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Arkadi Gaidar

Der Mann mit dem roten Stern

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Arkadi Gaidar mit Kindern

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Alte Bottroper Straße 42, 45356 Essen
Telefon +49-(0)-201-25915
Fax +49-(0)-201-6144462
verlag@neuerweg.de
www.neuerweg.de

Gesamtherstellung:
Mediengruppe Neuer Weg GmbH

ISBN: 978-3-88021-451-4
E-Book ISBN: 978-3-88021-452-1

INHALT

Vorwort

Eine gewöhnliche Biografie in ungewöhnlicher Zeit

1917 oder die Schule des Lebens

I. Teil — Die Schule

II. Teil — Frohe Zeiten

III. Teil — Die Front

R. K. R.

Die Flucht

VORWORT

Der Mann mit dem roten Stern« — vor einhundert Jahren hat er wirklich gelebt! 1917, während der Februarrevolution in Russland, ist er zwölf Jahre alt und nimmt schon am Kampf aufseiten der Unterdrückten teil. Beim Ausbruch der Oktoberrevolution ist er dreizehn. Arkadi Gaidar ist dieser Mann — und in diesem Buch erfahren wir einiges über sein Leben als Jugendlicher, denn seine Erzählungen enthalten sehr viel Autobiografisches.

Dieses Buch eröffnet dem Leser einen Blick auf das Leben, die Situation und die Zusammenhänge nach der sozialistischen Oktoberrevolution in Russland — das alles aus der Sicht eines Jugendlichen. Und es hilft, diese weitreichenden Entwicklungen zu verstehen. Deshalb bringt der Verlag Neuer Weg dieses Buch heraus.

Das Land ist arm, der Erste Weltkrieg tobt, und vielen Kindern und Jugendlichen, so auch Arkadi Gaidar, werden in diesem imperialistischen Krieg die Eltern genommen. Aber: Es gibt Widerstand, auch in den ärmsten und abgelegensten Regionen Russlands. So sind Arkadi Gaidars Freunde Bolschewiki (Kommunisten) — wie er erst später versteht. Fesseln kann dieses Buch Leser ab 6 Jahren und bis ins hohe Alter.

Arkadi Petrowitsch Gaidar, geboren 1904, ist von 1918 bis 1924 zunächst der jüngste Kommandeur einer Kompanie der Roten Armee im Bürgerkrieg und mit 16 Jahren der jüngste Kommandeur eines Regiments. Ein sehr bekanntes Bild gibt es von ihm aus dieser Zeit, in der er Kommandeur des »Sonderregiments Nr. 58 für den Kampf gegen das Banditentum« ist. Es zeigt ihn in Uniform, mit Pelzmütze, und auf dieser: der rote Stern. Das ist ihm geblieben — er war und ist der Mann mit dem roten Stern!

1941, mit nur 37 Jahren, stirbt Arkadi Gaidar im Partisanenkampf gegen den deutschen Faschismus.

Arkadi Gaidar war einer der bekanntesten Kinder- und Jugendbuchautoren der damals sozialistischen Sowjetunion. Und bis heute ist er in Russland und der Ukraine so bekannt wie bei uns Astrid Lindgren. Viele Kinder der ehemaligen DDR kennen von ihm das 1940 erschienene Buch »Timur und sein Trupp«. Ein Kinderbuch, das »Dem Volke dienen« zum Inhalt hat. Zugleich eines der wenigen Bücher, die im Großen Vaterländischen Krieg spielen.

Umso mehr freut es uns, dem Leser diese spannenden, weltgeschichtlich so interessanten und lehrreichen Erzählungen nach Jahrzehnten wieder anbieten zu können — in Deutsch und im vereinten Deutschland.

In »Eine gewöhnliche Biografie in ungewöhnlicher Zeit« (siehe die folgenden Seiten) spricht Arkadi Gaidar selbst über sein Leben, seine Leser, seine Bücher und darüber, wie er zum Schreiben kam.

Wir wünschen viele spannende — und auch nachdenkliche — Lesestunden und freuen uns über Fragen oder Anregungen. Auch für Lesungen lassen wir uns gerne einladen.

Verlag Neuer Weg
September 2017

EINE GEWÖHNLICHE BIOGRAFIE IN UNGEWÖHNLICHER ZEIT

Ich war zehn Jahre alt, als der imperialistische Weltkrieg ausbrach. Mein Vater wurde schon in den ersten Tagen eingezogen.

Ich weiß noch, wie er damals zu uns kam — nachts, nur auf einen Sprung. Er trug einen grauen Soldatenmantel. Er küsste uns alle, dann musste er fort. Großmutter zündete das grüne Lämpchen an, und wir, die drei Kinder, lagen auf den Knien und beteten inbrünstig. Was wir beteten, das habe ich vergessen.

Meine Mutter arbeitete damals als Arztgehilfin. Ich selbst war gerade in die erste Klasse der Realschule gekommen. Schon einen Monat später lief ich von zu Hause fort, wollte zu Fuß an die Front zu meinem Vater.

Bis an die Front kam ich natürlich nicht, sondern wurde schon neunzig Werst vor unserer Stadt, auf dem Bahnhof Kudma, angehalten.

Als man mich, müde und hungrig, aufgriff, war ich doch froh. An die Front mochte ich schon gar nicht mehr, wollte nur nach Hause; aber ich schämte mich, von selbst zurückzukehren.

In dem Städtchen Arsamas bin ich aufgewachsen. Laut dröhnten die Glocken von dreißig Kirchen darüber hin, Fabriksirenen hörte man nicht. Es gab bei uns keine Fabriken. Dafür aber hatten wir vier Klöster, und ständig zogen durch unsere Stadt die Prozessionen der Pilger und Pilgerinnen zur berühmten Einsiedelei von Sarow.

In der Schule lernte ich nicht schlecht. Nur in Schönschreiben und Zeichnen war ich schwach, und ich habe es bis auf den heutigen Tag in diesen Künsten noch nicht weit gebracht.

Als die roten Fahnen der Februarrevolution über den Straßen wehten, fanden sich auch in so einem armseligen Nest wie Arsamas gute Menschen zusammen.

Dass man mich ständig in ihrer Gesellschaft antraf, war ein reiner Zufall. Die Neugier trieb mich dorthin. Es waren ihrer nicht viele, aber sie hielten fest zusammen. Kühn sprachen sie auf den Versammlungen, sie fürchteten auch nicht den feierlichen Kirchenbann, den unter dem Geläute aller Glocken die Bischöfe Oleg und Warnawa über sie verhängt hatten. Sie machten sich auch nichts aus den gehässigen Zurufen all jener Fleischermeister und Mehlhändler, jener Mönche und alten Betschwestern, die aus ihren Zellen herausgekrochen kamen und sich voller Gift und Galle auf den Meetings und Versammlungen herumtrieben.

Erst später sollte ich erfahren, wer die guten Menschen von damals waren. Es waren die Bolschewiki.

Doch was ein Bolschewik wirklich darstellte, das lernte ich erst viel später kennen.

Sie hatten bemerkt, dass ich kein Dummkopf, sondern ein aufgeweckter Junge war und immer zu ihnen hielt.

Allmählich fassten sie Vertrauen zu mir und gaben mir verschiedene kleinere Aufträge. Ich musste Botengänge machen, musste etwas wegbringen oder jemanden holen.

