Helga Kernstock-Redl
suchen, sammeln, selber schreiben
Impressum:
© Helga Kernstock-Redl, www.kernstock-redl.at
1. Auflage 2017
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
Das Werk einschließlich aller Teile darf in keiner Form ohne schriftliche Genehmigung der Autorin kommerziell reproduziert, verändert, genutzt oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlaggestaltung: Iris Fak www.ireilas.net
Foto im Umschlag: www.deinshooting.at
ISBN:
978-3-7439-3580-8 (Paperback)
978-3-7439-3581-5 (Hardcover)
978-3-7439-3582-2 (e-Book)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Vor-Geschichte: von der Idee zum Buch
GESCHICHTE: »Es war einmal vor vielen, vielen Jahren in einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, eine Mutter. Sie wollte ihren Kindern, die an diesem Abend ziemlich mutlos waren, eine Mut-Geschichte erzählen. Leider gab es nirgends, in keinem Buch und auch nicht im Kopf der Mutter, eine gute Geschichte dazu.
Doch kurz bevor die Mutlosigkeit allzu stark wurde, da plöööötzlich... kam ein Kind mit einer Idee. Gemeinsam wurde aus dieser kleinen Idee eine richtig große Geschichte über Mut, Erdgeister und Angsthelfer, über ein starkes Team und ihr reiches Land. Die Geschichte verjagte die Mutlosigkeit und machte für diesen einen Abend alles wieder richtig gut. Der Mut blieb noch eine Weile und wurde so stark, dass das Kind sagte: ›Wir haben so eine schöne Geschichte gemacht. Ich finde, du solltest sie in ein Buch schreiben.‹
Und so geschah es: An diesem Tag wurde die Idee geboren für ein Buch voller starker Geschichten und mit vielen Anregungen, wie diese gemacht werden können. So waren alle zufrieden und hatten noch viele tolle Tage.«
An diesem besonderen Tag ist die Mut-Geschichte entstanden, Sie finden sie am Ende des Buches.
Herzlich willkommen im unendlichen Reich der Geschichten. Ich weiß, Sie sind kein Neuling auf diesem Gebiet. Denn niemand von uns kommt ohne Geschichten durch Schule und Leben. Sie sind also schon jetzt ein Profi mit vielen Erfahrungen, mit guten und weniger guten Erinnerungen ans Lesen oder Schreiben eigener Texte. In jedem Fall können Sie durch dieses Buch Ihre Kenntnisse vertiefen und erweitern.
Nun halten Sie ein Zauberbuch in Händen. Machen Sie sich jedoch keine Sorgen, es wird Sie nicht in eine andere Welt entführen, in der Sie anstrengende Abenteuer bewältigen müssen. Es wird Ihnen keine Zaubersprüche verraten, mit denen Sie andere Menschen oder Dinge zwingend beeinflussen können. Sie riskieren keine wild gewordenen Besen, können allerdings auch keine Goldmünzen herbeischaffen.
Denn es geht um mehr: Seit Urzeiten sind Menschen über Geschichten in Kontakt miteinander gekommen, haben damit getröstet, inspiriert, informiert, ermutigt und bezaubert. Solche Wirkungen können Sie nutzen und ausbauen, um Kindern beim Verarbeiten der Vergangenheit, dem Verstehen der Gegenwart und beim Finden von Lösungen in der Zukunft zu helfen.
Wachstum unterstützen statt Großzíehen!
Dieses Zauberbuch kann noch dazu etwas Besonderes zwischen Menschen hinein zaubern: die Magie einer guten Beziehung, eine Stärkung für das Kind und auch für Sie. Die Geschichten, die Sie in diesem Buch finden oder die Sie nach dem Lesen dieses Buches erzählen können, bezaubern vielleicht für einen kurzen Moment. Die Erinnerung an Ihre Geschichten jedoch kann das Ihnen anvertraute Kind immer wieder auf‹s Neue verzaubern. Im Kind kann mit jeder Geschichte ein Stückchen mehr Wissen, mehr Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten, in die Zukunft und in die Welt entstehen – und damit über kurz oder lang auch die Sicherheit »Es wird wieder gut«.
Das Buch liefert dafür einen 7-teiligen Leitfaden: TechnikerInnen mögen ihn als Gerüst und Bauplan betrachten, PädagogInnen als Konzept, BiologInnen als DNA, MusikerInnen als Thema und KöchInnen als Grundrezept. Der Leitfaden möchte Sie unterstützen, die passende Geschichte für einen bestimmten Anlass selbst zu »bauen«, auch wenn Sie sich bisher für nicht besonders talentiert gehalten haben oder sich mit fantasievollem Erfinden schwer tun. Es funktioniert im Prinzip wie ein Puzzle, das aus Erinnerungs- und Lösungsteilen zusammengesetzt wird.
