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Störungen systemisch behandeln
Band 10

Herausgegeben von
Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Rudolf Klein
Gunther Schmidt

Alkoholabhängigkeit

2017

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Reihe »Störungen systemisch behandeln«, Band 10 hrsg. von Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Erste Auflage, 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Vorwort

1Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von Alkohol

1.1Vorbemerkungen

1.2Diagnosen nach ICD-10

1.3Differenzialdiagnostische Überlegungen

1.4Diagnoseinstrumente

1.5Screening-Verfahren

1.6Mehrdimensionale Verfahren

1.7Medizinische Indizes

1.8Epidemiologie und Prävalenz

2Klassische Konzepte zur Alkoholabhängigkeit

2.1Psychoanalyse

2.2Psychoanalytische Behandlungsansätze

2.3Verhaltenstherapie

2.4Verhaltenstherapeutische Behandlungsansätze

2.5Traditionell-medizinische Konzepte

2.6Traditionell-medizinische Behandlungsansätze

3Alkoholabhängigkeit im Lichte der früheren Systemtherapie

3.1.Die Kybernetik 1. Ordnung

3.2Die Folgen für das Phänomen der Alkoholabhängigkeit

3.3Widerstand zeigende Familien (M. D. Stanton und T. C. Todd)

3.4Lebensgeschichtliches Modell der Alkoholismusfamilie (P. Steinglass)

3.5Heidelberger Modell (G. Schmidt)

3.6Eppendorfer Familientherapie (R. Thomasius, A. Schindler u. P. Sack)

3.7ARISE-Intervention (J. Landau)

3.8Fazit

4Alkoholabhängigkeit im Lichte der modernen Systemtherapie

4.1Die Kybernetik 2. Ordnung

4.2Wie kommen Alkoholprobleme in die Welt?

4.3Die Folgen für das Phänomen der Alkoholabhängigkeit

4.4Fazit

5Das Störungsbild aus Sicht der modernen Systemtherapie

5.1Autonome Systeme und die Selbstorganisation von Alkoholabhängigkeiten

5.2Ritualtheoretische Hypothesen und existenzielle Dimensionen

5.3Biografische Hypothesen

5.4Zwei Musterbeschreibungen

Schwellenprobleme

Grenzprobleme

5.5Prinzipielle therapeutische Haltungen und Fokussierungen

5.6Spezifische Haltungen und Fokussierungen

6Die ambulante Therapie als Übergangsritual: Drei Phasen des Wandels

6.1Die erste Phase: Die Reflexion des Trinkverhaltens

Enttabuisierung mehrdeutiger Therapieziele

Die Bedeutung von Rückfällen

Die einfache Problem-Lösungs-Balance

Anstoßen existenzieller Herausforderungen

Förderung der Beziehung zu sich selbst

Beobachtungen des eigenen Trinkverhaltens

Hilfen zur Unterbrechung des Trinkmusters

Umgang mit Zwangskontexten

6.2Die zweite Phase: Berücksichtigung biografischer Erfahrungen

Die erweiterte Problem-Lösungs-Balance

Der Blick auf Resilienzen

Die Arbeit an stagnierenden Entwicklungen

6.3Die dritte Phase: Die Bedeutung relevanter Beziehungen

Die Bedeutung der Partnerschaft

Die Bedeutung von Misstrauen oder Vertrauen

Klienten als Eltern

6.4Fazit

7Die stationäre Therapie als Übergangsritual

7.1Kontextuelle Aspekte

7.2Metaziele hypnosystemischer stationärer Therapie

7.3Das Ziel der Abstinenz im stationären Kontext

Vorgehen in Kliniken ohne obligatorisches Abstinenzziel

Vorgehen in Kliniken mit obligatorischem Abstinenzziel

Utilisation von Zwickmühlen beim Abstinenzziel

7.4Typische Schritte der stationären Therapie

Vorgespräch und Eigenbericht

Der Überweisungskontext, die Problemdefinitionen und Erwartungen

Kontinuierlich begleitende Kommunikation aller Kooperationsprozesse

Die Balance von Gruppen- und Einzeltherapieangeboten

Die Gruppentherapie

Generelle Überlegungen zur Zielentwicklung

Umgang mit Rückfällen

Umgang mit Rückfällen bei definiertem Abstinenzziel

Angehörigenarbeit

Transfer-Reflexions-Gruppen

8Zusätzliche methodische Vorgehensweisen

8.1Vergleiche von Problem- und Lösungsmustern

8.2Schutzangebote für den Umgang mit wiederentdeckten Kompetenzen

8.3Aufbau von Metapositionen, Utilisation von Ideomotorik und Embodiment

8.4Problem-Lösungs-»Gymnastik«

8.5Symptome als »Botschafter von Bedürfnissen«

8.6Fazit

9Evaluation

Literatur

Über die Autoren

Vorwort der Herausgeber

Ursprünglich ein querdenkendes Außenseiterkonzept, hat sich der systemische Ansatz heute in vielen Bereichen der Therapie und der Beratung theoretisch wie praktisch etabliert. Auch Vertreter anderer Schulen bereichert er mittlerweile in ihrer Arbeit. Die Etablierung eines Paradigmas birgt für dieses selbst aber auch Risiken, weil sie stets mit der Verfestigung von Denk- und Handlungsgewohnheiten einhergeht. Die Reihe Störungen systemisch behandeln stellt sich vor diesem Hintergrund zwei Herausforderungen: Nichtsystemischen Behandlern und Vertretern anderer Therapierichtungen soll sie komprimiert und praxisorientiert vorstellen, was die systemische Welt im Hinblick auf bestimmte Störungsbilder zu bieten hat. Innerhalb der Systemtherapie steht sie für eine neue Phase im Umgang mit dem Konzept von »Störung« und »Krankheit«.