Und so lief ich herum, trug Briefe aus, holte Leute herbei und hörte immer wieder aufmerksam zu.

Wer diese Bolschewiki waren, das wurde mir immer klarer, besonders aber, nachdem ich mit ihnen einige Male zusammen auf Meetings in den Flüchtlingsbaracken, in den Lazaretten, den Dörfern und bei den Arbeitern vom Depot gewesen war.

Den größten Vertrauensbeweis erhielt ich im Oktober 1917, als mir erlaubt wurde, ein Gewehr zu tragen, und man mich bei zwei Patrouillengängen als Verbindungsmann mit hinausschickte.

Im November 1918 ging ich zur Roten Armee. Ich war damals noch keine vierzehn Jahre alt.

Aber ich war ein hochgewachsener, kräftiger Junge und wurde schon bald darauf — nachdem man sich zunächst nicht gleich hatte entscheiden können — in den 6. Lehrgang für Rote Kommandeure in Kiew aufgenommen.

Schließlich wurde ich schon mit vierzehn und einem halben Jahr Kommandeur der 6. Kompanie der 2. Kursantenbrigade an der Petljura-Front und mit sechzehn Jahren Kommandeur des Sonderregiments Nr. 58 für den Kampf gegen das Banditentum.

Im Dezember des Jahres 1924 schied ich aus der Armee aus, weil ich krank geworden war.

Oft fragt man mich, warum ich schon in so jungen Jahren Kommandeur wurde. Darauf antworte ich: Nicht mein Leben war ungewöhnlich; ungewöhnlich war nur die Zeit, in der ich lebte. Darum nenne ich meine Lebensbeschreibung »Eine gewöhnliche Biografie in ungewöhnlicher Zeit«.

Nachdem ich aus der Armee ausgeschieden war, begann ich zu schreiben. Am Anfang schrieb ich die Erzählung »In den Tagen der Niederlagen und Siege«. Als ich sie dem Schriftsteller Fedin zeigte, meinte er: »Sie können noch nicht schreiben, aber Sie haben das Zeug dazu, und daher werden Sie es einmal können.« Dann machte ich mich ans Lernen. Meine Lehrer waren Konstantin Fedin, Michail Slonimski, besonders aber Sergej Semjonow, der gemeinsam mit mir buchstäblich alles Geschriebene Zeile um Zeile durchnahm, der mir vieles erklärte, der mich kritisierte und mir half.

Für meine besten Bücher halte ich »R. K. R.«, »Ferne Länder«, »Unterstand Nr. 4« und »Die Schule«. In der »Schule« ist ausführlich dargestellt, wie Boris Gorikow — ein Junge wie ich — an die Front kam und was er dort sah, was er dort tat und was er lernte.

Mein schlechtestes Buch heißt »Die Reiter der unzugänglichen Berge«. Dieses Buch ist irgendwie nicht durchgearbeitet, vor allem aber gekünstelt.

Wer jedoch schreiben will, muss aufrichtig sein; wie sehr man auch dem Leser zu Gefallen schreibt, wie sehr man sich auch zieren mag — ein kluger Leser merkt es doch und glaubt nicht an das Buch.

Erst seit kurzer Zeit lasse ich meine Arbeiten in der Zeitschrift »Der Pionier« erscheinen. Ein Fehler von mir — ich hätte früher damit anfangen sollen. »Der Pionier« ist eine fröhliche, kämpferische Zeitschrift und hat ein tüchtiges Leseraktiv.

Es ist sehr nützlich, seine Arbeit an den Aussagen der Kinder und an ihren Briefen zu überprüfen.

Kam doch eines Tages ein Junge zu mir und sagte: »Da wird bei Ihnen im ›Pionier‹ die Erzählung ›Die blauen Sterne‹ abgedruckt, aber mir gefällt das nicht.«

»Wieso?«, fragte ich. »Was gefällt dir denn nicht daran?«

»Mir gefällt nicht, dass ich die erste Nummer gelesen habe und jetzt nicht weiß, was nun weiter mit Kirjuschka geschieht.«

»Und das möchtest du wohl wissen?«

»Und wie!«, gab er offen zu. »Ich lauf rum und denk immer darüber nach, was weiter werden wird. Wenn doch nur bald die zweite Nummer da wäre!«

Ich musste lächeln und dachte bei mir: Na, wenn ihm das nicht gefällt, dann ist es ja nicht so schlimm.

Die Redaktion des »Pionier« hat einen Abend mit meinen Werken veranstaltet. Das war auch nicht schlecht, ich bekam dort nicht wenig Wichtiges und Nützliches zu hören.

Jetzt arbeite ich an einer neuen Erzählung. Sie heißt »Das Geheimnis« und handelt von den Kindern unserer Tage, von internationalen Verbindungen, von Pioniergruppen und von vielem anderem mehr.

Schließlich findet ihr im »Pionier« schon meine letzte Arbeit: »Die blauen Sterne«. Wenn ihr die Erzählung gelesen habt, dann schreibt mir, wie sie euch gefallen hat.

Was ich sonst noch schreiben werde, weiß ich heute noch nicht. Jedenfalls aber soll es eine Erzählung sein, deren ich mich nicht zu schämen brauche, wenn ich sie einmal in jener schönen Zukunft lese, die man den Sozialismus nennt, in jener Zeit, in der auch ich noch viele Jahre leben möchte, in der ihr Kinder aber erst recht leben werdet.

Arkadi Gaidar
1934

1917 ODER DIE SCHULE DES LEBENS

I. TEIL — DIE SCHULE

1. KAPITEL

Unser Arsamas war eine stille kleine Stadt mit vielen Gärten, die von windschiefen Zäunen umschlossen waren. In diesen Gärten wuchsen viele Kirschen und Äpfel, blühten Schlehdorn und rote Pfingstrosen.

Teiche zogen sich durch die Stadt hindurch und an den Gärten vorbei. Schleimige Gründlinge und schlüpfrige Frösche lebten in ihrem stillen, modrigen Wasser, die besseren Fische waren längst schon gestorben. Ein kümmerliches Flüsschen, die Tescha, floss an den Hügeln entlang.

Die ganze Stadt glich einem großen Kloster. Sie zählte an die dreißig Kirchen und hatte vier Behausungen für Mönche. Auch viele wundertätige Heiligenbilder gab es bei uns, aber richtige Wunder waren nur selten. Das kam vielleicht daher, dass 60 Kilometer von Arsamas entfernt die berühmte Einsiedelei von Sarow lag. Die zog alle Wunder an sich.

In Sarow war schon einmal ein Blinder sehend und ein Buckliger gerade geworden, ein andermal hatte ein Lahmer gehen gelernt; so erzählten sich die Leute immer wieder. Nur vor unseren Heiligenbildern geschah nichts dieser Art.

Da hieß es eines Tages, dem Mitka sei ein Heiliger im Traum erschienen. Nun habe er das Trinken aufgegeben, habe seine Sünden bereut und Buße getan und wolle als Mönch ins Erlöserkloster gehen. Dieser Mitka war ein richtiger Landstreicher. Jedermann kannte ihn als einen Säufer. Alle Jahre am Dreikönigstag schlug er ein Loch ins Eis des Flusses und sprang für eine Flasche Wodka ins kalte Wasser.

