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Copyright © 2017 Fabulus-Verlag Tanja Höfliger, Fellbach



Fotos: Florian Steinmüller

Illustration auf der Umschlagrückseite: Florian Prünster, Meran

Umschlaggestaltung, Satz und Herstellung: r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg

Druck und Bindearbeiten: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany


ISBN Print: 978-3-944788-77-7

ISBN EBOOK: 978-3-944788-76-0


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Für Mama:

Meine positiven Wesenszüge, meine Achtsamkeit, meine Courage, mein Mitgefühl und meinen Hitzkopf, all das, was mich ausmacht, all das, wofür ich heute stehe – hast DU mir beigebracht.

Vorwort

von Norbert Wittmann

Frühjahr 2013. Zugegeben, meine Laune hielt sich in Grenzen. Zum fünften Mal liefen die Vorbereitungen an für die Alpenüberquerung »ÜBER DEN BERG«. Viermal hatte ich in den vergangenen Jahren erfolgreich mit drogenabhängigen Menschen zu Fuß die Berge von Oberstdorf bis nach Meran überquert. Die letzte Tour war schwierig gewesen; die Teilnehmer konnten sich nicht wirklich aufeinander einlassen, immer wieder gab es Knatsch. Dann machte uns zwei Tage vor dem Ende auch noch das Wetter einen Strich durch die Rechnung und wir mussten im spätsommerlichen Schneesturm absteigen und frühzeitig abbrechen. Beruflich war ich in den vergangenen Monaten zusätzlich erheblich belastet, da mir das Thema »Präventionsveranstaltungen in Schulen« schwer zu schaffen machte. Medial verging keine Woche ohne Horrormeldung bezüglich Crystal-Meth, und mit »Kräutermischungen & Co«, sogenannten NPS (Neue psychoaktive Substanzen), drängte ein weiteres Thema auf den Drogenmarkt. Täglich riefen Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen, Betriebe an und drängten nach Aufklärungsveranstaltungen. Kurzum, mir war alles ein wenig viel und die letzte Tour lag noch immer unglücklich in meinem Magen.

Heute war also der erste Gruppenabend, an dem sich alle Bewerberinnen und Bewerber für 2013 kennenlernen sollten; fast alle sehr jung, nach Knast und Therapie leidlich bemüht clean zu bleiben, fast alle mit Crystal-Meth-Abstürzen. Ein letztes Mal hatte ich angeboten, dieses Abenteuer zu organisieren und durchzuführen. Gemeinsam mit meiner kongenialen Partnerin Sylvia erwartete ich also – schon jetzt ein bisserl müde – die Teilnehmer.

Dominik war einer der Ersten, überpünktlich mit lautem »Hallo, ich bin der Dominik!« flutete er sofort den Raum mit einer Wolke aus Energie und dem Wunsch nach Aufmerksamkeit. Ab dem Moment war es vorbei mit meiner Müdigkeit und ich erlebte die schönsten und intensivsten Monate meines langen Berufslebens. Bereits bei diesem ersten Treffen stellte sich Dominik der Gruppe mit seinem klaren Ziel vor, ein Buch über sein Leben zu schreiben. Ein hysterisches Auflachen, schief liegende Köpfe, Grinsen, Staunen, Fragezeichen, gerümpfte Nasen und verengte Augen – kurz: die volle Breitseite von Ablehnung! An Dominik perlte die geballte Ungläubigkeit ab wie der Regen an einem frisch gewachsten Auto. »Jaaaah«, sagte er in seiner so typischen Art, die wir noch lieb gewinnen sollten, und fuchtelte mit dem Zeigefinger, »Ihr werdet es schon noch sehen!«

Dominik hat es geschafft. Noch so viel mehr hat er geschafft. Ich bin stolz auf diesen Jungen und glücklich ihn begleitet zu haben, nicht nur über den Berg und zu seinem ersten Buch. Auch auf die anderen Mädels und Jungs dieses genialen 2013er Teams bin ich mächtig stolz. Alle haben inzwischen ihren Weg gefunden.

