periplaneta
Stephan Hähnel: „Alte Frau zum Kochen gesucht“
1. überarbeite Neuauflage der Erstausgabe (Zwickau, 2013)
Periplaneta Berlin, Edition Totengräber
© 2017 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.
Projektmanagement: Sarah Strehle
Lektorat: Vanessa Franke
Cover, Satz & Layout: Thomas Manegold
print ISBN: 978-3-95996-067-0
epub ISBN: 978-3-95996-068-7
Alte Frau
zum Kochen
gesucht
periplaneta
Erst quietschte es laut, dann staubte es einen Augenblick weißlich, bevor sie mehrfach auftippend über das Straßenpflaster rollte. Die Frau war sofort tot.
Mehl, stellten die Rechtsmediziner fest. Die Frau war Bäckerin. Kein Wunder, dass sie staubte. Aber was war passiert?
In dem Bäckerladen waren an jenem Tag drei Kunden: ein nervöser Student, ein Alter Herr und eine Grundschullehrerin. Nichts Ungewöhnliches für ein derartiges Etablissement. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, welchen Gefahren eine Feinbackwarenfachverkäuferin ausgesetzt ist, welchen Ängsten und welchem Druck sie zu widerstehen hat.
Das entstandene Protokoll der damals anwesenden Kunden versteht sich somit als Mahnung für all jene, die sich diesem aufopferungsvollen und verantwortungsträchtigen Dienst am Menschen widmen.
ERINNERUNGSPROTOKOLL
Die Feinbackwarenfachverkäuferin Edda Plunder stand hinter ihrem Verkaufstresen und strahlte Ruhe aus. In den Regalen und Körben hinter ihr stapelte sich eine beträchtliche Auswahl frisch gelieferter Backlinge. Als der unruhig wirkende Student endlich an der Reihe war, atmete er erleichtert durch. Er nahm ein Brot aus einem Leinenbeutel und legte es vorsichtig auf den Verkaufstresen.
Verkäuferin: Guten Tag! … Was kann ich für Sie tun?
Student: Ich möchte das Brot zurückbringen.
Verkäuferin: Stimmt etwas damit nicht?
Student: Nein, nein! Es ist alles in Ordnung. Es ist nur so, es fühlt sich einfach nicht wohl bei mir.
Verkäuferin: Wie bitte?
Student: Ich versteh das auch nicht. Es hat sein eigenes Körbchen direkt am Fenster. Ich hab ihm sogar ein Deckchen gehäkelt. Für Rex!
Verkäuferin: Ihr Brot hat einen Namen?
Der junge Mann nickte stolz. Die anderen im Laden lächelten verständnisvoll.
Student: Wollen Sie es mal streicheln?
Verkäuferin: Entschuldigen Sie, das ist ein Brot!
Es wurde unruhig in dem kleinen Laden. Ungeduld machte sich breit. Der alte Herr schaute missbilligend auf seine Uhr. Die GrundschulLehrerin zog die Unterlippe über die oberen Zähne.
Alter Herr: Nun streicheln Sie es schon!
Verkäuferin: Es ist ganz hart!
Student: Ja, total verspannt. Ich sagte ja, es fühlt sich nicht wohl. Ich glaube, wir haben es zu früh von den anderen getrennt. Es hat von Anfang an gefremdelt.
Verkäuferin: Sind Sie verrückt? Das ist ein einfaches Landbrot! Sechzig Prozent Roggen, vierzig Prozent Weizen. Natursauerteig!
Student: Bitte schreien Sie es nicht so an!
Lehrerin: Es kann doch wirklich nichts dafür.
Alter Herr: Schrecklich! Ich habe selber zwei Brote.
Lehrerin: Ist es eigentlich jemals untersucht worden? Ich meine, kennen Sie die Eltern?
Verkäuferin: Die Eltern von dem Brot?
Alter Herr: Vielleicht versteht es unsere Sprache nicht – Bonjour! Good Morning! Strastwutje, Towarischtsch Rex!
Verkäuferin: Das ist nur ein Brot. Ein Brot! Brote leben nicht. Die sind zum Essen da. Man schneidet sie in Scheiben. Das nennt man Stullen.
Daraufhin schnitt die Verkäuferin Edda Plunder wahllos ein Brot durch und sägte anschließend eine Scheibe ab.
Student: Was haben Sie getan? Haben Sie denn gar kein Herz?
Verkäuferin: Wo bin ich denn hier? Haben Sie ein Ei am Wandern?
Lehrerin: Haben denn Brote überhaupt keine Rechte?
Alter Mann: Früher herrschte noch Disziplin! Wir hatten ja nichts!
Verkäuferin: Was – wollen – Sie?
Student: Ich möchte dieses Brot umtauschen. Ich bin mir aber nicht mehr sicher.
Verkäuferin: Welches darf’s denn sein?
Student: Ach Gottchen! Ich kann mich gar nicht entscheiden. Die sehen alle niedlich aus. Das kleine Braune. Das lächelt so schön.