In hellen Scharen strömten damals die Leute zum Kloster. Und richtig — in der Kirche lag Mitka auf den Knien, verneigte sich inbrünstig und bekannte vor allem Volk seine Sünden. Er gestand sogar, dass er im vergangenen Jahr dem Kaufmann Bebeschin die Ziege gestohlen und in Schnaps umgesetzt habe. Der Bebeschin war ganz gerührt und gab Mitka einen Silberrubel, damit er zur Rettung seiner Seele eine Kerze vor den Heiligenbildern aufstelle. Vielen standen die Tränen in den Augen, als sie sahen, wie dieser verkommene Mensch den Pfad der Sünde verlassen und zu einem Gott wohlgefälligen Leben zurückgefunden hatte.

Eine ganze Woche lang ging alles gut. Als aber der Tag kam, da Mitka das Mönchsgewand anlegen sollte, war er verschwunden. Vielleicht hatte er wieder ein Gesicht gehabt, diesmal ein ganz anderes, oder es war sonst etwas mit ihm geschehen. Doch in der Gemeinde erzählten die Leute, Mitka läge in der Nowoplotinnajastraße im Graben, eine leere Wodkaflasche neben sich.

Pafnuti, der Diakon, und der Kaufmann Sinjugin, der Kirchenälteste, wurden ausgesandt, ihm ins Gewissen zu reden. Doch die beiden waren bald wieder zurück und berichteten voller Empörung, Mitka wäre tatsächlich sinnlos betrunken, läge da wie ein totes Stück Vieh und hätte schon die zweite Flasche geleert. Sie hätten ihn angestoßen, da habe er schrecklich geflucht und gesagt, das mit dem Kloster habe er sich anders überlegt. Er sei doch nur ein sündiger Mensch und nicht würdig, ins Kloster zu gehen.

Still und altväterlich war unsere kleine Stadt. Wenn an den Feiertagen, besonders aber während des Osterfestes, die Glocken aller dreißig Kirchen zu läuten begannen, dann ging ein Klingen von der Stadt aus, das bis zu zwanzig Kilometer weit ringsum in den Dörfern gut zu hören war.

Die Glocke von Mariä-Verkündigung dröhnte am lautesten von allen. Die vom Erlöserkloster hatte einen Sprung und gab nur noch einen scheppernden, tiefen Ton. Hell bimmelten dazu ihre kleineren Geschwister, die Glöckchen vom Kloster des Heiligen Nikolai. Schließlich läutete es auch von allen übrigen Türmen. Sogar das hässliche Kirchlein des kleinen Gefängnisses, das sich am Rande der Stadt hinduckte, stimmte in den großen Chor mit ein.

Ich stieg immer gern auf die Glockentürme, aber das war uns Jungen nur zu Ostern erlaubt. Lange ging es auf schmaler, düsterer Stiege nach oben. In den Mauerlöchern gurrten die Tauben. Von den vielen Windungen der Treppe drehte sich mir am Ende alles im Kopfe.

Von oben war unsere ganze Stadt zu sehen und unterhalb der Stadt die Tescha mit der Ziegeninsel, die alte Mühle, das Wäldchen — und weit hinten in der Ferne tiefe Schluchten und der blaue Saum des Stadtwaldes.

Mein Vater war Soldat im 12. Sibirischen Schützenregiment. Es lag an der Front bei Riga.

Ich selbst ging damals in die zweite Klasse der Realschule. Meine Mutter war Krankenschwester und hatte immer viel zu tun. So war ich ganz auf mich allein gestellt. Doch einmal in der Woche musste ich ihr die Schulhefte mit den Zensuren vorzeigen. Die unterschrieb sie. Eilig schaute sich meine Mutter die Hefte an. Sah sie dann eine Fünf im Zeichnen oder im Schönschreiben, wurde sie ärgerlich und schüttelte den Kopf. »Was soll das heißen?«

»Ich kann doch nichts dafür, Mutter. Was soll ich denn machen, wenn ich nun mal nicht zeichnen kann! Neulich, da hab ich ein Pferd gemalt, sagt der Lehrer: ›Das ist kein Pferd, das sieht ja aus wie ein Schwein.‹ Das nächste Mal hab ich ihm dasselbe Bild gezeigt und hab gesagt: ›Das ist ein Schwein.‹ Und da wird er ganz böse und sagt, das wär kein Schwein und auch kein Pferd. Der Teufel wüsste, was es sein sollte. Weißt du, Mutter, Maler werd ich bestimmt nicht.«

»Ja, aber die Fünf im Schönschreiben …? Gib mal dein Heft her …! Junge, wie sieht das aus! Auf jeder Seite ein Klecks! Und hier hast du eine Schabe zwischen den Seiten plattgedrückt, ekelhaft!«

»Die Kleckse, die waren auf einmal da, die sind ganz von selbst gekommen, und wegen der Schabe, dafür kann ich überhaupt nichts. Ich versteh gar nicht, warum du so böse bist. Hab ich denn die Schabe reingesetzt? Die ist selbst reingekrochen, und nun soll ich schuld sein! Und Schönschreiben, was ist das schon? Ich will doch kein Schreiber werden.«

»So, und was möchtest du werden?«, fuhr meine Mutter mit ärgerlichem Gesicht fort und unterschrieb meine Zensuren. »Am liebsten überhaupt nicht arbeiten, wie? Und hier lese ich schon wieder, du bist über die Feuerleiter aufs Schuldach gestiegen. Wozu soll das denn gut sein? Oder willst du Schornsteinfeger werden?«

»Nein, ich will kein Maler werden und kein Schreiber, auch kein Schornsteinfeger … Ich werde Matrose.«

»Matrose?« Meine Mutter wunderte sich. Das hatte sie nicht erwartet.

»Klar, ich — werde — Matrose … Aber verstehst du denn nicht, wie schön das ist … Matrose?«

Meine Mutter schüttelte den Kopf.

»Was du nicht alles sagst! Kommst du mir noch mal mit ’ner Fünf nach Hause, kriegt der Matrose was hinten drauf.«

Aber sie meinte es nicht so. Meine Mutter mich schlagen? Nein! Sie hatte mich noch nie geschlagen. Einmal nur hatte sie mich in die Rumpelkammer gesperrt …, aber dann den ganzen Tag mit Kuchen gefüttert und mir am Ende noch zwanzig Kopeken fürs Kino geschenkt. So was könnte ruhig öfter vorkommen!

2. KAPITEL

Eines Tages ging’s wieder einmal im Laufschritt zur Schule, nachdem ich hastig meinen Tee getrunken und meine Bücher unter den Arm genommen hatte. Unterwegs traf ich Timka Schtukin, einen kleinen, flinken Jungen aus meiner Klasse.

Dieser Timka Schtukin war ein schüchternes Kerlchen, der niemandem etwas zuleide tat. Ungestraft konnte man ihm eine runterhauen, er schlug nicht zurück. Er aß immer gern die Butterbrote auf, die seine Schulkameraden liegenließen, und holte ihnen dafür im Laden nebenan frische Brötchen. Kam aber unser Klassenlehrer, brachte Timka vor Schreck kein Wort heraus, obwohl er sich keiner Schuld bewusst war.

