ISBN: 978-3-95428-661-4
1. Auflage 2016
© 2016 Wellhöfer Verlag, Mannheim
Titelbild: Michail Krausnick unter Verwendung eines zeitgenössischen Stiches und eines Bildes von Friedrich Rottmann
Bildnachweis: S.8 Privatbesitz Familie Pfister; S.15 Privatbesitz Dr. Jürg Wille; S. 19, 26, 39, 56, 76, 83, 90, 146, 166 aus Ludwig Pfister: »Aktenmäßige Geschichten der Räuberbanden«, Heidelberg 1812. Von Friedrich Rottmann stammen die Bilder auf der Titelseite sowie auf S. 34, 127, 131, 136, 146 (Originale im Kurpfälzischen Museum, Heidelberg); die Bettler-Zinken auf S. 200 u. 2001 aus »Schurke oder Held?«, Katalog Badisches Landesmuseum, Karlsruhe 1995; weitere zeitgenössische Abbildungen aus Druckwerken der Zeit; Karten und Fotos aus dem Archiv des Autors.
Lektorat: Nicole Fieber
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Erstmals erschienen 1978 im Rowohlt Taschenbuch Verlag.
»Wir sind notwendig. Gott gibt uns das Dasein, schickt uns in die Welt, auf dass wir die Geizigen, die ungerechten Reichen bestrafen: wir gestalten uns zu einer von Gott ausgehenden Plage. Wozu sollten auch die Richter dienen, wenn wir nicht wären?«
Damian Hessel, ein 1809 verurteilter Räuber im Gespräch mit dem Instructionsrichter
»Es ist schimpflich, eine Börse zu leeren, es ist frech, eine Million zu veruntreuen, aber es ist namenlos groß, eine Krone zu stehlen. Die Schande nimmt ab mit der wachsenden Sünde.«
Räuberexperte Friedrich Schiller (Fiesko)
Ludwig Aloys Pfister, Stadtdirektor von Heidelberg (Porträt von Gotthelf Leberecht Gläser)
Dr. Ludwig Aloys Pfister, seit 1810 Untersuchungsrichter und Stadtdirektor von Heidelberg, schrieb »Aktenmäßige Berichte« über die Räuberbanden und genoss als Kriminalist einiges Ansehen. 1819 verlor er das Vertrauen der Heidelberger Bürger, ihm wurde »Bestechlichkeit, Despotismus und überhebliches Verhalten« vorgeworfen. Daraufhin wurde er vom Großherzog von Baden entlassen.
Theophor Dittenberger, evangel. Stadtpfarrer, der zusammen mit Kirchenrat Wolf und Kaplan Holdermann die zum Tode Verurteilten auf die Hinrichtung vorbereitete. Gemeinsam schrieben die drei Seelsorger einen »Bericht über das Verhalten ...« der Hingerichteten an ihren letzten Lebenstagen. Dittenberger war für Mannefriedrich und Andreas Petry zuständig.
Georg Philipp Lang, Spitzname: »Hölzerlips«
Philipp Friedrich Schütz »Mannefriedrich«
Sebastian Lutz »Basti«
Andreas Petry »Köhlers Andres«
Valentin Krämer »Veit« ... sind die fünf als »Hemsbacher Raubmörder« zum Tode verurteilten Räuber ein sechster, der »lange Andres«, konnte nie gefasst werden.
Johann Wild »Schwarzer Peter«, alias Peter Petry ... ehemaliges Mitglied der Schinderhannesbande, hielt sich als Köhler im Odenwald versteckt. Vater von Andreas Petry, seine Tochter Margaretha war die Geliebte des Basti.
Mathias Österlein »Krämer Mathes« ... nicht am Hemsbacher Überfall beteiligt, wurde wegen anderer Straßenräubereien und Diebstähle zum Tode verurteilt.
Ich verließ Weinheim gegen 1 Uhr nachts. Wie gewöhnlich hatte ich in dieser unheilvollen Nacht den Postsack nach Heppenheim zu bringen. Es wurde, da sich der Mond verzog, immer dunkler, so dass ich schon in Hemsbach kaum noch den Weg erkennen konnte. Plötzlich aber, da ich mich schon dem Ort Laudenbach näherte, hörte ich eine menschliche Stimme wimmern: »Ach Gott, ach Gott! O wehe!«
Zuerst dachte ich, es wäre ein Unglück geschehen, vielleicht ein Reisewagen umgestürzt und in den Straßengraben gefallen, ging also näher in die Richtung des Jammernden, um gegebenenfalls Hilfe zu bringen. Mit einem Male aber hörte ich ein barsches Rufen: »Geld her oder ich schieße!«, während andere Stimmen schrien: »Durchsucht sie! Zieht sie aus!« Gleichzeitig hörte ich ein fürchterliches Gepolter von fallenden Schlägen, das Geschnaube der Pferde und ein jämmerliches Gezeter: »Ach, lasst uns nur leben! Wir wollen euch ja alles, alles geben, was wir haben!«
Aus Furcht vor der Übermacht der Bösewichter drehte ich um und ritt, so schnell ich konnte, zurück nach Hemsbach und bin mir nunmehr ganz sicher, dass es die gefährlichen Räuber aus dem Odenwalde waren!
