Thomas Dellenbusch
V e r s t e c k t e s H e r z
E r z ä h l u n g
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Thomas Dellenbusch
"Verstecktes Herz"
1. Auflage 2014
2014 Thomas Dellenbusch
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat & Satz: KopfKino-Verlag
Covergestaltung: coverandbooks / Rica Aitzetmüller
Umschlagmotiv: © Masson, Shutterstock
KopfKino-Verlag
Thomas Dellenbusch
Gluckstr. 10
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Thomas Dellenbusch
Verstecktes Herz
E r z ä h l u n g
In Seilersfeld gab es keinen Friseursalon. Das kleine Nest mit seinen gerade einmal achthundert Einwohnern in Niederbayern, zwischen Landshut und Passau gelegen, verfügte lediglich über einen Bäcker, einen Gasthof mit Gästezimmern und ein kleines Lebensmittelgeschäft, das auch ein überschaubares Sortiment an Drogerie- und Haushaltsartikeln sowie Schreibwaren anbot. Die öffentlichen Einrichtungen erschöpften sich, von der Pfarrkirche abgesehen, in einem Gemeindesaal, einer Grundschule mit angeschlossenem Kindergarten und einem kleinen Rathaus. In dessen Parterre befand sich außerdem das Büro von Hubert Förster, dem für Seilersfeld zuständigen Bezirksbeamten der Polizei.
Für alles andere, wie beispielsweise einen Friseursalon, war Seilersfeld zu klein. Die Damen des Dorfes mussten in die Kreisstadt fahren, wenn es darum ging, sich eine aufwendige Haartracht herrichten zu lassen, die sie für besondere Anlässe wie Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen für notwendig erachteten. Für die meisten, die alltäglichen Anwendungen jedoch besuchten sie Birgit Förster, die Frau des Dorfsheriffs, wie ihr Mann von den Dorfbewohnern liebevoll genannt wurde.
Birgit Förster hatte das Friseurhandwerk gelernt. Ihre Anstellung in einem Salon der Kreisstadt hatte sie aufgegeben, als sie das erste Mal schwanger wurde und ihr Mann den Posten des Bezirksbeamten im Seilersfelder Rathaus erhielt. Jetzt bot sie den Damen des Ortes ihre Leistungen in der heimischen Küche an und besserte so das Einkommen des Haushaltes auf.
Es gab noch einen weiteren, ganz praktischen Grund, warum Friseurtermine in der Stadt möglichst selten wahrgenommen wurden. Anfang der Sechziger verfügten nur sehr wenige Frauen in Deutschland über einen Führerschein. In Seilersfeld war es keine einzige. Auch gab es nicht viele Kraftfahrzeuge im Eigentum der Dorfbewohner. Die Bäckerei Berggruber verfügte über einen kleinen Lieferwagen, schon beruflich bedingt. Auch die Familie Kranz, die den Lebensmittelladen hatte, und die Heuslingers, die den Gasthof betrieben, besaßen einen, aber die Zahl privater PKW in Seilersfeld war zu jener Zeit doch sehr übersichtlich.
An diesem Nachmittag also saßen Hilde Kranz, ihr Sohn Bernd sowie die Bäckerin Ruth Berggruber in der kleinen Küche der Polizistengattin und gelernten Friseurin. Für den sechzehnjährigen Realschüler waren diese Termine bei Frau Förster nicht nur stinklangweilig, sondern auch höchst ärgerlich, wünschte er sich doch schon seit Monaten so eine Pilzkopffrisur, wie die berühmten Beatles aus England sie trugen. Und obwohl er seinem Vater einmal ein halbherziges »Meinetwegen« abgetrotzt hatte, legte seine Mutter weiterhin ein striktes Veto gegen diese im wahrsten Sinne des Wortes haarsträubende Idee ein.