Timka hatte eine ganz große Leidenschaft — die Vögel. Die Stube seines Vaters, des Küsters der Friedhofskirche, war ganz mit Käfigen vollgestellt, in denen lauter Vögel saßen. Timka kaufte und verkaufte Vögel, tauschte sie gegen andere ein oder fing sie mit Schlingen oder Fallen auf dem Friedhof.

Eines Tages aber bekam er es mit seinem Vater zu tun. Als der Kaufmann Sinjugin das Grab seiner Großmutter besuchte, sah er, dass dort jemand Hanfsamen ausgestreut hatte, um Vögel anzulocken. Auf der steinernen Grabplatte war eine Falle aufgestellt, ein Klappbügel mit einem Netz daran. Sinjugin beschwerte sich, und Timka bekam von seinem Vater eine gehörige Tracht Prügel. Vater Gennadi aber, unser Religionslehrer, erklärte in der Religionsstunde entrüstet: »Die Grabsteine sind zum Andenken an unsere lieben Entschlafenen da, nicht aber zu anderen Zwecken; und so gehört es sich nicht, auf diesen Steinen Fallen und andere unpassende Dinge aufzubauen. So etwas ist eine Sünde, ist eine Lästerung Gottes.«

Und dann erzählte er uns von einigen Fällen aus der Geschichte, da die himmlischen Mächte solche Übeltaten hart bestraft hatten.

Man musste es Vater Gennadi lassen: Von solchen Beispielen wusste er stets eine große Menge. Mir scheint, hätte er gewusst, dass ich eine Woche vorher ohne Erlaubnis im Kino war, ihm wäre gewiss eine Begebenheit eingefallen, da jemand für das gleiche Vergehen noch in diesem Leben die verdiente Strafe Gottes erhalten hatte. Also, Timka kam die Straße entlang und pfiff dabei wie eine Drossel. Als er mich sah, blinzelte er mir freundlich zu, schaute mich dennoch etwas misstrauisch an, als wolle er feststellen, ob ich nicht irgendetwas im Schilde führte.

»Du, Timka, es ist höchste Zeit«, rief ich ihm zu, »wir kommen zu spät zur Andacht — vielleicht gerade noch zum Unterricht.«

»Ob die das merken?«, fragte er erschrocken, und die Angst stand ihm im Gesicht.

»Klar merken die das! Na ja, Mittagessen kriegen wir keins, aber das ist auch alles …« Ich sagte das absichtlich, weil ich wusste, dass er große Angst vor jedem Tadel hatte.

Furchtsam zuckte er zusammen und rannte noch schneller.

»Was kann ich denn dafür? Mein Vater war weg und hat die Kirche aufgeschlossen. Ich sollte einen Augenblick zu Hause bleiben, hat er gesagt. Und dann ist er weggeblieben, ganz lange. Und alles wegen dem Gebet. Die Mutter von Walka Spagin war gekommen, die wollte für ihn beten.«

»Für Walka?« Ich riss vor Staunen den Mund auf. »Wieso? Ist der denn gestorben?«

»Nein, aber den suchen sie doch.«

»Wie? Suchen?« Meine Stimme zitterte. »Das ist doch Unsinn, Timka. Du, ich hau dir eine … Ich weiß von gar nichts, war doch gestern nicht in der Schule, weil ich Fieber …« Timka pfiff wie eine Meise. Er war richtig froh, dass ich die Geschichte noch nicht wusste, und hüpfte auf einem Bein herum. »Stimmt ja, du warst ja gestern nicht da. Junge, Junge, da war was los, gestern …«

»Was war denn los?«

»Ja, das war so. Wir hatten zuerst Französisch. Die alte Hexe hatte uns die Verben mit ›être‹ aufgegeben … aller, arriver, entrer, rester, tomber usw. Der Rajewski musste an die Tafel kommen und fing gerade an zu schreiben: ›rester, tomber‹ …, da ging auf einmal die Tür auf, und der Inspektor kam rein.« Timka kniff die Augen zusammen, schaute mich vielsagend an und fuhr fort: »… und der Direktor und auch noch unser Klassenlehrer. Als wir uns wieder hingesetzt hatten, da sagte der Direktor: ›Meine Herren, ein Unglück ist geschehen. Ein Schüler Ihrer Klasse, der Spagin, ist von zu Hause weggelaufen. Er hat einen Zettel hinterlassen. Darauf steht, er wäre zur deutschen Front unterwegs. Ich glaube nicht, meine Herren; dass er das getan hat, ohne seine Klassenkameraden einzuweihen. Bestimmt wussten viele von Ihnen schon vorher davon, aber Sie haben es nicht für notwendig gehalten, es mir zu melden. Meine Herren, ich werde …‹ Und so ging das immer weiter, eine halbe Stunde lang.«

Mir stockte der Atem. Das war ja eine tolle Neuigkeit, und ausgerechnet ich hatte zu Hause gesessen, als ob ich krank wäre, und von nichts gewusst. Und niemand war gekommen und hatte es mir erzählt, der Jaschka Zuckerstein nicht und auch nicht Fedka Baschmakow. Schöne Kameraden …! Wenn er aber Korken für seine Pistole haben wollte, der Fedka, dann kam er zu mir … Und jetzt — da kam er nicht …! Na schön, gut, dass ich wusste. Die halbe Schule lief weg, ging an die Front, und ich saß wie ein Idiot zu Hause!

Ich raste zur Schule, warf im Laufen meinen Mantel ab und konnte mich gerade noch unter die Schüler mischen, die nach der Morgenandacht die Aula verließen. Der aufsichtführende Lehrer hatte mich nicht bemerkt.

In den nächsten Tagen gab es nur ein Thema: die kühne Flucht Walka Spagins.

Doch der Direktor irrte sich, wenn er annahm, viele von uns wären in Spagins Fluchtpläne eingeweiht gewesen. Tatsächlich hatte niemand etwas gewusst. Es war auch keiner auf den Gedanken gekommen, Walka Spagin könne weglaufen. Er war so ein Stiller, prügelte sich nie mit den anderen, war nie dabei, wenn wir in fremden Gärten Apfel gestohlen hatten. Ständig rutschte ihm die Hose, mit einem Wort, ein Waschlappen, wie er im Buche stand. Und nun auf einmal solche Geschichten!

Wir fragten uns, ob nicht jemand irgendwelche Vorbereitungen bemerkt hätte. Es konnte doch nicht einer von uns so mir nichts, dir nichts die Mütze aufsetzen und an die Front abhauen.

Fedka Baschmakow erinnerte sich, bei Walka eine Eisenbahnkarte gesehen zu haben; Dubilow, der schon das zweite Jahr in unserer Klasse saß, erzählte, Walka habe sich in einem Laden eine Batterie für seine Taschenlampe gekauft.

Doch so viel wir auch darüber nachdachten, keiner von uns hatte irgendetwas bemerkt, das auf Vorbereitungen zur Flucht hätte schließen lassen.

Wir alle waren sehr erregt und in gehobener Stimmung, gaben im Unterricht falsche Antworten, und die Zahl derer, die zur Strafe kein Mittagessen bekamen, war doppelt so groß wie sonst. Einige Tage verstrichen, und schon gab es wieder eine große Neuigkeit: Diesmal war Mitka Tupikow aus der ersten Klasse abgerückt.

