Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle
Für Josefine
Dieses Buch wurde ausdrücklich auch für Menschen geschrieben, die sich noch nicht in der »klassischen« Musik auskennen. Für diese Leserinnen und Leser wurden im Text Einspielungen einiger erwähnter Werke und Interpreten angegeben, zum Teil mit Links zu Youtube, Soundcloud o. ä.
Auf dem Streamingdienst Spotify hat der Autor eine Playlist »Klassikkampf« zusammengestellt, in der die Werke (soweit verfügbar) in der Reihenfolge zu hören sind, in der sie im Text vorkommen. Diese Playlist kann unter https://open.spotify.com/user/bs1860/playlist/0FjqwQuVM74SgjzVVm2Hz3 aufgerufen werden.
Ouvertüre
I. Klassikkampf. Eine Tour d’Horizon
Wer hört noch klassische Musik, und warum?
Die gekaufte Musik
Das (Über-)Leben der Orchester
Der Kollaps des Klassikmarktes
Der Kanon – Herstellung und Funktion von Meisterwerken oder: Was hörbar ist
Entstehung und Selbstinszenierung des Bildungsbürgertums
Musiker und Musiker-Darsteller, Stars und Sternchen
Dissidenten der Kulturindustrie
Interpreten und musikalische Interpretation
Wer hat Angst vor Dissonanzen?
II. Plädoyer für neue Verhältnisse oder: Was ist das eigentlich, »klassische« Musik?
Warum sind die Kategorien E und U immer noch sinnvoll?
»luft von anderem planeten« und eine Neudefinition
Ist Musik wirklich eine Sprache, die jeder Mensch versteht?
Von Indien bis Afrika. Von Ganz- und Mikrotönen
III. Bildung
Der Durst nach Bildung und Befreiung
Arbeitersinfoniekonzerte
Geschichten der Selbstermächtigung
Bildung heute: Trümmerhaufen des Neoliberalismus
Humanities: Was auch möglich wäre. Elf Forderungen
Outerclass: Die im Schatten stehen
IV. Revolte. Das Prinzip Beethoven
Der Homo aestheticus als Zoon politikon
Die Finsternis der Herrschaft, und Prometheus
Revolution und Musik
Auf neuen Wegen
Eroica ohne Held
Im Takt der Zeit
Von der Ambivalenz der Neunten
Schlussakkorde
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
»Ich habe nur eine einzige Möglichkeit gefunden, meinen gewaltigen emotionalen Hunger zu stillen: die Musik […]. Ich lebe allein für die Musik, sie ist das Einzige, was mir über diesen Abgrund voller Elend hinweghilft.«
(Hector Berlioz)
Im Juni 2016. Wir sitzen in der Berliner Staatsoper, gleich beginnt die Götterdämmerung, der letzte Teil von Wagners Ring. Hinter uns sagt ein älterer Mann zu seiner Frau: »Puh, jetzt müssen wir nochmal über fünf Stunden aushalten!« Vorfreude oder gar Begeisterung hören sich anders an.
Oder in einem Konzert in der Berliner Philharmonie: Betrachtet man die Besucher auf den besseren Plätzen, sieht man immer wieder Menschen, die sich zu langweilen scheinen, die ganz offensichtlich nicht wegen der Musik in die Philharmonie gepilgert sind, sondern weil es zum guten Ton, zu ihrem gesellschaftlichen Status gehört, über ein Philharmonikerabo zu verfügen, oder weil vielleicht die Ehefrau gedrängt hat; und nun sitzt der Ehemann die zwei Stunden ab, bevor die Musik endlich vorbei ist und es zum Absacker in eines der nahegelegenen Luxusrestaurants oder in eine der Bars geht (»Die Leidenschaft für gutes Essen«, wirbt das gegenüber der Philharmonie liegende Grand Hyatt Berlin im Programmheft der Berliner Philharmoniker für seinen »Gourmet Club«).
Sitzt man in Konzertsälen, Philharmonien und Opernhäusern, aber auch Theatern, dann stellt man fest, dass weder die Menschen um einen herum im Zuschauerraum noch jene auf der Bühne die Vielfalt der Gesellschaft abbilden. Die klassische Musik ist heute wieder eine Kultur der Eliten, und zwar sowohl der Bildungselite als auch der klassischen (also wirtschaftlichen) Elite. Natürlich denkt und handelt die Elite anders als die große Menge der Bevölkerung, und ebenso natürlich pflegt die Elite eine andere Kultur. Allerdings betreibt sie diese Kulturpflege heute nicht mehr nur im stillen Kämmerlein, sondern bevorzugt öffentlich. Die »neuen gesellschaftlichen Machthaber« (Niklas Maak) okkupieren zu diesem Zweck die öffentlichen Museen, denen sie »als wertsteigernde Durchlauferhitzer« zeitweise ihre Sammlungen überlassen, und sie dominieren den öffentlichen Raum, in den sie ungebremst ihre Investorenarchitektur und ihre Riesenkunstobjekte stellen und »zeigen, wer dort neuerdings das Sagen hat: wenige Private, und nicht mehr der Staat oder die Bürger«1. Im Bereich der Musik ist die Sache etwas komplizierter, denn die Elite kann zwar ein Kunstwerk für ein paar Millionen (oder für ein paar Millionen Dollar mehr) kaufen und ins nächstbeste Museum hängen, sie kann aber nicht einfach ein Stück Musik kaufen, wie es die Herrscher vergangener Zeiten noch taten. Heute werden Besitzansprüche auf andere Weise geltend gemacht. Also »geben sie einen Teil ihres Vermögens«, wie die bürgerliche Presse das Steuersparmodell der Eliten zur Finanzierung von öffentlichen Kulturbauten wie der Hamburger Elbphilharmonie zu nennen beliebt,2 damit sie in den Sälen öffentlicher Gebäude, die sie über rote Teppiche betreten, mit Namen genannt werden. 77 Millionen der gut 800 Millionen Euro Baukosten der Hamburger Elbphilharmonie wurden von »Mäzenen« aufgebracht, darunter der Versandhauskonzernerbe Michael Otto oder die Immobilienkönige Helmut und Hannelore Greve, nach denen ein Foyer der neuen Elbphilharmonie benannt ist (auf die Hamburger Normalbürger*innen, die den Löwenanteil der Baukosten aufbrachten, wird natürlich kein Raum getauft). Wenn man etwas weniger Geld übrig hat, kann man ab einer »Zuwendung« von 100 000 Euro bei der »Elphi« Spender mit Platin-Status werden – da nehmen sich die Geschäftsmodelle der Stuhlpatenschaften, die man neuerdings allüberall in klassischen Konzert- und Opernhäusern anbietet, geradezu preisgünstig aus: Für schlappe 2000 Euro kann man seinen Namen in der 12. und 13. Etage des Großen Saals der Elbphilharmonie auf einer Plakette am Stuhlrücken lesen – allerdings nur für fünf Jahre. In der Staatsoper Unter den Linden in Berlin muss man dagegen 5000 Euro berappen, um seinen »Wunschplatz« mit einer Namensplakette zu verunzieren; das gilt dann allerdings, »solange der Stuhl hält« (auch hier ist man mit 2000 Euro für fünf Jahre dabei). Klassik als Statussymbol, auch nicht so Reiche können Anteil am »guten Leben« haben und auf ihrem eigenen Stuhl in der Oper oder der Philharmonie sitzen – sie können ja auch ein Auto einer der Marken fahren und ihr Konto bei einer der Banken haben, die sich im Klassikmarketing hervortun.