Verkäuferin: Nehmen Sie’s! Und nun raus hier! Raus!
Der Student nahm sein Brot liebevoll in den Arm und ging. Es dauerte einen Augenblick, bis es im Laden ruhig war. Die Verkäuferin hyperventilierte noch ein paar Atemzüge, dann wandte sie sich der GrundschulLehrerin zu.
Verkäuferin: Sie wünschen?
Lehrerin: Kann ich die beiden Brötchen mal sehen?
Verkäuferin: Bitte gerne!
Lehrerin: Och! Die sind ja noch ganz warm!
Alter Mann: Die sind bestimmt aus einem Wurf!
Verkäuferin: Was? Wie meinen Sie?
Lehrerin: Sagen Sie mal, sind das Zwillinge?
Die Feinbackwarenfachverkäuferin Edda Plunder verließ daraufhin den Laden, schreiend und überfordert. Für den Autofahrer gab es keine wirkliche Chance. Alles andere ist bekannt. Das Leben der Feinbackwarenfachverkäuferin endete in einer weißen Wolke.
Alles fing damit an, dass mir Andrea, die gute Seele aus dem Kiosk, ein Plätzchen auf den Kaffee to go legte und mich fragte: »In vier Wochen ist Weihnachten. Was meinen Sie? Wird es diesmal Schnee geben?«
Ich zuckte die Schultern, zählte die Münzen ab und reichte sie ihr. Kleingeld konnte sie immer gut gebrauchen.
»Das wäre tatsächlich mal ein Hauptgewinn«, antwortete ich, um nicht unhöflich zu erscheinen.
»Darf es noch etwas sein?«
Ich verlangte jeden Tag einen großen Becher Kaffee. Schwarz, ohne Zucker und ohne Milch. Auch wenn er nicht aus einem dieser monströsen Genussautomaten stammte, schmeckte er hier am besten. Etwas anderes hatte ich nie verlangt. Warum ich an diesem Tag davon abwich, kann ich heute nicht mehr beantworten. Vielleicht, weil auf dem Deckel meines Bechers ein selbstgebackenes Plätzchen lag.
»Ziehen Sie mir ein Weihnachtslos!«, bat ich.
»Ich habe kein Glück im Spiel. Wenn Sie die fünfhunderttausend Euro gewinnen wollen, müssen Sie selbst Hand anlegen«, antwortete Andrea und wies auf die halbvolle Kiste mit den Losen. Ich versuchte es erneut, diesmal mit einem leicht schmollenden Blick.
»Seien Sie trotzdem mein Glücksengel!«
Bisher hatten die Kioskbesitzerin und ich kaum mehr als vier Sätze miteinander gewechselt. »Guten Morgen!« – »Einen Kaffee, schwarz.« – »Achtzig Cent.« – »Schönen Tag noch!« So oder so ähnlich spielte sich das jeden Morgen ab. Andrea war freundlich und erledigte die Arbeiten in ihrem kleinen Laden unauffällig.
Ohne hinzuschauen zog Andrea ein Los und reichte es mir mit bedauerndem Lächeln. Es zeigte auf der Vorderseite einen Weihnachtsmann, der sich vor Lachen den Bauch hielt. Ob er aus Begeisterung über einen Gewinn oder – was mir wahrscheinlicher schien – aus purer Schadenfreude über die zu erwartende Niete lachte, war nicht zu erkennen. Auf der Rückseite befand sich eine Nummer. Andrea betrachtete sie kurz und sagte erstaunt: »Das ist mein Geburtsdatum!«
Ich verabschiedete mich, steckte das Los in meine Manteltasche und vergaß es sofort wieder. In vier Wochen würde der Heilige Abend sein. Genüsslich ließ ich mir das Plätzchen schmecken und trank einen Schluck Kaffee. In diesem Moment beschloss ich, dieses Jahr auf gar keinen Fall Weihnachten allein zu feiern.
Ich bin ein Enddreißiger, tageslichttauglich, freundlich, eloquent und bereit, Pferde zu stehlen, natürlich im übertragenden Sinne. Wenn es sein muss, kann ich auch gut mit jemandem schweigen.
Ich habe ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt und einen Sohn gezeugt. Alles, was ein Mann tun muss, habe ich getan. Außerdem habe ich eine Scheidung generös hinter mich gebracht. Mit dieser Bilanz konnte ich zuversichtlich in die Zukunft schauen und mein Balzverhalten auf ein solides Fundament stellen.
Nur die Vorstellung, am Heiligen Abend Wiener Würstchen und Kartoffelsalat, mit drei Sorten Senf variiert, feierlich in mich hineinzustopfen, verursachte mir spitze Zähne. Nach Jahren der Abstinenz fand ich es eine erstklassige Idee, mich nach einem weiblichen Pendant umzusehen.
Angenehm wäre eine etwas jüngere Partnerin. Sie sollte gut aussehen, nicht zu mager sein, eine gefällige Anpassungs- und Anschmeichelfähigkeit mitbringen und vor allen Dingen: gut kochen können. Essen warm machen kann ich selbst gut.