Wir wurden ein Team, weit über die Berge hinaus. Mit Dominik zog ich durch unzählige Klassenzimmer, gab Interviews und Auskunft für Reportagen, ich durfte sein allererstes Manuskript überarbeiten und erlebte seine Entwicklung zum »Jedi-Ritter« im Kampf gegen die Drogen, diese Drogen, die ihn fast das Leben, seine Zukunft und seine Familie gekostet hätten. Mit dem 2013er Team gründeten wir unseren eigenen Verein, den MAC (Mountain Activity Club), und konnten schon´etliche junge Menschen weg von den Drogen und hin zum Klettern und zur Natur bekehren. Wir wurden ausgezeichnet und geehrt, wir wurden sogar in einer eigenen TV-Reportage porträtiert...

Es ist eine Geschichte, wie man sie nicht erfinden kann. Sie aber real erleben zu dürfen, macht einen unendlich glücklich und dankbar. Doch das schönste Geschenk für mich bleibt die Begegnung mit Menschen wie Dominik, ihr Vertrauen, ihre Tränen und ihr Lachen, das sie mit mir teilen.

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Endlich frei?

Meine Mutter öffnet die Tür, fällt mir um den Hals, drückt mich an sich.

»Gott sei Dank, Domi! Du bist wieder zu Hause!« Dicke Tränen kullern über ihre Wangen.

Sie sieht fahl aus. Tiefe Augenringe und eine ungesunde Haut übertüncht eine dicke Make-up-Schicht.

»Wo ist Papa? Wo ist Joris?«

»Die sind beide gerade weg!«

»Du machst nur Spaß, oder?« Keine Reaktion.

»Die sind echt nicht da?« Während ich so durch die Wohnung schleiche, entgleitet mir mein Lächeln, ich schlucke.

Haben sie mich vergessen? Interessiert es sie nicht, wie es mir geht? Dass ich, im Januar 2012, wieder zu Hause bin? Endlich wieder!? Ich meine, ich komme gerade aus der Kiste, aus dem Knast! Mit anschließender Therapie... Ich habe keine Überraschungsparty erwartet, aber ein »Hallo, schön, dass du wieder da bist!« hatte ich mir irgendwie schon erhofft. Genau jetzt wird mir bewusst, dass sich alles verändert hat, und ich weiß, dass ich unerwünscht bin.

Seit meinem ersten Tag in Haft habe ich diesem Moment, mit all meinem Herzblut, entgegengefiebert. Jetzt ist es endlich soweit und ich fühle mich überhaupt nicht wohl. Ich bin eine Last! Ich streife weiter planlos durch die Wohnung, bleibe in meinem alten Zimmer stehen.

Ich sehe mich dort am Fensterbrett hängen und kiffen… damals war ich gerade 17 Jahre alt. Damals war alles noch so neu und cool und aufregend.

»Das ist jetzt mein Rückzugsort!« Meine Mom lehnt hinter mir am Türrahmen. Die Arme vor ihrem Körper verschränkt, traurig und trotzig. Ich verstehe nicht, fühle mich fremd und unwohl, möchte am liebsten verschwinden. Einfach weg, ganz weit weg, irgendwohin, Hauptsache alleine. Gleichzeitig ist dieser enorme Drang in mir, nach Hause, zu meiner Mama zurückkehren zu wollen… wie ein Kind, das nicht mehr weiß, wohin.

Der nächste Morgen führt mich zum Arbeitsamt, besser gesagt ins Jobcenter, so heißt das jetzt! Ich sitze im Warteraum. Mir ist flau, im Magen und im Kopf. Ich habe null Bock darauf, erneut vor irgendeinem wildfremden Menschen blank ziehen zu müssen. Wieder bitten und betteln. Ein weiteres Mal Geld von Vater Staat entgegennehmen. Die Art und Weise, wie er in den letzten Jahren für mich gesorgt hat, steht für immer in meinem Lebenslauf. Wie in Stein gemeißelt, ab heute für immer. Nach einer Ewigkeit werde ich aufgerufen.

