Störungen
systemisch
behandeln
Störungen systemisch behandeln
Band 9
Herausgegeben von
Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus
Unter Mitarbeit von Ursula Robertz
und Stephanie Heidenreich
2017
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Berlin)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Reihe »Störungen systemisch behandeln«, Band 9
hrsg. von Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus
Reihendesign: Uwe Göbel
Umschlag und Satz: Heinrich Eiermann
Erste Auflage, 2017
ISBN 978-3-8497-0184-0 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8095-1 (ePUB)
ISBN 978-3-8497-8082-1 (PDF)
© 2017 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
Alle Rechte vorbehalten
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Vorwort der Herausgeber
Vorrede
1Annäherungen an das Thema
1.1Die Kunst des Navigierens zwischen Inklusion und Exklusivem
1.2Zur Nützlichkeit spezialisierter Versorgungsangebote
1.3Intelligenzminderung ist keine Krankheit
1.4Behinderung wird in Gegenseitigkeit konstruiert
1.5Über Behinderung reden – wie über alles andere auch
1.6Nicht »exkommunizieren«
1.7Behinderung, familiäre Gleichgewichte und Helfersysteme
1.8»Viele Köche verderben den Brei« – Zur Notwendigkeit abgestimmter Vielstimmigkeit
1.9Mitleidsfreie Begegnung auf Augenhöhe
1.10Systemische Therapie und Störungsorientierung
1.11Annäherungen und Erfahrungen
2Sichtweisen: Daten und Definitionen
2.1Intelligenzminderung und geistige Behinderung
2.1.1Prävalenz von Intelligenzminderung
2.1.2ICD-10 und Intelligenzminderung
2.1.3ICF und Intelligenzminderung
2.1.4(Neuro-)psychologische Bestimmung von Intelligenzminderung
2.1.5Intelligenzminderung und Entwicklungspsycho(patho)logie
2.1.6Schlussfolgerungen für die Praxis
2.2Epidemiologie psychiatrischer Störungen
2.2.1Prävalenzen von Verhaltensauffälligkeiten
2.2.2Prävalenzen von psychischen Störungen (psychiatrischen Diagnosen)
2.2.3Zusammenfassung der epidemiologischen Befunde
2.2.4Risikoerhöhung
2.2.5Schlussfolgerungen
2.3Körperliche Erkrankungen und zusätzliche Behinderungen
3Systemische Fragen an die Diagnostik
3.1Vorbemerkung
3.2Diagnostik der Intelligenzminderung
3.3Medizinisch-körperliche Diagnostik
3.4Diagnostik psychischer Störungen zwischen »Overshadowing« und »Underreporting«
3.5Diagnostik und familiäres System: Systemische Erkundungen von Bezugsfeldern
3.6Entwicklungsorientierung und Diagnostik
3.6.1Entwicklungsorientierung zur angemessenen Gestaltung der Begegnung
3.6.2Entwicklungsorientierung und »integrative Diagnostik« (A. Došen)
4Diagnostik und Therapie psychischer Störungen unter Berücksichtigung behinderungsspezifischer Färbungen
4.1Aggressive Verhaltensweisen
4.1.1Delinquenz und Kriminalität
4.2Selbstverletzendes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderungen
4.2.1Erscheinungsformen/Symptomatik
4.2.2Entstehungshintergründe
4.2.3Umgang und Therapie
4.2.4Psychopharmakotherapie
4.3Psychotiforme Zustände und Psychosen
4.3.1Diagnostik
4.3.2Therapeutische Interventionen
4.4Affektive Störungen
4.4.1Symptomatiken
4.4.2Diagnostik
4.4.3Entstehung und Entwicklung depressiver Störungen
4.4.4Therapie
4.5Traumafolgestörungen
4.5.1Vorbemerkungen
4.5.2Definitionen und Epidemiologie
4.5.3Risiken einer Traumatisierung
4.5.4Symptomatik der posttraumatischen Belastungsstörungen bei Kindern
4.5.5Schwierige Diagnostik
4.5.6Grundlagen der Traumatherapie bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung
4.5.7Besonnenheit, Ruhe und Stabilisierung
4.5.8Besondere Dilemmata
4.5.9Systemische Fragen in der Therapie von Traumafolgestörungen
4.6Persönlichkeitsakzentuierungen
4.6.1Borderlinestörung
4.7Zum Schluss: Eine weitere Fallgeschichte
5Allgemeine Anmerkungen zur Psychopharmakotherapie – auch unter systemischen Aspekten
6Verhaltensphänotypien
6.1Nicht nur genetische Beratung!
6.2Beispiele genetischer Syndrome und hilfreiche Strategien
6.2.1Prader-Willi-Syndrom
6.2.2Fragiles X-Syndrom
6.2.3Beispiele weiterer klinisch relevanter genetischer Syndrome
6.3Zusammenfassung
7Nützliches aus anderen Therapieverfahren
7.1Multimodalität
7.2Psychotherapie
7.2.1Verhaltenstherapie
7.2.2Gesprächspsychotherapie
7.3Therapiesetting
7.3.1Gruppentherapie oder einfach »Gruppe«?
7.4Kreativtherapeutische Verfahren
7.5Heilpädagogik
7.6Funktionelle Therapien
7.6.1Bewegungs- und Körpertherapie
7.7Anmerkung: Versorgungsrealitäten
7.8Zusammenfassung
8Endlich: Grundannahmen systemischer Therapie
8.1Geschichte(n)
8.2Neugier, Allparteilichkeit, Neutralität und das Spannungsfeld zwischen »Unwissenheit« und Expertise
8.3Ressourcenorientierung
8.4Lösungsorientierung
8.5Externalisieren: Nicht ich bin das Problem, sondern das Problem ist das Problem!