Natürlich war ich mir darüber im Klaren, dass es nicht so einfach werden würde, eine passende Frau zu finden.
Um meine Chancen zu verbessern, entschied ich mich für ein Datingportal. Bis Weihnachten blieb noch gut ein Monat. Zeitlich war das zu schaffen, dachte ich.
Die Probleme fingen bei der Anmeldung an. Meinen eigenen Namen durfte ich nicht verwenden, oder sollte ich nicht. Die ersten Versuche, mir einen interessanten und vielversprechenden Nicknamen zu geben, scheiterten daran, dass andere Männer längst darauf gekommen waren.
Knuddelbär, Lachfalte, Herzbube, Kuschelkönig – sogar Pittiplatsch waren schon seit Monaten aktiv. Mich Bruno_Rettich_39 zu nennen, fand ich ein wenig unpassend.
Hilfesuchend schaute ich aus dem Fenster. Mein Blick fiel auf mein Lieblingscafé, und ich entschied mich spontan für den Namen Eckstein_39.
Das Datingportal versicherte mir, dass dreieinhalb Millionen Frauen jede Woche nach dem Glück suchten, europaweit sogar noch mehr. Ich war mir sicher, eine musste die Passende sein, die gut kochen und Kuchen backen konnte oder zumindest passable Plätzchen zu zaubern vermochte.
Voller Elan begann ich, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Auf meine Anfrage nach Frauen – fünf Jahre jünger als ich, normale Figur – folgten unzählige Vorschläge.
Die Erste nannte sich Blaubeerkuchen. Das klang vielversprechend. Leider war kein Foto dabei. Ich öffnete ein kleines Fenster auf dem Bildschirm und tippte sorgfältig in die Tastatur: »Ich liebe Blaubeerkuchen!«
Neugierig starrte ich auf die Buchstaben. Zwar bin ich fraglos ein geduldiger Mensch, aber nach fünfzehn Minuten entschied ich mich abzubrechen und murmelte enttäuscht: »Du hattest deine Chance!«
Unter dreieinhalb Millionen Frauen die Richtige zu finden, war mit dieser Methode nicht zu schaffen. Würde ich bei jeder Kandidatin fünfzehn Minuten warten, käme ich nie ans Ziel, jedenfalls nicht bis Weihnachten. Es bedurfte einer effektiveren Lösung.
Die nächsten neun Vorschläge bearbeitete ich gleichzeitig. Neunmal tippte ich unverbindlich: »Hallo! Wie wäre es mit einem kleinen Plausch?«
Zicke786 antwortete zuerst: »Selber Hallo!«
Ein Anfang. Jetzt galt es, sich interessant zu machen. Aber bevor ich erneut etwas eintippen konnte, erschien die nächste Zeile.
»Neu hier? Was glaubst du zu finden?«
»Suche den passenden Topf zum Deckel«, gelang es mir, schnell zu schreiben.
»Na dann viel Spaß beim Finden! Und tschüs!«
Zicke786 war offline. Viel Zeit nachzudenken, ob ich etwas falsch gemacht hatte, blieb mir nicht.
Inzwischen poppten fünf weitere Fenster auf. Sommerbrezel, Abendröte_tröte, Herbstzeitlose, Wenn_nicht_du_wer_dann und Samta Klaus.
Samta Klaus war ein Meter neunzig groß, Typ alternder Rocker, mit beträchtlicher Wampe, trug Glatze und um den Hals ein albernes Tuch.
»Eins-zwei-drei-vier-Eckstein! Stehst du auf Versteckspiele?«
Den verirrten Weihnachtsheini ordnete ich sofort der No-Go-Liste zu. Ich schwor mir, bei der nächsten Gelegenheit mein Profil zu ändern und mir nur Frauen anzeigen zu lassen.
Herbstzeitlose schrieb inzwischen: »Ich warte!«, und tippte im Sekundentakt ein weiteres Ausrufezeichen. Geschätzt waren es mehr als dreißig, und ich hatte immer noch keine Idee, was ich schreiben könnte.
Ein Kollege war so freundlich gewesen, mir eine Liste mit Anmachsprüchen zu überlassen. Er schwor darauf. Hilft garantiert, hatte er gemeint.
Der erste Vorschlag hieß: Ich bin so schlecht im Bett, das musst du unbedingt ausprobieren.
Seiner Meinung nach waren derartige Sprüche das richtige Rüstzeug, um reihenweise Frauen abzuschleppen. Abgesehen davon, dass der Satz viel zu lang war, um ihn schnell abzutippen, hatte ich so meine Zweifel, ob mich das weiterbringen würde. Inzwischen war das auch egal. Denn Herbstzeitlose hatte zu Fragezeichen gewechselt und die Frequenz erhöht.
Sommerbrezel ließ mich wissen: »Jetzt nicht!«
Wenn_nicht_du_wer_dann meinte: »Sorry! Hab mein Glück gefunden!«
Abendröte_tröte tippte: »No Foto! No Fun!«
Schließlich schrieb Herbstzeitlose: »VERARSCH DICH DOCH SELBER!«
Beleidigt meldete ich mich ab.