»Guten Tag, nehmen Sie Platz!«

Vor mir sitzt eine offensichtlich unausgeglichene, streng dreinblickende Sachbearbeiterin, die, und da bin ich mir auf Anhieb zu hundert Prozent sicher, keinen Bock auf einen weiteren, viel zu jungen, tätowierten Hartz-4-Assi hat!

In meinem Kopf poppt ein Satz auf: Ich könne es nur schaffen, ein drogenfreies Leben zu führen, wenn ich offen und ehrlich mit meiner Vergangenheit umgehe…

»Was kann ich denn für Sie tun?«, beginnt die Sachbearbeiterin routiniert.

Gedanklich ordne ich mein Chaos und schaffe es einige Sekunden später, offen, ehrlich und ebenfalls routiniert zu antworten.

»Ich komme direkt aus dem Gefängnis, besser gesagt von einer Adaption. Das ist die realitätsbezogene Therapieform für Drogenabhängige. Ich musste eine Haftstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten…«

Ich rede noch eine ganze Weile, rechtfertige dieses mit jenem und erkläre meiner Sachbearbeiterin anscheinend viel zu ehrlich, wie ich derzeit versuche mit meiner Sucht umzugehen.

»Ich versuche wirklich ein produktives Mitglied…«

Die glaubt mir doch sowieso kein Wort. Die hat bereits vor zehn Minuten, »direkt aus dem Gefängnis!«, gedanklich auf Autopilot umgestellt.

Ich stelle mir vor, wie ihre Tochter gerade ihre ersten Erfahrungen mit Drogen macht und andauernd irgendwelche Kifferbekanntschaften mit nach Hause bringt.

Genau in diesem Moment hat sie jemanden gefunden, dem sie die ganze Schuld dafür aufdrücken kann. Mich!

Im weiterhin eintönig verlaufenden Gespräch erfahre ich, dass ich zwar Hartz 4 beantragen kann, mir natürlich ausreichende Unterstützung zusteht, ich dafür allerdings eine Wohnung benötige, um die ich mich, klar, selbst kümmern muss.

»Hören Sie bitte. Es ist ja nicht so, dass ich das noch nicht probiert hätte. Aber wie ich Ihnen vorhin versucht habe mitzuteilen, gibt mir keiner eine Wohnung, geschweige denn einen Job…«

Mein Magen krampft, ich atme schneller.

»Das ist ja dann wohl Ihr Problem. Der Nächste!« Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen verabschiedet sie mich, seufzt und packt sich die nächste Unterlage aus ihrem Stapel.

Ich überlege einen weiteren Überzeugungsversuch zu starten. Hat ja aber sowieso keinen Sinn. Planlos schlendere ich über den Bahnhof.

So hatte ich mir mein Leben in Freiheit nicht vorgestellt.

Tag zwei

Zweiter Tag. Statt jubelnder Menschenmassen und Trompetenschall erwarten mich Desinteresse und eine Ahnung von Depression.

»Ey Foschter, erinnerst du dich an mich, Knast, Haus Zwei?«. Vor mir steht ein kleiner, dürrer, verkümmerter und durchgefeierter Bollmann. Bollmann ist seinerzeit mein Zellenkollege gewesen. Schach spielen und Pläne schmieden.

Ich hatte nicht erwartet, ihn jemals wieder zu sehen.

»Ist das abgefahren, du hier!« Bollmann strahlt von ganzem Herzen.

»Alter!« Er blinzelt, energisch, entschlossen.

»Unglaublich!«, fährt er fort.

»Die haben mir all meine Nummern weggenommen, diese Schweine. Ich hatte nicht erwartet, dich wieder zu treffen. Ich habe da ein ganz großes Ding am Laufen, glaub mir. Wir sind doch Brüder. Gib mir deine Nummer, dann können wir direkt loslegen!«

Schon wieder so ein Gelaber! Ständig dieses Geschwalle. Alle erzählen sie dieselbe Scheiße, entziehen kann ich mich dem trotzdem nicht. Es ist, als würde mich irgendeine höhere Macht in eine andere Welt hineinziehen. Wie ein Schlag ins Gesicht!

Sekundenlang herrscht Stille. Bollmann glotzt in der Gegend herum.