Und nicht nur das: Sie werden mit Hilfe dieses Leitfadens viel klarer brauchbare, psychologisch wirksame »fertige« Geschichten (Bücher, Filme, Ereignisse) entdecken. Vieles kann man nutzen bzw. optimieren, um sie dann einem Kind, das in einer ähnlichen Schwierigkeit steckt, zu erzählen.
Ich verwende den Begriff der »Geschichte« sehr allgemein: Laut »Duden-Herkunftswörterbuch« (2014) leitet er sich vom Verb »geschehen« ab und meint: »eilen, schnell fortgehen... sich ereignen« (S. 332). In diesem Sinn finden sich überall fertige Geschichten: im Alltagsgeschehen, in Film und Fernsehen, in PC-Spielen, im Internet oder eben in Büchern. Manche füllen mehrere Bände, andere sind nur 7 Sätze oder wenige Minuten lang, beschreiben fiktive oder reale Ereignisse, sachlich oder verspielt. Lassen Sie sich darauf ein und gehen Sie suchend durch die Welt, dann können Sie gute Geschichten buchstäblich an jeder Straßenecke erkennen.
Geschichtenerzählen und -schreiben ist immer ein interaktiver Prozess. Zwei oder mehr Menschen kommen in Kontakt, inspirieren einander. Die aktiv schreibende bzw. erzählende Person ist auf jemanden ausgerichtet, den sie erreichen will und lässt sich davon leiten. Die scheinbar passive, zuhörende oder lesende Person wählt in Wahrheit sehr aktiv, wovon sie sich wie anregen lässt. In diesem Sinne ist dieses Buch ebenfalls interaktiv gestaltet.
!Solche Rufzeichen laden Sie ein, zunächst Ihre eigenen Gedanken zu einzelnen Fragen festzuhalten und erst dann weiter zu lesen.
Mit Geschichten »zu zaubern« wird Ihnen und Ihren ZuhörerInnen eine Menge Arbeit machen. Doch es wird eine großartige Arbeit sein, so wie sie Kinder tun: mit spielerischer Leichtigkeit stundenlang vollkommen konzentriert sein, ganze Kisten ausräumen, riesige Türme bauen und wundervolle Zeichnungen erschaffen.
Es kann Sie mit Freude, Stolz und Energie erfüllen, dies mit einem Kind zu erleben. Von Zeit zu Zeit werden Sie bemerken, wie manche Geschichten auch dem Kind in Ihnen selbst gut tun. Manches erreicht einen inneren Anteil, der solche Geschichten vielleicht früher selbst gern gehabt hätte und jetzt mithören darf (s. Kap. 3.3).
Das Schreiben und Erzählen von Geschichten fordert und verändert Sie als SchreiberIn und ErzählerIn auf vielerlei Arten: Sie trainieren ganz nebenbei, Probleme oder Emotionen zu erfassen und Lösungsideen zu erkennen. Dabei werden Sie sich mühelos eine bildhafte Sprache aneignen, verwenden also automatisch Worte, die Bilder und Gefühle wecken. Wer das gut kann, wird als interessant, oft sogar als »charismatisch« erlebt, meint die psychologische Forschung. Sie wachsen innerlich und in den Augen anderer auf vielerlei Art. Es ist durchaus gesunder Egoismus, es zu genießen, während Sie vorrangig das Ihnen anvertraute Kind unterstützen.
Formen Sie - so wie es RegisseurInnen tun - einzelne Momente zu Geschichten. Damit bekommen Ereignisse »eine gute Gestalt« (Gestaltpsychologie) und einen wichtigen Platz auf der Lebenslinie, das „erinnerte Leben“ – (vgl. Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken. 2012), ein wichtiger Teil der individuellen Identität.
Suchen, sammeln und schreiben Sie Geschichten, die Kindern beim Wachsen helfen, anstatt sie großziehen zu wollen. Zauberei durch die Macht und Magie der Worte.