Nachdem ich mich beruhigt hatte, sagte ich mir, dass noch immer circa 3,49 Millionen Frauen zur Auswahl standen.
Eine Stunde später war ich eine halbe Flasche Rotwein lockerer und versuchte es erneut. Ich ergänzte mein Profil um ein Foto, setzte den Haken bei Interesse nur an Frauen, um nicht wieder einem samtenen Klaus oder einem Rudolf mit roter Nase Hoffnung zu machen.
Anschließend reduzierte ich meine Optionen auf ein erreichbares Umfeld von fünfzig Kilometern und gab das bevorzugte Alter an.
Ich staunte nicht schlecht, als nur noch hundertfünfundsiebzig Frauen zur Auswahl standen, die Weihnachten für mich kochen konnten.
Ich entschied mich für Marta Harry. Vielleicht deswegen, weil sie nur ernstgemeinte Zuschriften zu beantworten gedachte.
»Einen schönen Abend wünsche ich! Lust auf einen virtuellen Kaffee?«, schrieb ich charmant, trank aufgeregt einen Schluck Wein und starrte auf den Bildschirm. Als die Antwort kam, verschluckte ich mich.
»Rosen, Nelken, Wicken, ich könnt jetzt …«
Dann dauerte es eine Weile, bis die nächste Zeile angezeigt wurde.
»… einen Apfel pflücken!«
Wieder etwas später.
»Und du?«
Das überforderte mich. Natürlich assoziierte der Name eine gewisse Freizügigkeit. Aber in Reimen zu schreiben, war für mich doch sehr kompliziert. Was hätte ich antworten sollen?
»Kiwi, Kirschen, Quitten …«
»Ich stehe auf große …«
»… Briten!«
Marta Harry war es also auch nicht. Blieben noch hundertvierundsiebzig weitere Versuche. Ich entschied mich, nach dem Zufallsprinzip vorzugehen. Wie bei einem Schachspiel begann ich mit der bewährten Eröffnung: »Einen schönen Abend wünsche ich! Lust auf einen virtuellen Kaffee?«
Dann wartete ich artig genau einhundertzwanzig Sekunden. Systematisch führte ich Buch, um die ideale Frau mit Verstand, Kochgeschick und Weihnachtsbaumtauglichkeit herauszufinden. Allerdings war das schwieriger als erwartet.
Apfelschnute stellte innerhalb von drei Minuten siebenundzwanzig Fragen. Schon mal verheiratet? Kinder? Wie lange geschieden? Sternzeichen? Auto? Grundstück? Sie wollte wissen, ob ich athletisch, normal oder adipös bin, ob ich die Haare auf dem Rücken entfernen ließ und ob ich etwa Fleisch äße. Ich beantwortete alle Fragen wahrheitsgemäß, bekam aber nie wieder eine Antwort.
Stoisch arbeitete ich mich weiter durch die Liste.
Bei Pummelhase sah ich die Gefahr, dass sie sich in meiner Küche einsperren und den Weihnachtsbraten allein verspeisen würde.
Satintraum schickte mir Fotos mit der Unterschrift: Kochen kann ich nicht, aber schau mal, wie ich daliege!
Vierzehn Tage später war ich so ratlos, wie am Anfang meiner Suche. Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Dreiundzwanzig Frauen hatten Katzen, zwölf davon mehr als zwei. Eine Anwärterin besaß keine Katzen, wohnte aber ständig in Katzenwohnungen, wenn deren Besitzer in den Urlaub fuhren. Elf liebten ihren Hund. Ein Hund, der liebevoll Yogi genannt wurde, bekam nur Sojaknochen. Dieses Frauchen schied sofort aus. Die Vorstellung, Weihnachten auf einer Tofukeule herumkauen zu müssen, ließ mich einen flehenden Blick in Richtung Himmel senden. Zwei Damen bedauerten, mein Aszendent würde nicht zu ihrem Mondknoten passen. Achtundsiebzig meldeten sich nicht zurück. Eine Samantha_69 bot mir ihre Dienste an und meinte, sie wäre total tabulos. Töpfe kämen allerdings in ihrem Repertoire nicht vor.
Entnervt entschied ich mich, die Ausflüge ins Datingportal aufzugeben. Die reale Welt schien mir unkomplizierter. Der wiederkehrende Gedanke an mein weihnachtliches Standardmenü ließ mir jedoch keine Ruhe.
Ich entschloss mich, eine Annonce zu veröffentlichen.
Andrea aus dem Kiosk beriet mich, welche Zeitung besonders von Frauen gelesen wurde und darüber hinaus seriös war. Schließlich half sie mir sogar, den Text kurz und prägnant zu gestalten.
Kartoffelsalatgeschädigter Enddreißiger bietet Gasherd für knusprigen Vogel. Welche kochfreudige Sie hat Lust, den Weihnachtsabend kulinarisch in Gesellschaft zu verbringen?