»Warum sagst du denn nichts, ich bin es, Bollmann, dein Bruder, aus dem Jugendknast! Du hast mich doch nicht vergessen, oder?«

»Natürlich nicht!«, antworte ich. »Es ist nur so, das ist mein zweiter Tag in Freiheit und das Jobcenter fickt mich gerade richtig. Die behandeln mich wie einen Vollidioten!«

»Ja, Mann, und das ist genau das, wovon ich rede, Bruder. Ich weiß genau, wie du dich fühlst, mir ging es doch genauso. Von den Fotzen hast du keine Hilfe zu erwarten! Ich passe auf dich auf!« Bollmann reicht mir die Hand.

»Komm, schlag schon ein.«

Oh, fuck! Ich bringe es schon wieder nicht und lass mich komplett einlullen.

»Verpiss dich!«

»Was redest du denn? Überleg doch mal, keiner gibt dir eine Chance. Keiner will uns! Der einzige, der dir eine Chance gibt, bin ich.«

Bollmann redet verschwörerisch auf mich ein, schielt nach links und rechts…

»Ich gebe dir meine Nummer und du rufst mich an, kapiert? Glaube mir Bruder, ich weiß genau, wie du dich fühlst! Vor ein paar Monaten habe ich dasselbe durchgemacht. Keiner gibt dir eine Chance, es ist völlig egal, was wir tun oder sagen! Wir halten zusammen, genau wie damals in der Kiste. Wir lassen uns nicht unterkriegen!«

Bollmann drückt mir einen Zettel in die Hand und verschwindet. Ich stehe noch eine ganze Weile total betröppelt da. Bruder! Das hat Ace auch immer zu mir gesagt. Bollmann ist genauso falsch wie Ace, andererseits muss es ihm doch genau so ergangen sein, wie er sagt. Vielleicht ist er wirklich mein einziger Freund!?

Ich zerknülle den Zettel in meiner Hand und werfe ihn in eine Tonne.

Nach wenigen Schritten aus der Gefahrensituation drehe ich um, wühle im Müll nach seiner Nummer.

»Was machst du denn?« Werde wütend auf mich selbst, laufe auf und ab.

Bei meinen Eltern angekommen, treffe ich auf meinen Vater, unangenehm. Ich weiß nicht, was er jetzt von mir hören will, ich habe Angst vor ihm.

Ich schäme mich zutiefst, kann ihm nicht in die Augen blicken. Nachdem er von dem Diebstahl, dem Verrat an ihm, an unserer Firma und an unserer Familie erfahren hat, ist etwas in ihm gestorben. Ich würde ihm das ganze Geld sofort zurückgeben, weiß aber auch, dass meine Tat dadurch nicht ungeschehen gemacht wird.

»Ach Dominik, meine kleine Pfeife.« Papa drückt mich fest an sich, streicht mir über den Kopf. »Kleine Pfeife« hat er früher immer zu mir gesagt. Immer dann, wenn ich etwas angestellt habe, er aber einfach nur froh ist, dass mir nichts passiert ist.

»Wir kriegen das schon wieder hin! Ich habe einen Job für dich. Im Lager, nichts Tolles, aber für die ersten Tage in Freiheit wird das schon gehen.«

Ein tiefsitzender Schmerz löst sich in diesem Moment. Mit einem Schlag ist alles gut, ich bekomme wieder Luft und kann so frei atmen wie schon lange nicht mehr.

Mein Vater vermittelt mir eine Aushilfstätigkeit, Zeitarbeit im Lager. Von 6 Uhr morgens bis 16 Uhr am Nachmittag für 5,56 Euro Brutto die Stunde. Mein Wecker klingelt jeden Morgen um 4:30 Uhr. Punkt 5 Uhr fahre ich mit dem Fahrrad, im Winter, ohne Licht, zur Arbeit. Für einen großen Sportartikelhersteller. Ich bin jeden Tag pünktlich, sammle tausend Klamottenteile pro Tag, gebe mir richtig Mühe, versuche neue Bekanntschaften zu gewinnen, meinen Platz zu finden und irgendwie normal zu sein. Egal, womit die Kollegen mich volllabern.