!Vorab eine persönliche Frage: Erinnern Sie sich an eine Buchgeschichte, eine Film oder Comic-Figur, die Sie als »Ihre Welt bewegend« erlebt haben? Was war eine der ersten beeindruckenden Geschichten (als Buch oder Film) Ihres Lebens? Wieso hat sie so gut gepasst? Was hat sie bewirkt? Gab es eine Lieblingsfigur darin? Welche Geschichte hat Sie vor kurzem berührt oder bewegt? Auf welche Weise? Was sagen diese erste und die letzte wichtige Geschichte über Sie aus, über Ihre Werte oder Lebensthemen?
Hören Sie zu, wenn andere Menschen über solche Fragen laut nachdenken. Nahezu jede/r von uns Erwachsenen erinnert sich an prägende Geschichten. Vielleicht wird eine/r Ihrer heutigen ZuhörerInnen in 20 Jahren noch immer an genau Ihrer Geschichte denken.
Zur rechten Zeit die richtige Geschichte zu hören, das kann ein Leben verändern.
Was also bewirken gute Geschichten? Bei welchen Problemen können Sie Kinder (und natürlich Erwachsene) dadurch unterstützen? Einen ersten Überblick bietet die Geschichtenliste am Ende des Buches.
Geschichten berühren und bewegen verschiedenste Facetten in Menschen. Entsprechend vielfältig sind die Gelegenheiten, wo Sie darauf zurückgreifen können. Sie können damit...
• bestimmte Gefühle erzeugen oder verändern (in sich selbst und in anderen Menschen): Geschichten fördern gezielt Mitgefühl, Freude, Zufriedenheit, Dankbarkeit, Trauer, Angst oder Sicherheit. Sie erzählen über emotionale Veränderungen und führen manche/n ZuhörerIn von nörglerischer Selbstkritik zu Stolz, von Scham zu gerechtfertigtem Ärger, von Schuldverleugnung zu Verantwortungsübernahme, vom Stillstand zum Entwicklungssprung. Manche dienen der reinen Unterhaltung oder sollen abends als Entspannungs- und Einschlafhilfe fungieren. Gute Vorbilder finden sich in der Wirtschaft (»Story telling«), in den Medien, in der Werbung oder auf der Bühne. Überall werden sie zur Erschaffung bestimmter Gefühle eingesetzt.
• belastende Gefühle oder schwierige Themen indirekt ansprechen, respektvoll herausfinden, was der/die andere über sich selbst denkt, neue Worte oder nützlichere Erklärungen dafür anbieten.
• Informationen, Werte oder Botschaften übermitteln, direkt oder indirekt (als Metapher, durch Symbole); Sie können Fakten, Gefühle, Verhaltensweisen, Lösungswege, Erklärungen u.v.m. vermitteln.
• Beziehung zwischen ErzählerIn und ZuhörerIn und zwischen den Zuhörenden erschaffen oder festigen. Geschichten über eine bestimmte Sache zu hören oder selbst zu erzählen, verbindet mit dieser Sache.
• ganz neue Gedankengänge anregen, unbequeme Fragen stellen oder verwegene Antworten anbieten, Unerwartetes provozieren, neue Bewertungen vorschlagen (etwas scheinbar nur Gutes kritisch ausleuchten, etwas Gute im vordergründig Schlechten sichtbar machen).
• Vergangenes verstehen, abschließen und einordnen. Etwas Erzähltes wird besser in Erinnerung behalten. Die Details der Geschichte bestimmt, wie es erinnert wird und welche Lernerfahrungen daraus gezogen werden.
• Zukünftiges erleichtern, mögliche Schwierigkeiten vorhersagen und zugleich Lösungswege indirekt vorschlagen.
• bei alledem jedem Kind Spielraum für Kreativität, eigene Wahlmöglichkeit und Ablehnung offen lassen. Eine Geschichte erlaubt Distanzierung - viel stärker als ein direkter Rat oder Tipp. Reaktionen wie zum Beispiel: »Eine komische Geschichte. Das passt für mich gar nicht. So wie diese Geschichtenfigur würde ich nie handeln.« sind möglich und laden zur Diskussion ein.
Grundsätzlich verbinden fast alle Kinder mit Geschichtenerzählen angenehme Gefühle, daher können Sie nahezu immer damit punkten. Schließlich sind wir es heutzutage mehr denn je gewohnt, uns die Erlebnisse anderer Menschen mittels Medien ins Wohnzimmer liefern zu lassen. Die hier beschriebenen dienen nicht (vorrangig) der Unterhaltung, sondern sie sollen konkrete Unterstützung für den Zuhörer oder die Leserin bieten.