Daher kämpfte der Junge an solchen Tagen gegen den eigenen Frust, wenn Frau Förster ihm jene Haarlängen abschnitt, die über die kurzen Zähne ihres Kammes hinausragten. Denn das führte nach einer erfreulichen Phase des Wachstums erneut zu säuberlich freiliegenden Ohren und zu einem akkurat gezogenen Seitenscheitel. Somit sollte also der Holzgärtner Michl weiterhin der einzige Junge im Dorf bleiben, der eine Beatlesfrisur tragen durfte. Der allerdings war Bauer oder besser gesagt, er war der ebenfalls sechzehnjährige Sprössling des Bauern Gustl Holzgärtner. Und einem Bauersburschen ließ man ein äußeres Erscheinungsbild durchgehen, das keine gutbürgerlichen Maßstäbe zu erfüllen brauchte. Außerdem sah sein Pilzkopf wegen der nicht regelmäßig geschnittenen Haarspitzen weniger wie ein solcher, sondern vielmehr wie ein Wischmop aus. Daher wurde er von den Eltern seiner Altersgenossen auch nicht als Vorreiter einer neuen und allein schon deswegen abzuwehrenden Haarmode gesehen, sondern einfach als das, was er war. Ein Bauer.
An diesem Nachmittag kämpfte Bernd »Berni« Kranz ausnahmsweise einmal nicht gegen Langeweile und Frust. Im Gegenteil. Er fürchtete, dass sein gesteigertes Interesse am Gespräch der drei Frauen ungewollt durch die plötzlich intensivere Durchblutung seiner Ohrläppchen verraten werden könnte. Er bemühte sich daher, denselben gelangweilten Gesichtsausdruck hinzubekommen, der seine Anwesenheit in Frau Försters Küche üblicherweise auszeichnete.
Sie sprachen über die Neue im Dorf.
Vor gut drei Wochen war diese in den Anbau gezogen, den der Holzgärtner Gustl vor vielen Jahren für seine damals noch lebenden Eltern an das Wohngebäude seines Hofes gebaut hatte. Nachdem auch seine Mutter verstorben war, war diese Einliegerwohnung mit separatem Eingang unbewohnt geblieben. Nun also wohnte wieder jemand darin.
Seit Ende Mai.
Die Neue im Dorf.
Yvonne Schmidt.
Und diese Yvonne Schmidt avancierte vom ersten Tage an zum heftigen Dorfgespräch unter den Erwachsenen und zeitgleich zur spätabendlichen Fantasie der pubertierenden Jungen wie Berni Kranz.
An ihrem ersten Tag in Seilersfeld stöckelte sie auf hohen Absätzen durch die Ortschaft, die ihre langen, schlanken Beine noch langgestreckter erscheinen ließen. Bedeckt wurden diese nur notdürftig von einem blau-weiß melierten Kleidchen, dessen Saum gerade einmal ihre Knie erreichte und das unverschämt eng ihre schwungvollen Hüften und die runde Apfelform ihres Hinterns betonte. Das Schlimmste (oder Aufregendste, je nach Gusto des Betrachters) war jedoch das, was sich eben jenem Betrachter oberhalb der Gürtellinie darbot.
Eine gertenschlanke Taille erweiterte sich zu einer beträchtlichen und ebenso festen wie ausladenden Oberweite, deren Fähigkeit, die Blicke auf sich zu ziehen, nur noch von der jugendlichen Schönheit eines Gesichtes übertroffen wurde, wie es die Jungen in Seilersfeld noch nie und die Alten nur im Kino jemals gesehen hatten.
Tief dunkelbraune und große Augen bildeten zusammen mit einer zarten Nase, einer reinen und leicht gebräunten Haut, erhabenen Wangenknochen und vollen roten Lippen ein engelsgleiches Antlitz, das umspült wurde von einer offen getragenen Mähne vollen schwarzen Haares, welches sich in natürlichen Wellen über Schultern und Rücken ergoss.