#Chiffre.
Natürlich meldete sich niemand. Das war schließlich nur ein alberner Wunsch eines Enddreißigers, über den Frau sich nur amüsieren konnte. Ich schimpfte mich einen Volltrottel und kaufte Cornichons, Geflügelwiener und eine Packung Pellkartoffelsalat wie zu Omas Zeiten. Mir würde nichts anderes übrigbleiben, als die Weihnachtstage allein zu verbringen.
Am Heiligen Abend entkorkte ich enttäuscht eine Flasche Wein und stellte eine Kerze auf den Tisch, ohne dass so etwas Ähnliches wie Weihnachtsstimmung aufkam.
Pünktlich begann es zu schneien, und die Straßen strahlten in glitzerndem Weiß. In den anderen Fenstern leuchteten die Lichterketten. Verträumt summte ich Leise rieselt der Schnee.
Plötzlich klingelte es. Verwundert öffnete ich die Tür.
»Frohe Weihnachten!«, begrüßte mich Andrea aus dem Kiosk. Ich war sprachlos. Bisher hatte ich sie kaum beachtet, und jetzt stellte ich erstaunt fest, dass sie eine ausgesprochen aparte Erscheinung mit einem zauberhaften Lächeln war.
Als ich keine Anstalten machte, sie hereinzubitten und sie stattdessen nur ungläubig anstarrte, streckte sie ihre Arme aus und reichte mir einen Bräter. Es duftete verführerisch.
Es wurde der Weihnachtsabend, von dem ich lange geträumt hatte. Ein kulinarisches Fest. Wir amüsierten uns, tranken Wein, lachten viel. Mehr noch, es war eine Nacht, die mir unvergesslich blieb, denn ich kann mich an nichts erinnern.
Nur dass Andrea am nächsten Morgen weg war, begriff ich sofort. Mein Kopf schien zu explodieren. Diesen Zustand schrieb ich dem Rotwein zu, obwohl ich nicht viel getrunken hatte. Noch mehr wunderte ich mich über ihre Nachricht: Danke für das schöne Weihnachtsgeschenk!
Als ich nach den Feiertagen einen Kaffee to go holen wollte, um Andrea wiederzusehen, stellte ich erstaunt fest, dass der Kiosk geschlossen war.
»Schade! Hier gab es mit Abstand den besten Kaffee!«, bemerkte ein Mann, der kurz neben mir stehenblieb. »Andrea hat Glück gehabt! Sie hat den Hauptpreis in der Weihnachtslotterie gewonnen!«
Ich schaute ihm einen Augenblick lang verwundert nach, wie er durch den weißen Schnee stiefelte. Und auch wenn ich wusste, dass es sinnlos war, griff ich in meine Manteltasche, um das Los mit dem lachenden Weihnachtsmann zu suchen.
Nach dem Tod seiner Frau nahm der Architekt Guido Kramer den Rat der Kollegen an und gestattete sich eine Auszeit. Er entfloh dem Winter und freute sich, ein paar Wochen in Lissabon leben zu können. Vom ersten Moment an liebte er diese Stadt mit ihrem maroden Charme und jener Schwermütigkeit, die von ihren Plätzen und Häuserfassaden ausging.
Für einen Februartag war es angenehm warm. Er setzte sich am Rossio, dem zentralen Platz der Stadt, in ein Straßencafé, bestellte einen Espresso und ließ sein Gesicht von der Sonne streicheln. Seine Frau hatte es geliebt, einfach nur dazusitzen und zu genießen. Diese Erinnerung würde ihm für immer bleiben.
Sie hatte die Reise vor einigen Wochen kurzfristig über das Internet gebucht, an einem Sonntag. Es war seine Idee gewesen, und sie hatte sofort alles andere vergessen und sich mit Begeisterung an die Suche gemacht. Um diese Jahreszeit war es kein Problem, in Lissabon ein schönes Appartement für einen sensationell günstigen Preis zu bekommen.
In der darauffolgenden Woche hatte er Reiseliteratur gekauft und einen hochwertigen Fotoband. Das beeindruckende Buch kostete ein kleines Vermögen und war nur in einer limitierten Auflage gedruckt worden. Sein Buchhändler hatte es extra bestellen müssen und sich über die beträchtliche Gewinnspanne gefreut. An jenem Abend, als er den Bildband renommierter Fotografen mit nach Hause brachte, hatte er sich gefragt, ob eine derartig exklusive Ausgabe nicht überzogen sei.
Nach einigen Überlegungen hatte er es jedoch für unproblematisch gehalten. Eine gemeinsam geplante Reise würden die Beamten zu seinen Gunsten auslegen.
Das Appartement in der obersten Etage eines liebevoll sanierten Hauses war großzügig eingerichtet. Es bot einen fantastischen Blick auf die Oberstadt Bairro Alto mit ihrem Häuserwirrwarr, den streng geometrisch gebauten Stadtteil Baixa und den Fluss Tejo. Jeden Morgen setzte er sich ans Fenster und genoss die Aussicht.