Zielgruppe:
Das Erzählen kann grnundsätzlich in Familie und Freundschaften nützlich sein, in Kindergärten, in psychologischen, psychotherapeutischen und anderen Beratungs- und Behandlungsräumen. Manche Geschichten können ÄrztInnen, TrainerInnen oder Lehrkräfte dienen, die Kinder beruhigen, Trainees motivieren oder SchülerInnen inspirieren wollen. LogopädInnen können damit Kindern helfen, keine Angst vor dem Schlucken zu haben und PhysiotherapeutInnen fördern damit neue Bewegungsmuster.
Konkrete Anlässe – und passende, hilfreiche Geschichtenideen:
• Sie wollen einem Kind bei der Verarbeitung von belastenden Erlebnissen, von kleinen oder größeren Katastrophen helfen, die in der Vergangenheit passiert sind? | → Heilsame Geschichten, Kap. 2.1 |
→ Ein Buch oder einen Film anbieten, wo einer Figur etwas Ähnliches passiert und wo alles gut ausgeht. Danach darüber plaudern. | |
• Ein Kind hat ein unangenehmes Gefühl. | → Sie erzählen eine Geschichte, die ein neues Gefühl vermittelt (s. nächstes Beispiel). |
• Eine schwierige Situation steht einem Kind bevor und Sie wollen es darauf vorbereiten: Umzug, Schuleintritt, Operation... | → Lösungsgeschichten in verschiedenen Varianten, Kap. 3.3 |
• Ein Kind hat ein Problem (hat Ängste, kann nicht gut schlafen, kann sich gegen eine/n MitschülerIn nicht wehren...) und Sie wollen ihm Möglichkeiten aufzeigen, ohne z.B. direkte Ratschläge zu geben | → Ein Buch oder einen Film anbieten, wo einer Figur etwas Ähnliches passiert und wo alles gut ausgeht. Danach darüber plaudern. |
• Ein Kind muss sich mit einem anstrengenden Verhalten von sich selbst herumschlagen und Sie wollen ihm helfen, es loszuwerden. | → Lösungsgeschichte, Tipps auf einer symbolischen Ebene geben Kap. 3.2 |
→ Teilegeschichten Kap. 3.3 | |
• Eine wichtige Bezugsperson zeigt ein anstrengendes Verhalten, worunter das Kind leidet. Sie wollen das Kind unterstützen, ohne über diese Person zu schimpfen. | → Ein Buch oder einen Film anbieten, wo einer Figur etwas Ahnliches passiert und wo alles gut ausgeht. Danach darüber plaudern. |
• Das Kind quält sich mit einem starken Selbstzweifel oder einem speziellen, belastenden Gedanken über sich selbst (= negative Selbstüberzeugung), wie z.B.: | → Selbstwertgeschichten, wo mögliche Ursachen für die belastende Selbstüberzeugung erklärt werden und die Beweise gefunden werden für neue, gute Sätze und Selbstüberzeugungen: |
• »Ich kann das nie schaffen.« | → »Ich habe schon viel geschafft, ich bin stark.« oder »Ich kann echt gut lernen.« |
• »Ich bin dumm.« | → »Meine Nase ist ganz ok.« oder »Wer mich nur wegen meiner Nase nicht mag, der hat mich nicht verdient. Sie hilft mir, wahre Freundschaft zu finden.« |
• »Ich habe eine hässliche Nase.« | |
...und vieles mehr. |
BEISPIEL in einem Krankenhaus: Ein Kinderarzt möchte, dass die jungen Patientlnnen weniger gestresst sind, wenn er sie im Rahmen von Visiten untersucht. Wir besprechen, wie in peinlichen Situationen ein winziges Kompliment oder eine Ablenkung helfen kann.
Er überlegt sich zu einigen Körperteilen kleine, stärkende Geschichten:
Ein Kind kann eine »Lunge wie ein Pferd« haben, wunderschön symmetrische Füße wie ein bestimmter Tänzer, schmal und stark sein wie eine Läuferin. Ein außergewöhnlich angenehmer Kleidungsstoff erinnert an Seide und an die interessante Geschichte der Seidenraupe, die Farbe der Haare an die Fellfarbe eines tollen Tieres... Von nun an findet er bei Bedarf an jedem Kind etwas wahres Gutes, über das er eine solche Mini-Geschichte erzählt, während er genau diesen Teil unter die Lupe nehmen muss. Oder er erzählt sie als Ablenkung bei der Untersuchung eines anderen Körperteils.
