Arthur von Brodyberg

 

 

Die Legende vom

eingebildeten Ehebrecher

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„It’s so easy, when you know the rules,

It’s so easy, all you have to do is fall in love,

Play the game, everybody play the game of love.

When you’re feeling down and your resistence is low

Light another cigarette and let yourself go.

This is your life, don’t play hard to get

It’s a free world all you have to do is fall in love

Play the game, everybody play the game of love.“

(Queen, Play the game)

 

 

 

 

Wie der Himmel aussieht, weiß man erst, wenn man dort ist. Waagner war nun dort, wollte sich aber nicht damit aufhalten, seine neue Lebensumgebung zu beschreiben. Er dachte daran, was Wahrheit, was Realität und was Traum gewesen war. Er erinnerte sich an das Gespräch, das Carmens Ehemann mit Astrid geführt hatte, die überraschenderweise auch zu Waagners Begräbnis gekommen war. Sie unterhielten sich darüber, was man von jenen Menschen wusste, die man besonders gut zu kennen glaubte. Es gab offenbar viele Möglichkeiten, die Zeit totzuschlagen, wenn es galt, einen traurigen Anlass zu überstehen. Waagner wollte dennoch herausfinden, ob er vieles nur geträumt hatte oder ob er letztlich bloß Zeuge des Traumes eines anderen gewesen war. Besonders interessierte ihn, ob es sich ausgezahlt hatte, die vermeintlichen Ehebrüche nicht begangen zu haben. Ob es nicht besser gewesen wäre, sie tatsächlich zu begehen? Wer wusste es? War es von Bedeutung? Waagner schlief sanft auf ewig ein.

 

I.

 

Wie immer waren sie spät. Was nützte es, im Zentrum der Stadt zu wohnen, einige Schritte vom Schauspielhaus entfernt, einige mehr zur Oper, wenn sie immer zu spät von zuhause weggingen? Diesmal betraten sie mit dem letzten Gong den Stephaniensaal. Doch sie waren nicht die einzigen Spätankömmlinge. Vor Franz und Sophie Waagner lief ein kleines Männchen neben einer groß gewachsenen Blondine die Freitreppe hinauf, ließ bei dem Mädchen, das die Programmhefte feilbot, drei Euros fallen und stürzte in den Konzertsaal.

„War das nicht der Schüssel und die Klasnic?“ fragte Frau Waagner ihren Mann.

„Bitte, jetzt schauen wir einmal, dass wir rechtzeitig zu unseren Sitzen kommen! Dann können wir immer noch die Leute ausrichten“, fauchte Waagner seine Frau an. Mit Erstaunen stellte er im gleichen Moment fest, dass der kleine Mann vor ihnen tatsächlich der ehemalige Bundeskanzler war. Aber die Frau an seiner Seite konnte unmöglich die ehemalige Landeshauptfrau sein. Es war vielmehr eine Außenministerin außer Dienst.

„Gö, können’S net ein bisserl aufpassen!“ Eine übergewichtige Frau sah Frau Waagner böse an und zuckte mit ihren in rosa Schühchen gepressten Füßen einen Millimeter zurück, auf die Frau Waagner zuvor elegant gestiegen war.

Waagner und seine Frau ließen sich mit einem Seufzer der Erleichterung in ihre Sitze in der vorletzten Reihe fallen. Sie waren ungefähr einen halben Kilometer von der Bühne entfernt, auf der die Musiker gerade Aufstellung bezogen. Neben einem Regiment von Barockmusikern des Concentus Musicus hatten sich auch unzählige Sänger eingefunden, Solisten wie Choristen, die „Jephta“ von Händel zum Besten geben wollten. Waagner liebte Musik. Sie war ein Teil seines Lebens, sie konnte ihn entzücken und in traurigen Momenten noch trauriger machen. Aber dieses Oratoriumsgedusel fand Waagner grässlich. Es wurde auch nicht besser, dass es von Harnoncourt in seinem 80. Lebensjahr dirigiert wurde. Waagners Frau hingegen schien die Musik zu gefallen. Sie las begeistert im Textbuch das Libretto mit, während Waagner versuchte, in dem unbequemen Konzertssaalstuhl eine bequeme Schlafstellung zu finden. Vergeblich. Es blieb unbequem, aber die Musik langweilte ihn so sehr, dass er trotzdem einschlief. Da die Musik auch nicht besonders abwechslungsreich war, riss Waagner kein Crescendi aus dem Schlaf. In solchen Augenblicken konnte man gut nachvollziehen, weshalb Haydn auf den Einfall mit dem Paukenschlag gekommen war.