Ich ließ sogleich Alarm läuten! Die Bürger eilten zusammen, wir bildeten eine Streifmannschaft, holten Laternen und machten uns sogleich auf den Weg in Richtung Laudenbach. Auch unseren Chirurgus ließ ich rufen, falls ärztliche Hilfe vonnöten wäre. Wir waren kaum auf der Bergstraße, als uns schon ein Postillon mit einer leeren Kutsche entgegenkam. Wir fragten nach seinen Reisenden, er stammelte aber nur: »Sie haben uns überfallen, ausgeplündert und geschlagen! Die Passagiere wurden mit Prügeln aus dem Wagen gezerrt und ins Feld gerissen. Ob sie noch leben, weiß ich nicht, es war nichts mehr zu hören und sehen in der Dunkelheit.«
Ich befahl den Postillon, da er verletzt war und vom Blute troff, in den Gasthof des Straußenwirtes. Die Streifmannschaft setzte unverzüglich ihren Weg fort und schon nach kurzer Zeit bot sich unseren Augen ein Bild des Jammers: Die beiden Reisenden in ihren blutigen, zerrissenen Kleidern schleppten sich uns ächzend und stöhnend entgegen, indem sie sich gegenseitig stützten und führten. Während ein Teil der Streife die Suche nach den Verbrechern aufnahm, brachten wir die Bedauernswerten in das Wirtshaus, wo sie von unserem Wundarzte sogleich verbunden wurden. Dabei stellte sich heraus, dass es sich um zwei von der Frankfurter Ostermesse heimreisende Kaufleute handelte: Rudolph Hanhart aus Zürich, 32 Jahre alt, verheiratet, und Jacob Rieter aus Winterthur, 45 Jahre alt, verheiratet, Vater von sechs Kindern.
»Dieser ist so hart geschlagen worden«, erklärte mir der Chirurgus, während er dem Rieter einen Kopfverband anlegte, »dass ich Gefahr für sein Leben befürchten muss. Der andere Kaufmann und der Postillon haben auch Schläge erhalten, doch nicht so brutal und gefährlich. Ich halte es für notwendig, den Doktor aus Weinheim mit stärkenden Mitteln zu rufen.«
Mittlerweile war es Tag geworden und die Streifkommandos kehrten in den Ort zurück. Leider war ihre Suche nur von geringem Erfolg gekrönt. So hatten sie ein Corpus Delicti, einen dicken, blutbefleckten Knüppel aus Buchenholz, insgesamt vier Schuh lang, am Tatort aufgefunden, dazu die mit einem Stemmeisen aufgebrochenen Koffer und Kisten sowie verstreute Kleidungsstücke und Gegenstände. Später entdeckte eine zweite Streife in den Feldern nahe der Chaussee Fußtritte und Spuren, die zunächst in die Weinberge, dann aber in den Odenwald hinaufführten, wo sie sich auf dem Waldboden jedoch verloren. Auch eine frische Feuerstelle wurde gefunden, am so genannten Thaläcker Weg, unweit von Laudenbach, und ebendort ein zweiter blutbefleckter Knüppel.
Am darauf folgenden Tage übernahm der Oberamtmann von Weinheim die kriminaltechnische Untersuchung und befragte die Tatzeugen.
Wir schliefen beide im Wagen, als uns plötzlich ein starkes Gepolter aus dem Schlummer riss. Der Wagen wankte, ächzte und schaukelte hin und her, so wie ein Schiff auf stürmender See. Endlich hielt er stille und ich versuchte hinauszuspringen, erhielt aber im selben Moment einen harten Knüppelschlag auf den Kopf, von welchem ich eine schlimme Gehirnquetschung erlitt. Besinnungslos taumelte ich in den Straßengraben und kam erst, nachdem bereits alles vorüber war, wieder zu mir. Da hörte ich den Herrn Rieter gar kläglich winseln und stöhnen, so dass ich zu ihm kroch, ihn aufrichtete und auf die Chaussee schleppte, wo uns die Streife aus Hemsbach antraf. Meine Taschen waren leer, meine Kleider zerrissen und an den Fingern fehlten die Ringe. Weiter weiß ich nichts zu sagen.