Dieser Arzt horcht wenig später im Krankenzimmer die Lunge eines Jugendlichen ab, der sich dabei sehr unwohl fühlt. Ganz offensichtlich schämt er sich. Nun sagt der Arzt unvermittelt und voller Anerkennung zu ihm:»Wow!! Du hast ja eine Lunge wie ein Pferd....« (er hätte auch ablenkend über dessen tolle Füße reden können). Er beginnt, eine Geschichte über die Ausdauer und Kraft dieser Tiere zu erzählen. In der Sekunde ist die Scham wie weggeblasen. Der junge Bursche hört – wie übrigens alle anderen Kinder im Krankenzimmer auch – fasziniert zu. Ich glaube, er wird bis an sein Lebensende zufrieden oder stolz denken: »Ich habe eine Lunge wie ein Pferd. Toll!«
Die Frage nach den wichtigsten Grundlagen einer Geschichte, die ja faszinieren und fesseln möchte, kann glücklicherweise nicht allgemeingültig beantwortet werden. Denn die Vielfalt der Menschen fordert einen bunten Strauß verschiedenster Angebote, damit jede und jeder eine Geschichte finden kann, die gefällt, inspiriert oder berührt. Das soll also eine sehr subjektive Sache bleiben dürfen. Andere Menschen sind bei aller Ähnlichkeit doch immer auch ein wenig anders als Sie oder ich.
!Ich schlage vor, Sie nehmen sich einen Moment Zeit, bevor Sie weiterlesen: Welche gemeinsamen Merkmale haben Geschichten, die Ihnen persönlich gefallen? Gibt es RegisseurInnen oder AutorInnen, die »gut« schreiben? Was genau ist das Faszinierende daran?
Eine Geschichte, die bei mir gut ankommt, hat etwas mit mir zu tun (Möglichkeit der Identifikation). Doch sie handelt ja nicht explizit von mir, will mir nichts einreden oder mir Meinungen vorschreiben. Erreicht wird diese Möglichkeit zur Distanzierung durch Elemente, die auf irgendeine Art anders als in meinem Leben sind.
Natürlich muss der Inhalt mein Interesse wecken: Die Geschichte der Luftfahrt packt mich persönlich weniger als jene vom Haus, in dem ich lebe. Die angenehme Verpackung dieses Inhaltes in ansprechende Worte und Sätze ist mir wichtig. Schöne und neuartige Formulierungen oder Sätze, die in meinem Kopf sofort ein Bild, eine Vorstellung erzeugen, mag ich persönlich sehr gerne. Solche besonderen Textstellen merke ich mir über Jahrzehnte.
Die Geschichte kann durchaus ganz eigene, vielleicht sogar irreale Regeln aufstellen (wie in Zauber- oder Science-Fiction-Welten), doch dieser Logik muss sie dann auch schlüssig folgen.
Realistische Dramen, Trauma- oder Angstgeschichten meide ich, denn ich höre ohnehin genug Erschreckendes und Trauriges, das Menschen wirklich erlebt haben. Ich mag keinen komplizierten Aufbau, wo es für mich anstrengend ist, die Handlung zu verfolgen. Ich »steige aus«, sobald ich lange Satzgefüge entschlüsseln oder mir eine Unzahl verschiedener Namen merken soll. Denn ich lese zum Vergnügen und vermeide deshalb Texte, bei denen mein ohnehin geplagtes Gehirn schwer arbeiten muss. Soll ich eine Geschichte beim Zuhören mögen, dann muss sie noch einfacher sein, als wenn ich sie lese.
Andere Menschen jedoch sind anders als Sie und anders als ich – und wir schreiben schließlich die Geschichte meist nicht für uns selbst. Unsere Leser- oder ZuhörerInnen sind im Endeffekt das Maß aller Dinge. An ihnen muss sich eine Geschichte ausrichten, denn dort soll sie schließlich landen. Hier nun einige tragende Elemente, die mir für Geschichten, die berühren und bewegen sollen, besonders wichtig erscheinen.
Zuneigung
Wer eine Geschichte erzählt, sollte den/die Menschen, für den/die sie gedacht ist, mögen. Ganz grundsätzlich. So wie Sie vielleicht das Meer, ein Tier oder ein Haus wirklich gern haben, auch wenn Ihnen die eine oder andere Facette »an der Oberfläche« nicht zusagt. Wertschätzung und wohlwollendes Interesse sind jene Basis, die Menschen jedes Alters brauchen und auch wahrnehmen, obwohl sie vielleicht (noch) gar keine Worte für dieses angenehme und sichere Gefühl haben, welches dadurch entsteht.