Die Schulleitung war ernsthaft beunruhigt.

Fedka teilte mir im Vertrauen mit: »Heute soll in der Religionsstunde darüber geredet werden. Ich hab die Hefte ins Lehrerzimmer getragen, und da hab ich gehört, wie sie darüber sprachen.«

Unser Religionslehrer, Vater Gennadi, war an die siebzig Jahre alt. Er hatte einen so großen Bart und so dichte Augenbrauen, dass von seinem Gesicht kaum etwas zu sehen war. Wollte er den Kopf nach hinten wenden, musste er den ganzen Körper mitdrehen, so dick war er. Sein Hals war überhaupt nicht zu sehen.

Wir mochten ihn alle gern. In seinem Unterricht konnte man machen, was man wollte: Karten spielen, zeichnen, man konnte anstatt des Alten Testaments ein verbotenes Buch von Pinkerton oder eins über Sherlock Holmes vor sich liegen haben, weil Vater Gennadi so kurzsichtig war.

Vater Gennadi kam zur Klasse herein, segnete mit erhobener Hand alle Anwesenden, und sofort brüllte unser Klassenältester los: »Himmlischer Herrscher, du unser Trost, du bist die Wahrheit …«

Vater Gennadi hörte sehr schwer und wollte daher, dass wir das Gebet laut und deutlich vorlasen. Doch diesmal schien es sogar ihm, als habe der Sprecher zuviel des Guten getan. Er hob die Hand und sagte ärgerlich: »Aber, aber … Was soll denn das heißen? Anständig lesen sollst du, aber du brüllst ja wie ein Stier!«

Vater Gennadi holte sehr weit aus. Zuerst erzählte er uns das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Soviel ich verstanden hatte, ging dieser Sohn aus dem Hause seines Vaters und irrte in der Welt umher, als er aber dabei auf den Hund gekommen war, kehrte er nach Hause zurück.

Dann erzählte er uns das Gleichnis von den Talenten: wie ein reicher Mann seinen Sklaven Geld gab, das damals Talente hieß, und wie einige Sklaven mit diesem Geld Handel trieben und viel dabei verdienten. Die anderen aber versteckten ihr Geld und bekamen so gar nichts hinzu.

»Und was sagen uns diese Gleichnisse?«, fuhr Vater Gennadi fort. »Das erste Gleichnis erzählt von einem ungehorsamen Sohne. Dieser Sohn verließ seinen Vater, trieb sich lange in der Fremde umher und kehrte dennoch unter seines Vaters Dach zurück. Wieviel schlimmer aber ist es mit euren Kameraden, die noch unerfahren sind in den Fährnissen des Lebens und heimlich ihr Vaterhaus verlassen haben; ihnen wird es schlecht ergehen auf dem Pfade des Unheils, den sie beschritten haben. Noch einmal ermahne ich euch: Wenn einer von euch weiß, wo sie sind, der soll ihnen schreiben, dass sie keine Angst zu haben brauchen, und heimkehren sollen unter ihr väterliches Dach, solange es noch Zeit ist. Denkt daran, wie der verlorene Sohn heimkehrte, wie ihn sein Vater aber nicht tadelte, sondern ihm die schönsten Kleider anzog und ein gemästetes Kalb schlachten ließ, wie an einem Festtage. So werden auch die Eltern dieser beiden verlorenen Söhne ihnen alles verzeihen und sie mit offenen Armen aufnehmen.«

Das wollte mir zwar nicht so ganz einleuchten. Wie Tupikows Eltern ihren Sohn empfangen würden, wusste ich nicht, eins aber stand für mich fest: Der Bäckermeister Spagin würde wegen der Rückkehr seines Sohnes bestimmt kein gemästetes Kalb schlachten, sondern den Riemen abschnallen und seinem Sohn den Hintern versohlen. »Und das Gleichnis von den Talenten«, fuhr Vater Gennadi fort, »erzählt uns, dass man sein Wissen nicht in der Erde vergraben soll. Ihr studiert hier alle möglichen Wissenschaften. Und wenn ihr die Schule beendet habt, dann wählt sich ein jeder von euch einen Beruf nach seinen Fähigkeiten, nach seinen inneren Neigungen und nach seinem Stande. Der eine von euch wird, sagen wir mal … ein geachteter Kaufmann, ein anderer Arzt und ein dritter Beamter. Jedermann wird euch achten, und bei sich denken: Ja, das ist ein tüchtiger Mensch, der hat seine Talente nicht im Boden vergraben, der hat sie genutzt und genießt jetzt mit Recht alles Schöne im Leben. Aber«, Vater Gennadi hob beide Hände bekümmert zum Himmel empor, »aber, so frage ich euch, was kommt nun bei solcher Flucht heraus, wo die Schüler alle ihnen gebotenen Möglichkeiten missachten, wo sie von zu Hause fortlaufen und Abenteuer suchen, Schaden nehmen an Leib und Seele? Ihr wachst hier heran wie die zarten Blüten im Treibhaus eines treusorgenden Gärtners, ihr kennt weder Wind noch Sturm, in Ruhe und Frieden könnt ihr euch entfalten zur Freude eurer Lehrer und Erzieher. Sie aber …, und sollten sie auch allem Unheil widerstehen, sie wachsen wild heran wie Disteln und Dornen, vom Winde zerzaust und bedeckt vom Staub der Straße.«

Vater Gennadi schritt aus der Klasse hinaus, erhaben und voll inneren Feuers wie ein Prophet, und bewegte sich langsam auf das Lehrerzimmer zu.

Ich aber seufzte tief auf und sagte nachdenklich: »Fedka!«

»Ja?«

»Was hältst du von der Geschichte mit den Talenten?«

»Gar nichts. Und du?«

»Ich?«

Ich stockte und fuhr dann leise fort: »Ich glaub, ich würde auch meine Talente vergraben. Was ist das schon? Kaufmann oder Beamter?«

»Ich glaub, ich auch«, gestand Fedka etwas unsicher. »Was soll das schon sein, wie eine Blume im Treibhaus heranwachsen? Wenn du draufspuckst, geht sie kaputt. Dornen und Disteln, ja, das ist schon was anderes, denen macht kein Regen was aus und keine Hitze.«

»Fedka«, sagte ich, »und dann hat er ja auch noch gesagt, im kommenden Leben müssten wir uns verantworten. Weißt du, das mit dem Verantworten gefällt mir schon gar nicht, auch nicht im kommenden Leben.«

Fedka überlegte. Ich konnte sehen, er war sich selbst nicht klar darüber, wie er der angekündigten Strafe entkommen sollte. Er schüttelte den Kopf und antwortete ausweichend: »Na, bis dahin ist ja noch lang … Vielleicht fällt uns dann schon was ein.« Tupikow aus der ersten Klasse war ein großer Trottel, wie sich herausstellte. Er hatte noch nicht einmal gewusst, welche Richtung er einschlagen musste, um zur Front zu kommen. Schon am dritten Tage wurde er bei Nishni Nowgorod aufgegriffen, sechzig Kilometer von Arsamas entfernt.