Dem Opfer des Überfalls wurde ein würdiger Grabstein gesetzt, der noch heute an der Heidelberger Peterskirche zu finden ist. Die Inschrift lautet: »Dem ehrbaren Handelsmann Hans Jacob Rieter aus Winterthur in der Schweitz. Er starb am 5. Mai 1811 an seinen Wunden von Räuber Hand geschlagen. Tief betrauert von Allen die ihn kannten.«
Es waren wohl zehn bis zwölf Räuber, die über uns herfielen. Einige trugen blaue Jacken, andere dunkle Mäntel.
Nichtsahnend fuhr ich gerade meines Weges, als plötzlich aus den Hecken von beiden Seiten der Chaussee her zwei wilde Kerls hervorsprangen und meinen Pferden in die Zügel fielen, um sie anzuhalten. Als ihnen das gelungen war, zogen zwei andere Burschen mich vom Kutschbock herunter und schlugen auf mich ein, wie ja die Wunde in meinem Gesicht und auch die Blutflecken in meinen Kleidern beweisen.
»Wenn du nicht stille haltest, schlagen wir dich tot!«, brüllte einer, als ich flehend darum bat, mich doch gehen zu lassen, weil ich selbst nur ein einfacher Mann und ohne Vermögen bin.
Meine beiden Reisenden waren derweil aus der Kutsche herausgesprungen und wollten davonlaufen, wurden aber schon nach wenigen Schritten eingeholt und, obwohl sie sehr lamentierten und alles freiwillig hergeben wollten, endlich zusammengeschlagen. Die Räuber durchwühlten die Kutsche, warfen die Sitzkissen heraus und brachen mit einem schweren Eisen die Truhen und Wagenkästen auf. Sie nahmen, was ihnen raubenswert erschien, schnürten es in Bündel und machten sich rasch wieder davon.
Dies alles hatte nur kurze Zeit gedauert, und plötzlich war ich mit meiner Kutsche und den Pferden allein in der Finsternis, denn von den Reisenden hörte und sah ich nichts mehr. Ich rief mehrmals: »Meine Herren, sind Sie noch da?« aber keiner gab Antwort. Da schauderte mir und ich hielt sie beide für tot. Eilig fuhr ich also gen Hemsbach, um Anzeige zu machen, als mir schon die Laternen des Streifenkommandos entgegen leuchteten. So weit die Protokolle des Amtes Weinheim.
Der Heidelberger Stadtdirektor Dr. Ludwig Pfister, der von jetzt an die Untersuchung übernahm, berichtet über den Fortgang der Ermittlungen:
Am folgenden Tage wurde der schwer verletzte Kaufmann Rieter auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin und mit aller nur erdenklichen Vorsicht nach Heidelberg transportiert. Dort wurde er sofort der Behandlung mehrerer berühmter und allgemein verehrter Ärzte übergeben. Es geschah an ihm alles, was Wissenschaft und ärztliche Kunst nur vermochten allein, es war zu spät! Es war alles alles vergebens! Der schwer verwundete Handelsherr Jacob Rieter aus Winterthur verstarb am 5. Mai morgens um 11 Uhr.
An dieser Stelle muss ich eine vom Amte Weinheim vertretene Behauptung mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Nach Aussage des behandelnden Wundarztes nämlich hätte sich Rieter vor seiner Reise nach Heidelberg noch munter und gestärkt gezeigt und hätte sich erst auf dem fünfstündigen Transporte weitere Erschütterungen des Gehirns und eine womöglich todbringende Influenza zugezogen. Dazu muss bemerkt werden:
1. Das Großherzoglich Badische Hofgericht zu Mannheim hatte diesem Transport ausdrücklich zugestimmt.
2. Er erfolgte bis Weinheim in einer Sänfte, von dort bis Heidelberg in einer gut hängenden Chaise auf ebener Chaussee. Rieter lag dabei wohl verpackt, also geschützt vor der ungünstigen Witterung, in seinem Bettzeug.
Wozu also die hämisch klingenden Bemerkungen des Amtes Weinheim? Hegt man dort etwa Sympathien für die Verbrecher?