»Alter, (Gedankenpause) und wenn ich es dir doch sage. Die Alte hatte keine Chance. Ich habe die abgeschleppt und die ganze Nacht durchgebummst! Ich gehe immer ins Twelve, kennst du das? Da kriegste auf jeden Fall eine zum Ficken, Standard. Wir gehen einfach mal zusammen hin – ich mach dir da eine klar, glaub mir Bruder. Aber sag mal, was macht jemand mit mittlerer Reife und deiner Ausbildung bei uns Kanaken?! Bist wohl frisch aus dem Knast!«

Was für ein Lauch, der hat nicht mehr drauf als Zahnbelag, er keucht und lacht und keucht… und lacht…

»Das ist nur übergangsweise«, antworte ich in der Hoffnung, dass dem auch wirklich so ist.

Das ist also mein neues Leben? Ich komme mir vor wie ein Alien, fremd und so vertraut alleine. Haben die nichts anderes in der Birne als Kohle, Ficken, Saufen und damit zu prahlen, dass sie Kohle haben, jeden Tag ficken und saufen?

Zweimal zwei Stunden in der Woche bin ich im betreuten Einzelwohnen der Mudra, zur Nachsorge. »Therapie machen«. Das war die Bedingung von Frauke und Robert aus der Adaption, sonst wäre ich wieder im Jugendknast gelandet.

Meine Therapeutin Frau S. scheint nett zu sein, im Gegensatz zu allen anderen Psychologen auf meinem Weg. Bei ihr hab ich nicht das Gefühl, sagen zu müssen, was sie hören will.

Eltern-Elend

Bei meinen Eltern angekommen, muss ich erneut feststellen, dass ein Zusammenleben zwischen meinem Vater, meiner Mutter und meinem kleinen Bruder nicht mehr existent ist.

Mein Vater hängt vor der Glotze, mit Kopfhörern, schüttet ein Bier nach dem anderen in sich hinein. Hinter dem Sofakissen bunkert er Schnapsflaschen, verhält sich merkwürdig, wie bei einem Ritual, als würde er ein Geheimnis hüten. Er blickt einige Sekunden umher, vergewissert sich, dass ihm niemand dabei zusieht, wie er den bitteren Geschmack des Weinbrands mit Bier hinunterspült. Die Zigarettenkippe liegt neben dem Aschenbecher und glimmt vor sich hin.

Mama verbarrikadiert sich konstant in ihrem neuen Reich, verkriecht sich mit Hilfe von Hörbüchern. Joris ist so viel wie möglich unterwegs.

»Papa ist nur noch am Saufen. Ich versuche, ihm so aus dem Weg zu gehen.« Sie sagt das so ruhig und hoffnungslos – als wäre das schon immer so gewesen.

»Nachts stürmt er in mein Zimmer, beschimpft und erniedrigt mich.« Auch jetzt regt sich wenig.

Was ist hier nur passiert? Ich wusste ja, dass es zwischen den beiden nicht gut läuft, aber…

Eiskalt läuft es mir den Rücken hinunter.

»Hat er dich angefasst?« Keine Reaktion.

»Jetzt sag schon!«

»Nein, hat er nicht! Aber weißt du, manchmal sind Worte schlimmer als Schläge.«

Mein Herz verkrampft. Es tut mir unendlich leid, meine Mutter so zu sehen. Sie fängt an zu weinen. Ich nehme sie in den Arm, versuche etwas Aufmunterndes zu sagen, verlasse kurz darauf das Zimmer, schleiche an meinem Vater vorbei ins Badezimmer. Meine Mutter trägt Schnittwunden an Armen und Handgelenk, versucht sie nicht einmal zu verbergen. Noch eine ganze Weile sitze ich auf dem Badezimmerteppich. Tränen tropfen, Gedanken kreisen…

»Mach sofort auf! Du sperrst dich hier nicht ein! Los, aufmachen!«, donnert es gegen die Tür.