Es wurde erzählt, bei ihm zu Hause hätten sie vor Freude nicht gewusst, was sie mit ihm anfangen sollten, ihn mit herrlichen Geschenken überhäuft, und seine Mutter wollte ihm im Sommer eine Flinte kaufen, wenn er verspreche, nie mehr wegzulaufen. In der Schule aber wurde Tupikow ausgelacht und verspottet: »Du bist gar nicht so dumm, das muss man dir lassen. Für ein richtiges Gewehr würden wir auch gern drei Tage lang um die Stadt herumlaufen!«

Ganz unerwartet bekam Tupikow einen schweren Tadel von unserem Erdkundelehrer Malinowski, der bei uns »der rasende Kolja« hieß.

Malinowski rief Tupikow an die Tafel: »Also …! Sagen Sie mal, junger Mann, an welche Front wollten Sie eigentlich? An die japanische?«

»Nein«, antwortete Tupikow und bekam einen roten Kopf, »an die deutsche Front wollte ich.«

»Soso!«, fuhr Malinowski boshaft fort. »Aber ich möchte mir doch die Frage erlauben, welcher Teufel Sie nach Nishni Nowgorod gebracht hat? Wo hatten Sie nur Ihren Kopf, und wo war mein Geographieunterricht in Ihrem Kopf? War Ihnen denn nicht klar, dass Sie über Moskau gehen mussten«, er tippte mit dem Zeigestock auf die Karte — »über Smolensk und über Brest, wenn Sie an die deutsche Front wollten? Aber Sie sind genau in der entgegengesetzten Richtung gelaufen, nach Osten. Was wollten Sie denn da, wie? Sie sollen doch das bei mir erworbene Wissen in der Praxis anwenden und nicht im Kopf einsperren wie in einem Mülleimer. Setzen Sie sich. Sie kriegen eine Fünf. Eine Schande ist das, junger Mann!«

Nach dieser Rede hatten die Schüler der ersten Klasse mit einem Male den tieferen Sinn der Wissenschaft begriffen und stürzten sich mit einem ganz ungewöhnlichen Eifer auf die Geographie. Ja, sie hatten sich sogar ein neues Spiel ausgedacht, das »Flüchtlingsspiel«. Bei diesem Spiel nannte einer eine Stadt an der Grenze, dann musste der andere fließend alle wichtigen Punkte hersagen, die auf dem Wege zu dieser Stadt lagen. Irrte er sich, zahlte er ein Pfand; konnte er das Pfand nicht einlösen, bekam er eine Ohrfeige — so wollte es die Spielregel.

3. KAPITEL

In jeder Woche, am Mittwoch, wurde in der Aula unserer Schule vor Beginn des Unterrichts ein feierliches Gebet für den Sieg unserer Waffen gesprochen.

Nach dem Gebet wandten wir uns alle zur linken Seite, wo die Bilder des Zaren und der Zarin hingen.

Dann begann der Chor die Hymne »Gott erhalte den Zaren«, und alle stimmten mit ein. Ich sang aus voller Kehle mit, hatte zwar keine besonders schöne Stimme, gab mir aber solche Mühe, dass der auf sichthabende Lehrer einmal zu mir sagte: »Etwas leiser, Gorikow, Sie meinen es allzugut!«

Ich ärgerte mich. Was sollte das heißen: »Allzugut.«

Hatte ich auch kein Talent zum Singen, sollte ich dann etwa den Mund halten und nur die anderen für den Sieg beten lassen?

Zu Hause klagte ich Mutter mein Leid.

Doch zu meinem großen Kummer nahm sie das nicht recht ernst und meinte nur: »Du bist noch zu jung, wenn du erst älter wirst, dann … Ja, sie führen Krieg, und so geht das immer weiter. Aber was hast du damit zu tun?«

»Versteh ich nicht, Mami. Warum soll ich denn nichts damit zu tun haben? Die Deutschen wollen doch unser Land erobern. Und grausam sind sie, das hab ich selbst gelesen. Warum sind die Deutschen solche Barbaren, die mit niemandem Mitleid haben, mit den alten Leuten nicht und auch nicht mit den Kindern? Aber unser Zar, der ist doch so gut zu allen Menschen.«

»Hör schon auf damit!« Meine Mutter wurde richtig ärgerlich. »Alle Menschen sind gut … Aber nun sind sie verrückt geworden, die Deutschen sind nicht schlechter als andere, und wir sind genauso.«

Dann ging sie hinaus, und ich blieb mit meinen Fragen allein. Wieso sollten die Deutschen nicht schlechter sein als wir? Wieso eigentlich? Sie waren doch wirklich schlechter. Erst neulich wurde im Kino gezeigt, wie die Deutschen ohne Gnade und Barmherzigkeit niemanden verschonten, wie sie alles in Brand steckten, wie sie die Kathedrale von Reims zerstörten und andere Gotteshäuser schändeten. Unsere Soldaten aber waren ganz anders. Im selben Kino sah ich mit eigenen Augen, wie ein russischer Offizier ein deutsches Kind aus den Flammen rettete.

Ich ging zu Fedka. Er war ganz meiner Meinung.

»Klar, das sind Bestien. Die haben den Dampfer Lusitania versenkt mit all seinen friedlichen Passagieren, aber wir, wir haben nichts versenkt.

Unser Zar und der englische Zar sind vornehme, edle Menschen. Und der französische Präsident auch. Ihr Wilhelm aber, das ist ein ganz gemeiner Hund!«

»Du, Fedka«, fragte ich, »warum heißt denn der französische Zar, Präsident?«

Fedka dachte nach.

»Weiß ich nicht«, entgegnete er. »Ihr Präsident ist überhaupt kein Zar, hab ich gehört … Das ist eben so.«

»Warum ist das so?«

»Mein Gott, das kann ich auch nicht sagen. Ich hab mal so’n Buch gelesen, weißt du, von Dumas. Das ist spannend, lauter Abenteuer. Und in diesem Buch steht, die Franzosen hätten ihren Zaren umgebracht. Seitdem haben sie keinen Zaren mehr, sondern einen Präsidenten.«

»Wie können sie denn ihren Zaren umgebracht haben?« Ich war empört. »Du lügst, Fedka, oder du bringst was durcheinander.«

»Lieber Gott, doch, sie haben ihn umgebracht und seine Frau dazu. Sie haben sie vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt.«

»Jetzt hast du aber ganz bestimmt gelogen! Wie kann man denn einen Zaren vor Gericht stellen? Der Richter bei uns, der Iwan Fjodorowitsch zum Beispiel, der kann Diebe verurteilen. Oder da hat neulich einer bei der Pluschtschicha den Zaun kaputtgemacht — den hat er auch verurteilt. Und als Mitka, der Landstreicher, bei den Mönchen einen Kasten mit den Heiligen Hostien geklaut hat — da hat er auch den verurteilt. Aber den Zaren verurteilen, das darf er ja gar nicht. Der Zar, der steht doch über uns allen.«

Fedka ärgerte sich und erwiderte: »Du brauchst es ja nicht zu glauben … Der Saschka Goloweschkin liest gerade das Buch; wenn er es aus hat, kannst du es kriegen. Bei den Franzosen war das ja auch ein ganz anderes Gericht als bei Iwan Fjodorowitsch. Da hat sich das ganze Volk versammelt, und das Volk hat dann den Zaren verurteilt und hingerichtet …« Fedka war in Erregung geraten. »Ich weiß auch, wie sie das gemacht haben. Sie haben ihn nicht aufgehängt, sie haben da so eine Maschine. Guillotine heißt die. Die wird hochgezogen, und dann — zack — ist der Kopf ab.«