Um aber ganz sicherzugehen, ordneten wir eine anatomische Sektion und Untersuchung des Leichnams an. Befriedigt können wir registrieren, dass das ärztliche Gutachten unsere Auffassung bestätigt, nach welcher der Kaufmann Rieter durch Räuberhand zu Tode kam. Bei der Obduktion wurde unzweifelhaft festgestellt, dass er eine vulneratio absolute letalis, eine schlechterdings tödliche Verwundung erlitten hatte. Danach scheint es nun gerechtfertigt, fürderhin nicht mehr bloß von einem Überfalle, sondern von einem Morde und damit auch von Raubmördern zu sprechen.
Als Erstem wenden wir uns Veit Krämer zu.
Hört itzt mir zu, ihr liebe Leut’,
Was kürzlich ist geschehen
Von einem Mann, man nennt ihn Veit,
Der’s Spielen tät verstehen:
Zuerst mal mischte er die Kart’
Auf eine ganz besondre Art.
Dann lud er zu dem Spiele sein
Viel Leut’ aus andern Ländern ein.
(Aus dem Kartenspiel-Lied des Mannefriedrich)
Kurz nach der Beerdigung des verblichenen Kaufmanns, dem unsere Heidelberger Bürgerschaft, vor allem aber die Handelsleute und Honoratioren in feierlicher Stille ein letztes Geleit gegeben hatten, erhielten wir eine erfreuliche Nachricht aus dem Großherzogtum Hessen: In den Babenhausener Wäldern war nämlich eine Rotte wilder Burschen, liederlicher Weibsleute und verwahrloster Kinder beobachtet worden, die sich mit ihren Körben und Bündeln im Grase einer Lichtung um eine Feuerstelle gelagert hatten. Sogleich versammelten sich die Bauern der Umgegend mit Knüppeln und Gewehren, bildeten ein Streifenkommando und griffen rasch und tapfer an.
Die Gaunerfamilien aber ließen in ihrem Schreck alle Habe im Stich und flüchteten in die finsteren Wälder. Nur einer von ihnen konnte zu guter Letzt noch eingefangen werden: ein äußerst verdächtiges Individuum, das sich Valentin Schmitt nannte.
In den von den Gaunern zurückgelassenen Bündeln entdeckte man etliche Kleidungsstücke und Wertgegenstände, die anhand unserer Listen zweifelsfrei als Diebesgut aus dem Hemsbacher Raube identifiziert werden konnten. In den Taschen des gefangenen Gauners fand man ein kostbares Etui und eine Münze, einen Doppel-Louisdor. Schon bald gelang es dem Peinlichen Richter, Herrn Brill aus Darmstadt, der sich mit dem rühmlichsten Eifer der Sache annahm, den Gefangenen zu einem Geständnis zu bewegen: Er gab zu, der in den Gaunerlisten gesuchte Straßenräuber und Dieb Valentin (Veit) Krämer zu sein, und erklärte, dass sein silbernes Etui von einem Überfall bei Hemsbach her stamme.
Diese Nachricht, die wir durch einen reitenden Boten erhielten, beflügelte uns so sehr, dass wir sogleich die Auslieferung des Veit Krämer an das Stadtamt Heidelberg beantragten. Zugleich ersuchten wir den Handelsmann Hanhart, bis zum Eintreffen des Verdächtigen am Neckarstrande zu verweilen und an den Verhören teilzunehmen.
Zwei Tage später war es soweit: Veit Krämer wurde in das Heidelberger Gefängnis überbracht. In seiner Begleitung fand sich noch ein weiterer Vagant, welcher sich Johann Wild nannte, mit seiner Frau und einem siebenjährigen Buben. Diese ebenfalls sehr verdächtige Gaunerfamilie war von den wachsamen Einwohnern des hessischen Dorfes Sickenhofen aufgespürt und überwältigt worden. Ein nicht unbedeutender Fang, wie sich im weiteren Verlaufe der Untersuchung herausstellen sollte.
Doch zuvor sei uns ein kurzer Einschub gestattet, denn neben manchem großen Fisch, wie dem schon lange gesuchten Mathias Österlein (welcher zu Hemsbach allerdings nicht beteiligt war), zappelte bald ein ganzes Meer von kleinen Fischen in unseren weit gespannten Netzen.
Bei unserer groß angelegten Räuberjagd quer durch den ganzen Odenwald, den Spessart und auch in der Wetterau wurden die Vaganten und Gauner in ihren Schlupfwinkeln und Verstecken aufgeschreckt, viele flohen womöglich ganz aus unserem Gebiete. Trotzdem füllten sich unsere Gefängnisse in einem bislang nie gekannten Maße und wir hatten manche schlaflose Nacht, da wir nicht wussten, wie wir all dem vagierenden Gesindel ein sicheres Gewahrsam verschaffen sollten. An einem einzigen Tage waren es sogar mehr als neunzig solcher verworfenen Geschöpfe und wir mussten etliche von ihnen nach Mannheim, Bruchsal und Leimen weiter verschieben.
