entdeckte in seinen Augen ein winziges Lächeln, gut verborgen hinter den dicken Brillengläsern. Sie lachte auf und ließ sich auf den Küchenstuhl fallen.
»Du Schelm, du haust vor deinen Frauen ab, und gleich bis nach Moskau! Na, dann: Vsewo choroschewo, Towarischtsch Bircher!«, rief sie und zog sich im Sitzen den Mantel aus. »Und nun sag mir noch, worum es eigentlich geht. Darfst du?«
»Ja, das geht schnell.« Bircher berichtete kurz über den Tod des sowjetischen Studenten und die mögliche Verwicklung seines deutschen Freundes. Eigentlich sei das eine halbe Urlaubsreise, bemerkte er gleichmütig. »Leider ohne dich«, fügte er hinzu und wandte sich dem Kühlschrank zu.
»Es könnte doch sein, dass ihn jemand ermordet hat«, hakte sie nach.
»Mord ist derzeit nicht ausgeschlossen. Das müsste der Truppe aber erst mal nachgewiesen werden. Die waren unter sich, zu viert. Es gibt keine Zeugen. Am Ende dann zu dritt, und wenn die drei zusammenhalten, dann wird’s schwierig. So, und nun Schluss mit dem Spekulieren. Zur Feier des Tages war ich einkaufen«, beendete er mit fester Stimme das Thema und öffnete schwungvoll die Kühlschranktür. »Guck mal, ein echter Fall von Hochgenuss aus dem Delikatladen in der Rathausstraße.«
»Ich sehe nur Pappschachteln.«
»Warte ab, wir werden heute ein kaltes Büfett genießen wie auf dem Frauentagsempfang im Staatsratsgebäude«, griente Karl und holte seine Delikatessen aus dem Kühlschrank.
»Schöne Sachen hast du da erworben, muss einiges gekostet haben«, bemerkte Karola, die wie eine Restauratorin behutsam die Verpackungen entfernte.
»Na ja, auf den Hackbratenfix für zwei fünfundsechzig habe ich verzichtet. Auf die Büchsen Mandarinen oder Ananas zu vier achtzig ebenso. Wollen ja keine Sylvesterbowle anrichten. Das Ganze hat so ungefähr dreißig Mark gekostet.«
Karola straffte sich bei dem Gedanken, dass vor ihnen eine halbe Monatsmiete zum Verzehr bereitlag.
»Das wollen wir aber nicht alles heute essen?«, fragte sie vorsichtig und entfernte das Butterbrotpapier vom Roastbeef.
»Nein, jeden Tag ein winziges Häppchen, wie vom Westpaket, dann sind wir Pfingsten durch«, lästerte Karl.
Als wäre ihm plötzlich etwa eingefallen, wandte er sich ab und ging zu den Bücherregalen im Wohnzimmer. Sie nahmen fast die gesamte Längsseite des Raumes ein und beherbergten neben Belletristik und Karolas Kunstbänden eine ansehnliche Plattensammlung, fast ausschließlich klassischer Musik. Karl kniete sich vorsichtig vor eine Buchreihe und versuchte mit schrägem Kopf die Titel zu überfliegen. Er hatte das Wörterbuch der russischen Sprache seit Jahrzehnten nicht mehr in den Händen gehalten und konnte sich beim besten Willen nicht an den Buchdeckel erinnern. Fachbücher stehen in den unteren Fächern, sagte er sich, während er nachdenklich das halbe Dutzend von Weinführern, Weinkatalogen und Küchenratgebern musterte. Leicht schnaufend robbte er auf Knien an ihrer Bibliothek entlang. Er sah noch einige Lexika, weitere Bildbände, kunsthistorische Lehrbücher und ein Dutzend dünner Reclamausgaben, deren Titel er nicht entziffern konnte. Ihm begann der Kopf zu dröhnen, und die Knie schmerzten.
»Dann eben nicht«, murmelte er und richtete sich vorsichtig auf.
»Hast du einen Wein gekauft?«, hörte er in seinem Rücken Karola rufen.
»Nein«, ächzte Karl, der sich den Rücken hielt und die Schultern leicht nach hinten bog. Vielleicht sollte ich mal zur Gymnastik gehen oder zu unserer Sportgruppe, ging ihm durch den Kopf. Deren Pflichtprogramm schwänzte er regelmäßig.
»Was ich dich fragen wollte: Kennst du einen Wein ›Liebfrauenmilch‹ aus Westdeutschland?«, rief er in die Küche.