Er gehörte nicht zu jenen Menschen, die sich im Urlaub einen Plan für den jeweiligen Tag erdachten und jede Tour akribisch vorbereiteten. Gern ließ er sich treiben. Das barg Überraschungen und ersparte ihm, sich auf den vorgegebenen Touristenpfaden bewegen zu müssen.
Seine Frau hatte sich da immer ganz anders verhalten. Manchmal war sie einfach mitten auf einem Platz stehengeblieben, um konzentriert in einem Reiseführer zu blättern. Angeblich war es für sie wichtig gewesen, den geschichtlichen Hintergrund einer Kirche zu studieren oder die Biografie eines Gönners der Stadt mit den historischen Ereignissen abzugleichen. Es war vorgekommen, dass sie sich über das gleiche Bauwerk zweimal informierte, weil sie den Passus im Buch längst wieder vergessen hatte oder nicht mitbekam, dass sie vor der Rückseite des Gebäudes stand. Anstrengender war jedoch gewesen, dass sie geglaubt hatte, ihm all diese Unwichtigkeiten vorlesen zu müssen. Seinen regelmäßigen Einwand, dass ihn Derartiges nicht interessiere und er es begrüßen würde, wenn sie die entsprechenden Informationen am Abend läse, hatte sie ständig ignoriert. Das war allerdings nur eine ihrer Eigenarten gewesen, die ihn gestört hatten. Es gab eine Menge Dinge, die ihm anfänglich nicht aufgefallen waren, die er aber mit den Jahren als störend, später sogar als endlos nervend empfunden hatte. Angewohnheiten, die seine Nerven ausgiebig strapaziert hatten. Bis vor kurzem hatte er sich mit ihren Ticks arrangieren müssen, aber die Umstände hatten sich knapp eine Woche vor ihrem Tod geändert.
Die Sonne bemühte sich, die letzten Wolken zu vertreiben. Gegen Mittag gedachte er, seine Runde zu gehen, um sich von der Unbekümmertheit alter Bauherren und ihrer Freude am Detail inspirieren zu lassen. Zumindest versuchte er sich darauf zu konzentrieren, auch wenn seine Gedanken unruhig hin und her wanderten.
Begeistert war Kriminalhauptkommissar Clemens Weinreich nicht gewesen, als ihn Guido Kramer kurz darüber informiert hatte, dass er die Reise nach Lissabon trotz aller Umstände antreten würde. Ganz im Gegenteil, es wunderte ihn sehr, denn der Mord an Kramers Frau war kaum zehn Wochen her. Abgesehen davon sollte der Aufenthalt im Ausland auch noch drei Wochen dauern. Sicher – sie lebten in einer schnelllebigen Zeit, und auch das Trauern dauerte heute nicht ewig. Dennoch kam Clemens Weinreich diese Reise, vorsichtig formuliert, unpassend vor. Natürlich war er nach dreißig Dienstjahren ein Dinosaurier, und die jüngeren Kollegen hatten ihn mit Unverständnis angeschaut, als er seine Meinung dazu äußerte. In kaum zwei Monaten würde er pensioniert werden und über derartige Verhaltensweisen nicht mehr nachdenken müssen. Allerdings graute dem Kommissar jetzt schon bei dem Gedanken, was er dann mit der vielen Zeit anfangen sollte. Zwar sicherten ihm die Bezüge einen angenehmen Lebensabend, dennoch würden die meisten seiner Träume unerfüllt bleiben.
Kramer begründete seine Entscheidung mit dem letzten Wunsch seiner Frau Michaela. Nach all den Jahren intensiver Arbeit im Architekturbüro hatte sie sich ein gemeinsames Ausspannen und ›Die Seele baumeln lassen‹ gewünscht. Kramer hatte nach diesen Worten eine Kunstpause eingelegt und ergänzt, jetzt, wo sie nicht mehr da wäre, hätte er schmerzlich begriffen, dass er seinen Beruf viel zu oft ihr vorgezogen hatte.
Die Ermittlungen kamen nicht voran. Bisher war kein Tatverdächtiger ausgemacht worden, und es gab auch kein Motiv. Kramer galt offiziell nicht als verdächtig. Es gab keinen Grund, ihn festzuhalten. Er würde jederzeit per Handy erreichbar und bereit sein, Fragen zu beantworten. Außerdem hatte er der Bitte zugestimmt, den Schlüssel der heimischen Villa im Präsidium zu hinterlassen, damit gegebenenfalls weitere Untersuchungen vorgenommen werden konnten.
Der Kriminalhauptkommissar hatte den Schlüssel kommentarlos entgegen genommen und kurz genickt. Natürlich war in ihm sofort der Verdacht entstanden, dass der Kerl mit seinem Entgegenkommen nur von etwas ablenken wollte. Mörder, die sich für unantastbar hielten, neigten zuweilen zur Überheblichkeit.