Zunächst hätte an diesem ersten Tag bei den Dorfbewohnern in Seilersfeld der Eindruck entstehen können, eine berühmte Diva des internationalen Films habe sich hierher verlaufen, wäre da nicht der siebenjährige Paul an ihrer Hand gewesen, den diese Fremde an eben diesem Tage an der Grundschule von Seilersfeld anzumelden gedachte. Und obwohl ihr die Tatsache, eine Mutter zu sein, zu einer allseits die Gemüter beruhigenden mehr oder weniger stillschweigenden Duldung hätte verhelfen können, war es ausgerechnet dieser Umstand, Mutter zu sein, der ihr die von Tag zu Tag spürbar werdende Missbilligung der Dorfgemeinschaft eintrug.
Denn sie war ohne Mann.
Und so stöckelte sich Yvonne Schmidt an ihrem allerersten Tag in Seilersfeld direkt und ohne Umwege in die Kopfkinos der Jungen, in die Blutbahnen der Männer und in die Gallen der Frauen. Hätten letztere sich zu jener Zeit nicht nur über Rezepte, Königshäuser oder das unmögliche Kostüm von Frau Soundso beim letzten Gottesdienst ausgetauscht, sondern auch über ihr eigenes Intimleben (was natürlich völlig undenkbar war), so wäre es ihnen untereinander aufgefallen, dass ihre Männer in den ersten Tagen nach Yvonne Schmidts Ankunft häufiger mit ihnen geschlafen hatten als sonst.
Aber darüber redete man nicht.
Für Berni Kranz war diese fremde Frau ein Zauberwesen, eine Göttin. Sie hatte etwas so Unwirkliches, etwas so über allen Dingen der Welt Schwebendes, dass er einmal stocksteif an der Haltestelle stehen blieb, als er mittags dem Schulbus entstiegen und sie auf dem gleichen Gehweg auf ihn hatte zukommen sehen. Mit jedem ihrer sanften, fast tänzelnden Schritte warfen ihre hin und her schwingenden Hüften kleine Wellen in die flirrenden Lichtpartikel der schwülen Juniluft, die sich ausbreiteten und um ihren Körper herum eine Aura schufen, in der sich die Zeit abzubremsen schien.
Selbst die Spatzen, die von Baumkrone zu Baumkrone flogen, schienen in ihrer Nähe wie Bussarde in der Luft verharren zu können, als bemühten auch sie sich, einen ungestörten Blick zu tanken von einem Zauber, wie ihn die Natur nur in ganz besonderen Momenten hervorzubringen vermochte. Als sie näher kam, konnte Berni in ihrem Ausschnitt den Ansatz ihres Busens sehen, in dem ebenfalls bei jedem ihrer Schritte kleine Wellen waberten. So wie bei Götterspeise, wenn man an den Tisch stieß. Und als sie ihn und die Haltestelle erreichte, fiel aus ihren großen warmen Augen ein wohlwollender Blick und von ihren verheißungsvollen Lippen ein sanftes Lächeln auf ihn herab. Dann war sie auch schon an ihm vorbei und ließ, während sie sich entfernte, einen Hauch von Lavendel zurück.
An diesem Abend konnte er erst spät einschlafen.
Am darauf folgenden Sonntag hatte der Pfarrer von seiner Kanzel herab von der Schönheit gepredigt. Nicht von Yvonnes Schönheit im Speziellen. Um Himmels willen, nein! Einfach so ganz allgemein von der Schönheit. Dass sie nämlich selbstverständlich, wie alles andere auf Gottes Erdenrund auch, vom liebenden Schöpfer erschaffen und daher grundsätzlich gut und göttlich sei. Aber dann fand er einen schönen Bogen zu seinem eigentlichen Anliegen. Denn wie andere verführerische Dinge, zum Beispiel Macht oder Besitz, sei auch die Schönheit anfällig, vom Teufel zweckentfremdet, ja missbraucht zu werden, um die Gottesfürchtigen in Versuchung zu führen.
Er ging auf die Frage ein, woran der Gläubige erkennen könne, ob sich ihm eine Schönheit in göttlicher Gestalt darbot, oder ob sich hinter ihr die teuflische Fratze des Satans verbarg. Zu diesem Zweck las er aus Matthäus, Kapitel 7: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.