Historisch gesehen war einer ersten Phase mit erfolgreichen Konzepten zu Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Essstörungen, psychosomatischen Krankheiten und affektiven Störungen eine zweite Phase gefolgt, die geprägt war von einem gezielten Verzicht oder einer definitiven Ablehnung aller Formen störungsspezifischer Codierungen. In jüngerer Zeit wenden sich manche Vertreter der systemischen Welt wieder störungsspezifischen Konzepten und Fragen zu – und werden von anderen dafür deutlich attackiert. Diese neue Welle ist bedingt durch die Anerkennung der Systemtherapie als wissenschaftliches Heilverfahren, durch den Antrag auf deren sozialrechtliche Anerkennung und nicht zuletzt dadurch, dass viele im klinischen Sektor systemisch arbeitende Kollegen täglich gezwungen sind, sich zu störungsspezifischen Konzepten zu positionieren.

Die systemische Welt hat hierzu einiges anzubieten. Die Reihe Störungen systemisch behandeln will zeigen, dass und wie die Systemtheorie mit traditionellen diagnostischen Kategorien bezeichnete Phänomene ebenso gut und oft besser beschreiben, erklären und mit hoher praktischer Effizienz behandeln kann. Sie verfolgt dabei zwei Ziele: Zum einen soll systemisch arbeitenden Kollegen das große Spektrum theoretisch fundierter und praktikabler systemischer Lösungen für einzelne Störungen zugänglich gemacht werden – ohne das Risiko, die eigene systemische Identität zu verlieren, im besten Fall sogar mit dem Ergebnis einer gestärkten systemischen Identität. Gleichzeitig soll nicht-systemischen Behandlern und Vertretern anderer Schulen das umfangreiche systemische Material an Erklärungen, Behandlungskonzepten und praktischen Tools zu verschiedenen Störungsbildern auf kompakte und nachvollziehbare Weise vermittelt werden.

Verlag, Herausgeber und Autoren bemühen sich, einerseits eine für alle Bände gleiche Gliederung einzuhalten und andererseits kreativen systemischen Querdenkern die Freiheit des Gestaltens zu lassen.

An die Stelle der Abgrenzung und der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Therapieschulen ist heute der Austausch zwischen ihnen getreten. Die Reihe »Störungen systemisch behandeln« versteht sich als ein Beitrag zu diesem Dialog.

Dr. Hans Lieb, Dr. Wilhelm Rotthaus

Vorwort

Das Zustandekommen dieses Buches schien zunächst relativ einfach und überschaubar, gestaltete sich zwischenzeitlich schwierig bis unmöglich und stellt letzten Endes ein kleines Wunder dar. Aber der Reihe nach:

Um das Thema einer systemtheoretischen und systemtherapeutischen Betrachtungsweise von Alkoholabhängigkeiten bearbeiten zu können, müssen zwei Kontexte in ihrer jeweiligen Unterschiedlichkeit und Ergänzung dargestellt werden: der ambulante und der stationäre Kontext. In jedem Kontext kann man Alkoholabhängigkeit zwar ähnlich beschreiben, jedoch stehen unterschiedliche Behandlungssettings zur Verfügung, die der therapeutischen Arbeit sowohl Möglichkeiten eröffnen als auch Begrenzungen auferlegen.

Um die Darstellung der ambulanten Therapie durch das stationäre Setting ergänzen zu können, fiel die Co-Autorenwahl auf einen Kollegen, Patrick Burkhard, der seit Jahren in einer Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängige arbeitet. Diese sehr gute Kooperation musste aber aufgrund klinikinterner Umstrukturierungen und einer damit einhergehenden höheren Arbeitsbelastung des Kollegen beendet werden. Dennoch schrieb er das erste Kapitel (»Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von Alkohol«), das in überarbeiteter und gekürzter Form in das vorliegende Buch einfloss. Dafür gebührt ihm unser Dank.

Durch den Ausfall des Kollegen war das gesamte Projekt vorübergehend vom Scheitern bedroht.

Gunther Schmidt war auf Nachfrage spontan an dem Projekt interessiert und auch bereit, seine Erfahrung im Bereich der stationären Therapie alkoholabhängiger Menschen aus einer hypnosystemischen Perspektive beizusteuern. So liegt nun ein Buch vor, das den derzeitigen Stand der hypnosystemischen und systemischen Therapie im ambulanten und im stationären Bereich mit alkoholabhängigen Menschen repräsentiert.

Dankbar sind wir Hans Schindler, Dr. Rose Schindler und Barbara Schmidt-Keller für die Durchsicht einzelner Kapitel des Manuskripts. Unser besonderer Dank gilt Dr. Hans Lieb, der die Wirren dieses Projektes geduldig, zuversichtlich und humorvoll begleitet hat, und dem Verlag, vertreten durch Dr. Ralf Holtzmann, für die verständnisvolle Art, mit wiederholt nicht eingehaltenen Abgabeterminen umzugehen.