Routinemäßig hatte Clemens Weinreich mit allen gesprochen, die in irgendeiner Verbindung mit der Ermordeten oder ihrem Mann standen. Weder ihre noch seine Familie konnte sich erklären, wer ein Interesse an ihrem Tod gehabt haben könnte. Die Beziehung des Ehepaars galt als normal, durchaus liebenswürdig, allerdings auch ein wenig in die Jahre gekommen. Affären waren nicht bekannt.
Michaela Kramers Ableben änderte auch an den Vermögensverhältnissen nichts. Ein Ehevertrag regelte, dass jeder über ein Konto verfügte. Festgelegt war, dass der jeweilige Ehepartner seine Einnahmen für sich behalten durfte, wobei Guido Kramer seiner Frau monatlich eine großzügige Pauschale überwiesen hatte. Was sie damit tat, hatte er als ihre Angelegenheit betrachtet. Ein nennenswerter Betrag fand sich nicht auf ihrem Konto, jedenfalls keiner, den es sich zu erben lohnte. Alle anderen Kosten trug er. Dafür hatte sie sich um den Haushalt und seine Sachen gekümmert und ihn gern und bodenständig bekocht. Zuweilen hatte sie die Kinderbücher einer Freundin illustriert oder kitschige Katzenbilder gemalt. Ambitionen, ihr Talent weiterzuentwickeln, schien Kramers Frau nicht gehabt zu haben. Es war eine klassische Beziehung gewesen, in der sich beide offensichtlich wohlgefühlt hatten.
Kollegen und Freunde beschrieben das Ehepaar als ausgeglichen. Michaela Kramer galt als lebenslustige und lebhafte Frau. Sie hatte sich ständig für neue Dinge begeistert, ohne dabei jemals in die Tiefe zu gehen. Sie hatte heute dieses, morgen jenes versucht und einen ausgeprägten Hang zur Vergesslichkeit gehabt. So manch einen Termin hatte sie verpasst, und einige Versprechen waren schon versäumt worden, bevor der Satz verklungen war. Aber das waren liebenswerte Fehler, die ihr niemand ernsthaft übelgenommen hatte.
Guido Kramer hingegen galt als pragmatisch und geradlinig, erledigte seine Projekte pünktlich und in einer beachtlichen Qualität. Manchmal empfanden die Kollegen ihn als ein wenig zu penibel. Wahrscheinlich beruhte aber gerade darauf der gute Ruf des Architekturbüros. Was er plante, war bis ins kleinste Detail durchdacht. Dennoch hatte die Firma unter den Krisen der letzten Jahre gelitten und drohte aufgrund mangelnder Aufträge in eine leichte Schieflage zu geraten. Durch den Tod seiner Frau würde sich jedoch daran nichts ändern. Es gab weder eine Lebensversicherung, noch ein Erbe, das verwertet werden konnte. Auch der Ehevertrag bot kein Indiz für ein Mordmotiv, denn selbst eine Scheidung hätte den Architekten nur unwesentlich geschädigt.
Der Mord war in einer Nacht von Freitag zu Sonnabend geschehen. Weit nach Mitternacht hatte Michaela Kramer einen Einbrecher überrascht, welcher sie daraufhin mit einer schweren Bronzestatue, einer Nachbildung eines der Werke des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti, erschlagen hatte. Kramers Frau war sofort tot gewesen.
Die Polizei hatte bei ihren Untersuchungen festgestellt, dass eine Scheibe von außen nach innen eingeschlagen worden war, und der Täter durch die dann geöffnete Balkontür eingetreten sein musste. Fremde Fingerabdrücke gab es nicht. Auch sonst war die Spurenlage enttäuschend. Selbst Fußspuren waren nicht nachweisbar. Es hatte seit Tagen nicht geregnet, und der Mörder war weder über den Rasen noch über die Blumenrabatte gelaufen, obwohl das der kürzere Weg zum Gartentor gewesen wäre. Erstaunlicherweise hatte er nach der Bluttat nicht die Kontrolle verloren, oder er war einfach nur gut erzogen.
Wie sich schnell herausstellte, war der Einbrecher nicht dazu gekommen, etwas zu stehlen. Jedenfalls fehlte nichts. Die Ermittler gingen davon aus, dass Michaela Kramer von einem Geräusch wach geworden war, es wahrscheinlich nicht hatte deuten können und – statt ihren Mann zu wecken – nachgeschaut hatte, was der Grund dafür gewesen sein mochte.
Nach Kramers Aussage fand er seine Frau am nächsten Morgen auf dem Boden liegend, als er wie immer zum Frühstück erscheinen wollte. Als er die beträchtliche Blutlache und ihren starren Blick sah, wusste er, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste.
Selbstverständlich hatte er nichts angefasst, sondern unverzüglich die Polizei informiert.
Kramers Darstellung des Sachverhalts bereitete Weinreich Bauchschmerzen. Es gab mindestens noch eine weitere Variante. Kramer könnte seine Frau erschlagen und anschließend alles so arrangiert haben, dass die Ermittler von einem Einbruch ausgehen mussten. Nachdem er die Tat begangen, den Tatort geprüft, alles nach seinen Vorstellungen arrangiert und als perfekt eingeschätzt hatte, hätte er sich sogar noch ein bisschen schlafen legen können. Das Problem war nur, dass es kein ersichtliches Motiv gab.