8.6Orientierung am Auftrag und Klärung der Verantwortlichkeit – eine kontinuierliche Aufgabe
8.7Dialoge zu Dialogen: Vom Reiz der Mannschaftsspiele
8.8Im Blickpunkt: Individuelle und familiäre Resilienz
8.9Schwierige Dialoge: Kontrolle und »elterliches Scheitern« – eine imaginative Kontroverse
9Noch viel zu tun:
Vernetzte Strukturen spezifischer Angebote
9.1Vorbemerkung
9.2Zur Realisierung vernetzter Hilfen
9.3Organisation der Nachsorge nach Klinikaufenthalt
9.4Alternativen zur Klinikaufnahme
9.5Ständige Balance: Assistenz und Familiengleichgewicht
10Empfehlungen für Eltern von Kindern mit
Intelligenzminderungen
11Schlusswort: »And in the end …«
Literatur
Über die Autoren
Ursprünglich ein querdenkendes Außenseiterkonzept, hat sich der systemische Ansatz heute in vielen Bereichen der Therapie und der Beratung theoretisch wie praktisch etabliert. Auch Vertreter anderer Schulen bereichert er mittlerweile in ihrer Arbeit. Die Etablierung eines Paradigmas birgt für dieses selbst aber auch Risiken, weil sie stets mit der Verfestigung von Denk- und Handlungsgewohnheiten einhergeht. Die Reihe Störungen systemisch behandeln stellt sich vor diesem Hintergrund zwei Herausforderungen: Nichtsystemischen Behandlern und Vertretern anderer Therapierichtungen soll sie komprimiert und praxisorientiert vorstellen, was die systemische Welt im Hinblick auf bestimmte Störungsbilder zu bieten hat. Innerhalb der Systemtherapie steht sie für eine neue Phase im Umgang mit dem Konzept von »Störung« und »Krankheit«.
Historisch gesehen war einer ersten Phase mit erfolgreichen Konzepten zu Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Essstörungen, psychosomatischen Krankheiten und affektiven Störungen eine zweite Phase gefolgt, die geprägt war von einem gezielten Verzicht oder einer definitiven Ablehnung aller Formen störungsspezifischer Codierungen. In jüngerer Zeit wenden sich manche Vertreter der systemischen Welt wieder störungsspezifischen Konzepten und Fragen zu – und werden von anderen dafür deutlich attackiert. Diese neue Welle ist bedingt durch die Anerkennung der Systemtherapie als wissenschaftliches Heilverfahren, durch den Antrag auf deren sozialrechtliche Anerkennung und nicht zuletzt dadurch, dass viele im klinischen Sektor systemisch arbeitende Kollegen täglich gezwungen sind, sich zu störungsspezifischen Konzepten zu positionieren.
Die systemische Welt hat hierzu einiges anzubieten. Die Reihe Störungen systemisch behandeln will zeigen, dass und wie die Systemtheorie mit traditionellen diagnostischen Kategorien bezeichnete Phänomene ebenso gut und oft besser beschreiben, erklären und mit hoher praktischer Effizienz behandeln kann. Sie verfolgt dabei zwei Ziele: Zum einen soll systemisch arbeitenden Kollegen das große Spektrum theoretisch fundierter und praktikabler systemischer Lösungen für einzelne Störungen zugänglich gemacht werden – ohne das Risiko, die eigene systemische Identität zu verlieren, im besten Fall sogar mit dem Ergebnis einer gestärkten systemischen Identität. Gleichzeitig soll nicht-systemischen Behandlern und Vertretern anderer Schulen das umfangreiche systemische Material an Erklärungen, Behandlungskonzepten und praktischen Tools zu verschiedenen Störungsbildern auf kompakte und nachvollziehbare Weise vermittelt werden.
Verlag, Herausgeber und Autoren bemühen sich, einerseits eine für alle Bände gleiche Gliederung einzuhalten und andererseits kreativen systemischen Querdenkern die Freiheit des Gestaltens zu lassen.
An die Stelle der Abgrenzung und der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Therapieschulen ist heute der Austausch zwischen ihnen getreten. Die Reihe »Störungen systemisch behandeln« versteht sich als ein Beitrag zu diesem Dialog.
Dr. Hans Lieb, Dr. Wilhelm Rotthaus
Gerade jetzt, in den vehementen Aufbruchsjahren inklusiver Praxis, müssen wir feststellen, dass psychiatrisch-psychotherapeutische Angebote für Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung weiterhin keineswegs selbstverständlich sind. Es gibt daher viele gute Gründe zu klagen:
•Über die Unterversorgung von Menschen mit Behinderungen in den psychiatrisch-psychotherapeutischen Regelversorgungssystemen, die faktisch einer Ausgrenzung gleichkommt;
•über die Grundannahme, ihre psychischen (Ver-)Störungen seien nicht therapierbar, mehr noch, ihre häufig sehr besonderen »Lebensäußerungen« hätten nichts mit seelischen Problemen zu tun;
•über die fehlende Bereitschaft, die komplexe diagnostische und therapeutische Arbeit angemessen zu honorieren und die ambulanten und stationären Einrichtungen ausreichend personell auszustatten.
Unsere einleitenden Worte könnten wir daher unter den Titel »Wut und Empörung« stellen über eine Vielfalt von mehr oder weniger subtilen Abwertungen einer therapeutischen Arbeit mit Menschen mit Intelligenzminderungen, in der sich nicht zuletzt eine gesellschaftliche Ausgrenzung einer ganzen Personengruppe spiegelt.
Dennoch und gerade jetzt haben wir viele Gründe zu Dank und Freude: Dank an Wilhelm Rotthaus, der dieses Buch angeregt und begleitet hat, Dank dem Carl-Auer Verlag, unserer mehr als sorgfältigen Lektorin Veronika Licher und Ihnen, liebe Leser1, dass wir hier unsere Erfahrungen berichten können, unverstellt, nicht immer evidenzbasiert und leidenschaftlich. Und Freude, etwas berichten zu können von dem Reichtum, den für uns die Begegnung mit Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderungen und ihren Familien bedeutet. Freude über viele wunderbare Geschichten, die wir gehört haben, und Respekt vor der Würde und dem Gestaltungspotenzial der Menschen, deren Wege sich mit unseren kreuzten.