Rudolf Klein und Gunther Schmidt Merzig und Heidelberg, im März 2017

1Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von Alkohol

1.1Vorbemerkungen

Diagnosen stellen in einem systemischen Verständnis sprachliche Bedeutungsverdichtungen als Ergebnis systematisierter Beobachtungsprozesse dar, die von einer autorisierten Personengruppe nach definierten, als allgemeingültig erklärten fachlichen Richtlinien durchgeführt wurden.

Ist eine Diagnose in diesem Sinne »gestellt«, wird sie in der Regel kommuniziert und dadurch als »Realität« gehandelt. Damit ist zumeist eine Vergegenständlichung bzw. Verdinglichung des diagnostisch beschriebenen Krankheitsbildes verbunden, dem implizit ein linear-kausaler Erklärungswert zugeschrieben wird: Herr Meier verhält sich so, weil er alkoholabhängig ist.

Diagnosen werden in klinischen Systemen aufgrund von Beobachtungen gestellt, die in diagnostischen Gesprächen bzw. in der Interaktion mit den Patienten erfolgen. Die für diagnostische Beobachtungen relevanten Informationen werden über kommunikative Prozesse gewonnen. Dabei ist der »Diagnostiker« immer Teil der Interaktion, steht mit dem Patienten, den er beurteilen will, in einer Wechselwirkung und kann daher nicht vom Objekt der Beobachtung getrennt werden. Jede Aktion eines Beobachters wirkt sich zwangsläufig auf das Beobachtungsobjekt aus. Jede Reaktion des Beobachtungsobjektes erfolgt in Abhängigkeit vom Beobachterverhalten – es entwickeln sich »Rückkopplungskreise« (Watzlawick, Beavin u. Jackson 1990).

Diagnostische Prozesse unterliegen einer entscheidenden Restriktion, wenn es um sogenanntes süchtiges Verhalten geht: Wahrnehmungen, Beschreibungen und Bezeichnungen können lediglich auf die Informationen bezogen werden, welche die Patienten selbst über sich kommunizieren. Die Symptomatik an sich bleibt unsichtbar und verborgen. Kein Therapeut war anwesend, wenn die Patienten Alkohol getrunken haben. Insofern gründen sich Diagnosen, speziell im Suchtbereich, nie auf direkte Beobachtungen vom sogenannten süchtigen Verhalten, sondern immer nur auf Aussagen von Patienten über eigenes zurückliegendes Verhalten. Therapeuten können also nur Rückschlüsse ziehen und sind abhängig von der Bereitschaft ihrer Patienten, offen über ihre vergangenen Erfahrungen zu erzählen. Diese Bereitschaft wiederum wird beeinflusst davon, wie die Beziehungs- und Interaktionsgestaltung zum Therapeuten wahrgenommen und erlebt wird.

Diagnosen, als in diesem Verständnis aktiv konstruierte Ergebnisse von Beobachtungsprozessen, haben die Funktion, kommuniziert zu werden. Adressaten solcher diagnosebezogener Kommunikation können sich im selben klinischen Setting finden, wie z. B. Kollegen, Vorgesetzte, oder außerhalb, als kooperierende Personen (Haus- oder Fachärzte), Institutionen (Beratungsstellen oder Kliniken), Krankenkassen, Rentenversicherungen und sonstige Kostenträger. Ist die Diagnoseerstellung bereits das Treffen einer Unterscheidung, so liefert die Kommunikation darüber eine Einladung an den Adressaten, sich der Unterschiedsbildung konsensuell anzukoppeln. Sobald eine Diagnose in einem entsprechenden System benannt ist, wird eine neue Wirklichkeitskonstruktion kreiert. Diagnosen, insbesondere Suchtdiagnosen, können erhebliche Konsequenzen und Auswirkungen mit sich bringen: Sie können brandmarken, ein »Eigenleben« entwickeln, zum Selbstzweck werden, Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen, den vorgezogenen Renteneintritt ermöglichen u. v. m.

Obwohl also aus einer systemischen Perspektive viele und gute Gründe für eine kritische Haltung gegenüber einer herkömmlichen Diagnostik angeführt werden können, spielt sie dennoch eine wichtige Rolle im Kontext der krankenkassen- und rentenversicherungsorientierten Versorgung. Die »passende« Diagnose ist die Eintrittskarte für einen institutionellen Rahmen und dessen Finanzierung, der professionelle Unterstützung zur Behandlung einer psychischen Problematik ermöglicht. Wenn in fachlich definierten Kontexten Diagnosen gestellt und in einer vereinheitlichten Sprache kommuniziert werden, dient dies der Komplexitätsreduktion, indem einem Beobachtungskonstrukt eine bestimmte Bedeutung in Form eines Musters zugeschrieben wird. Ohne diese Komplexitätsreduktion wäre eine patientenbezogene fachliche Kommunikation aus ökonomischen Gründen nicht realisierbar. Ludewig (1999) führt zudem als Argument für eine »systemische Annäherung« in Form einer »Überlebensdiagnostik« an, dass mit den Kategorisierungen der herkömmlichen Diagnostik spezifisches »Störungswissen« in Form von Theorien, Modellen und Interventionen sowie klinisch relevantes Erfahrungswissen verbunden ist. Beides kann für Indikationsstellungen und Auswahl von passenden Behandlungsmethoden durchaus hilfreich sein. Diagnostik und der Umgang mit Diagnosen kann daher kontextbezogen sinnvoll und zum Nutzen des Patienten sein. Unverzichtbar ist dazu eine permanente (selbst-) kritische Reflexion, die berücksichtigt, dass stets von subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen und nicht von objektiven Gegebenheiten auszugehen ist. Diese subjektiven Konstrukte können immer neu verhandelt werden. Im Folgenden werden »schädlicher Gebrauch« und »Abhängigkeit« von Alkohol im Sinne des gängigen Diagnosemanuals ICD-10 dargestellt.