So könnte dieser Essay beginnen, und es wäre nichts falsch daran.
Es könnte aber auch damit losgehen, dass ich vom Konzert der Jungen Deutschen Philharmonie unter Jonathan Nott beim Musikfest Berlin 2016 erzähle. Von einem der schönsten und beglückendsten Konzerte, das ich in den letzten Jahren erleben durfte. Das formidable Orchester, das ich vorher noch nie gesehen hatte, führte Edgard Varèses Déserts auf und Beethovens Eroica, und zwischendrin spielte der unglaubliche Geiger Pekka Kuusisto György Ligetis Konzert für Violine und Orchester aus den Jahren 1990 bis 1992, ein Werk, von dem der Komponist erzählte, dass darin »heterogene Elemente und zahlreiche Schichten von bewussten und unbewussten Einflüssen« verknüpft werden, »afrikanische Musik mit fraktaler Geometrie, Maurits Eschers Vexierbilder mit nicht-temperierten Stimmungssystemen, Conlon Nancarrows polyrhythmische Musik mit der Ars subtilior des 14. Jahrhunderts«.3 Wir hören Naturtöne von den Blechbläsern, Mikrointervalle und Ligetis typische Mikropolyphonie; diese Musik ist voller Ironie und voller spieltechnischer Herausforderungen, ebenso ein glänzendes Virtuosenstück wie eine anspruchsvolle, tiefe Musik, und man fragt sich, warum Ligetis Violinkonzert nicht regelmäßig auf den Programmen klassischer Orchesterkonzerte steht. Warum immer nur Mendelssohn-Bartholdy oder Bruch?
Nach seiner hinreißenden Interpretation des Ligeti-Konzerts spielt Pekka Kuusisto als Zugabe einen schwedischen Folksong aus den 1850er-Jahren, das Emigrantenlied »Vi sålde våra hemman« (»Wir verkaufen unser Zuhause«), das erzählt, wie die von Armut und Hunger gepeinigten Skandinavier gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen und nach Nordamerika auszuwandern, wie es damals auch viele deutsche Emigranten getan haben – typische Wirtschaftsflüchtlinge also. Und Kuusisto stellt dieses Lied in einer kurzen Ansprache ans Publikum in den Kontext unserer Tage, spricht von den Abertausenden von Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen und nach Europa auszuwandern.
Ein hervorragendes Konzert mit moderner, zeitgenössischer und nach der Pause revolutionärer klassischer Musik, ein Konzert, bei dem man das Engagement der jungen Musiker*innen ebenso spürt wie ihr Können, ein Konzert, das sich so in unsere Lebensmitte schleicht wie seinerzeit 1805 Beethovens Eroica in das Leben seiner Zeitgenossen. Und ein Konzert, bei dem in der Berliner Philharmonie nicht einmal ein Fünftel der Plätze besetzt waren, und das von den Großfeuilletons komplett ignoriert wurde …
Diese beiden Erlebnisberichte sind zufällig, aber doch symptomatisch und zeichnen ein Bild von den Problemen, mit denen die klassische Musik in unserer Gesellschaft konfrontiert ist.
Die Konzertveranstalter, Opernhäuser und Radiosender sorgen dafür, dass die immergleichen Stücke aufgeführt werden, ein »allgemeiner Routine-Expreß-Zug von Beethoven bis Sibelius und zurück«, wie Hanns Eisler die Reduzierung von klassischen Konzertprogrammen auf nur einige wenige Komponisten einmal tituliert hat.4 Die Konzertbesucher*innen werden nicht gefordert, sondern sollen sich am überschaubaren Repertoire einer Wohlfühlklassik laben, an »schönen« Melodien und Harmonien. Wie sieht die »Klassik« heute denn aus? Auf der einen Seite erleben wir eine Art »Hochleistungsklassik« (Stefan Siegert) unter dem Diktat der Perfektion – man kann das gut bei US-amerikanischen Orchestern beobachten, die kaum ein einziges Mal »falsch« spielen, also Fehler machen, wie das Leben sie eigentlich mit sich bringt. Artur Rubinstein, der von sich selbst – sicher auch etwas kokett – behauptete, bei seiner ersten USA-Tournee noch jede Menge falsche Töne gespielt zu haben, erklärte in den 1960er-Jahren bei einem Pianistenwettbewerb in den USA einem jungen Pianisten: »Man erwartet hier in den USA von uns Pianisten, daß wir auch die kleinste Note nicht übersehen. Schrecklich ist das.«5
Bei den meisten Aufnahmen der sogenannten klassischen Musik, die die Kulturindustrie heutzutage herstellt, wird massiv retuschiert, werden im Nachhinein Stellen, die nicht auf Anhieb »perfekt« gelungen sind, in einer besseren Variante eingeflickt, wie ohnehin häufig die Werke nicht einmal komplett eingespielt, sondern in Einzelstücke zerlegt werden – die Tonmeister fügen das dann im Studio zusammen. Es geht um Perfektion, die Einzigartigkeit vorgaukelt – dabei kommt es in der Musik nicht auf Perfektion, sondern auf Kreativität an. Manche Komponisten haben vermutlich sogar das Unperfekte komponiert und explizit gewollt – denken Sie an Beethovens Missa solemnis, bei der die hohen Töne so schwierig zu singen sind und das »Pleni sunt coeli« kaum wirklich einmal von den vier Solisten so gesungen wird, wie Beethoven es geschrieben hat – aber würde eine fehlerlose, »perfekte« Version dem Werk gerecht werden? Ist es nicht gerade so, dass man hier als Musiker wie als Zuhörer geradezu spürt, wie Beethoven um das Werk ringt? »Bei Beethoven ist das Scheitern – etwas nicht wirklich total erreichen zu können – ein Teil des Werks. Anforderungen ausgesetzt zu werden, die nicht wirklich erfüllbar sind. Das gehört zum Werk. Und wenn Sie hier erreichen wollten, was man im modernen Sinn Perfektion nennt, dann würden Sie einen wesentlichen Teil des Werks verfehlen«, weiß Nikolaus Harnoncourt.6 Es ist sicher kein Zufall, dass Harnoncourt wie auch viele andere der größten Dirigenten und Instrumentalisten, von Abbado bis Sokolov, Live-Mitschnitte ihrer Konzerte zur Veröffentlichung bevorzugten. Weil im Konzert das Werk als Ganzes entstehen kann, mit allen Fehlern und Unzulänglichkeiten, die in Musik, welche von Menschen gemacht wird, nun einmal enthalten sind – ein Ereignis im philosophischen Sinn wird Musik eben nur im Konzert. Warum fasziniert uns Nachgeborene der Gesang von Maria Callas bis heute? Weil Maria Callas singt, wie Malcolm X und Martin Luther King ihre Reden hielten und Politik gemacht haben, mit Haltung, mit unbedingtem Einsatz und aus existenzieller Notwendigkeit heraus. Die Magie, die wir beim Hören einer Maria Callas spüren, bleibt einzigartig. Und Aufnahmen, beispielsweise von Oskar Fried, Willem Mengelberg, Bruno Walter, Otto Klemperer, Hermann Scherchen, Wilhelm Furtwängler oder Kirill Kondraschin aus den 1930er- bis 1960er-Jahren können trotz allen Rauschens und trotz des Monoklangs um so viel faszinierender sein als die meisten der Hochglanzeinspielungen, die heutige Stars und Sternchen im Geist der Perfektion produzieren.