Wohl selten hatte unsere weltberühmte Stadt solch illustre Gäste. Mäuse- und Maulwurfsfänger, Kesselflicker, Knopfhändler, Scherenschleifer, Taschenspieler, Seiltänzer, Märchenerzähler, Lotterieverkäufer und entlaufene Priester, Deserteure, Krüppel, Betteljuden, Hochstapler, Marktdiebe und Zigeuner gaben sich ein Stelldichein in unseren Mauern und auch ihre Frauen und Beischläferinnen genossen die Heidelberger Gastlichkeit: Wahrsagerinnen, Wäscherinnen, entlaufene Dienstmägde, Diebsgenossinnen, Dirnen, die ihre Liebesdienste an die Männer verkauften, aber auch arme Vagantenfrauen, die sich durch Betteln, Spinnen, Korbflechten und Gelegenheitsarbeiten auf den Feldern und in den Bauernhäusern redlich zu ernähren suchten.
Dies ist die unterste Menschenklasse, der Bodensatz, in dem das Verbrechen wächst. Nur wenige von ihnen konnten als wirkliche Diebe und Räuber erkannt werden. Dennoch muss man viele dieser vagierenden Menschen als kochem ansehen, als Vertraute, Hehler, Wirte und Helfershelfer der Gauner. Es kann, so lesen wir in den »Allgemeinen Justiz- und Polizeiblättern« von 1812, keine Feder beschreiben, wie sehr seit den letzten Kriegsjahren die Zahl der Entwurzelten und Arbeitslosen, der demoralisierten Menschen, Bettler, Vaganten, Diebe, Räuber und Mörder zugenommen hat, so dass fast jeder Hausbesitzer, der noch etwas zu verlieren hat, sein Haus wie eine im Belagerungszustand erklärte Festung zu schützen versucht.
Tatort zwischen Laudenbach und Hemsbach an der Bergstraße und der Winterhauch bei Eberbach, das Rückzugsgebiet der Vaganten um Hölzerlips
Als schließlich die Menge der Vaganten all unsere Gefängnisse zu überfluten und die Untersuchungen ins Unendliche zu ziehen drohte, beantragten wir eine Sonderkommission einzusetzen, welche die Verhöre gegen die harmloseren Gauner und Vaganten in den Mannheimer Gefängnissen durchführen sollte. Unserem Antrage wurde allergnädigst stattgegeben, so dass wir uns nunmehr wieder ungeschmälert der Hauptsache, nämlich dem Raubmord zwischen Laudenbach und Hemsbach und somit den wirklichen und gefährlichen Verbrechern, widmen konnten.
Zunächst hielten wir uns an Veit Krämer.
Er ist 22 Jahre alt, im Fuldischen gebürtig und ein Sohn des berüchtigten Zunder-Albert, welcher als fahrender Händler durch die Lande zog. Veit wurde schon früh zum Gaunerleben erzogen; er hat nie eine feste Wohnstätte gehabt. Schon in seinem fünfzehnten Jahre wurde er von seinem Vater zu Einbrüchen mitgenommen und teilte mit ihm die Beute. Zuletzt zog er mit zwei Weibsleuten namens Selser, welche als Bänkelsängerinnen die Messen und Jahrmärkte besuchten, durch die Lande. Beide Frauen sind lebhafte, stets muntere Geschöpfe, die mit ihrem Gesange das zu verdienen suchten, was Veit entweder nicht verdienen konnte oder vertrunken hatte.
Veit Krämer gestand in Heidelberg noch einmal seine Beteiligung am Hemsbacher Raube, während Kaufmann Hanhart seinen Besitz unter den eingelieferten Wertgegenständen wieder erkannte. Um nun ein umfassendes Geständnis zu erhalten, überraschten wir Veit Krämer mit der Mitteilung, dass der zweite Kaufmann an den Folgen des Überfalles gestorben war, so dass er nicht nur als ein Dieb, sondern auch als Mörder vor dem Gerichte stehe.
Unsere Rechnung ging auf, denn mit einem Male begann dieser wilde, steckbrieflich gesuchte Bösewicht wie ein Kind zu weinen und sagte, er habe es nicht gewollt.