1.2Diagnosen nach ICD-10

Im deutschen Gesundheits- und Rehabilitationswesen findet das ICD-10 (Dilling, Mombour u. Schmidt 2000), das Klassifikationssystem der WHO, als das maßgebliche Klassifikationssystem Verwendung und wird auch der Berichterstattung an die jeweiligen Kostenträger (z. B. Deutsche Rentenversicherung, Krankenkassen, Bundesknappschaft, medizinische Ansprechpartner) zugrunde gelegt. In Kapitel V des ICD-10 werden in den Kategorien F00–F99 die »Psychischen und Verhaltensstörungen« aufgelistet, die Suchterkrankungen im engeren Sinne dabei als »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« in den Kategorien F10–F19. Die dritte Stelle bezeichnet dabei die »verursachende Substanz« (0 für Alkohol), die vierte bis sechste Stelle das jeweilige klinische Erscheinungsbild (F10.0 akuter Rausch, F10.1 schädlicher Gebrauch, F10.2 Abhängigkeitssyndrom, F10.3 Entzugssyndrom, F10.4 Entzugssyndrom mit Delir, F10.5 psychotische Störung, F10.6 amnestisches Syndrom, F10.7 Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung).1

Für die Zuschreibung eines »schädlichen Gebrauchs« (F10.1) muss Alkohol in einer Weise konsumiert worden sein, die zu Gesundheitsschädigungen geführt hat. Diese können in körperlichen Folgeerscheinungen oder in psychischen Symptomen (z. B. depressive Episode nach massivem Alkoholkonsum) bestehen. In den dazugehörigen diagnostischen Kriterien wird verlangt, dass deutlich nachzuweisen ist, dass der Alkoholkonsum für die Folgeschäden und negativen Konsequenzen verantwortlich ist. Die »Schädigung« muss klar benannt werden können und das verursachende Konsummuster muss mindestens seit einem Monat oder wiederholt in einer Zeitspanne von 12 Monaten aufgetreten sein. (Dilling, Mombour u. Schmidt 2000).

Das »Abhängigkeitssyndrom« (F10.2) dagegen wird anhand folgender Kriterien diagnostiziert:

Ein starkes Verlangen oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren.

Verminderte Kontrolle über den Alkoholgebrauch, d. h. über Beginn, Beendigung oder die Menge des Konsums, deutlich daran, dass oft mehr Alkohol oder über einen längeren Zeitraum konsumiert wird als geplant, oder an dem anhaltenden Wunsch oder an erfolglosen Versuchen, den Alkoholgebrauch zu verringern oder zu kontrollieren.

Ein körperliches Entzugssyndrom, wenn die Alkoholzufuhr reduziert oder abgesetzt wird, mit den alkoholtypischen Entzugssymptomen oder auch nachweisbar durch den Gebrauch von Alkohol oder einer sehr ähnlichen Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden.

Toleranzentwicklung gegenüber den Wirkungen des Alkohols. Für eine Intoxikation oder um den gewünschten Effekt zu erreichen, müssen größere Mengen Alkohol konsumiert werden, oder es treten bei fortgesetztem Konsum der gleichen Menge deutlich geringere Effekte auf.

Einengung auf den Alkoholgebrauch, deutlich an der Aufgabe oder Vernachlässigung anderer wichtiger Vergnügen oder Interessenbereiche wegen des Alkoholgebrauchs, oder es wird viel Zeit darauf verwandt, Alkohol zu bekommen, zu konsumieren oder sich davon zu erholen.

Anhaltender Alkoholkonsum trotz eindeutig schädlicher Folgen, deutlich an dem fortgesetzten Gebrauch, obwohl der Betreffende sich über die Art und das Ausmaß des Schadens bewusst ist oder bewusst sein könnte.

Liegt bei erhöhtem Konsum bisher keine Schädigung vor, wird ein riskanter Konsum angenommen. Sind weniger als drei der genannten Kriterien erfüllt, liegt nach ICD ein schädlicher Konsumstil vor. Sind drei Kriterien über mindestens einen Monat gemeinsam oder innerhalb von 12 Monaten wiederholt gemeinsam aufgetreten, liegt ein abhängiger Konsumstil vor. Die beiden Diagnosen »schädlicher Gebrauch« und »Abhängigkeit« schließen sich gegenseitig aus.

Die weitere diagnostische Spezifizierung ist möglich, wird aber in der Praxis uneinheitlich gehandhabt. So kann der Verlauf der Abhängigkeit beschrieben werden (kontinuierlich oder episodisch), das gegenwärtige Konsumverhalten in Abhängigkeit von den Bedingungen (gegenwärtig abstinent, in beschützender Umgebung, unter Einfluss von Anti-Craving-Medikamenten), Vorhandensein oder Abwesenheit körperlicher Symptome. Das ICD räumt auch die Möglichkeit eines remittierten Zustands bis hin zur Vollremission ein. Demgegenüber geht ein traditionelles Suchtverständnis vom Postulat der Irreversibilität der chronischen Abhängigkeit aus und leitet daraus die Abstinenz als einzig sinnvolles Therapieziel ab.