Auf der anderen Seite erleben wir neben der Hochleistungsklassik ein gnadenloses Starsystem, in dem Figuren auf dem Schachbrett der Konzerne hin und her geschoben werden, ob es nun die berüchtigten Geigen-Girlies sind, die von der Musikindustrie gezwungen werden, in sexy Posen die Menschen zum Kauf ihrer Produkte zu animieren (und, gewiss, all dies auch bereitwillig mitmachen), ob es die großen Zampanos sind, die zu Kultfiguren erhobenen Superstars der Branche, oder ob es die Interpreten sind, deren vermeintliche Einzigartigkeit durch ein vage schräges Outfit geriert wird, ohne dass man von ihnen je eine nennenswerte Interpretation gehört hätte. Was kann man von Künstlern musikalisch erwarten, die ein Kunstprodukt der Kulturindustrie sind und deren Daseinszweck darin besteht, ihre und deren meist seichte Produkte zu verkaufen? Es geht allein um Kommerz, nicht um Kreativität oder Kultur. Und sicher, es gibt Leute, die auf die Werbung der Plattenfirmen reinfallen und, um ein Beispiel zu nennen, Nigel Kennedy für einen großen Geiger und seine Interpretation von Vivaldis Vier Jahreszeiten für gelungen oder gar für besonders halten. Dabei ist es nur die reine Pose, die der kommerziellen Verwertung dient – aber eine stilisierte und sorgfältig gepflegte Irokesenfrisur, zwei verschiedenfarbige Socken und eine flapsige Art sind eben keine Garantie für eine interessante oder auch nur passable Interpretation. Hören Sie sich zum Vergleich Vivaldis Vier Jahreszeiten in der Interpretation des Concerto Köln mit Shunske Sato an* – wie das flirrt, kratzt, funkelt, wie das mit größter Freiheit (und mit einigen völlig zu vernachlässigenden »Verspielern«, denn es handelt sich um eine Live-Aufnahme …) und Intelligenz musiziert ist! Mit Mut zum Risiko, und der »Rock ’n’ Roll«, den Nigel Kennedy nur als Marketinggag behauptet, hier ist er tatsächlich zu hören …
Die Klassikszene steckt in einer Systemkrise: Zwar sind die Philharmonien und Opernhäuser immer noch voll, wenn die etablierten Kräfte musizieren oder die von den eingebetteten Journalisten gehypten neuen Stars ihre Gastspiele geben. Doch wenn man im Konzert einmal den Blick durch den Saal schweifen lässt, stellt man fest: Senioren, soweit das Auge reicht – der sogenannte Silbersee, das Meer von grau- und weißhaarigen Köpfen. Und eben Menschen, die ihre Abos absitzen, weil es bis heute zum Klassik-, oh, Verzeihung, natürlich zum Klassenbewusstsein gehört, dabei zu sein, wenn die Philharmoniker aufspielen. Das Durchschnittsalter der Konzertbesucher liegt bei ca. 60 Jahren.7 Die Klassik hat ein Altersproblem, daran ändern auch die wenigen herausragenden Kammermusikreihen nichts, bei denen man Musikliebhaber*innen aller Altersklassen und auch etliche sachkundige und neugierige junge Menschen antreffen kann. Das sind Ausnahmen, die die Regel bestätigen, und die Branche ist so verzweifelt, dass sie schon jubelt, wenn eine Studie herausgefunden haben will, dass immerhin knapp 15 Prozent der klassikaffinen Bevölkerung unter dreißig Jahren alt sind.8 Illusionslos betrachtet, muss das Urteil verheerend ausfallen: Die »Klassik« steht mit dem Rücken zur Wand.
Wenn die Situation der »klassischen Musik« also so ist, wie sie ist, eine unerquickliche Mischung aus Elitekunst, Hochleistungsklassik, Starsystem, Kulturindustrie, Konsumismus, Biedermeier und all dem, was sonst noch zu unseren Jahren des Missvergnügens beiträgt – warum dann nicht einfach die Klassik aufgeben, sie also den Eliten überlassen? Warum sollen wir überhaupt in den Klassikkampf ziehen?
Warum hören wir heute noch Werke wie die von Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Mahler, Debussy oder Bartók? Warum lesen wir immer noch Shakespeare, Goethe, Hölderlin, Heine oder Flaubert und Zola? Weil die Werke dieser Autoren und Komponisten uns etwas über unser Dasein vermitteln, das wir nirgends sonst erfahren, weil sie uns etwas über unser Menschsein verraten, weil sie uns helfen, die Welt zu verstehen (und nur, wenn wir die Welt besser verstehen, können wir sie auch ändern), weil sie menschliche und gesellschaftliche Konflikte spiegeln und diskutieren und nicht zuletzt: Weil sie auch Trost spenden, Trost, den wir angesichts der Verhältnisse dringend benötigen. Die Musik, die Kunst bleibt uns mitunter als »einzige Rettung aus einer von Grund auf falschen Welt«, wie Adorno angemerkt hat, »und zwar nicht, weil sie richtiger wäre, sondern weil sie um das universale Falsche weiß«. Die Cembalistin Zuzana Růžičková(*), die als junges Mädchen von den Nationalsozialisten in die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Bergen-Belsen verbracht worden war, erklärt in einem Interview mit neunzig Jahren, dass es im Leben darauf ankomme, ein »Sparbuch« anzulegen. Dieses Sparbuch sei, was man gelesen, was man gesehen und was man gehört habe. »Das kann Ihnen keiner nehmen. […] Wenn dieses Sparbuch nicht da ist oder leer ist, dann sind Sie arm. Richtig arm!«9 Denn Musik, denn einzig die Künste machen uns zu Menschen, und nicht Besitz und »Besitzfimmel«. Und wenn wir am Boden liegen sollten, wenn es uns einmal wirklich schlecht geht, dann werden wir nicht auf Konsumgüter und nicht auf Besitz oder Status zurückgreifen können – all dies ist Tand und letztlich zu nichts nütze. Und diese Wahrheiten können und werden uns helfen und uns überleben lassen, so wie die junge Zuzana Růžičková im KZ Theresienstadt Bachs »Sarabande in e-Moll« aus der Englischen Suite No. 5 auf einem Zettel mit sich und vor allem in sich trug.