»Und dem Zaren haben sie auch den Kopf abgehauen?«

»Ja, dem Zaren und der Zarin und noch einigen anderen. Soll ich dir das Buch mitbringen? Das ist spannend, sag ich dir … Da kommt ein Mönch drin vor …, so ein ganz schlauer, dicker Mönch, der tut so, als wär er fromm, aber in Wirklichkeit ist er ganz anders. Tränen hab ich gelacht, als ich das las. Da wurde meine Mutter böse, stand aus dem Bett auf und blies die Lampe aus. Ich hab gewartet, bis sie wieder eingeschlafen war, dann hab ich das Lämpchen vom Heiligenbild genommen und weitergelesen.«

Eines Tages hieß es, am Bahnhof wären österreichische Kriegsgefangene angekommen. Gleich nach der Schule liefen Fedka und ich dorthin. Der Bahnhof lag weit draußen vor der Stadt. Unser Weg ging am Kirchhof vorbei, führte durch ein Wäldchen, bog dann auf die Landstraße hinaus und lief schließlich noch durch eine lange, gewundene Schlucht hindurch.

»Was meinst du, Fedka«, fragte ich, »ob sie die Gefangenen wohl gefesselt haben?«

»Weiß ich nicht, vielleicht sind sie gefesselt. Sonst könnten sie ja weglaufen. Aber gefesselt kommen sie nicht weit. Du weißt doch, wenn die Gefangenen ins Gefängnis gehen, kriegen sie kaum die Füße hoch.«

»Ja, aber die hat man auch richtig verhaftet, das sind ja Diebe; aber die Kriegsgefangenen haben doch nichts gestohlen.«

Fedka runzelte die Stirn.

»Glaubst du denn, ins Gefängnis kommt nur, wer gestohlen oder einen totgeschlagen hat? Da sitzen Leute drin aus allen möglichen Gründen.«

»Aus was für Gründen denn sonst noch?«

»Na, zum Beispiel, wenn einer … Weshalb haben sie wohl den Lehrer aus der Gewerbeschule eingesperrt? Das weißt du nicht? Dann halt auch lieber den Mund.«

Es ärgerte mich immer, dass Fedka stets mehr wusste als ich. Wonach man ihn auch fragte — nur nicht nach den Schularbeiten —, etwas wusste er immer. Ganz bestimmt hatte er das von seinem Vater. Der war Briefträger, und wenn so ein Briefträger von Haus zu Haus geht, erfährt er immer etwas Neues.

Den Gewerbeschullehrer — bei uns Schülern hieß er »Dohle« — mochten alle Kinder gern. Zu Beginn des Krieges war er in unsere Stadt gekommen und hatte außerhalb eine kleine Wohnung gemietet. Ich war schon mehrere Male bei ihm gewesen. Er hatte Kinder auch sehr gern und zeigte ihnen auf seiner Hobelbank, wie man Vogelkäfige, Kästchen und Fallen baut. Im Sommer zog er mit einer Gruppe Kinder in den Wald oder zum Fischfang. Er war ein schwarzhaariger, magerer Mensch und wippte beim Gehen wie ein Vogel.

Ganz unerwartet wurde er verhaftet. Warum? Das wussten wir nicht. Die einen erzählten, er wäre ein Spion und habe den Deutschen durchs Telefon alle Geheimnisse über unsere Truppenverschiebungen durchgegeben. Es fanden sich auch solche, die behaupteten, der Lehrer sei früher ein Räuber gewesen und habe auf den Landstraßen die Leute ausgeplündert, und das sei jetzt erst herausgekommen.

Aber ich konnte das alles nicht glauben. Einmal ging von hier aus überhaupt keine Telefonleitung bis zur Grenze, und was für militärische Geheimnisse oder welche Angaben über Truppenbewegungen hätte er schon aus Arsamas melden können? Bei uns gab es überhaupt nur sehr wenige Soldaten: ein Kommando von sieben Mann mit einem Offiziersburschen und dann noch auf dem Bahnhof vier Bäcker von der Truppenverpflegungsstelle. Sie waren nur dem Namen nach Soldaten, in Wirklichkeit aber ganz gewöhnliche Brötchenbäcker. Eine Truppenverschiebung hatte es in Arsamas nur ein einziges Mal gegeben; das war, als ein Offizier namens Balaguschin aus seiner Wohnung im Hause von Pyrjatin in das Haus von Basjugin umzog. Sonst war so etwas bei uns nie vorgekommen.

Dass aber der Lehrer ein Räuber sein sollte, das war glatt gelogen. Das hatte sich Petka Solotuchin bestimmt nur so ausgedacht. Jedermann kannte ihn als frechen Lügner. Borgte er sich drei Kopeken, so schwor er später, er habe sie schon zurückgezahlt; oder er gab eine geliehene Angelrute ohne Haken zurück und behauptete, er hätte sie so bekommen.

Wie konnte der Lehrer überhaupt ein Räuber sein? Er hatte gar nicht das Gesicht danach, und schließlich hatte er einen so komischen Gang, war ganz mager und hustete dauernd; nein, er war gewiss ein guter Mensch.

Inzwischen waren Fedka und ich an der Schlucht angekommen. Ich konnte es vor Neugierde nicht länger aushalten und fragte Fedka: »Du, sag mal, Fed, warum haben sie den Lehrer denn nun wirklich verhaftet? Das mit dem Spion und mit dem Räuber, das stimmt doch nicht, wie?«

»Nein, das stimmt auch nicht«, antwortete er. Er ging etwas langsamer und sah sich vorsichtig um, als wären wir nicht auf freiem Feld, sondern unter vielen Menschen. »Den haben sie wegen Politik verhaftet.«

Ich konnte Fedka nicht genauer fragen, was für Politik es war, wegen der man den Lehrer verhaftet hatte, denn hinter der Wegbiegung hörte man schon den schweren Tritt einer Marschkolonne, die auf uns zu kam.

Es waren an die hundert Gefangene.

Sie gingen nicht in Fesseln und wurden auch nur von sechs Soldaten begleitet.

Die müden, düsteren Gesichter der Österreicher verschmolzen mit ihren grauen Mänteln und zerdrückten Mützen. Sie marschierten im Gleichschritt, schweigend, in dicht aufgeschlossenen Gliedern.

So sehen sie also aus, dachten wir und ließen die Kolonne an uns vorbeimarschieren. Das waren sie, diese Österreicher und Deutschen, vor deren Gräueltaten die ganze Welt sich fürchtete. Sie machten alle ein finsteres Gesicht. Es gefiel ihnen wohl nicht in der Gefangenschaft. Ja, das kommt davon!

Als die Kolonne vorbei war, drohte Fedka mit der Faust hinterher: »Das Giftgas habt ihr auch erfunden, ihr verfluchten Deutschen!«

Etwas bedrückt kehrten wir nach Hause zurück. Weshalb, weiß ich nicht. Vielleicht, weil die müden, grauen Gefangenen auf uns nicht den Eindruck machten, den wir erwartet hatten. Ohne ihre Uniformmäntel hätte man sie für Flüchtlinge halten können. Die gleichen hageren, erschöpften Gesichter, die gleiche Müdigkeit und jene stumpfe Teilnahmslosigkeit an allem, was um sie herum vorging.