1.3Differenzialdiagnostische Überlegungen

Nach den Empfehlungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) in Hamm (Seitz, Bühringer u. Mann 2008) gelten folgende Richtwerte für einen sogenannten risikoarmen Konsum: Danach dürfen Männer durchschnittlich bis max. 24 g reinen Alkohol pro Tag zu sich nehmen, was etwa einem halben Liter Bier, einem Viertelliter Wein oder 2 Gläschen Schnaps entspricht. Für Frauen gilt jeweils die Hälfte dieser Mengenangaben. Dazu sollten zwei alkoholfreie Tage pro Woche eingelegt, kein Binge-Drinking (größere Mengen innerhalb sehr kurzer Zeit) praktiziert und Punktnüchternheit (z. B. am Arbeitsplatz, im Straßenverkehr) eingehalten werden. Alkoholkonsum sollte nicht zur Kompensation psychischer Belastungen funktionalisiert werden.

Geht es jedoch um eine differenzialdiagnostische Unterscheidung von »schädlichem Gebrauch« und einem »Abhängigkeitssyndrom«, wird die Sachlage schwierig.

Zentral für die Diagnosestellung, aber dennoch kaum eindeutig zu klären, ist die Zuordnung des Konsumverhaltens innerhalb dieses Kategoriensystems, somit die Entscheidung, ob ein diagnostisch relevantes Konsumverhalten vorliegt. Im Unterschied zu bspw. depressiven Störungsbildern oder Angsterkrankungen, einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer bipolaren Störung ist das eigentliche Symptomverhalten, das Trinken, für die Behandler nämlich nicht sichtbar und muss rekonstruiert werden. Das ICD-10 empfiehlt daher, neben den Patientenangaben, möglichst viele und unterschiedliche Informationsquellen hinzuzuziehen, wie z. B. Blutwerte, klinische Merkmale und/oder fremdanamnestische Informationen. Letztlich liegt die Deutungshoheit über die Unterschiedsbildung jedoch beim Patienten, wie das folgende Beispiel zeigt.

Ein jüngerer Patient, Mitte zwanzig, wurde in eine stationäre Entwöhnungsbehandlung aufgenommen. Nach ungefähr zwei Wochen wandte er sich an seine Bezugstherapeutin mit der Feststellung, er sei »falsch hier«: Er sei nicht alkoholabhängig (»die anderen haben ja viel mehr getrunken«), habe seinen Konsum unter Kontrolle und würde die Behandlung gerne beenden. Nochmals zu seinem Alkoholkonsum befragt, gab er an, an Wochenenden mit seinen Kumpels öfter mal bis zu fünf Bier getrunken zu haben. Während der Woche trinke er eher selten. Und wenn, dann bis zu zwei Bier. Die Überprüfung der Zustandsmarker bei Aufnahme ergab unauffällige Blutwerte. Den Selbstauskünften des Patienten zufolge bewegte er sich also an der Grenze zum riskanten Konsum. Der Patient wurde daraufhin entlassen, eine Abhängigkeitsdiagnose nicht gestellt. Im Zuge der anamnestischen Klärung (Fremdangaben) hatte sich herausgestellt, dass ein selbst alkoholabhängiger Onkel des Patienten bei diesem eine Abhängigkeit »diagnostiziert« hatte und ihn unter Druck gesetzt hatte, Kontakt zu einer Suchtberatungsstelle aufzunehmen. Da der Onkel langjähriges Selbsthilfegruppenmitglied und der Beratungsstelle als »trockener« Alkoholiker gut bekannt war, schenkte diese der »Verdachtsdiagnose« mehr Glauben als den Angaben des Patienten.

Unterzieht man jedes einzelne der sechs ICD-10-Kriterien einer genaueren Prüfung, wird schnell deutlich, wie schwierig es sein kann, Symptome zu operationalisieren bzw. deren Vorhandensein zu attestieren. Nach Feuerlein (1979) sind die Begriffe Sucht, Missbrauch und Abhängigkeit nicht trennscharf und deshalb »unzweckmäßig«. Auch sieht er sie der Einschätzung eines Diagnostizierenden unterworfen, von dem jedoch erwartet wird, dass er diese Unterscheidung innerhalb eines Krankheitskonzepts trifft, das klare Unterscheidungen verlangt und davon ausgeht, diese könnten objektiv getroffen werden (Emlein 1998).

1.4Diagnoseinstrumente

Die Folgewirkungen eines lang andauernden, übermäßigen Alkoholkonsums sind unbestreitbar – für das biologische, das psychische und das soziale System. Daher sollen im Folgenden unterschiedliche Diagnoseinstrumente Berücksichtigung finden.

1.5Screening-Verfahren

Zu den ersten institutionellen Stellen, an denen Personen mit so beschriebenem riskantem, missbräuchlichem oder abhängigem Konsum auflaufen, gehört die hausärztliche Praxis. Ungefähr »70 % der Menschen mit Alkoholproblemen haben mindestens einmal im Jahr Kontakt mit ihrem Hausarzt« (Zimmerer, Teyssen u. Singer 2011).