Freude über unsere professionellen Weggefährten bei der Suche nach guten, neuen Lösungen für Menschen mit Intelligenzminderungen, Kollegen, die bereit waren, sich mehr als andere zu engagieren, die sich als Erzieher, Krankenpfleger, Lehrer und Therapeuten entschlossen haben, neue Terrains zu betreten, und fasziniert waren von einer herausfordernden und ungemein lohnenden neuen Aufgabe.
Auch Dankbarkeit, dass sie alle uns bestätigt haben in der Gewissheit, dass die Begleitung von Menschen mit Behinderungen in das Zentrum der Psychotherapie gehört. Und dass sich gerade die besten Kollegen für diese Arbeit entschieden haben.
Besonderer Dank gilt unseren klinischen Mitstreiterinnen Ursula Robertz und Stephanie Heidenreich, die dieses Buch durch vielfältige Anregungen, Fallgeschichten und traumatologische Kenntnisse bereichert haben.
Hier schon der erste Hinweis auf Diskussionen sowohl unter den Autoren als auch in den beteiligten Fachgemeinden. Während die einen denken, Intelligenzminderung könnte das Attribut »sogenannte« als Hinweis auf seine soziale Konstruiertheit gut vertragen, meinen die anderen, man solle auf derartige vernebelnde Einschübe verzichten. Denn: Intelligenzminderung – genauso wie andere primäre, eher unveränderliche Beeinträchtigungen – bedeutet eine ziemlich »harte Realität« für den Betroffenen, mit der er sein Leben in dieser Gesellschaft organisieren muss und die ihm als solche nicht zugeschrieben werden kann. Erst in den gesellschaftlichen Zuschreibungen (d. h. durch direkte Bewertungen von Mitmenschen und durch gesellschaftliche Attribuierung von spezifischen Eigenschaften) erfährt der Betroffene seine Einschränkungen und wird durch mannigfache Prozesse im Sinne der »sozialen Konstruktion« zum »Behinderten«.
Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderungen erleiden eine Vielfalt psychischer Irritationen und Störungen. Sie gelten als vulnerabler als ihre Altersgenossen und sind wie ihre Familien vor Herausforderungen gestellt, deren Bewältigung die familiären Wirklichkeiten wie die eigenen Möglichkeiten oftmals überfordert.
In diesem Buch müssen wir ständig zwischen Intelligenzminderung (als offensichtlicher kognitiver Einschränkung) und geistiger Behinderung (als dem zitierten gesellschaftlichen Konstrukt in der Folge von Zuschreibungsprozessen) auf der einen Seite sowie speziellen »Lebensäußerungen« von intelligenzgeminderten Menschen auf der anderen Seite manövrieren. Letztere sind äußerst vieldeutig und manchmal kaum zu entschlüsseln: Sind es subjektive Konstruktionen als Ausdruck der kognitiven Beeinträchtigungen in einem spezifischen familiären Kontext? Sind sie etwa als (sinnvolle) Überlebensstrategien in einer »feindlichen« Welt zu verstehen? Zeigen sie Ähnlichkeiten mit ICD-definierten Störungsbildern? Oder sind sie gar Verhaltensweisen im Rahmen von genetischen Syndromen (sog. Verhaltensphänotypen)?
Wir widmen dieses Buch in Dankbarkeit den Kindern und Jugendlichen, denen wir in vielen Jahren begegnet sind, in Dankbarkeit auch für die Nachsicht mit uns, wenn wir nicht alles sofort oder manches gar nicht verstanden haben.
Michael Buscher, Viersen,
Klaus Hennicke, Berlin,
im Sommer 2017
1Wir bitten um Nachsicht, wenn wir der Konvention folgen, die männliche Geschlechtsform zu verwenden. Leserinnen mögen sich gleichermaßen angesprochen fühlen.
Auf der 61. Sitzung der UN-Vollversammlung am 13. Dezember 2006 wurde das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Konsens angenommen. Am 26. März 2009 wurde es von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. Die UN-Konvention konkretisiert die allgemeinen Menschenrechte aus der Perspektive der Menschen mit Behinderungen und vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Lebenslagen, die im Menschenrechtsschutz systematische Beachtung finden müssen. Ziel ist eine neue Qualität gesellschaftlicher Teilhabe unter der Prämisse, dass es normal ist, verschieden zu sein, und diese Verschiedenheiten nicht Grund sein dürfen, jemanden an seiner vollen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu hindern.
Aktuell erleben wir die schrittweise Umsetzung der Konvention in vielen Lebensbereichen. Die zum Teil mit großer moralisierender Verbissenheit, aber auch mit glatter technokratischer Kühlheit geführte Debatte führte zunächst dazu, dass spezialisierte Hilfen als anti-inklusiv diskreditiert wurden. Diagnostische Prozeduren gerieten in den Verdacht, ausschließlich Grundlage von Aussonderung zu sein, spezialisierte psychiatrisch-psychotherapeutische Angebote sind, zumindest was den stationären Rahmen angeht, von Schließung bedroht, bereits erfolgte Planungen neuer ambulanter und stationärer Angebote werden blockiert.
Für die Psychiatrie ist diese grundsätzliche Diskussion nicht neu. Diagnosen galten auch hier zeitweise als Etikettierungen, die die Betroffenen stigmatisierten und sie zu gesellschaftlichen Außenseitern machten. Zunächst wurde eine »Normalisierung der Begegnung« gefordert, so Klaus Dörner und Uschi Plog in ihrem alternativen Lehrbuch der Psychiatrie »Irren ist menschlich« (1. Aufl. 1978), die keine Störungsdiagnose braucht, sondern vielmehr eine menschliche Kommunikations- und Umgangsweise, die es dem Betroffenen erleichtert, sein Denken und Handeln neu zu ordnen. Diese »Einfachheit« wurde heftig beklagt als Verlust professioneller Fachlichkeit (Finzen 1981), hat aber als wesentlicher Teilaspekt psychiatrischen Denkens und Handelns tiefe Spuren hinterlassen.