»Um ein Kunstwerk zu empfangen, muss die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden«, erkannte Ferruccio Busoni. Der Musikvermittlungsforscher Holger Noltze hat 2010 in seinem Buch Die Leichtigkeitslüge erklärt, dass Musik auf ideale Weise Gefühl und Verstand kurzschließen kann, dass dazu aber Anstrengungen unternommen werden müssen. Anstrengungen, die heutzutage geradezu als unzumutbar gelten. »Medien, die ihre Wirksamkeit in Quoten messen, haben es am liebsten eingängig« und setzen den Konsumenten bevorzugt leichte Häppchen vor. Musik bedarf, wie alle ernsten Künste, der Vermittlung, allerdings darf »Vermittlung nicht mit Vereinfachung verwechselt« werden. »Musik ist alles andere als einfach«, aber wenn man erfährt (»lernt«), »was in diesen Musikstücken verhandelt wird, mit welchen Mitteln dies geschieht und was die hier zu gewinnenden ästhetischen Erfahrungen mit uns, mit einem selbst zu tun haben«10, dann zieht man einen großen Gewinn aus ihr. Diese Musik ist unbestritten ein Geschenk – aber man bekommt sie, wie Noltze bemerkt, eben »nicht geschenkt«. Man muss auch das Hören von Musik lernen – »die Langzeit-Kunst des Entgegenhörens, des Nachhörens und Erinnerungshörens«11. Um die Werke der ernsten Musik wirklich erfahren zu können, muss man sie verstehen, benötigt man Wissen, benötigt man: Bildung! »Es ist des Lernens kein Ende«, schreibt Robert Schumann im Anhang seines Albums für die Jugend op. 68 als letzte »Conclusio« seiner Musikalischen Haus- und Lebensregeln (und von Lenin ist das »Lernen, lernen und nochmals lernen!« überliefert).
Die Situation sieht düster aus: Die Gesellschaft ist weitgehend zusammengebrochen, nahezu alle Lebensbereiche sind individualisiert worden. Wir müssen uns die Gesellschaftlichkeit zurückerobern. Und wir müssen uns all das, was dazu dient, neu erkämpfen – die Gleichheit, die Solidarität, die Gesellschaftlichkeit an sich, die Bildung, insbesondere die musikalische und künstlerische Bildung, und die ernste Musik.
Ziehen wir in den Klassikkampf. Die Sache der ernsten Musik ist es wert, für sie zu kämpfen. Aux armes, citoyens! Formez vos bataillons! En avant!
*Concerto Köln/Shunske Sato, Vivaldi, The Four Seasons, Berlin Classics, 2016.
*Zuzana Růžičková gewann 1956 den ARD-Musikwettbewerb und nahm von 1965 bis 1975 als erste Cembalistin das komplette Klavierwerk Johann Sebastian Bachs auf. Anlässlich ihres 90. Geburtstags erschien eine 20-CD-Box dieser Erato-Produktion: Zuzana Růžičková, Bach – The Complete Keyboard Works, Erato (Warner). Die hier erwähnte »Sarabande« aus der Englischen Suite No. 5 von Bach kann man auch auf YouTube anhören: {https://youtu.be/vIkq8wGP-Mg}.
Seit 1990 liefert das KulturBarometer des Zentrums für Kulturforschung (ZfKf) anhand regelmäßig bundesweit durchgeführter Repräsentativumfragen aktuelle Meinungsbilder zu grundsätzlichen oder spezifischen Themen der kulturellen Bildung und der Kulturpolitik. Das 9. KulturBarometer ist 2011 erschienen1 und gibt einige interessante Auskünfte über den Zustand der »klassischen Musik« hierzulande. Hatte das 8. KulturBarometer 2005 noch einen deutlichen Publikumsrückgang, vor allem aber einen drastischen Nachwuchsschwund bei Konzerten der klassischen Musik innerhalb der zurückliegenden zehn Jahre konstatiert, so meldete der Mitherausgeber der Studie, die Deutsche Orchestervereinigung (DOV), sechs Jahre später mit hörbarer Erleichterung, dass »der Rückgang der jährlichen Konzert- und Musiktheaterbesucher in Deutschland gestoppt werden konnte«. Allerdings: Dies bezieht sich auf die Zahl derer, die mindestens einmal jährlich eine Musiktheateraufführung oder ein E-Musikkonzert besucht haben (in der Spielzeit 2010/11 waren das angeblich 44 Prozent, gegenüber 42 Prozent im Jahr 2004/05). Und: Der Bevölkerungsanteil von 50 Prozent aus dem Jahr 1993/94 konnte nicht annähernd wieder erreicht werden. Was da als »Forschungsergebnisse« ausposaunt wird, ist wohl eher ein Pfeifen im Walde und wird in der musiksoziologischen Fachliteratur angezweifelt. Die Ergebnisse seien »mit (leicht nachweisbaren) Mängeln behaftet«, wie Hans Neuhoff in seinem Aufsatz »Konzertpublika« für das Deutsche Musikinformationszentrum schreibt.2
Absolute Zahlen liefert die Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins, die durch schriftliche Befragung der öffentlich finanzierten Theater und Orchester zu ihren betrieblichen Leistungen zustande kommt. Die Zahl der Konzertbesucher dieser klassischen Orchester ist seit Jahren mehr oder minder gleich und liegt um die 4 Millionen, aktuell knapp darunter, nämlich bei 3 969 663 in der Saison 2013/14. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die etwa gleichbleibende Zahl von Konzertbesuchern nur durch die stetig steigende Zahl der angebotenen Konzerte erreicht wird: In der Saison 2005/06 wurden 8653 Konzerte gezählt, in der Saison 2014/15 waren es 9306 (die Musiker*innen bewältigen das größere Programm bei sinkender Kapazität übrigens allein durch die Steigerung ihrer Arbeitsproduktivität); pro Orchesterkonzert kommen also fast acht Prozent weniger Besucher als noch vor zehn Jahren. Und wenn ein Musikjournalist in einem der führenden Feuilletons der Republik plötzlich freudig erregt behauptet, dass »die Zahl der Gäste von Orchesterkonzerten zwischen 2005 und 2013 von 3,9 auf knapp 5,2 Millionen angestiegen« sei, und damit die Behauptung, »das Publikum für klassische Musik schrumpfe« als dementiert betrachtet,3 dann beweist dies lediglich, dass er entweder die statistischen Zahlen nicht versteht oder dass er das Kleingedruckte übersehen hat. Der blitzartige Anstieg der Besucherzahlen ergibt sich nämlich ausschließlich aus einer neuen Zählweise, die seit der Spielzeit 2005/06 »erstmals die Rundfunkklangkörper (wenn zunächst auch nur lückenhaft)« miteinbezieht und außerdem ab 2008/09 auch die »Besucher auswärtiger Veranstaltungen berücksichtigt«, wie es in den Anmerkungen der zitierten Statistik zweifelsfrei heißt.4 Die vergleichsrelevanten Zahlen liegen 2005 wie 2013 bei knapp unter vier Millionen. Die Zahl der Opernbesucher in Deutschland ist allerdings zwischen 2005 und 2013 von jährlich 4,5 auf 3,9 Millionen Menschen gesunken (und wenn man die Zahl von 1991 zum Maßstab nimmt, als bundesweit noch 7,5 Millionen Menschen in die Musiktheater gingen, ergibt sich sogar ein Verlust von fast 50 Prozent aller Opernbesucher).