Gute Bäume trügen keine schlechten Früchte und schlechte Bäume keine guten. Prüft, wenn ihr der Schönheit Antlitz schaut, welche Art Früchte sie hervorgebracht, erschaffen oder geboren hat. Er sagte tatsächlich »geboren«. Sind es gottgefällige Früchte oder solche, die aus Sünde entstanden sind. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, und dann urteilt die Schönheit, in deren Antlitz ihr schaut.
Diese Predigt, fand Berni, präsentierte sich selbst in einer gewissen Schönheit.
Amen.
Jetzt, während Frau Förster ihm den Pony schnitt, hielt er seine Augen geschlossen, um keine fallenden Haarspitzen hinein zu bekommen. So lauschte er, innerlich ganz angespannt, wie sich seine Mutter, Frau Förster und Frau Berggruber über die neue Frau im Dorf unterhielten. Obwohl, das war ihm klar, man das nur schwer als eine Unterhaltung hätte durchgehen lassen können. Es war vielmehr ein gegenseitiges Ereifern.
»Hure!«, hörte er plötzlich seine Mutter sagen.
»Hilde! Der Junge!«, schallte es empört von Frau Berggruber zurück.
»Ach was, der Bengel kann ruhig hören, was seine Mutter darüber denkt«, erwiderte diese und strubbelte mit der flachen Hand über den Kopf ihres Bengels, so dass Frau Förster den soeben fertig gestellten Seitenscheitel erneut nachziehen musste.
Hilde Kranz war beileibe keine ansehnliche Frau, und sie stritt stets in dem unerschütterlichen Bewusstsein, sowieso Recht zu haben. Die Frisur ihrer graublonden, mit rötlichen Schlieren durchsetzten Haare war eigentlich so etwas, was man als Pilzkopf hätte bezeichnen können, nur dass man das bei Frauen nicht so nannte, sondern Pottschnitt. Auch die bleiche, stets etwas kränklich wirkende Haut ihres runden und feisten Gesichtes wies diese rötlichen Schlieren auf. Diese versuchte sie, meist vergeblich, mit zu viel Puder abzudecken, während sie sich jene in den Haaren absichtlich von Frau Förster hinein machen ließ.
Diskussionen mit ihr fühlten sich für das jeweilige Gegenüber immer unangenehm an, denn ihre Unterlippe war von Natur aus deutlich dicker als die schmale Oberlippe, was ihrem Mund immer etwas Schnippisches gab. Wer mit ihr diskutierte (ihr Mann tat das schon seit Jahren nicht mehr), hatte permanent das Gefühl, mit seinen eigenen Wortbeiträgen vorsichtig sein zu müssen, weil dieser Mund durch sein angeborenes Aussehen schon so eine große Skepsis ausstrahlte, dass man seine Worte intuitiv mit Bedacht zu wählen bemüht war.
Verstärkt wurde diese Wirkung durch zwei kleine giftige Augen, die tief eingebettet waren zwischen fleischigen Wangen und einer dicken Augenbrauenwulst, auf denen die Brauen wie struppiges Gras auf Sanddünen sprossen. So eingebettet sahen ihre Augen immer wie zugekniffen aus, so als sei der dahinter verborgene Geist in jedem Augenblick bereit, den Diskussionsgegner anzuspringen, wenn dieser etwas Falsches sagte.
Nichtsdestotrotz war diese energische Frau im Dorf anerkannt und wurde durchaus auch gemocht, war sie doch immer an vorderster Front zu finden, wenn es um die Organisation von Schul-, Kindergarten- oder Kirchenfesten ging, zu denen sie aus ihrem Laden meistens auch maßgebliche Mengen an Leckereien beisteuerte. Darüber hinaus konnte man gelegentlich auch bei ihr anschreiben lassen, wenn es gegen das Ende des Monats ging.