Die systemische Bewegung hat einen ähnlichen Kontrapunkt zu gängigen Denk- und Handlungsmustern in Psychiatrie und Psychotherapie eingebracht und wesentliche neue, weiterführende Impulse zur »Verflüssigung von Diagnosen« und der »Auflösung von Krankheitskonzepten« gegeben. Diagnosen werden in sinnhafte Einzelaspekte zerlegt und in ihre kontextuelle Relevanz zurückgeführt, um Räume zu eröffnen für neue, weniger leidvolle Wirklichkeitskonstruktionen. So zu denken war seinerzeit in den erstarrt erscheinenden psychiatrischen Strukturen befreiend und faszinierend.
In den letzten Jahren werden nun hier vermehrt störungsspezifische Konzepte gefordert und vorgelegt, nicht nur weil sie hilfreiche Hypothesen und effektive Handlungsempfehlungen liefern können, sondern auch weil es ziemlich fährlässig wäre, auf die Erkenntnisse der zahlreichen wissenschaftlichen Teildisziplinen zu verzichten und sie auf dem Altar der »reinen Lehre« der Systemik zu opfern. Nicht zuletzt muss Systemik auch an die gegenwärtigen Denk- und Handlungsmuster im Gesundheitswesen und in den Alltagstheorien der Menschen »andocken« können.
Im vorliegenden Buch wollen wir den Versuch unternehmen, Besonderheiten einer Psychiatrie und Psychotherapie für Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung unter diesen schwierigen Rahmenbedingungen zu skizzieren. Wir werden im Verlauf immer wieder versuchen, unsere Positionen an Beispielen zu erläutern, die unsere Hypothesen verdeutlichen sollen. Wie alle Geschichten lassen auch diese durchaus unterschiedliche Perspektiven zu.
Also ein erstes Beispiel2:
Wir wurden um die stationäre Aufnahme eines sich sehr impulsiv zeigenden Jugendlichen gebeten, der darüber hinaus depressiv wirkte. Belastende familiäre und kontextuelle Faktoren (Familiäre Todesfälle, Trennung der Eltern) wurden als verursachend angenommen, Traumatherapie war gewünscht.
Im Verlauf ergaben sich Hinweise, dass der Jugendliche erhebliche Schwierigkeiten in der Hauptschule hatte, verbal zwar ziemlich kompetent wirkte, aber in den schriftlichen Leistungen chronisch versagte. Für die weiteren diagnostischen Überlegungen konnte daher angenommen werden, dass der Jugendliche nicht allein durch die zweifellos belastenden Lebensereignisse in eine Krise geraten war, sondern auch aufgrund seiner kognitiven Einschränkungen wenig Selbstwert, wenig Selbstwirksamkeitserleben entwickeln konnte, was ihm die Bewältigung weiterer Belastungen erschwerte. Chronische Überforderung kann eine der Ursachen psychischer Not von Menschen mit Intelligenzminderung sein.
In diesem Fall ging es also wie in vielen anderen um eine Perspektiverweiterung. Stabilisierung würde hier erst einmal bedeuten, die Selbstwirksamkeitsoptionen des Jugendlichen im Hinblick auf sein intellektuelles Profil (das noch zu klären war) zu stärken, damit es ihm zukünftig leichter fiele, Lebensereignisse zu bewältigen. Die möglicherweise existenziellen Bedrohungen durch den Verlust des Großvaters und die Trennung der Eltern könnten nach erfolgter psychosozialer Stabilisierung (Beratung des jetzt zuständigen Elternteils, Klärung der Beziehung zum nicht erziehenden Elternteil, evtl. Schulwechsel) wirklich eine traumatherapeutische Intervention notwendig machen. Nicht auszuschließen ist, dass vorübergehend auch eine antidepressive Medikation die Stabilisierung unterstützen könnte.
Perspektivisch wird eine wesentliche Rolle spielen, wie die zwar getrennt lebenden Eltern, die aber weiterhin die wichtigsten Bezugspersonen bleiben, zu einer gemeinsamen Einstellung bezüglich der hohen Vulnerabilität sowie des Ausmaßes der intellektuellen Beeinträchtigungen ihres Kindes kommen. Vor allem wird der weitere Prozess der Adoleszenzentwicklung für alle Beteiligten erhebliche Herausforderungen bedeuten, die es – wahrscheinlich nur mit spezifischer Assistenz – zu meistern gilt.
Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2009) fordert unmissverständlich (im Artikel 25), dass die geltenden Standards der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung in vollem Umfang auch behinderten Menschen zur Verfügung stehen und darüber hinaus zusätzliche spezialisierte Leistungen erbracht werden müssen, die wegen der besonderen Probleme von Menschen mit Behinderungen notwendig werden. Im Übrigen sind – wie jeder weiß – Spezialisierungen in den meisten medizinischen Disziplinen an der Tagesordnung. Wer würde sich schon gerne vom Augenarzt am Herzen operieren lassen? Auch in der Psychiatrie selbst gibt es bereits Spezialisierungen: beispielsweise Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gerontopsychiatrie, Spezialabteilungen für Abhängigkeitsstörungen oder auch spezielle Therapiestationen für Sucht, Borderline, Depression, Trauma.
Was spricht also für ein spezialisiertes kinder- und jugendpsychiatrisches Angebot für intelligenzgeminderte Klienten mit zusätzlichen Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen (der Fokus liegt hier auf einem stationären Setting)?
1.Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderungen machen ungewöhnliche Lebenserfahrungen in ihren sozialen Umfeldern. Um »anschlussfähig« zu sein, benötigen Therapeuten Wissen um die besonderen Lebenswelten ihrer Klienten, damit sie mit den Kindern und Jugendlichen, den Eltern, den Förderschulen und den anderen psychosozialen Helfern angemessen im jeweiligen Kontext alternative Strategien entwickeln können.