»Das lässt sich hinterher leicht sagen«, entgegneten wir. »Aber es ist ja keineswegs Euer einziges Verbrechen, nicht wahr?« »Es ist mir dieses eine Mal schon zu viel. Ich wollte, ich hätte mir ein Bein gebrochen, ehe es dazu kam.«
»Durch ein freimütiges Geständnis«, wandten wir ein und nutzten die augenblickliche Rührung, »kann man zwar den Toten nicht wieder zum Leben erwecken, aber das Gewissen beruhigen und der Gerechtigkeit einen Dienst erweisen.«
Veit Krämer, das sollte sich bald herausstellen, zählt zu jenen Menschen, die, wie man sagt, ihr Herz auf der Zunge führen. Sein Charakter scheint zwar ein Übermaß von Leichtsinn, aber auch ein großes Stück Gutmütigkeit, vielleicht sogar Schwäche zu enthalten. Er kann einer ernstlichen Ermahnung nicht lange, einer gütigen, freundlichen Behandlung aber überhaupt nicht widerstehen.
»Eine Gerechtigkeit kenne ich nicht und auch kein Gewissen. Es soll aber alles herauskommen, weil wir das so nicht gewollt haben. Außer mir waren noch dabei: der Basti, Köhlers Andres, Hölzerlips, der lange Andreas und der Mannefriedrich.« Danach gab uns Veit Krämer eine ausführliche Schilderung des Raubüberfalles und beschrieb das Aussehen und die näheren Verhältnisse seiner Gefährten. So wurde Veit Krämer zu unserem Hauptzeugen, und seiner Wahrheitsliebe haben Hunderte von Gaunern und Vaganten ihre Festnahme, viele sogar ihren Tod zu verdanken.
Wir ließen Veit Krämers Geständnis sowie die Signalements der Mitschuldigen sogleich tausendfach in Druck geben und durch reitende Boten auf dem schnellsten Wege an alle benachbarten und ferneren Regierungen und Ämter ausliefern. Schon am nächsten Tage waren die Steckbriefe der gesuchten Räuber nahezu im gesamten badischen Lande bekannt.
Eine erste Nachricht erreichte uns aus Zwingenberg am Neckar. Ein großherzoglich-hessischer Soldat hatte schon vor Tagen im Höllengrunde bei Strümpfelbronn etliche Kerls mit verdächtigen Bündeln und Taschen beobachtet.
Gemeinsam mit den Bauern der Umgegend war es dem Soldaten gelungen, einen der Kerls herauszugreifen und in das Gefängnis zu bringen. Die anderen waren davongerannt. Der Gefangene, der sich Schütz nannte, wurde vom Amtmann zu Zwingenberg verhört, leugnete aber standhaft. Er kenne keinen der anderen. Das kostbare Hemd mit dem fremden Namenszeichen, das er am Leibe trug, habe er von den Entflohenen gekauft. Sofort hatten wir den allerdringendsten Verdacht und beantragten die Auslieferung. Leider aber konnte uns das Amt Zwingenberg nur noch das seidene Hemd übersenden, der Gefangene nämlich hatte sich, kein Mensch weiß wie, aus Ketten und Kerker befreien können.
»Das war der Mannefriedrich!«, lachte Veit Krämer, als wir ihn befragten. »Von dem wird keiner ein Wort erfahren. Der schweigt wie ein Grab. Das Hemd aber war sein Beuteanteil aus dem Kutschenraub von Hemsbach. Wir haben redlich geteilt.«
Der schwarze Peter und die Hölzerlipsbande in Ketten
Dienstag, 28. Juli 1812
In Übereinstimmung mit meinen Kollegen, Kaplan Holdermann und Kirchenrat Wolf, halte ich es für meine Pflicht, schon heute zur Feder zu greifen und meinen wahrhaftigen Eindruck von dem sittlichen und religiösen Verhalten der zu Heidelberg gefangenen Verbrecher während ihrer letzten Lebenstage in Form eines Tagebuches niederzuschreiben.
Schon am vergangenen Sonntag, dem 26. Juli, verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, dass Seine Königliche Hoheit, der Großherzog von Baden, das Todesurteil über die Raubmörder
Sebastian Lutz vulgo Basti
Andreas Petry vulgo Köhlers Andres
Philipp Friedrich Schütz vulgo Mannefriedrich
Georg Philipp Lang vulgo Hölzerlips
Mathias Osterlein vulgo Krämer Mathes
Valentin Krämer vulgo Veit
allergnädigst bestätigt habe. Noch in derselben Woche, so hörten wir, solle das Urteil auf dem Marktplatze öffentlich verkündet und unmittelbar darauf vor dem Mannheimer Tore durch den Scharfrichter vollzogen werden.