Ich öffne. Vater steht vor mir, kann sich kaum auf den Beinen halten. So habe ich ihn lange nicht gesehen. Er mustert mich: die Augen hasserfüllte Sehschlitze, blutrot unterlaufen, seine Backen eingefallen.

»Du bist eine einzige verdammte Enttäuschung!«, sagt er.

Sein heißer Atem sticht mir in der Nase.

»Was hast du gesagt?«

»Du hast schon verstanden, eine einzige verdammte Enttäuschung bist du!«

»Halt deine Fresse, du elender Säufer!« Ich drücke ihn zur Seite, schiebe mich an ihm vorbei und verlasse die Wohnung! Ziellos streife ich umher, versuche den Kopf frei zu kriegen, komme mitten in der Nacht zurück. Schon beim Öffnen der Eingangstür strömt mir dieser widerliche Geruch entgegen, eine Mischung aus Tabak, Alk und stickiger Luft. »Unsere« Wohnung sieht genauso aus wie früher, hat aber nichts mehr von damals.

Ich habe mir die Nacht um die Ohren geschlagen, konnte ums Verrecken nicht einschlafen. Dennoch bin ich pünktlich. Empfangen durch ein genuscheltes »Morgn« der Kollegen und niedergemacht von einem profitgesteuerten »Das muss aber schneller gehen!« der Abteilungsleiter.

»Herr Forster! Sie dürfen sich schon ein wenig mehr anstrengen. Schließlich ist es nicht selbstverständlich, kriminellem Abschaum wie Ihnen eine Chance zu geben…«

Von meinem Vater muss ich mir pausenlos anhören, wie schlecht es ihm geht, wie enttäuscht er doch von mir ist, und dass nur ICH allein an seiner Sauferei schuld bin. An dem halbvollen Diazepam-Fläschchen, im dritten Schub unseres Vorratsschrankes, und an den Schluchzern erkenne ich, wie sehr meine Mutter leidet. Sie würde mich zwar niemals anklagen, aber bin ich deshalb unschuldig? Ich hasse mich, ich hasse mich, mein Leben, und am meisten hasse ich dich!

Das einzige, was mich davon abhält, mich direkt ins Nirwana zu beamen, ist das Fitnessstudio. Fünfmal die Woche für zwei bis drei Stunden stemme ich Gewichte. So lange, bis meine Arme taub sind und mein Kopf frei…

Und bis dann alles wieder von vorne beginnt. Tag für Tag, immer aufs Neue.

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König Alkohol

Ich öffne meine Augen, es ist warm, ich schwitze und liege auf dem Boden. Alles dreht sich.

Ein dreiviertel Jahr ist vergangen. Von Resozialisierung keine Spur. Konsequenz: Selbstmedikation. Nacht für Nacht sacke ich rotzedicht auf meine Matratze. Alkohol ist mein ständiger Begleiter. Jeden Mittag, wenn ich verquollen in den Spiegel blicke, frage ich mich, wer mich da eigentlich anglotzt. Ich verachte meinen Vater, weil er säuft, weil alles den Bach runtergeht. Tue aber das gleiche. Ich kann noch nicht einmal behaupten, dass mir der Schnaps schmeckt. Die Menschen meiden mich, wenn ich dumpftrunken und vollgekotzt an einem Dienstag über den Bahnhof wanke. Es ist auch nicht so, als würden sie Donnerstag anders reagieren. Sie verachten mich, zu Recht. Wenigstens bin ich nicht mehr kriminell!

Wenn es nach dem lieben Herrn Beamten ginge, wie war noch gleich sein Name? Wenn es also nach Herrn »Ach halt doch die Schnauze« ginge, hätte ich nur durch eine dieser offenen Türen, die hier überall verteilt sind, gehen müssen…

Crystal-Entzug

Wie fühlt sich ein Crystal-Entzug an?

Beschissen!

Und der Entzug im Gefängnis? Wie war der? Der war vor allem psychisch, denn den körperlichen hatte ich da schon hinter mir. Sich psychisch schwach zu fühlen, zerfetzt und verwundbar, ist aber im Knast schon schlimm genug. Dort brauchst du Aggressivität , um dich zu behaupten.