2.Psychische Not bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderungen hat immer auch besondere Färbungen. Wie erleben Kinder ihre Einschränkungen und wie gestalten sie mit ihrem spezifischen Fähigkeitenprofil ihr Leben? Was ist psychische Not, die die Kinder in gleicher Form wie andere Kinder betrifft, und wie äußert sie sich? Wie sind die »Wechselwirkungen« zwischen Erfahrungen im Umgang mit »Behinderung« und psychischer Störung? Spezifische, oft über Jahre erworbene Kenntnisse schließen Neugier auf individuelle Lebensentwürfe, Probleme und Lösungen keineswegs aus, unterstützen aber von Beginn an sinnvolle Differenzierungen in auf den ersten Blick unüberschaubaren »Gemengelagen«.
3.Kindern und Jugendlichen sollte ein Erfahrungsraum zur Verfügung stehen, innerhalb dessen sie sich als wirksam und kompetent erleben können. Das gelingt nach unserer Einschätzung leichter auf unseren spezialisierten Stationen. Viele Kinder und Jugendliche kommen aus Situationen, in denen sie einer am gesellschaftlichen Durchschnitt orientierten Normalität hinterherhecheln, ohne dass sie je erreichbar wäre. Wir müssen Gelegenheiten schaffen für individuelle Erfolge, aber auch genügend Raum haben für Einschränkungen des Machbaren und die Akzeptanz des Unerreichbaren.
4.Eltern benötigen Sicherheit, dass mit den spezifischen Fragen ihrer Kinder und Jugendlichen ebenso individuell umgegangen wird wie mit ihren Sorgen, ihrer Freude und ihren Zukunftsplanungen. Auch das gelingt nur, wenn wir uns auf das Abenteuer gemeinsamen Suchens einlassen, in dem auch wir an Grenzen kommen, mit denen wir dann aber ebenso wie die Familien doch vertrauter sind als die Kollegen anderer Abteilungen.
Zwei von vielen Beispielen aus unserem Alltag:
Ein 16-jähriger Jugendlicher wird uns in der Klinik vorgestellt wegen schwer nachvollziehbarer Ängste und zunehmender Aggressivität. Die mittlerweile getrennten Eltern haben erhebliche Auseinandersetzungen. Diese drehen sich auch um die Frage der Befähigungen ihres Sohnes und seiner weiteren Perspektive. Es gab viel Engagement in der Förderung. Der Vater glaubt immer noch an die Integration seines Sohnes in den ersten Arbeitsmarkt. IQ-Messungen zeigen Werte im Grenzbereich zwischen leichter und mittelgradiger geistiger Behinderung. Der Sohn versucht, beiden Eltern gegenüber loyal zu sein, erspürt wie viele Menschen mit Intelligenzminderungen genau die Divergenzen, die ihn einerseits zerreißen, ihn andererseits dazu einladen, mit Aggressivität nach sicheren Reaktionsmustern zu suchen. Auch die Mutter engagiert sich für ein inklusives Leben. Der Junge wirkt bei uns zum Zeitpunkt der Aufnahme nahezu psychotisch. Er kommt zur Ruhe in einem Rahmen, der ihn nicht überfordert, der an ihn aber auch leitbare Anforderungen stellt. Er ist kein Außenseiter, der mehr können muss, als er schafft.
Eine zweite kurze Fallgeschichte:
Das Mädchen Simone, 12 Jahre alt, befand sich vor der Aufnahme in einer integrativen Klasse auf einer Waldorfschule. Neben einem kognitiven Begabungsniveau im Bereich einer geistigen Behinderung zeigt sie autistische Züge. Sie sorgt sich sehr darum, was speziell ihre Eltern fühlen und denken, und versucht, diese nicht zu enttäuschen. Deshalb hat sie versucht, mit den normal begabten Schülern ihrer Klasse mitzuhalten, was nicht gelang. Sie verweigerte daraufhin die Schule und entwickelte eine ausgeprägte depressive Symptomatik. Die Entwicklung verlief auf der Station sehr positiv, die Aussicht auf den Wechsel in eine Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung wirkte entlastend.
Spezialisierte Einrichtungen müssen sich dennoch heute fragen lassen, wie sehr die eigene Praxis Aspekte der Behinderung zementiert, statt sie aufzulösen, wie auch im eigenen Kontext mehr Teilhabe realisiert werden kann. Der Auftrag an eine spezialisierte Klinik kann aber zunächst nur sein, mit möglichst viel Wissen und Expertise die speziellen Probleme zu erkennen und zu deren Lösungen beizutragen. Kann oder muss sie dabei auch Inklusionserfahrungen vermitteln? Ist das im Rahmen einer klinischen Behandlung überhaupt nachhaltig wirksam möglich? Und schließlich: Können diese Erfahrungen wirklich zur Verbesserung der seelischen Gesundheit des Klienten beitragen, beispielsweise mit der schlichten Analogie: »Gemeinsamer Unterricht« ist gut, also auch »gemeinsame Behandlung«? Der Lebensalltag des überwältigenden Teils von Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderungen ist heute nicht inklusiv. Behandlung muss dies berücksichtigen und sollte die Betroffenen nicht mit Settings überfordern, die ihnen (noch) nicht vertraut sind, die zusätzliche Irritation in einer vulnerablen Phase bedeuten und die an ihre alltägliche Lebenswelt kaum anschlussfähig sind.
Angemessene klinische Hilfen zu leisten für Kinder, Jugendliche und ihre Familien auf dem Weg zur Inklusion kann derzeit nur bedeuten, dass diese mit sich und ihrer Welt halbwegs ins Reine kommen und dadurch in die Lage versetzt werden, den Anforderungen besser gewachsen zu sein, bzw. nicht Gefahr laufen, aus inklusiven Angeboten ausgeschlossen zu werden. Denn es wird noch lange Zeit brauchen, bis inklusive Beschulung und Beschäftigung für alle, auch für die »Schwierigen«, selbstverständlich sind.
Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeuten mit Spezialkenntnissen und Erfahrungen in der ambulanten Versorgung sind über die genannten Gründe hinaus zwingend notwendig. Ihre größere regionale Nähe zu den Familien, den Schulen und den Einrichtungen ermöglicht eine intensivere Kooperation mit Hausbesuchen, Helferkonferenzen vor Ort, Beratungen bis hin zu Supervisionen. Die Honorierungsbedingungen allerdings begrenzen Vernetzungen und es ist dringend zu fordern, solche speziellen Leistungen auch zu finanzieren.
Wir gehen nicht davon aus – dies sei vorab betont und wird an anderer Stelle genauer zu differenzieren und zu erläutern sein (s. Kap. 2) –, dass Intelligenzminderung eine Krankheit ist. Gleichwohl gibt es vielfältige Assoziationen zu medizinischen Fragestellungen – zumindest werden sie häufig im medizinischen Sektor formuliert. Viele Familien kommen mit medizinnahen Versorgungsstrukturen in Kontakt (pränatale Diagnostik, genetische Untersuchung, Klärung von Verhaltensproblemen im Zusammenhang mit den genetisch bedingten sog. »Verhaltensphänotypen«, häufige spezielle gesundheitliche Probleme, wie Epilepsie oder Entwicklungsverzögerungen).
Eine entscheidende Rolle spielt natürlich die absolute Dominanz ärztlich-medizinischer Stellungnahmen und Gutachten bei Fragen der sozialrechtlichen Zuständigkeiten.
Intelligenzminderung per se verstehen wir als Varianz von Normalität – ähnlich wie Hochintelligenz. Da sie keine Krankheit ist, bedarf sie auch keiner spezifischen Therapie. Gleichwohl kann sie Auswirkungen auf die Chancen zur gesellschaftlichen Teilhabe haben, die erhöht werden können einerseits durch Gewährung spezifischer Unterstützung, andererseits durch Veränderung sozialer Rahmenbedingungen, die allen Menschen die gleichen oder vielleicht doch vergleichbare Mitgestaltungsspielräume ermöglichen.
Menschen mit Intelligenzminderungen haben ein höheres Risiko, psychisch irritiert zu sein, psychische oder psychiatrisch relevante Störungen zu entwickeln. Ab wann es nützlich erscheint, diese als Krankheit zu etikettieren, bedarf sorgfältiger Abwägung – auch mit Blick auf Veränderungsoptionen und in Bezug auf einklagbare Hilfen.
Die Autoren haben in den letzten Jahren ihre Vorbehalte gegenüber dem Erfahrungsschatz psychiatrischer Beschreibungen aufgegeben. Fundiertes psychiatrisches Wissen – auf Augenhöhe in den Dialog eingebracht – kann auch im Umgang mit Menschen mit Behinderungen Veränderungsoptionen in hohem Maße eröffnen, erst recht wenn es in einen konstruktiven interdisziplinären Dialog eingebracht wird. Ein solcher Dialog im multiprofessionellen Team einer psychiatrischen Klinik und eine gute Streitkultur sind ein enormer Reichtum. In ambulanten Versorgungsbereichen (Behindertenhilfe, Elternberatung, Förderschulen) allerdings werden psychiatrische Sichtweisen oftmals nicht eingeholt oder – wenn sie vorliegen – wenig beachtet. Dabei muss eingeschränkt werden, dass viele ärztliche Stellungnahmen für den Betreuungsalltag in den genannten Bereichen wenig hilfreiche Optionen eröffnen3.
Eine weitere Annäherung zum Thema: Systemisch verstandene Neugier richtet sich auf Wechselwirkungen. Unabhängig von den Realitätskonstruktionen der Beobachter entstehen keine Wirklichkeiten. Behinderung ist also ein soziales Konstrukt, das auf seine Nützlichkeit überprüft werden kann. Und diese Konstruktion hat durchaus ihre eigene Dynamik. Dazu einige »Verrücktheiten«:
•Nicht kognitiv eingeschränkte Menschen erleben ihr Gegenüber häufig als besonders »behindert«, wenn sie selbst bei ihren Dialogversuchen mit ihm sprachlos bleiben und keinen Zugang finden.
•Kinder, die gelernt haben, ihre Behinderung zu nutzen, verzichten gelegentlich darauf, ihre Fähigkeiten zu zeigen. So lassen sich einige z. B. gern Brote schmieren, Fleisch zerkleinern, beim Anziehen unterstützen – und zeigen ihr Potenzial erst heimlich, wenn die Eltern nicht dabei sind.
Es kann also nützlich sein, einerseits die eigenen Einschränkungen in der Begegnung mit Menschen mit Intelligenzminderungen in den Blick zu nehmen und sie andererseits nicht nur als Opfer, sondern auch als kreative Mitautoren ihrer Geschichten zu sehen. Vorsicht aber: Die Inklusionsdebatte bringt auch besonders gut gemeinte Umetikettierungen zutage. Menschen, die früher als behindert bezeichnet wurden, erfahren nunmehr in einer Art mystischer Taufbewegung eine Neubenennung: Sie sind nun die »besonders Befähigten«.
Auch wenn zu begrüßen ist, dass Menschen mit Intelligenzminderungen in ihren besonderen Befähigungen und ihrer Würde wahrgenommen werden, so ergeben sich doch Gefahren, wenn dies zu einer Leugnung der Behinderung führt, diese vermeintlich besonders befähigten Kinder beispielsweise nicht lesen oder rechnen lernen, in manchen Fähigkeiten nicht mithalten können und dann mit ihren Nöten allein bleiben. Solchen Leugnungen der Behinderung liegt oft eine allzu verständliche Enttäuschung im Bezugssystem zugrunde. Es ist immer noch schwer auszuhalten, wenn Kinder nicht den Weg üblicher Normalität gehen – sowohl für Eltern, als auch für die Kinder selbst. Allein durch Hinweise auf besondere Befähigungen aber sind Einschränkungen nicht auflösbar. Fragen von Scheitern, Trauer, Erschöpfung sollten nicht durch Hinweise auf angeblich brachliegende Ressourcen verschleiert werden.