Neben dem Ex-Kanzler saß übrigens nicht, wie Frau Waagner ursprünglich vermutet hatte, die ehemalige Außenministerin, sondern des Kanzlers Frau zur einen und ein bisher in den Medien noch nicht weiters in Erscheinung getretener Pater zur anderen Seite. Ob der Pater die Rolle der Anstandsdame übernommen hatte? Was ging es Waagner an? Er schlief und träumte von jener Stelle, an der vor 75 Jahren ein Vorgänger von Schüssel verblutet war. Dieser war auch nicht unbedingt mit besonderer Größe gesegnet gewesen, mit körperlicher Größe, meinte Waagner im Schlaf zu seiner Frau, denn politisch konnte man ihm durchaus gewissen Respekt entgegenbringen.

„Jetzt sei doch bitte still, Franz!“, hauchte Sophie Waagner zu ihrem schlafenden Mann herüber.

Er musste im Traum gesprochen haben. Unangenehm war der Schlaf im Konzertsaal nicht nur, weil die Bestuhlung keineswegs für ein gemütliches Nickerchen gebaut war, sondern weil es auch ein kostspieliges Schläfchen war. Wie bequem und kostenlos hätte Waagner in seinem eigenen Bett zu Hause schlafen können! Aber was tat man nicht alles seiner Frau zuliebe?

Angeblich trafen Dollfuss zwei Kugeln im Halsbereich, träumte Waagner weiter, während der Countertenor auf der Bühne die Frauen im Publikum durch seine Stimme elektrifizierte und teilweise sogar erotisierte. Planetta war einer der Urheber der tödlichen Schüsse gewesen. Von wem der zweite Schuss stammte, wusste Waagner nicht. Ein Arbeitskollege hatte ihm vor einiger Zeit erzählt, dass es ein eigentümliches Gefühl sei, an der Stelle, wo Dollfuss starb, zu verweilen. Er hatte das des öfteren getan, da er im Stab von Bundeskanzler Schüssel gewesen war. Mit der Zeit würde man sich aber daran gewöhnen. Man gewöhnte sich an alles. Nur nicht an barocke Musik, die einfach nicht nach Waagners Geschmack war. Das Perfide war, dass die Musik letztlich irgendwie auch in Waagners Träumen präsent war. Vielleicht bewunderten die Leute das an Harnoncourt: Seine Art, alte, wenig ins Ohr gehende Stücke mit authentischen, darum aber um nichts weniger langweiligen Instrumenten zu neuem Leben zu erwecken. Die Illusion zu vermitteln, man befände sich zur Zeit Händels in London und erlebte das letzte Werk des Meisters als Zeitgenosse. Vielleicht war es dieses in die Vergangenheit Zurückversetzen, was die Kritiker an Harnoncourt schätzten und was der Musik ermöglichte, sogar in Waagners Träume einzudringen. Einer der nationalsozialistischen Putschisten rief vom Eckzimmer des Bundeskanzleramtes in den Hof, ob jemand im Blutstillen bewandert sei. Von unten hörte man einen derben Nazi zurückjohlen: „Welches Baby soll die Mutter stillen?“

Der Applaus setzte ein und Waagner fuhr aus seinem Traum auf.

„Großartig! Wunderbar! Ist es schon zu Ende?“, fragte er seine Frau.

Mit Noblesse überhörte Sophie Waagner die Frage, klatschte sich die Hände wund und erging sich in Lobpreisungen mit ihrem Sitznachbarn. Auch dieser hatte wahrgenommen, dass ein ehemaliger Bundeskanzler eigens aus Wien angereist war, um Harnoncourt leibhaftig zu erleben.