Außerdem muss man berücksichtigen, dass die absoluten Besucherzahlen keinen Aufschluss darüber geben, wie viele Menschen tatsächlich das Angebot von Konzertorchestern und Opernhäusern nutzen. Denn im Klassikbereich gibt es fast überall ein massives Abonnementpublikum. Allein bei den Berliner Philharmonikern sind 14 verschiedene Abonnements mit jeweils sechs Orchesterkonzerten (und zusätzlich zehn weitere Abonnementvarianten) im Angebot. Man darf annehmen, dass ein Großteil der 5,25 Millionen Konzertbesucher*innen allein schon wegen der Abonnements jedes Jahr in mehrere klassische Konzerte geht; die Zahl der Menschen, die hierzulande ein Orchesterkonzert besuchen, dürfte eher bei 1 bis 1,5 denn bei 5,25 Millionen liegen.
Aufschlussreich sind die Zahlen zudem, wenn man sich die Details ansieht: 69 Prozent der von der DOV Befragten haben in den letzten zwölf Monaten gar kein E-Musik-Konzert besucht. Ähnlich sind die Zahlen übrigens bei Rock-, Pop- und Jazzkonzerten: Hier waren 68 Prozent der Befragten bei keinem einzigen Konzert.5 Mehr qualitative Daten dürfte die ARD-E-Musikstudie von 2005 liefern. Dort wurde eine Unterscheidung zwischen einem engen und einem weiten Besucherpotenzial von Veranstaltungen mit klassischer Musik (einschließlich Kirchenkonzerten) vorgeschlagen. Demzufolge »bilden sechs Prozent der erwachsenen Bevölkerung das enge (regelmäßiger Besuch, mehrere Male im Jahr) und 38 Prozent das weite Besucherpotenzial (mindestens ein Besuch im Jahr)«, schreibt Neuhoff, der gleichzeitig darauf hinweist, dass auch diese Zahlen noch zu hoch gegriffen sein dürften.
Was die Geschlechter der Konzertbesucher*innen angeht, ist bei der klassischen Musik ein kontinuierlicher Trend zu konstatieren: Es besuchen mehr Frauen als Männer klassische Konzerte, etwa im Verhältnis sechzig zu vierzig. Neuhoff erklärt dies mit der »allgemein günstigeren Beurteilung ›klassisch-gemäßigter‹ Ausdrucksformen durch Frauen, ihre stärkere Angepasstheit und Orientierung am Konventionellen, ihre traditionelle Rolle als ›Bewahrer der Kultur‹ und der Tatsache, dass in den älteren Generationen ein Frauenüberschuss besteht«.6 Dass sich das Geschlechterverhältnis bei Neuer Musik umdreht (hier ist der Anteil der Männer höher), könnte diese These bestätigen – der Anteil der Männer bei Jazz-, Rock- und Pop-Konzerten ist ebenfalls höher als der von Frauen.
Vor allem aber dürfte die Altersstruktur des Klassikpublikums wesentlich den höheren Frauenanteil erklären: In einer Analyse des Berliner Klassikpublikums zeigt sich, dass die häufigste Altersklasse die der Sechzigjährigen ist, gefolgt von den 55- und 65-Jährigen. Der Anteil der Unter-Dreißigjährigen im Klassikpublikum ist selbst in Berlin, einer Stadt, die als weltoffenen gilt und über viele kulturaffine junge Menschen verfügt, eher gering. Noch deutlicher fallen diese Zahlen in der bundesweiten ZfKf-Untersuchung aus: 94 Prozent der Unter-Fünfundzwanzigjährigen haben im letzten Jahr weder Opernaufführungen noch Sinfoniekonzerte besucht,7 und diese Zahl dürfte in der Realität sogar eher noch höher liegen.
In der Musiksoziologie ist es unstrittig, dass die »Zuwendung zu klassischer Musik im individuellen Lebenslauf zunimmt, während die Zuwendung zu Rock und Pop abnimmt« (Neuhoff), was unter anderem mit dem steigenden Bedürfnis nach Ruhe, Ordnung, Harmonie und Tradition erklärt wird.8 Führende Musikmanager erklären diese Entwicklung auch mit der Lautstärke der Rockmusik: »Irgendwann wird den meisten Rockfans die Musik der Bands zu laut. Außerdem fühlen sie sich unwohl unter lauter Teenies. Dann kommen sie erst ins Waldbühnenkonzert der Philharmoniker, als nächstes gehen sie zu einer Operngala mit Anna Netrebko – und schon sind sie bei der Klassik gelandet«, erzählt der Chef der Deutschen Entertainment AG, Peter Schwenkow.9 Auch wenn dies eher dem Wunschdenken eines Musikmanagers entspringen dürfte, bemerkenswert ist die Äußerung schon. Jedenfalls wird dieser für die Klassikfreunde eigentlich positive Trend natürlich dadurch konterkariert, dass der Effekt steigender Besucherzahlen mit zunehmendem Alter davon abhängt, in welchem Ausmaß in der frühen, meist familiären und schulischen Sozialisation Kontakte mit klassischer Musik stattgefunden haben. Ich werde im Kapitel »Bildung« ausführlich auf diese Problematik eingehen.