Es sind eher die indirekten organischen Begleiterscheinungen bzw. Folgeprobleme, die im Rahmen der hausärztlichen Behandlung relevant werden. Angesichts der vielfältigen alkoholassoziierten organischen Erkrankungen ist die Früherkennung von großer Bedeutung für den Erhalt oder die Wiederherstellung der Gesundheit des Patienten. Eine »Alkohol-Leitlinie« für die hausärztliche Versorgung (Berner et al. 2004) bietet Vorschläge für entsprechende Screening-Verfahren, die einem gestuften Vorgehen entsprechen und mit Aufgreifkriterien (Red Flags) beginnen. »Red Flags« sind Symptome bzw. Zeichen, die indirekt auf Alkoholgefährdung schließen lassen, wie Hautveränderungen, reduzierter Allgemeinzustand, Schwitzen, gerötete Augen, Zirrhosesymptome, Magenbeschwerden, Gangunsicherheit. Mediziner sehen sich dabei mit der Herausforderung konfrontiert, indirekte Anzeichen einer möglichen Suchtproblematik mit dem Patienten sensibel genug zu thematisieren, damit dieser sich nicht etikettiert oder stigmatisiert fühlt. Umso bedeutsamer ist, dass der Arzt das Vertrauen seines Patienten gewinnt und sich dieser entscheiden kann, einen möglicherweise vorhandenen problematischen Konsum offen anzusprechen.

Der CAGE-Test (Ewing 1984) gilt als ein allgemeines Screening-Verfahren, das in einem frühen Stadium ökonomisch und effizient eingesetzt werden kann, um eine erste Einschätzung bezüglich des Alkoholkonsumverhaltens zu ermöglichen. Dazu werden insgesamt 4 Fragen gestellt, die mit »Ja« oder »Nein« beantwortet werden müssen:

1) Haben Sie schon jemals daran gedacht, weniger zu trinken?

2) Haben Sie sich schon einmal darüber geärgert, dass Sie von anderen wegen ihres Alkoholkonsums kritisiert wurden?

3) Haben Sie sich jemals wegen Ihres Trinkens schuldig gefühlt?

4) Haben Sie jemals morgens als erstes Alkohol getrunken, um sich nervlich zu stabilisieren oder einen Kater loszuwerden?

Werden zwei oder mehr Fragen mit »Ja« beantwortet, liegt eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Alkoholmissbrauch oder Alkoholabhängigkeit vor. Sensitivität und Spezifität werden als gut beurteilt (Dhalla a. Kopec 2007), allerdings ist der CAGE-Test zur Aufdeckung riskanten Konsumverhaltens weniger geeignet.

In der S3-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften e. V. wird der Einsatz des AUDIT-Fragebogens (Babor et al. 1989) als sehr valide und reliabel über verschiedene Populationen, z. B. auch bei älteren und jüngeren Personen, empfohlen. Der AUDIT erfragt mit insgesamt 10 Items die Häufigkeit des Alkoholkonsums und die durchschnittliche Menge pro Konsum, den Konsumstil, die eigene Einschätzung der Problematik, konsumbedingte negative Folgewirkungen im Hinblick auf die Erledigung von Aufgaben, Entzugserscheinungen, Schuldgefühle, amnestische Ausfälle nach Konsum, Auto- und Fremdaggressivität sowie soziale Beziehungen. Auf einer 5-stufigen Antwortskala, die von 0 (nie) bis 4 (täglich oder fast täglich) reicht, müssen die befragten Personen ihre Selbsteinschätzung abgeben. Bei einem Scorewert von 8 (Empfehlung der WHO) liegt ein Verdacht auf eine alkoholbezogene Störung vor, je höher der Wert, umso größer die Wahrscheinlichkeit einer Abhängigkeit. Der kritische Bereich liegt zwischen 15 und 20.

Der Münchner Alkoholismustest (MALT) (Feuerlein et al. 1977) besteht aus einem Selbstbeurteilungs- (24 Items) und einem Fremdbeurteilungsteil (7 Items). In der Selbstbeurteilung beschreibt sich der Proband hinsichtlich seiner Trinkgewohnheiten, der subjektiv wahrgenommenen Auswirkungen seines Konsums sowie seines Umgangs damit. Der Fremdbeurteilungsteil wird durch den Arzt beantwortet und vierfach höher gewichtet. Zur Testwertbestimmung wird aus beiden Testteilen ein gemeinsamer Summenwert gebildet. Ein Summenwert von 6–10 spricht für Verdacht auf Alkoholabhängigkeit, bei 11 oder mehr Punkten kann von einer Alkoholabhängigkeit ausgegangen werden. Sensitivität und Spezifität werden als gut beurteilt (Soyka u. Küfner 2008).

Im Lübecker Alkoholabhängigkeits- und -missbrauchs-Screening-Test (LAST) (Rumpf, Hapke u. John 2003) sind insgesamt sieben Fragen zu beantworten, die sich auf den Umgang mit Alkohol, Folgewirkungen des Konsums und deren interaktionale Auswirkungen beziehen. Jede kritische Antwort wird mit einem Punkt gewertet. Bei einer Summe von 2 oder mehr Punkten liegt laut Autoren ein Alkoholmissbrauch oder eine Alkoholabhängigkeit vor.

1.6Mehrdimensionale Verfahren

Mehrdimensionale Verfahren werden am ehesten in stationären Einrichtungen im Rahmen von Testbatterien, häufig als Software eingesetzt und elektronisch ausgewertet.