Mit Betroffenen – so unsere Erfahrung – wird eher selten über Behinderung und die Folgen dieses »Labels« gesprochen.
Hans ist 17 und gerne in der Stadt. Er geht allein einkaufen. Die Verkäuferin ist nett zu ihm. Er ist schon etwas verliebt. Der nette Umgang ermuntert ihn, macht ihm Hoffnung. Aber genauso wenig wie die Freundinnen seines Bruders will die Verkäuferin mehr von ihm. Die Freundlichkeit gilt seiner offensichtlichen Behinderung. Hans reagiert gekränkt, dass sich kein weiterer Kontakt entwickelt. In einem therapeutischen Gespräch über diese und ähnliche Erfahrungen als »behinderter Jugendlicher« zu sprechen, erwies sich für ihn als hilfreich und entlastend.
Wenn psychosoziale Helfer das Thema Behinderung nicht ansprechen, benennen sie oft als Grund dafür, man wolle die Betroffenen »schonen«. Letztendlich ist aber offen, ob diese Schonung nicht eher ihnen selbst gilt. Behinderung wird dann zum Nebel, der zwischen den Klienten und ihrem Gegenüber liegt. Wir ermuntern eher dazu, offen zu sein, um die Kinder und Jugendlichen, die wir als sehr empfindsam für die Reaktionen ihrer Umgebung erleben, nicht alleinzulassen. Voraussetzung ist eine unbedingte Haltung des Respekts, aber nicht von Fürsorglichkeit, die das Gegenüber wie unter einer Käseglocke gefangen nimmt.
Arnold Retzer (2002) verdanken wir einige interessante Anmerkungen über die »Exkommunikation« von Psychosebetroffenen: Man spricht häufig über sie, aber eher ohne sie. Gleiches geschieht mit Menschen mit Intelligenzminderungen. Sie bleiben häufig außerhalb der Besprechungsräume. Noch schwieriger erscheint uns allerdings, wenn sie im Besprechungsraum sind und ignoriert werden. »Der bekommt ohnehin nichts mit, versteht das nicht.« Nach allen Erfahrungen trifft dies nicht zu. Diese Kinder und Jugendlichen haben oft ein feines Gespür für die »atmosphärischen« Botschaften, für die Haltungen, Mimik(en), Gestik(en) und Stimmlagen aller Beteiligten und zeigen durch Handlungen, Bewegung, Laute und Mimik, was sie nicht in Worte fassen können.
Der diagnostische Blick erfolgt häufig von oben herab. Wir sollten nicht vergessen, was unsere Fragen bewirken, welcher Blick was auslöst, was die Menschen eher ermutigt und bestärkt und was sie zu Objekten unserer Beobachtung und unseres Handelns macht.
Systemisches Denken und Handeln richtet sich auf die Erweiterung von Handlungsräumen, weniger auf die Entwicklung von Beschreibungen, die Defekte betonieren. Auch wenn wir offen und bezogen auf die Fragen unserer Klienten mit ihren Beeinträchtigungen, dabei notwendigerweise auch mit dem Konstrukt »Behinderung« umgehen, haben Menschen mit Intelligenzminderung ein Recht auf Teilnehmen, Teilhabe, Mitgestaltung, Entscheidung und Begegnung auf Augenhöhe.
Evan Imber-Black (2006), Maria Sorrentino (1988) und viele andere, so auch der deutsche Neuropädiater Hans G. Schlack (2011), haben uns ermuntert, achtsamer zu sein für die Beziehungsgestaltung zwischen Familien und Helfersystemen.
Besonderheiten (»Auffälligkeiten«) in der Entwicklung von Kindern mobilisieren eine Vielzahl psychosozialer Helfer, die die aus ihrer Perspektive notwendigen und häufig auch sinnvollen Therapien zur Vermeidung schädlicher Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen des Kindes an die Familien herantragen. Dies geschieht allerdings nicht selten ohne den Blick auf die Entwicklungsaufgaben, die die Familie als Ganzes bewältigen muss, welche Zeit sie dafür braucht und welche Rahmenbedingungen (»Ressourcen«) dafür vorhanden sind. Ihre eigenen Entwicklungsoptionen können dadurch verstellt werden, oder es werden nur Botschaften über ihre Unfähigkeiten gesendet.
Durchaus häufig sehen wir Kinder, die mit fünf oder sechs Jahren keinerlei Förderung mehr akzeptieren, weil sie derer überdrüssig sind (zugespitzt »Förderterror«, der keinen Raum mehr lässt für Eigeninitiative und Selbstbestimmung). Ebenso können Mütter erschöpft sein, wenn sie die vielfältigen Maßnahmen begleiten und noch dazu den Anschluss an eigene Lebensplanungen verlieren. Oft bleibt weit weniger Zeit für Partnerschaft, Außenkontakte etc. oder gar Beruf. Familien können an diesen Belastungen zerbrechen, andere aber auch an ihnen wachsen. Die im systemischen Konzept beliebte Erkundung der Erfahrungen von Familien mit Helferkontexten, die in unserem Themenfeld besonders vielfältig sind, sollte daher behutsam und respektvoll geschehen – respektvoll nicht nur gegenüber den Familien, sondern auch in der Rückschau auf die früheren Helfer. Das Erfragen positiver und negativer Erfahrungen dient ja dazu, nützlich erlebte Maßnahmen weiterzuverfolgen und die weniger oder gar nicht nützlichen in Zukunft zu meiden.