Interessant sind aber zwei andere Aspekte, die weder der Kulturpolitik noch der musikalischen Bildung der bundesrepublikanischen Gesellschaft ein gutes Zeugnis ausstellen. Erstens: Die Häufigkeit des Besuchs von Musikveranstaltungen allgemein und von Klassikkonzerten im Besonderen hängt direkt mit der Schulbildung zusammen. Jeweils 92 Prozent der Befragten mit »niedriger Schulbildung« haben im Vergleichszeitraum weder eine Opern- oder Ballettaufführung noch ein Symphoniekonzert besucht, während das nur bei 71 beziehungsweise 69 Prozent der Befragten mit einer hohen Schulbildung der Fall war.10 77 Prozent der Befragten mit niedriger Schulbildung waren noch nie in ihrem Leben in der Oper, während es bei denen mit hoher Schulbildung nur 37 Prozent sind. Keine andere Musikart ist so einheitlich bildungshoch gebunden wie die klassische Musik. 80 Prozent und mehr ihrer Besucher*innen haben Abitur – »eine Zahl, die vor dem Hintergrund der relativen Seltenheit dieses Schulabschlusses in den älteren Generationen die Bildungsexklusivität der klassischen Musik in aller Drastik aufscheinen lässt« (Neuhoff). Und andersherum: Während 75 bis 85 Prozent der 30- bis 39-Jährigen Besucher*innen von Klassikveranstaltungen (inkl. Oper) über einen Hochschulabschluss verfügen, sind es bei Schlagerkonzerten nur acht bis 13 Prozent. Logischerweise setzt sich das bei den Berufen der Konzertgänger fort: Überdurchschnittlich stark sind bei der klassischen Musik Ärzte, Lehrer, Juristen, die geistes-, sozial- und politikwissenschaftlichen Berufe, Ingenieure, Naturwissenschaftler, leitende Angestellte, Beamte im höheren Dienst und Künstler vertreten, während Handwerker, Dienstleistungsberufe (z. B. Verkäufer*innen, Friseur*innen) oder Landwirte unter den Konzertgänger*innen kaum bzw. gar nicht zu finden sind. Und bei den jüngeren Klassikkonzertbesucher*innen handelt es sich fast ausschließlich um Studierende (wobei heutzutage auch mehr als die Hälfte eines Jahrgangs ein Studium in Angriff nimmt, nämlich 58 Prozent im Jahr 2015, im Gegensatz zu 1960 mit gerade einmal 5 Prozent, oder 1970: 12 Prozent, 1980: 19,5 Prozent, 1990: 30,4 Prozent, 2000: 33,5 Prozent, 2010: 46 Prozent).
Am Rande: Eine ähnliche Abstufung der Bildungsstruktur ergibt sich auch innerhalb anderer Musikgenres. Nach der Untersuchung von Neuhoff haben über 80 Prozent des Publikums von House-Konzerten Hochschulreife, das Publikum von Metallica und Herbert Grönemeyer zu 50 Prozent, während das Publikum von Modern Talking am untersten Ende der Bildungsordnung steht.11 Das Publikum eines R.E.M.-Konzerts besitzt übrigens mit 72 Prozent Hochschul- und Fachhochschulreifen nahezu dieselbe formalschulische Bildungsstruktur wie das Publikum einer Wagner-Oper …
Zweitens: Die Häufigkeit des Besuchs von Musikveranstaltungen hängt direkt mit dem Nettoeinkommen des Haushalts zusammen. 89 Prozent der Befragten mit einem Nettohaushaltseinkommen unter 2000 Euro waren in den letzten zwölf Monaten nicht in der Oper, aber nur 63 Prozent der Befragten mit einem Nettohaushaltseinkommen von 4000 Euro oder mehr. Und 69 Prozent derjenigen aus Haushalten mit einem Nettoeinkommen von weniger als 2000 Euro waren noch nie in ihrem Leben in der Oper, aber nur 35 Prozent der Besserverdienenden (die Zahlen für Sinfoniekonzerte oder Kammermusik sind ähnlich).12
Es ist also signifikant, dass der Besuch von Oper und Konzerten mit klassischer Musik schichtenspezifisch ist – je schlechter die Ausbildung, je schlechter das Einkommen, desto seltener wird dieses Kultursegment wahrgenommen. Dass sich diese Schere in den letzten Jahrzehnten noch weiter geöffnet hat, insbesondere seit 1997, und Hand in Hand geht mit der zunehmenden Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung der bundesrepublikanischen Gesellschaft, nimmt nicht wunder, ist aber im wahrsten Sinne des Wortes ein Armutszeugnis für Gesellschaft und Politik.
Zuletzt noch ein Blick auf die Motive derjenigen, die klassische Konzerte und Opern besuchen. 67 Prozent der Befragten geben an, dass Musik »entspannen, unterhalten, den Alltag oder die Arbeit vergessen machen« soll. 58 Prozent der Befragten wünschen sich von der Musik, dass sie »Schönes, Ästhetisches herstellt, das Ohr erfreut, die Freizeit verschönert«, während nur 28 Prozent von der Musik verlangen, dass sie »die Wirklichkeit, die heutige Zeit abbildet und widerspiegelt«.13 Zu den Erwartungen an einen Kulturbesuch gehört für den größten Teil aller Konzertbesucher »gute Unterhaltung« (65 Prozent beim KulturBarometer 2011 im Vergleich zu 57 Prozent 2005), gefolgt von der »Erwartung, etwas live zu erleben« (von 40 Prozent 2005 auf 47 Prozent 2011). Es folgen »gute Atmosphäre« (38 Prozent) sowie Kriterien wie »Spaß und Action« (20 Prozent), während nur 22 Prozent der Befragten »überraschende Eindrücke, künstlerische Impulse« und nur 14 Prozent »neue Ideen bzw. Anregungen« nennen. Dieser Trend zum »Unterhaltungshörer« hat sich in den letzten Jahren also noch weiter verstärkt. Klassische Musik, ja Musik überhaupt dient in unserer Gesellschaft vornehmlich der Entspannung und wird auf diese Art und Weise ihrer eigentlichen Funktion enthoben. Harnoncourt nennt das Beispiel von Mozarts Sinfonie in g-Moll: »Das ist ein Stück, das die ersten Hörer bis ins Innerste aufgewühlt hat. Da ist keiner beruhigt und zufriedengestellt nach Hause gegangen«,14 ganz im Gegenteil, es ist Musik, die eigentlich beunruhigt und Fragen aufwirft. In unserer Gesellschaft aber wird diese Musik missbraucht, um Zufriedenheit zu erzeugen, die Kulturindustrie und Medien degradieren Mozart zur Kuschelklassik und stellen mit Mozart die Arbeitsfähigkeit der erschöpften und die Zustimmung der von der Welt beunruhigten Menschen wieder her. Was der Unterschicht und dem kleinbürgerlichen Teil der Mittelschicht die sedierende Funktion der Volksmusik- und Schlagerrocksendungen des Staatsfernsehens, ist der Ober- und der Mittelschicht eine »Klassik«, deren Werke auf eine Ansammlung schöner Stellen herunterdekliniert werden, geschaffen, um eine gewisse Wohligkeit zu erzeugen, um ein Entspannen vom Räderwerk des Kapitalismus zu ermöglichen und um eine Existenz im Schein konsumierender Zufriedenheit zu ermöglichen. Bereits Adorno hat diesen Typus des Musikhörers beschrieben, »der Musik als Unterhaltung hört und nichts weiter« und dem »Kritik an der Sache so fremd ist wie die Anstrengung um ihretwillen. Skeptisch ist er bloß gegen das, was ihn zur Selbstbesinnung nötigt«.15 Dieser Musikhörer ist heute noch mehr als vor sechzig Jahren derjenige, der vornehmlich die klassischen Konzertsäle und die Opernhäuser bevölkert. Er »geht nicht ins Konzert, um wahrzunehmen. Er genießt die Musik, wie man Opium raucht, als eine Art höheren Rauschgifts, mit dem Willen, sich unterkriegen, sich betäuben zu lassen«, schrieb der legendäre Musikwissenschaftler und Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt 1927 in seinem wütenden Text »Der Deutsche im Konzertsaal«,16 der in Teilen heute noch genau so Gültigkeit haben dürfte. Der Kulturkonsum dieses Musikhörers (oder »Musikhörigen«, wie Stuckenschmidt ihn nennt) dient der schichtspezifischen Selbstvergewisserung, und er »konformiert musikalisch so wohl auch in der Realität einer jeglichen Herrschaft, die seinen Konsumstandard nicht gar zu offensichtlich beeinträchtigt«17. Es wundert uns nicht, dass in den Jahrzehnten des Neoliberalismus die Zahl der Unterhaltungshörer wie die der herrschaftstreuen Konformisten deutlich angestiegen ist, denn es ist just dieser Typus des unkritischen Kulturkonsumenten mit seiner geduckten Lebenseinstellung, den das herrschende System zur Absicherung seiner Macht benötigt und deswegen kreiert und fördert.