»Gehört habe ich mal davon. Moment mal, schau ich gleich nach«, sagte Karola. Sie kam ins Wohnzimmer und stellte einen Karteikasten auf den Couchtisch.
»Aha, unser Weinarchiv. Zumindest informationstechnisch sind wir bald auf Weltniveau«, bemerkte ihr Mann trocken und ließ sich aufatmend in den Sessel gleiten.
»Also, hier unter ›L‹ findest du die Marke: Lieblicher Weißwein aus den Sorten Riesling, Müller-Thurgau, Silvaner und Bacchus. Ursprünglich auf den Hängen rings um die spätgotische Stiftskirche in Worms angebaut. Einer der ältesten deutschen Weine. Qualität nicht unumstritten. Warum fragst du?«
»Weil die den im Delikatladen anbieten. Die Verkäuferin hatte aber keinen Schimmer, die hat ihn mir als Rotkäppchen angeboten.«
Karl Bircher lehnte sich im Sessel zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und versuchte sich die Datscha bei Moskau vorzustellen. Die Handakte lag neben ihm. Es war sibirisch kalt, als die Studenten dort feierten. Der Tote lag unter dem Schnee. Man fand ihn, weil es zu tauen begann, und die Gerichtsmedizin hat ihn frisch wie aus der Kühltruhe serviert bekommen. Vielleicht haben die sich geprügelt. Wie lange kann man bei Minusgraden im Wald liegen, ohne dass Spuren einer physischen Gewaltanwendung verschwinden?
Irgendetwas hatte Birchers Interesse am Tod im russischen Winterwald angestachelt. Etwa doch ein Mord? Unter Beteiligung von drei handverlesenen Studenten der berühmtesten und größten Universität der Sowjetunion? Einer ist von uns. Ein Mädchen darunter, vielleicht ist Liebe im Spiel, wie so oft, im Gespann mit Eifersucht. Hochintelligente Leute, die jetzt ein Geheimnis mit sich schleppen, das sie zum Schweigen zwingt? Bircher spürte ein leichtes Kribbeln in der Brust.
»Hallo Karl, nicht einschlafen. Das russische Abendessen ist angerichtet«, rief Karola.
Er stand auf und sah hinüber.
»Und der Wein? Den muss ich doch noch holen«, sagte Karl.
»Komm schon, wir bereiten deine Dienstreise vor«, erwiderte Karola und hakte sich bei ihrem Mann unter, der zufrieden griente.
»Oh, wo hast du die denn her?«, rief Karl aufgeregt, als er neben dem festlich gedeckten Tisch stand. Er musste sich unwillkürlich an die Wange fassen, als traue er seinen Augen nicht. Karola hatte in der Mitte des Tisches zwei kleine Wimpel platziert, die Staatsflaggen der Sowjetunion und der DDR. Daneben stand eine Flasche, unter deren Eisschicht die Umrisse des Etiketts wie Eisblumen schimmerten. Ringsherum hatte Karola auf den blau-weißen Tellern der Kahla-Manufaktur die Salate und Braten angerichtet. Sogar das Meissener Porzellan, zwei winzige Schälchen aus der Erbschaft von Karolas Eltern, hatte sie hervorgeholt. In jedem befand sich ein wenig roter Kaviar, eine letzte eiserne Reserve. Das Licht der Deckenleuchte spiegelte sich in den kristallenen Wasser- und Schnapsgläsern und erzeugte ein sanftes Schimmern, als würden sich schräg einfallende Sonnenstrahlen im Wasser brechen.
»Donnerwetter, ist das etwa Wodka?«, wunderte sich Karl.
Sie besaßen ein selbstgefertigtes Weinregal. Wodka gehörte nicht zum Sortiment.
»Ja, der liegt seit einer Ewigkeit im Tiefkühlfach.«
»So, also heute keinen Wein«, stellte Karl mit leichtem Bedauern fest.
»Ja, so kannst du dich auf deinen Einsatz in Moskau vorbereiten«, lächelte ihm Karola zu und schwenkte die Flasche in der Hand.
»Und woher kommt die Beflaggung, aus deiner Reservatenkammer im Museum?«
»Ehrlich gesagt, die Wimpel sind mal übrig geblieben, als wir Gäste von der Tretjakow-Galerie empfingen«, klärte sie ihren Mann auf und goss die Schnapsgläser bis zum Rand voll.
Beide hoben ihr Glas und schauten sich tief in die Augen.
»Sa sdorowje!«, rief Karola.
»Sa druschbu!«, rief Karl.
1* Übersetzung der russischen Begriffe und Erklärung der Abkürzungen siehe Glossar am Ende