Der Fragebogen zum funktionalen Trinken (FFT) (Belitz-Weihmann u. Metzler 1997) gruppiert insgesamt 93 Items in fünf Skalen. Vier Skalen sollen verschiedene Wirkungen des Alkoholkonsums erfassen: exzitative Wirkung, psychopharmakologische Wirkung, soziale Funktion, normausnutzendes Hintergrundtrinken. Die Skalen basieren auf Ergebnissen der sozial-kognitiven und lerntheoretisch orientierten Alkoholismusforschung, die den individuellen Verstärkerwert des Alkoholkonsums bei einem Mangel an Verhaltensalternativen herausstellen. Ein fünfter, zusätzlicher Skalenwert (Diskriminanzscore) soll die Probanden identifizieren, bei denen eine Alkoholproblematik vorliegt (Symptome psychischer und physischer Abhängigkeit). Laut Produktinformation zum Testverfahren soll der FFT mit einer Trefferquote von 95 % süchtig Trinkende von normal trinkenden Personen unterscheiden können.

Beim Kurzfragebogen zur Abstinenzzuversicht (KAZ-35) (Körkel u. Schindler 1996) handelt es sich um ein Instrument, das aus 35 Items besteht, die vier Skalen zugeordnet sind (unangenehme Gefühle, Gedanken an das Austesten der eigenen Kontrollmöglichkeiten, sozialer Druck, angenehme Gefühle). Zielgruppe des Fragebogens sind alkoholabhängig definierte Patienten, die eine Abstinenz anstreben. Der Fragebogen will die Zuversicht der Probanden testen, in Rückfallrisiko-Situationen Alkoholkonsum zu vermeiden. Die zugrunde liegende Annahme ist, dass die Kontrollerwartung einer Person einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob es tatsächlich gelingt, in einer bedrohlichen Situation abstinent zu bleiben.

Beim Alkoholabstinenz-Selbstwirksamkeitsfragebogen (AASE-G) (Bott et al. 2003) werden in 20 Items jeweils mögliche Rückfallsituationen vorgestellt. Zu jedem dieser Items wird der Proband gefragt, wie hoch er den Versuchungsgrad in dieser Situation, Alkohol zu trinken, einschätzt und wie groß er die eigene Zuversicht einschätzt, in der jeweiligen Situation nicht zu trinken. Beide Skalen haben wiederum jeweils vier Subskalen: negativer Affekt, positive bzw. angenehme soziale Situationen, körperliche Beschwerden, Schmerzen oder Sorgen, Craving und Entzugserscheinungen. Dem AASE-G wird eine gute Reliabilität und Validität bescheinigt.

Das transtheoretische Modell der Veränderung (Prochaska a. Di-Clemente 1984) beschreibt fünf bzw. sechs Phasen (»Stages of Change«), die Menschen bei Veränderungsprozessen durchlaufen. Dieses Modell erfreut sich im Suchtbereich großer Beliebtheit. Angelehnt an dieses Modell ist die »Stages of Change Readiness and Treatment Eagerness Scale (SOCRATES)« (Wetterling u. Veltrup 1997). Die Skala soll mittels 19 Items eine Einschätzung des Problembewusstseins und der Verände-rungs- und Behandlungsbereitschaft eines Patienten erlauben.

1.7Medizinische Indizes

Indirekte Zustandsmarker für Alkoholkonsum spiegeln Veränderungen wider, die durch den Alkohol und seine Begleitstoffe verursacht werden. Theoretisch können aber auch andere Ursachen für diese Veränderungen verantwortlich sein, jedoch mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit. Dafür ist die Nachweisdauer dieser Marker wesentlich länger (Wochen bis Monate). Als indirekte Marker sind Gamma-GT, MCV und CDT gebräuchlich.

Gamma-GT (g-Glutamyltranspeptidase): Bei der g-GT handelt es sich um ein im Serum nachweisbares Glykoproteinenzym, das in dieser Form fast vollständig aus der Leber stammt. Erhöhungen der Serum-Enzymaktivität sind ein Indikator für krankhafte Prozesse in der Leber.

MCV (mittleres korpuläres Volumen): Der MCV-Wert erhöht sich durch lang anhaltenden, chronischen Alkoholkonsum, sodass es 2–4 Monate dauert, bis sich der Wert wieder normalisiert hat.

CDT (kohlenhydratdefizientes Transferrin): Dieser Wert erfasst sogenannte Isoformen des Transferrins, deren Anteil ansteigt, wenn die Leber konstant unter Alkoholeinfluss steht. Ein Anstieg des Wertes ist zu verzeichnen, wenn an mindestens 7–10 aufeinanderfolgenden Tagen mindestens 50–80 g Alkohol konsumiert werden. Somit führt ein kurzfristiger Konsum nicht zu erhöhten Werten, wohl aber ein chronischer Missbrauch. Bei hoher Spezifität und hoher Sensitivität gilt dieser Wert als der zurzeit zuverlässigste Marker für lang anhaltenden missbräuchlichen Alkoholkonsum. Insbesondere eignet sich der CDT-Wert zum Nachweis von Rückfällen, nachdem bei stabiler Abstinenz wieder Normwerte erreicht wurden.

g-CDT: Der Kombination aus g-GT und CDT wird die höchste Spezifität und Sensitivität bescheinigt. Dieser Wert wird nach einer mathematischen Formel aus den beiden Einzelwerten berechnet und kann auch zur Abstinenzkontrolle eingesetzt werden, nachdem bei Abstinenz die Werte im Normbereich liegen (Singer, Batra u. Mann 2010).