Betrachten wir an dieser Stelle einen anderen Aspekt der Klassikszene, nämlich das Sponsoring durch Konzerne. Nestlé finanziert die Salzburger Festspiele (»A shared passion for quality«). Volkswagen hat unter anderem einen hochdotierten Vertrag mit der Neuen Nationalgalerie in Berlin und dort zum Beispiel die Kraftwerk-Konzertreihe vor der sanierungsbedingten Schließung des Mies-van-der-Rohe-Baus finanziert; außerdem sponsert Volkswagen die Salzburger Osterfestspiele und lässt in seinem Berliner Verkaufssalon, dem sogenannten DRIVE Volkswagen Group Forum, das Deutsche Kammerorchester eine Reihe namens »Neue Meister« aufführen: größtenteils moderne Werke des belanglosen Crossovers, neue Musik, die nicht »gezwungen anders« oder gar »schräg« klingen soll, sondern »im Gegenteil sogar sehr rhythmisch und harmonisch sein kann«, wie die Managerin des DKO preisgibt. Und die Volkswagen-Häppchenkultur wird durch eine Auftaktveranstaltung namens »Neue Meister meets Kulinarik« mit »kleinen Gerichten und erlesenen Getränken« im Restaurant ZEITGEIST (sic!) vervollständigt. Die Deutsche Bank wiederum finanziert die Berliner Philharmoniker: Gleich auf der ersten Seite der 180 Seiten starken, in Buchform erscheinenden Broschüre für die Spielzeit 2016/17 des deutschen Renommierorchesters ist neben seinem Logo ausschließlich das Logo der Deutschen Bank mit dem Hinweis »Unser Partner« abgedruckt, nicht etwa ein Hinweis auf die Berliner Bürgergesellschaft, obwohl die »Stiftung Berliner Philharmoniker« mit jährlich 16,72 Millionen Euro aus dem Berliner Haushalt bezuschusst wird. Noch vor dem Inhaltsverzeichnis ist eine beidseitige Anzeige der Deutschen Bank zu finden, und gleich nach dem gemeinsamen Grußwort von Sir Simon Rattle und Intendant Martin Hoffmann, aber noch vor dem Vertreter der Bürger*innen Berlins, dem Regierenden Bürgermeister, darf John Cryan, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, auf einer ganzen Seite sein Wort an die Musikinteressierten richten und von der »einzigartigen, seit mehr als einem Vierteljahrhundert bestehenden Partnerschaft« schwärmen – weltweit gebe es »keine vergleichbare exklusive und so lange währende Kooperation zwischen einem Unternehmen und einem Orchester«. Ja, Sie haben richtig gelesen, der Bankchef spricht unverhohlen von »Kooperation« zwischen seiner Skandalbank und dem Orchester, also nicht einfach von »Sponsoring«. Die Klassikszene bietet den deutschen Großkonzernen, die weltweit wegen ihrer kriminellen Machenschaften unter massivem Druck stehen, heute eine ultimative Version von whitewashing an, nämlich eine Rolle als Kooperationspartner, die weit über das altmodische Sponsoring hinausgeht. Wie sagte Cyran bei seiner ersten Pressekonferenz doch so schön? »Motivation und Moral is absolutely Kernaufgabe des Vorstands«.18 Die Berliner Philharmoniker wären gut beraten, ihre Geschäftsbeziehung zur Deutschen Bank, die heute eher eine windige kriminelle Wettbude als eine seriöse Firma ist, besser gestern als morgen zu beenden, um nicht vom negativen Image der Skandalbank beschädigt zu werden.
Derlei »Kooperationen« sind, wie man im Finanzkapitalismus und speziell im Bankengeschäft sich zu sagen angewöhnt hat, systemisch. Gleich die ersten beiden Seiten der Spielzeitbroschüre 2017/18 des Leipziger Gewandhausorchesters bestehen ausschließlich aus Sponsorenlogos von DHL, Porsche, Sparkasse Leipzig, EnBW und Co. Die Berliner Staatsoper tritt da geradezu zurückhaltend auf, erst auf Seite 166 ihrer Saisonbroschüre 2016/17 findet man ihre »Partner & Sponsoren«, vom »Hauptpartner« BMW Berlin über die Liz Mohn Kultur- und Musikstiftung, die M. M. Warburg & Co und das Bankhaus Löbbecke bis hin zu den »Medienpartnern«.