»Es ist, was es ist, sagt die Liebe.« Erich Fried
Interessanter Inhalt
Eine gute Geschichte enthält Informationen, welche die Lebenswelt Ihres Gegenübers direkt betreffen oder berühren. Dabei kann es sich um Äußerlichkeiten handeln: Vielleicht ist die Heldin Ihrer neuen Geschichte »zufällig« auch der Star der Lieblingsfernsehserie oder hat die gleiche Lieblingsspeise. Tiefgreifend interessant kann es werden, sobald ein Gefühl oder Gedanke (z.B. eine Sorge) des Kindes behutsam, spielerisch oder in Form einer Metapher zum Thema gemacht wird.
Eine tragende Säule für Interesse sind also Ähnlichkeiten. Manche Probleme, Fragen, aVorlieben oder Gefühle des Kindes werden direkt oder indirekt aufgegriffen oder beschrieben. Deshalb hört es gespannt zu. Solche Elemente sind die Basis, um Aufmerksamkeit und Identifikation mit den Inhalten zu erreichen. Neues zu hören ist für Menschen grundsätzlich ebenfalls interessant.
»Da geht’s um etwas, das ich von mir selbst kenne oder das mir auch passieren könnte... Das wusste ich gar nicht... Aha, das Häschen hat Angst, so nennt man also dieses unangenehme Bauchkribbeln... Anderen geht es auch wie mir.« – Diese und ähnliche Gedanken gehen vielleicht dem Kind durch den Kopf. Spannend.
Sorgsam gewählte Worte
Verständlichkeit: Worte und Sätze sollen Inhalte vermitteln und müssen daher verstanden werden. Bei jungen Kindern braucht es kurze Worte. Einfache Sätze. Überschaubare Länge. Geschichten werden also immer angepasst an das Alter und das Verständnis des Kindes. Schließlich soll jede/r am Ende der Geschichte (oder des Satzes) noch den Anfang wissen. Sonst weigert sich das Gehirn, sie gern und leicht aufzunehmen, selbst wenn der/die ZuhörerIn sich sehr darum bemüht.
Innere Vorstellungen und Bilder: Meistens berührt eine Sprache, die Bilder im Kopf des Kindes erzeugt. Haben Sie schon einmal ein Buch gelesen und gemerkt, dass Sie dazu einen ganzen »Film« im Kopf gestalten? Deshalb kann es Enttäuschungen geben, sobald solche Bücher später verfilmt werden: Der Kinofilm und das vorher automatisch gedrehte, detailreiche »Kopfkino« passen nicht zusammen. Erzählen Sie variantenreich, voll mit Sprachbildern, lautmalerisch. Als Gegenbeispiel möge die Stimme des Navigationsgeräts dienen. Es erzählt keine Geschichte, sondern liefert nur ein Minimum an Information.
In andere Menschen »hinein krabbeln«: Spannend wirkt es, nicht (nur) Äußerlichkeiten und Fakten zu beschreiben. Eine gute Geschichte vermittelt einen lebendigen, nachvollziehbaren Eindruck von der Außen- UND Innenwelt der Geschichtenfiguren. Ein nüchterner Bericht hingegen zählt minimalistisch die beobachtbaren Tatsachen auf:
»Um 7.30 stand sie auf, weil der Wecker läutete. Sie nahm ein gesundes Frühstück zu sich und zog die Kleidung an, die sie bereits am Abend vorher hergerichtet hatte. 10 Minuten nach 8 Uhr verließ sie die Wohnung.«
So klingt keine mitreißende Geschichte. ABER die beobachtbaren Fakten ohne viel Emotion zu sammeln, den Ablauf zeitlich zu rekonstruieren und in eine richtige Reihenfolge zu bringen, das kann trotzdem wichtig sein: Bringen Sie auf diese Weise Klarheit in etwas Geschehenes, falls ein (junger) Mensch nach dem Erleben einer Extremsituation verwirrt und im Durcheinander von Wahrnehmungssplittern, Ereignissen, Gefühlen und Gedanken gefangen ist (Kap.4.1).