Wenn Helfer unkoordiniert auf Familien zugehen, kann dies sehr irritierende Folgen haben. Es scheint zum Schicksal vieler Mütter und Väter von Kindern mit Behinderungen zu gehören, dass gut meinende Spezialisten die widersprüchlichsten Empfehlungen geben. In den ambulanten Versorgungsbereichen ist dies eher die Regel als die Ausnahme. Multiprofessionalität kann hier aufgrund der fehlenden Vernetzungsstrukturen zwischen den Versorgungssystemen einerseits und den für sich und »auf eigene Rechnung« arbeitenden Helfern andererseits kaum zu fruchtbaren Kommunikationen im Sinne einer »gemeinsamen Problemsicht« führen. Die eher seltenen Ausnahmen sind meist »informeller« Natur, d. h. sorgfältig gepflegte, persönliche Vernetzungen.
Man kann nur bedauern, dass es innerhalb der psychosozialen Versorgungskontexte so viele unnütze, manchmal auch destruktive Konkurrenzen und Vereinzelungen gibt. Kinder- und Jugendpsychiater verteidigen ihre Reviere ebenso wie nichtärztliche Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Psychotherapeuten grenzen sich von Pädagogen ab, Ergotherapeuten, Logopäden, Einzelfallhelfer, Förderschulen bleiben für sich oder werden von anderen nicht wahrgenommen. Die Klinik erscheint ambulant Tätigen manchmal als »Insel des Glücks«, die allzu oft die »Realitäten draußen« abspaltet und manchmal nicht bereit ist, vernünftige »Nachsorge« einzuleiten.
Die 17-jährige Juliane kommt in die Klinik wegen Schwierigkeiten im Sozialverhalten bei geistiger Behinderung und einer recht gut eingestellten Epilepsie. Da sie mehrfach operiert wurde und einiges durchmachen musste, rät ein Teil der Experten, dass ihr Zimmer, auf das sie sich oft zurückzieht, besonders liebevoll zu gestalten sei. Andere wiederum halten eine strenge Förderung mit Hinblick auf zu befürchtende Leistungsabbrüche für relevant. Verloren gegangen ist die Stimme, die in Juliane auch eine pubertierende Jugendliche sieht, mit Wünschen, Provokationen, letztendlich auch Humor und einem am Ende doch wieder sehr strengen Umgang mit sich selbst. Wie soll Juliane es allen recht machen? Also zeigt sie sich einmal humorvoll, stark und unkompliziert, dann wieder zwanghaft, übervernünftig und unerreichbar.
Aber auch wir haben in der Klinik die ganz unterschiedlichen Stimmen in unseren Teams: die Ärztin, durchaus besorgt um Anfälle und andere Risiken, die Mitarbeiterin im Pflege- und Erziehungsdienst, die das Häkeln, was Juliane erledigen soll, schrecklich findet, und die Pädagogin, die am liebsten mit ihr »abzicken« würde. Diese Vielstimmigkeit kann sehr bereichernd sein, wenn alle Beteiligten sie zu einem harmonierenden Klang zusammenführen. Keiner will destruktive Konkurrenzen. Allerdings: Uns erschiene es auch langweilig, wenn unsere Teams nicht auch heftig miteinander stritten, Perspektiven nicht unterschiedlich wären. Am Ende ist das häufig ein Reichtum. Und für die Familien kann es eine Erleichterung sein, zu spüren, dass ein bemühtes Team dieselben Wechselbäder durchmacht wie sie selber. Diese interdisziplinäre »Raufkultur« bedarf aber gegenseitigen Respekts, der Anerkennung von Unterschiedlichkeit, der Bereitschaft zu lernen, des Wissens um die Autonomie der Akteure. Wir bezeichnen das gern als unsere Art des Mannschaftsspiels.
Behinderung löst einerseits Abwehr, Abstoßung, manchmal Ekel aus, andererseits ganz häufig Bedauern und Mitleid. Beide Affektqualitäten mögen nachvollziehbar sein. Und natürlich haben auch wir Mitgefühl mit Kindern und Jugendlichen, die oft erschreckenden Belastungen gegenüberstehen. Im Alltag erleben wir aber seltener allein Mitleid. Dazu erscheinen die Kinder und Jugendlichen viel zu sehr als kreative Mitgestalter ihrer Welten, nicht selten trickreich auf ihre Art und durchaus humorvoll. Umgang mit Behinderung und Respekt vor Einschränkung schließen Kreativität und Humor nicht aus, im Gegenteil: Zu einer Kultur auf Augenhöhe gehört auch – vielleicht sogar unverzichtbar – Spaß.
»Ohne Diagnose keine Therapie und ohne Krankheit keine Diagnose – wenn die Logik dieser Aussage stimmt«, so Kurt Ludewig (2002, S. 53), »befindet sich die systemische Therapie in arger Not. Denn sie kennt weder einen Krankheitsbegriff noch betreibt sie Diagnostik.« Ludewig beschreibt hier eine der Kernfragen im systemischen Feld, vor allem für diejenigen Therapeuten, die mit dem konfrontiert sind, was man gemeinhin psychiatrische Störungen nennt. Der Marsch der Systemiker durch die Institutionen hat zu allerlei Adaptationen geführt. Aber was bleibt, wenn wir die Nomenklatur der Kostenträger psychosozialer Leistungen adaptiert haben, vom Ursprung systemischen Denkens? Die Auflösung von Krankheitskonstrukten erschien zu Beginn befreiend, aber ist sie nicht nur die eine Seite einer Medaille, deren andere Seite aus einer vielleicht neutraleren, neugierigen Perspektive durchaus Chancen für Therapeuten und Klienten gleichermaßen bietet?
Wenn systemisches Denken »auf ontologische Annahmen auf eine universelle Welt« verzichtet und stattdessen »von einer Vielfalt in sich kohärenter, aber voneinander unterschiedlicher Welten, gewissermaßen einem ›Multiversum‹ ausgeht, sich »der kommunikativen Brauchbarkeit von Erkenntnissen« (Ludewig 2002, S. 53 f.) widmet,
lassen sich dann Krankheits- und Störungskonzepte neu, anders und vielleicht fruchtbar verstehen? Und wie passen sie zu einem Psychotherapieverständnis, das auch ohne Rückgriff auf den Krankheitsbegriff den Anlass zur Therapie im »Anliegen der Hilfesuchenden« sieht?