Anders bei der Hamburger Elbphilharmonie und der Laeiszhalle: Noch vor der Titelei des Saisonbuchs 2016/17 erscheinen auf einer ansonsten weißen Seite die Logos der Sponsoren BMW und Montblanc. Und zu den Kapiteln »Entdecken«, »Programm« und »Mitmachen« gesellt sich an vierter Stelle herausgehoben »Engagement«, angeführt von »Sponsoring«. »Große Visionen brauchen ein starkes Fundament«, wird dort behauptet, weswegen »namhafte Unternehmen die Elbphilharmonie unterstützen«: die »Principal Sponsors« BMW und Montblanc, die »Classic Sponsors« (etliche Banken, von Commerzbank über Haspa bis zur dänischen Jyske Bank, dazu eine Palette, die von Blohm + Voss bis zum Versicherungskonzern KRAVAG reicht) sowie die »Product Sponsors« (das Champagnerhaus Ruinart – soll man das als »ruin art« lesen? –, Coca-Cola, Störtebeker und Meßmer). Und dann hat sich die Elbphilharmonie in bester hanseatischer Kaufmannstradition noch etwas ganz Besonderes einfallen lassen: ihren »Elbphilharmonie Circle«, den »Unternehmerkreis der Elbphilharmonie«. »Einen atemberaubenden Blick auf die Stadt genießen Gäste in der Circle Lounge im 13. Stock der Elbphilharmonie«, flötet das Programmbuch. Für wen aber ist diese Lounge mit ihrem atemberaubenden Blick gedacht? »Im Rahmen eines herausragenden Konzerterlebnisses treffen sich hier Firmeninhaber und Geschäftsführer aus der Metropolregion Hamburg. Als Mitglieder des exklusiven Elbphilharmonie Circle setzen sie ein Zeichen für unternehmerische Kulturförderung. Im eleganten Loungebereich tauschen sie sich mit ihren Gästen aus dem In- und Ausland sowie mit weiteren großzügigen Unterstützern der Elbphilharmonie aus Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur aus«, wird die elitäre Lounge von der HamburgMusik gGmbh beworben; das kleine »g« in gGmbH steht übrigens für »gemeinnützig« … Davon, dass die Hafenarbeiter oder die Verkäuferinnen, eben all die Bürger*innen der Hansestadt, die laut Hamburgs Bürgermeister Scholz sage und schreibe 789,05 Millionen Euro Steuergelder für den Bau der Elbphilharmonie aufbringen mussten, eine eigene Lounge, einen eigenen Raum in dem Gebäude erhalten würden, in dem sie sich als derjenige Teil der Gesellschaft, der den Bau besonders »großzügig unterstützt« hat, mit anderen Vertretern aus Gesellschaft, Kultur und Arbeitnehmer*innen austauschen könnten, ist nichts bekannt. Klassik ist hier ausdrücklich als Musik, als Kulturform der Eliten gedacht. Nun gibt es seit Tausenden von Jahren eine Elite, die anders denkt und handelt und eben auch anders Kunst betreibt oder fördert als die große Masse der Menschen einer Gesellschaft, und Georg Knepler hat darauf hingewiesen, dass die alten Pharaonen und »die Monopol-Herren und Aufsichtsratsvorsitzenden von heute eine bestimmte Ähnlichkeit« haben, allerdings haben die alten Eliten bis ins 19. Jahrhundert ihre Musik und ihre Kunst selbst finanziert (natürlich mit Mitteln, die sie den anderen Menschen abgepresst hatten), während die Elbphilharmonie vornehmlich mit Mitteln der Bürgergesellschaft finanziert wurde. Dass hier dennoch inmitten eines Gebäudes, das mit 789 Millionen Euro Steuermitteln gebaut wurde, ein luxuriöses Separee für die Eliten mit atemberaubendem Blick eingerichtet wurde, ist eine ebenso atemberaubende Frechheit, ja nachgerade eine Unverschämtheit.
Dazu passt, dass die Hamburger, die es sich leisten können, künftig direkt über den beiden öffentlich finanzierten Konzertsälen in den teuersten Wohnungen der Stadt wohnen können. 44 Apartments mit 120 bis 400 Quadratmetern Wohnfläche für die Superreichen sind im neuen Wahrzeichen der Hansestadt eingeplant und verkauft worden, Luxuswohnungen bis zu 110 Meter über der Elbe für Quadratmeterpreise von bis zu 35 000 Euro: »Es fühlt sich so an, als gehöre die Elbphilharmonie ganz Ihnen«, säuseln die Vermarkter19, und die Stargeigerin Anne-Sophie Mutter lässt sich prompt in einem großen Feature der Bild-Zeitung auf der »privaten Dachterrasse des Unternehmers Klaus-Michael Kühne« ablichten.20
Auch beim Musikfest Stuttgart, das 2016 unter dem sinnigen Motto »Reichtum« steht, hat man den Konzernen Tür und Tor geöffnet, beziehungsweise man rennt ihnen die Türen ein: Unter dem Titel »Unternehmen Musik« hat man eine Reihe kreiert, bei der Konzerte des Musikfests direkt bei den Firmen und Konzernen stattfinden – »kann es eine eindrucksvollere Präsentation geben, als Gastgeber eines Konzerts in den eigenen Räumen zu sein? Werden Sie Teil von Unternehmen Musik!«, locken die Macher des Musikfests in ihrer Programmbroschüre. Und sie lassen das Keller Quartett »im Auditorium der Alfred Kärcher GmbH« spielen, wo es »einen Bogen zwischen Tradition und Moderne spannt, der genau zum gastgebenden Unternehmen passt«.21 Ob damit gemeint ist, dass Schuberts Werke hier gekärchert werden? Auf jeden Fall darf der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG, Dieter Zetsche, nicht fehlen und prominent platziert im Programmheft verkünden: »Ich weiß nicht, ob Carl Benz Bachliebhaber war. Aber sein Motto passt auch perfekt zur Arbeit des Komponisten: Das Beste oder nichts. Kein Wunder, dass unsere Soundingenieure auch heute noch Bachkantaten zum Test der Musikanlage einer S-Klasse abspielen. Noch schöner als im Auto ist Bachs Musik natürlich live. Ich freue mich daher sehr, dass das Musikfest Stuttgart uns in seiner Reihe Unternehmen Musik im Mercedes-Benz-Museum mit zwei Festivalkonzerten beehrt. Klassische Musik und klassische Autos – schöner geht’s kaum!« Hier zeigt sich, was es mit Klassik und Konzernen auf sich hat: Die einen sind eine beliebte Abspielstation der anderen.
Es fällt auf, dass es vornehmlich umstrittene und zum Teil kriminelle Großkonzerne der deutschen Wirtschaft sind, die die Klassiktempel und die einschlägigen Events sponsern – Stichwort whitewashing … Auch der Ingolstädter Autokonzern Audi lässt sich die Chance nicht entgehen, Gutes für Sport und Klassik zu tun und von seiner Verstrickung in Dieselbetrug, Abgasmanipulation und Kartellskandal abzulenken: Man fördert den FC Bayern und die Bayerische Staatsoper, den FC Chelsea, Real Madrid, den FC Barcelona und das Schleswig-Holstein Musik Festival, den FC Red Bull Salzburg sowie die Salzburger Festspiele, und man ist Namensgeber des Audi FIS Ski Weltcups und der Audi Sommerkonzerte, eines Klassikfestivals in Ingolstadt. Seit 2009 sponsert Audi auch die Bayreuther Festspiele, und so kam man im Sommer 2016 auf die Idee, ein kleines Parsifal-Filmchen(*) zu produzieren, um »opernfremden Zielgruppen einen Zugang zu Richard Wagner zu verschaffen« – schließlich stand doch in Bayreuth ein neuer Parsifal ins Haus, und längst ist Bayreuth nicht mehr automatisch ausverkauft.
Unter dem Titel »Zeitgeist« fördert die Audi AG laut eigenen Angaben »den Dialog mit kreativen Köpfen aus verschiedenen Disziplinen und schafft Raum für kreative Experimente«. Ergebnis dieser zeitgeistigen Marketingaktivität, in der nicht mehr simple Werbestreifen gedreht, sondern »progressive Kunstfilme geschaffen« werden, war ein etwa zehnminütiges Video, das von Richard Wagners Parsifal