Die Innenwelt zu beschreiben heißt, das Unsichtbare - Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen, Ursachen oder Ziele - zu benennen. Details erlangen Bedeutung, weil ihr Zusammenhang mit anderen Elementen erklärt wird. Oft weckt das Faszination und Interesse. Es zieht uns an, zieht uns hinein in die Geschichte:
»Der schrille Ton des Weckers riss sie aus dem Schlaf. Etwas benommen und müde sah sie sich um. Der Himmel war schon hell und erfüllte den Raum mit einem sanften Licht. Das gab ihr die Kraft, sich trotzdem ein Frühstück zu machen, das sie genießen konnte.Wie gut zu sich selbst sie geworden war! Sogar die Kleiderwahl hatte sie schon am Vorabend getroffen und nicht bis zur letzten Sekunde hinausgezögert.«
»Eín satz muss rote Backen haben.« Hans Habe
Guter Kontakt mit dem Publikum
Die intensive Kommunikation, auch wenn scheinbar nur eine Seite aktiv ist und spricht und die andere Person passiv zuhört, ist ein weiteres Geheimnis von erfahrenen ErzählerInnen.
Dafür beobachtet man möglichst genau die Reaktionen des Kindes und reagiert sofort darauf wie bei einem gemeinsamen Tanz: Das Tempo oder die Stimmlage wird verändert, die Geschichte radikal abgekürzt oder ausgeschmückt. Gutes Erzählen ist ein »Feedback-Prozess«, ähnlich wie Autofahren in Kurven: Man dreht das Lenkrad, kann sofort beobachten, wohin das Auto fährt und dann lenkt man zurück oder legt noch nach. Als GeschichtenerzählerIn können Sie nie vorher genau wissen, wie die Reaktion sein wird. Kein Problem, sobald Sie Ihren Kurs flexibel an die Gegebenheiten anpassen und verändern, falls notwendig.
Diese Reaktions-Fähigkeit wird aufgebaut und geschult, wenn Sie möglichst oft interaktive Geschichten aus dem Ärmel schütteln. Das sind gemeinsam entwickelte Erzählungen, die vollkommen planlos direkt aus der Gegenwart entstehen: Jemand fängt an: »Es war einmal ein kleines...« und fordert dann seine ZuhörerInnen auf, diesen halben Satz zu ergänzen. Die Antwort wird aufgenommen, man spinnt den Faden weiter und gibt ihn bald wieder ab. Das Ergebnis kann enorm klug, witzig oder verrückt sein – und vermittelt nahezu immer ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl bei allen Beteiligten. Mehr dazu als kostenfreier Download über »Interaktives Geschichtenerzählen« im Webshop der Autorin (www.geschichtenundpsychologie-shop.at).
Eine lebendige Sprechweise
Ein aufregender, brillanter Text mit monotoner Stimme vorgetragen? Jedes Kind, jeder Erwachsene reagiert gelangweilt. Die Art des Sprechens, auch »para- und nonverbale Kommunikation« genannt, ist manchmal wichtiger als der Inhalt.
Von Zeit zu Zeit begegnet man live oder über die Medien einem Menschen, der richtig gut erzählen kann. Dann hören wir sogar einem eigentlich öden Thema gespannt zu. Nutzen Sie diese Gelegenheit und achten Sie nicht mehr auf das, was diese Person sagt. Sondern beobachten Sie, was sie tut, wie sie spricht, steht, schaut, wie die Stimme klingt, die Wahl der Worte, den Aufbau der Sätze. Aus einer solchen Analyse können Sie sicher mehr lernen als durch kluge Bücher. Denn diese Person verkörpert vermutlich einen Sprechstil, der genau zu Ihnen passt.
Freiheiten und Spielräume lassen
Eine Geschichte kann die Wahrheit beschreiben, soweit sie mit Sicherheit bekannt ist:
»Du bist damals in den Kindergarten gegangen. Alles war ziemlich gut. Doch an einem schönen, sonnigen Tag ist etwas Schlimmes passiert. Da plötzlich...«
Diese ganz direkte, unverblümte Erzählweise sollten Sie jedoch nur in Bereichen wählen, wo Sie sichere Informationen über das Verhalten der Beteiligten, Äußerungen des Kindes, über Fakten und Daten haben.
Meistens kennen wir jedoch nur unsere Sichtweise, also unsere persönliche »Wahrheit«. Wir haben bestenfalls gute Vermutungen, was der andere Mensch wahrgenommen, gedacht oder befürchtet haben könnte. Das gilt sogar bei Ereignissen, wo Sie persönlich dabei waren: Befragen Sie andere Anwesende, Sie werden erstaunt über die vielen unterschiedlichen »Wahrheiten« sein. Je dramatischer das Geschehen, umso größer die individuellen Unterschiede.