Der Kriminalhauptkommissar redete sich ein, dass die Lösung auf der Hand lag, und er einfach die Wahrheit nicht sah. In Thrillern und Krimis wurde ständig darüber geschrieben, dass die Protagonisten eine fast übersinnliche Ahnung besaßen, ein untrügliches Gefühl, das auch den intelligentesten Mörder letztendlich überführte.
Derartiges langweilte Weinreich und hatte mit dem tatsächlichen Alltag eines Ermittlers nichts zu tun. Es zählten nur Fakten. Auch wenn er keinen Schritt weiterkam, war er dennoch davon überzeugt, dass er es hier mit einem Verbrechen zu tun hatte.
Der Vergleich mit ähnlich gelagerten Einbruchsfällen der letzten Monate war ernüchternd. Es fanden sich keine auffälligen Parallelen zu anderen gemeldeten Taten, aber endgültig entscheiden, dass es sich um einen Einzelfall gehandelt hatte, konnte er auch nicht. Es war zu allgemein eingebrochen worden, sozusagen ein Allerweltseinbruch, und einen Modus Operandi, eine eindeutige Art und Weise des Vorgehens, ließ sich nicht erkennen. Schließlich schob Weinreich die Zweifel auf sein berufsbedingtes Misstrauen.
Seit dem Verbrechen waren nun fast dreizehn Wochen vergangen. Guido Kramer würde am heutigen Sonntagnachmittag aus Lissabon zurückkommen. Kriminalhauptkommissar Weinreich beabsichtigte eigentlich nur, einen abschließenden Blick in die Wohnung zu werfen. Er erwartete nicht, irgendein neues Indiz zu finden, das den Mord in ein anderes Licht rücken könnte. Längst hatte er sich damit abgefunden, dass die Tat entweder der Kurzschlusshandlung eines Kleinkriminellen zuzuschreiben war, oder es sich um den perfekten Mord handelte. An einen klärenden Zufall, wie er regelmäßig in Kriminalromanen im letzten Drittel des Buches auftrat, glaubte Weinreich auch nicht. Außerdem war er zu alt dafür, einen weiteren ungelösten Fall in sein persönliches Archiv zu stellen. In ein paar Wochen würde er seine Pensionierung antreten. Diese Tatsache bereitete ihm zunehmend Kopfzerbrechen, denn wie er seine Zeit dann sinnvoll gestalten sollte, war ihm nach wie vor ein Rätsel. Einfach den Winter in Lissabon zu verbringen, würde er sich bestimmt nicht leisten können.
Missmutig lief Weinreich durch die Räume der Kramerschen Villa, betrachtete die Bilder und Skulpturen und setzte sich an Michaela Kramers Schreibtisch. Seit ihrem Tod hatte sich anscheinend nichts verändert. Er blätterte in dem hochwertigen Bildband über Lissabon und seufzte verträumt. Dann schaute er noch einmal den Briefständer durch, obwohl er ihn schon mehrmals in der Hand gehabt hatte. Einige amtliche Schreiben, ein paar Rechnungen, ein halb abgearbeiteter Einkaufszettel, verschiedene Werbeprospekte und ein Lottoschein waren alles, was er enthielt.
Weinreich spielte selbst seit Jahren Lotto, wobei er nie mehr als drei Richtige hatte verbuchen können. Dennoch erfüllte ihn jedes Mal eine angenehme Spannung, wenn er die Zahlen der Vorwoche prüfen ließ. Nachdenklich zog er den Schein heraus und kontrollierte das Datum. Dann schaute er auf den Kalender an der Wand. Vor genau dreizehn Wochen war der Schein gespielt worden, und der heutige Sonntag war der letzte Tag, um einen etwaigen Gewinn einlösen zu können. Danach würde der Schein seine Gültigkeit verlieren. Weinreich überlegte: Guido Kramer kehrte am Nachmittag aus Lissabon zurück. Viel Zeit blieb ihm nicht, aber es würde genügen. In diesem Moment erinnerte er sich daran, dass alle Befragten Michaela als ausgesprochen vergesslich beschrieben hatten.
Auch wenn Kriminalhauptkommissar Clemens Weinreich die Zahlen jener Ziehung nicht kannte, so nickte er doch zufrieden, weil er sich sicher war, das Motiv für den Mord gefunden zu haben. Erleichtert stellte Weinreich fest, dass es kein perfektes Verbrechen gab. Selbst Guido Kramer würde das begreifen und sich damit abfinden müssen.
Zum ersten Mal freute sich der Kommissar auf seine Pensionierung. Zufrieden steckte er den Lottoschein in seine Jackentasche und begab sich auf den Rückweg, um den Gewinn in einem Zeitungskiosk am Bahnhof anzumelden.