1.8Epidemiologie und Prävalenz

Nach den Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (2015) im »Jahrbuch Sucht« liegt der durchschnittliche Alkoholkonsum in Deutschland mit knapp 10 l seit 2007 auf einem konstanten Niveau. In der Rangliste der WHO für den Pro-Kopf-Verbrauch hielt Deutschland im Jahr 2010 Platz 23 von insgesamt 190 Ländern. Die Hälfte des Alkohols wird in Form von Bier, ein Viertel in Form von Wein, ein Viertel in Form anderer Getränke (davon immerhin knapp 20 % Spirituosen) konsumiert. Legt man die derzeit gültigen Grenzwerte für riskanten Konsum zugrunde (bis 12 g Alkohol täglich für Frauen, bis 24 g täglich für Männer), dann konsumieren etwa 10 Mio. Menschen in Deutschland mindestens riskant. Bei 3,38 Mio. Erwachsenen ist entweder von einem Missbrauch (1,61 Mio.) oder von einer Abhängigkeit (1,77 Mio.) von Alkohol auszugehen. Tendenziell wird über alle Altersgruppen hinweg in höheren sozialen Schichten mehr Alkohol konsumiert (Hapke, Hanisch u. Ohlmeier 2009). In der Gruppe der jugendlichen Konsumenten (zwischen 10 und 20 Jahren) wird insgesamt weniger Alkohol getrunken. Aber: Die Gruppe der Jugendlichen, die regelmäßig trinken, konsumiert mehr und zeigt einen riskanteren Konsumstil, was sich in der Zahl der Notaufnahmen der 15- bis 20-jährigen Konsumenten niederschlägt (Statistisches Bundesamt 2015). Eine weitere Risikogruppe stellt die Gruppe zwischen 45 und 55 Jahren dar, die neben den 15- bis 20-Jährigen die meisten vollstationären Krankenhauseinweisungen nach akutem Rausch verursachen.

Die volkswirtschaftlichen Folgekosten belaufen sich auf knapp 27 Mrd. Euro, im Vergleich dazu werden durch alkoholbezogene Steuern etwas mehr als 3 Mrd. Euro eingenommen. In alkoholbezogene Werbung wird jährlich mehr als eine halbe Mrd. Euro investiert. In Deutschland sterben pro Jahr etwa 74.000 Menschen an den direkten Folgen des Alkohol- bzw. Alkohol- und Tabakkonsums (John a. Hanke 2002). Eine alkoholbezogene Störung ist bei vollstationär behandelten männlichen Patienten die häufigste Diagnose in deutschen Krankenhäusern. Insgesamt 17.619 Patienten (12.572 Männer, 5.047 Frauen) nahmen 2013 vollstationäre Rehabilitationsangebote wahr, was gerade einmal knapp 1 % der 1,77 Mio. als alkoholabhängig geschätzten Erwachsenen ausmacht (Statistisches Bundesamt 2015). Damit liegt Alkoholabhängigkeit an fünfter Stelle der Häufigkeit vollstationärer Behandlung psychischer Störungen, hinter depressiven Erkrankungen und Belastungsreaktionen.

Innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Kontextes kann der als riskant, missbräuchlich und abhängig diagnostizierte Alkoholkonsum hinsichtlich der Schäden für die Betroffenen und der kontextuellen Auswirkungen als relevantes Problem bezeichnet werden. Demgegenüber steht die relativ geringe Inanspruchnahme institutionalisierter Hilfsangebote. Diese Diskrepanz deutet einerseits auf Probleme der Früherkennung und Frühintervention, andererseits auf das Fehlen passgenauer Behandlungsangebote und -strukturen für die jeweiligen Zielgruppen hin.

1Unter das »amnestische Syndrom« fällt das Korsakow-Syndrom, unter »Restzustand« werden anhaltende kognitive Beeinträchtigungen gefasst.

2Klassische Konzepte zur Alkoholabhängigkeit

2.1Psychoanalyse

Unter psychoanalytischen Gesichtspunkten lassen sich vier verschiedene Erklärungsmodelle für eine Alkoholabhängigkeit beschreiben (Rost 1987; Bilitza 2003, 2008, 2012).

Die historisch älteste Erklärung stellt das sogenannte Triebmodell dar. Dabei wird das süchtige Verhalten als eine regressive Antwort auf einen Triebkonflikt verstanden. Triebkonflikte entstehen z. B. durch miteinander konkurrierende innere Triebregungen oder durch Triebimpulse, die im Widerspruch zu den Anforderungen der Umwelt stehen. Die daraus resultierende Unlust wird auf die orale Stufe der menschlichen Entwicklung zu vermeiden bzw. zu kompensieren versucht. Der Alkoholkonsum als eine Form dieser oralregressiven Dynamik ermöglicht ein Rauscherleben, das narzisstisch gefärbte, omnipotente Erlebensmöglichkeiten begünstigt und in einem sich wiederholenden regressiven Prozess das süchtige Trinken einspurt (Rost 2003).

Beim Ich- und strukturpsychologischen Modell wird das süchtige Verhalten als unbewusster Versuch verstanden, Defizite in der Persönlichkeit auszugleichen bzw. zu behandeln. Das süchtige Trinken stellt einen Selbstheilungsversuch dar, mit dem die dem süchtigen Verhalten zugrunde liegende Problematik – Defizite bei der Affekt- und Impulskontrolle in Kombination mit einer niedrigen Frustrationstoleranz – reguliert wird. Das abhängige Trinken dient dann dem Schutz vor Ängsten, Schmerzen und depressiven Erleben und übernimmt dadurch Ich-Funktionen, die als defizitär erlebt werden (ebd.).