4. KAPITEL

Die Sommerferien hatten begonnen. Fedka und ich schmiedeten alle möglichen Pläne. Es gab viel zu tun.

Zuallererst musste ein Floß gebaut werden. Das wollten wir auf dem Teich hinter unserem Garten schwimmen lassen, wollten uns dann zum Herrn der Meere erklären und schließlich gegen die vereinigte Flotte von Pantjuschkin und Simakow, die die Zugänge zu ihren Gärten auf dem anderen Ufer beschützte, eine Seeschlacht führen.

Unsere Flotte war bis jetzt noch klein und bestand nur aus einem Gartentor, das wir ins Wasser gelassen hatten. Auch an Kampfstärke kam sie längst nicht an den Gegner heran. Der hatte aus dem Flügel eines alten Hoftores einen schweren Kreuzer gemacht und einen hölzernen Viehtrog zum Torpedoboot umgebaut. So ungleich waren die Kräfte verteilt.

Wir beschlossen daher, ein Riesenschlachtschiff nach dem neuesten Stand der Technik zu bauen.

Als Baumaterial wollten wir die Balken unseres verfallenen Badehauses benutzen. Damit meine Mutter nicht schimpfte, versprach ich ihr, unser Schlachtschiff so zu bauen, dass sie jederzeit ihre Wäsche darin spülen könnte.

Der Feind auf dem anderen Ufer hatte bemerkt, dass wir unsere Flotte vergrößern wollten. Das beunruhigte ihn, und so machte er sich auch an die Arbeit. Aber unsere Kundschafter meldeten, dass er uns nichts Ernsthaftes entgegenstellen könnte, da es ihm an Baumaterial fehlte. Er hatte zwar versucht, vom Hof einige Bretter zu stehlen, mit denen die Scheunenwand verschalt werden sollte; doch der Familienrat hatte die Verwendung der Bretter für diesen Zweck nicht gutgeheißen, und so bekamen die feindlichen Admirale Senka Pantjuschkin und Grischka Simakow von ihren Vätern eine mächtige Tracht Prügel.

Einige Tage lang plagten wir uns mit den dicken Balken herum. Ein Kriegsschiff zu bauen ist gar nicht so einfach. Dazu gehört viel Zeit und auch Geld, aber gerade damals befanden wir uns in größeren finanziellen Schwierigkeiten. Allein für die Nägel ging über ein halber Rubel drauf, und dann brauchten wir noch Leine für den Anker und Stoff für die Flagge.

Am Ende waren wir gezwungen, insgeheim eine Anleihe von 70 Kopeken aufzunehmen. Dafür verpfändeten wir zwei Lehrbücher für den Religionsunterricht, die »Deutsche Grammatik von Gläser und Petzold« und ein Buch mit Auszügen aus der russischen Literatur.

Unser Schiff war ein Prachtstück geworden. Schon gegen Abend ließen wir es zu Wasser. Timka Schtukin und Jaschka Zuckerstein halfen uns dabei. Die Kinder des Schusters kamen und sahen zu, auch meine kleine Schwester und Wolfi, unser Hündchen. Es hatte viele Namen: Purzel, Struppi … Jeder nannte es, wie er wollte.

Das Floß krachte und knarrte und plumpste schwer ins Wasser. Im selben Augenblick erklang ein lautes »Hurra«, ein Salut aus unseren Spielzeugpistolen, und über dem Schlachtschiff stieg die Flagge empor.

Unsere Fahne war schwarz mit rotem Saum und hatte in der Mitte einen blauen Kreis.

Es sah wunderbar aus, wie sich das Fahnentuch im leichten, warmen Wind entfaltete und flatterte. Wir lichteten den Anker.

Die Sonne wollte untergehen. Von weitem klangen die Glöckchen der heimkehrenden Ziegen, von denen es in Arsamas unzählig viele gab.

Fedka und ich waren an Bord unseres Schiffes. In respektvollem Abstand zog unser kleines Gartentor hinter uns her. Es sollte als Verbindungsschiff dienen.

Im Vollgefühl seiner Stärke schwamm unser Geschwader langsam auf die Mitte des Teiches hinaus und zog an den fremden Ufern entlang. Vergebens forderten wir den Gegner durch Sprachrohr und Signale heraus — er wollte den Kampf nicht aufnehmen und hielt sich in seiner Bucht unter einer morschen Weide verborgen. Seine Küstenartillerie eröffnete in ohnmächtigem Zorn das Feuer auf unsere Schiffe, wir aber gingen sofort aus dem Bereich seiner Geschütze heraus und konnten ohne jeden Schaden wieder zu unserem Hafen zurückkehren. Nur Jaschka Zuckerstein hatte am Rücken einen leichten Streifschuss abbekommen. Eine Kartoffel hatte ihn getroffen.

»Hallooo!«, hatten wir noch hinübergerufen, als wir zurückdampften, »ihr traut euch wohl nicht?«

»Nur die Ruhe! Wir werden schon kommen, freut euch nur nicht zu früh! Vor euch haben wir keine Angst!«

»Das sehen wir ja, ihr feigen Hunde!«

Wohlbehalten gelangten wir wieder in unseren Hafen. Wir warfen Anker, machten unsere Flöße mit einer Kette fest und sprangen an Land.

Am selben Abend hätte ich mich beinahe noch mit Fedka gezankt. Ich schlug vor, Fedka solle das Kommando über das Begleitschiff übernehmen, er aber spuckte nur verächtlich aus. Darauf machte ich ihm den Vorschlag, außerdem könne er Hafenkommandant werden, Chef der Küstenartillerie und … der Luftwaffe, sobald wir eine hätten. Jedoch auch die Luftstreitkräfte lockten Fedka nicht. Hartnäckig bestand er darauf, er wolle Admiral sein, sonst gehe er zum Feind über.

Meinen tüchtigen Gehilfen mochte ich allerdings nicht verlieren, und so bot ich ihm an, wir sollten umschichtig Admiral sein, an einem Tag er und am anderen ich.

So wurde es beschlossen.

Am nächsten Tag bastelten wir uns zwei Bogen, nahmen ein Dutzend Pfeile und zogen damit in unser Wäldchen. Außerdem hatten wir noch einen Vorrat an »Knallfröschen« mitgenommen. Diese Knallfrösche waren Röhrchen aus Papier, mehrere Male zusammengerollt und fest mit Bindfaden umwickelt. Darin befand sich ein Gemisch aus Knallsilber und gestoßener Kohle. So einen Frosch band man hinten an einen Pfeil. Dann musste einer den Bogen spannen, während der andere die Zündschnur am Frosch ansteckte. Im selben Augenblick schoss der Pfeil nach oben, der Frosch explodierte in der Luft und sauste in Zickzacklinien umher. Die Dohlen und Krähen bekamen dann immer einen mächtigen Schreck.

Das Wäldchen stieß an den verwilderten, dicht bewachsenen Friedhof. In seinen vielen Löchern und Gräben stand das Wasser. Gelbe Teichrosen blühten darin, und an den lichteren Stellen im Gehölz wuchsen Farn und Hahnenfuß.