Das Wörtchen »vielleicht« oder ein Konjunktiv im Text eröffnen die notwendigen Freiräume und Wahlmöglichkeiten. Im nun folgenden Beispiel ist vieles bekannt, doch über die Gefühle, Wahrnehmungen und Gedanken des betroffenen Kindes können Sie nur Spekulationen anstellen:
»Also:An diesem sonnigen Dienstag, es war der 2.5.2011, passierte etwas Schlimmes... (das Geschehene ordnen und benennen). Da hast du vielleicht denken müssen... Und es könnte sein, dass du das Gefühl hattest, dass... Alles war durcheinander. Ich weiß nicht, ob du... oder... gesehen hast.«
Noch mehr Spielraum für Distanzierung erlaubt es, wenn Sie eine solche Geschichte mit einer ganz anderen Hauptfigur erzählen und das Geschehen indirekt beschreiben, es »durch die Blume« sagen:
»Es war einmal ein Blümchen. Alles war gut. An einem sonnigen Tag im Frühling jedoch passierte etwas Schlimmes... Da musste das Blümchen vielleicht denken...«
Niemand von uns lässt sich gern etwas einreden. Keiner mag es, wenn etwas behauptet oder richtig erraten wird, das peinlich ist. Kinder sind da nicht anders als Erwachsene. Geschichten sollen ZuhörerInnen zwar einladen, sich angesprochen und verstanden zu sehen. Doch gleichzeitig sollen sie die Möglichkeit geben, sich zu distanzieren und sich nicht betroffen zu fühlen.
Grundsätzlich gilt: Je weniger Sie wirklich über ein belastendes Problem oder ein erschreckendes Ereignis in der Vergangenheit wissen, umso indirekter und behutsamer sollten Sie vorgehen, mit vielen distanzierenden Elementen.
Allzu wenige Berührungspunkte allerdings machen eine Geschichte bedeutungslos. Daher werden Sie hin und wieder die Rückmeldung bekommen: »Langweilig. Uninteressant. Das würde ich nie tun, so nie denken, nie fühlen. Nein.« Auch gut, es darf sein, die nächste Geschichte kommt vermutlich besser an, denn Sie suchen bzw. bauen mehr Ähnlichkeiten ein. Wie das geht, erfahren Sie in den folgenden Kapiteln.
Ihr tiefer Respekt vor einem Menschen – und sei er noch so jung – kommt darin zum Ausdruck: Sie wollen niemandem etwas ein- oder ausreden. Jede Geschichte ist nur ein Angebot, eine Einladung, die selbstverständlich auch ausgeschlagen werden darf.
»Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu verhalten, als kennte er mich.« Robert walser
Klare Strukturierung
Der 7-teilige Leitfaden bzw. Bauplan, der in Kap. 2 vorgeschlagen wird, ist nur eine von vielen Möglichkeiten, Ihrer Geschichte eine klare Struktur zu geben. Grundsätzlich müssen zumindest Anfang / Mittelteil / Ende erkennbar sein. Ob der Text eine Problembeschreibung samt Lösung enthält oder einfach nur zur sanften Entspannung einlädt, wird von Fall zu Fall unterschiedlich sein.
In Trauma- und Lösungsgeschichten neigen viele dazu, die Geschehnisse allzu umfassend und detailliert berichten zu wollen. Das führt unweigerlich zur Verzettelung. Übrig bleibt eine grandiose Idee, vergraben in einem Haufen Verwirrung.
Alle beliebten Filme oder Bücher beinhalten eine tolle, wichtige Idee oder ein Element, mit dem sich die ZuseherInnen oder LeserInnen stark identifizieren. Doch manchmal ist diese Kostbarkeit an viel Ungutes so gekoppelt, sodass dieser Teil überwiegt: zu viel Horror oder Drama neben der guten Idee, zu viel Kommerz über dem interessanten Grundthema, ein zu negatives Weltbild unter der spannenden Handlung.
Daher ist es oft klarer, einfacher und schneller, eine Geschichte selbst zu entwickeln. Es muss kein »Werk« werden, nur ein hilfreicher, sehr persönlicher Input in schwierigen Zeiten.
Ich empfehle, mit genau und nur jenen 7 bis 9 Sätzen zu beginnen, die dem Leitfaden entsprechen. Erst dann weitere Details hinzuzufügen, sodass die Geschichte für ältere Kinder lang und interessant genug wird. Es ist fast so, wie wenn Sie einen Raum zuerst mit dem Allernötigsten einrichten. Danach wird er ausgeschmückt und wohnlich gestaltet, ohne ihn zu überfrachten. Mehr zu diesem Leitfaden in Kap. 2, hier jedoch bereits ein erstes Beispiel.
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