Doch erst am Montag wurden wir aus der quälenden Ungewissheit entlassen. In der Mittagsstunde bat uns Herr Stadtdirektor Pfister, der bekannte Räuberfänger und Untersuchungsrichter, in das Rathaus, um sich – im Vertrauen noch – mit uns über die feierliche Prozedur und unsere Aufgaben dabei zu besprechen. Der feine Menschenkenner hatte eine spezielle Taktik entwickelt: »Wir wollen die Delinquenten in würdiger Weise auf ihre Exekution vorbereiten. Zunächst empfehle ich deshalb den Seelsorgern, sich noch zurückzuhalten und der Verlesung der Todesurteile fernzubleiben. Ich werde Ihnen Mitteilung geben, sobald sich die erregten und vielleicht verzweifelten Gemüter besänftigt haben. Auch werde ich Sorge tragen, dass die katholischen und die evangelischen Verurteilten jeweils zu zweit in gesonderten Gefängnissen untergebracht werden, und zwar in den Stadttoren. Auf diese Weise wird es möglich, die vielleicht verstockten Herzen der Todeskandidaten zu öffnen und seelsorgerisch zu bearbeiten.«
Wir erklärten uns einverstanden mit dem Plane des Stadtdirektors. Dr. Pfister bestellte Herrn Kirchenrat Wolf und mich für den Nachmittag des folgenden Tages in das Gefängnis im Mannheimer Tore. Hier waren die vier evangelischen Raubmörder, Andreas Petry, Philipp Friedrich Schütz, Georg Philipp Lang und Mathias Österlein, verwahrt, während Sebastian Lutz und Valentin Krämer, die beiden katholischen, eine Zelle im Tore an der alten Brücke teilten.
Die Gefängnisse im Mannheimer Tore waren durch ein helles, geräumiges Aufenthaltszimmer miteinander verbunden. Der Stadtdirektor erwartete uns dort bereits und empfahl aus seiner Menschenkenntnis heraus, dass wir die unterschiedlichen Charaktere und Fähigkeiten der Räuber berücksichtigen und diese in folgender Weise unter uns aufteilen sollten: die Schlimmsten, nämlich den Hölzerlips und den Krämer Mathes, möge Herr Kirchenrat Wolf, Mannefriedrich und Andreas Petry hingegen ich selbst zur Betreuung übernehmen. Mit dieser Wahl und Zusammenstellung waren wir beide hoch zufrieden. Ich für meine Person war nun vor allem auf die erste Begegnung mit dem berüchtigten Mannefriedrich gespannt, den mir der Herr Stadtdirektor als den gebildetesten, manierlichsten und klügsten von allen Räubern geschildert hatte.
Endlich wurde Mannefriedrich hereingeführt. Er war mit einer schweren Eisenkette kreuzweis vom linken Fuß zum rechten Handgelenk geschlossen. Er nickte mir gleich freundlich mit dem Kopfe zu, murmelte dann aber mit spöttischer Miene dem Stadtdirektor zu: »Deo gratias, Herr Direktor, nun danket alle Gott!«
Dr. Pfister schüttelte mahnend den Kopf. »Friedrich Schütz, denkt an den Ernst der Stunde und verzichtet auf die schnöden Witzeleien! Erweist dem Diener Gottes, der Euch auf Euren Tod vorbereiten wird, die gebührende Achtung!«
Mannefriedrichs Lächeln verflog. »Es war nicht so gemeint«, entschuldigte er sich mit gesenktem Blick. Gleich darauf erschien Andreas Petry. Er war erst neunzehn Jahre alt, wirkte keineswegs hässlich und hätte durchaus ein Sohn gutbürgerlicher Eltern sein können; er hatte allerdings einen unruhigen, gehetzten Blick. Auch er war mit einer schweren Eisenkette gefesselt. Mit einem kindischen Grinsen starrte er mich an, bis ihm Dr. Pfister den seelsorgerischen Grund meiner Anwesenheit erklärte.
»Ich will nicht sterben!«, schrie er plötzlich und begann gar jämmerlich zu schluchzen. »Ich glaube an keinen Gott, man hat mich ja nichts von ihm gelehrt, ich mag auch nichts lernen!« Wimmernd warf er sich auf ein Ruhebett, das am Ende des Zimmers bereitstand, trommelte mit der Faust gegen die Polster und wiederholte: »Ich kann nicht! Ich habe allen Respekt vor diesem Herrn, aber ich kann jetzt nichts mehr lernen!«
Der Stadtdirektor hatte in der Zwischenzeit bereits den Besucherraum verlassen. Von nun an war ich allein mit zwei Verbrechern, welche man zum Tode verurteilt hatte. Ich ging zu Andreas Petry und setzte mich zu ihm auf das Bett.
»Ich nehme von Herzen teil an Eurem traurigen Zustande, glaubt mir das! Ich möchte als Mensch und Seelsorger zur Besserung und Beruhigung beitragen und Euch, soweit es in meiner Kraft steht, helfen auf Eurem schweren Gange.«
Ich will es nicht verschweigen: Meine eigene wehmütige Stimmung, der Gedanke an das bevorstehende Ende dieser armen, so tief gesunkenen Kreaturen und der Anblick ihrer schrecklichen eisernen Fesseln, dies alles erschütterte mich so sehr, dass mir die Tränen in die Augen traten.
Mannefriedrich legte mir ebenfalls nicht ohne Rührung seine Hand auf die Schulter. »Ja, ja ... ich seh’s! Sie meinen es gut mit uns. Und Sie werden erleben, dass wir gar keine so bösen Menschen sind, wie viele Leute meinen: Denn das Unglück und die Not haben uns so weit gebracht!«
Mechanisch ergriff nun Andreas Petry meine Hand und murmelte: »Ich hab allen Respekt vor Ihnen, Herr Pfarrer, aber wenn ein Gott im Himmel ist, warum hat er’s dann zugelassen, dass mich mein Vater von klein auf zum Stehlen angehalten hat und dass ich jetzt auch noch geköpft werden soll in meinen jungen Jahren? Wie ein Vieh bin ich aufgezogen worden und wie ein Vieh muss ich sterben! Ich will auch gar nichts mehr wissen!«
Erneut hatte er sich in Schluchzen und Schreien hineingesteigert. Ich versuchte noch einmal, den Tobenden zu besänftigen, was auch gelang, denn plötzlich ward er still, wandte mir seinen wohlgestalteten Kopf zu und sagte wieder ruhig, aber mit eisiger Trotzeskälte: »Nie mehr, nie will ich etwas lernen!«
Ich erhob mich, eigentümlich erschüttert, und sah, dass Mannefriedrich voller Mitleid auf seinen Kameraden blickte und die Achseln zuckte. »Nun, dann werde ich mich eben zuerst mit dir, Friedrich Schütz, besprechen.«
Ich lud den Mannefriedrich mit einer Handbewegung ein, sich gemeinsam mit mir an den Tisch zu setzen, auf den der Gefängniswärter einen Strauß Feldblumen und eine Kanne frischen Wassers nebst Gläsern gestellt hatte.
»Ich bitte dich nur um Ruhe«, wandte ich mich an Andreas Petry, »wenn du von mir nichts hören magst.« Mannefriedrich hatte sich mir gegenüber an den Tisch gesetzt. Er blickte mir treuherzig ins Auge. Dann zog er sich langsam eine Margerite aus dem Strauß und begann mit eigenartigem Lächeln, an der Blüte zu zupfen.
Andreas Petry erhob sich, ohne mich eines Blickes zu würdigen, ging mit rasselnder Kette zum geöffneten Fenster, lehnte sich hinaus und betrachtete stumm die neugierige Menge, die sich vor dem Mannheimer Tore versammelt hatte.
Ich wandte mich nun Mannefriedrich zu, sprach mit ihm über die Notwendigkeit eines aufrichtigen Vertrauens und erklärte, dass ich ihm trotz seiner Verbrechen ein redlicher Freund sein wolle. »Doch muss ich dich jetzt bitten, mir mit aller Wahrheit zu erzählen, wie du wohl nach und nach in dieses traurige Verhältnis gekommen bist.«
»Die Wahrheit?«, fragte Mannefriedrich und legte seine gefesselte Hand auf den Tisch. Ich nickte ihm aufmunternd zu. »Ich würde sie gern einmal erzählen, die reine Wahrheit, einem einzigen Menschen alles, was ich getan habe.«
»Es wird dein Gewissen erleichtern, bestimmt!«
»Aber die Wahrheit, Herr Pfarrer, wem hilft die? Veit Krämer hat sie gesagt – kommt er dafür in den Himmel? Die reine Wahrheit ist eine blutige Wahrheit geworden – und nur eines ist gewiss: dass wir alle unter das Schwert kommen!«
»So lautet das Urteil der irdischen Richter, Friedrich Schütz. Du musst aber auf die Gerechtigkeit des Himmels vertrauen.« »Es heißt aber doch: Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden! Wenn man uns den Kopf abschlägt, geschieht aber nicht Gottes Wille!«
Heidelberg um 1810, vom Neuenheimer Ufer