Von dem Tag, an dem ich Ace mein Dope zum Aufbewahren anvertraut hatte, bis zum Tag der Verhaftung vergingen knapp acht Wochen. Das war die Phase körperlichen Entzugs. Die ersten zwei Wochen habe ich geschlafen, sehr viel geschlafen. Sechzehn bis zwanzig Stunden pro Tag. War ich wach, habe ich gekifft. Eine Bong jagte die nächste, vernichtete eine Mische nach der anderen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon lange keine Kohle mehr. Überwiegend ernährte ich mich von Nudeln mit Rahmsoße. Je nach Großzügigkeit der Leute konnte ich mir nach einem erfolgreichen Bettelmarathon dann auch mal ne Packung Asianudeln und Pulvereistee leisten. Schon merkwürdig. Einige Monate zuvor hatte ich 13.000 Euro in der Tasche und noch mehr zu Hause, und jetzt muss ich betteln. Bei Freunden, bei Fremden.

Mit jedem Tag der Regeneration kommen andere Sinne zurück. Geschmackssinn. Anfangs schmeckt alles fad. Scharf, süß, salzig, sauer: alles gleich. Mein pelziger Rachenraum und sich langsam lösende Schleimbatzen machen mir zu schaffen. »Die Krusten von der Seele husten.« Mit jedem komatösen Dauerschlaf erhole ich mich mehr. Ich kann richtig spüren, wie sich mein Magen für die Nahrung bedankt. Der Matsch in meinem Hirn setzt sich Stück für Stück wieder zusammen. Nach drei Wochen kann ich einen DVD-Player bedienen und nach sechs Wochen sogar wieder Sport machen.

Der menschliche Körper ist ein Wunder. Wenn wir uns das Knie aufschlagen und bluten, bildet sich nach kurzer Zeit ein Grind über der Wunde. Eine Zellerneuerung beginnt, und nach ein paar Tagen ist alles wieder gut. Ähnliches passiert während eines Entzuges. Es ist, als würden sich Gehirnzellen selbstständig wieder zusammensetzen. Aufgeplatzte Hautfetzen und verätzte Nebenhöhlen heilen. Schlafen ist die beste Medizin, Abstinenz ist Bedingung.

Schreiben musste ich erst wieder lernen. Nach einigen Wochen Knast hatte es sich einigermaßen eingependelt. Erinnerungen kamen Stück für Stück zurück.

Wörter waren mir wochenlang entfallen, irgendwann war aber alles wieder da. Meine Mama hat erzählt, dass sie meine ersten Briefe nicht entziffern konnte.

Seit sechs Jahren trage ich einen psychischen Schaden mit mir herum, irreparabel, trotz Abstinenz. Mein Kopf ist kein Knie, heilt nicht von selbst. Und wenn das Gehirn wieder funktioniert, ich klarer denken kann, ist trotzdem nicht alles klar. Im Inneren trage ich tiefe Narben. Meine Seele ist zersprungen. Ich kann kleben, reparieren, therapieren, rehabilitieren, aber sie bleibt gebrochen.

Der Überfall

Das Türschloss klickt. Leise, dennoch laut genug, um wach zu werden.

Schritte, ein hektisches Atmen, eine Tür schließt sich.

Ich liege total verkatert im Bett. Habe Mühe, meine Augen offen zu halten, kneife meine Augenlieder zusammen. Ich bin geschlaucht und fertig, nicht fähig, mich zu bewegen. Panik macht sich breit, intensiv und ekelhaft.

Dann bin ich mucksmäuschenstill, halte die Luft an.

Ich kann niemanden erkennen, weiß aber, dass er da ist, Psycho. Ich habe gewusst, dass etwas Schlimmes passieren wird. Menschen wie er bringen nichts Gutes, niemals.

Es ist ziemlich früh am Morgen, kurz nach sieben. Durch die zugezogenen Vorhänge fällt seichtes Licht. Regentropfen sammeln sich an der Fensterscheibe, dahinter ein wütender Sturm. Der Wind pfeift seine Melodie. Als wollte er sagen:

»Trau dich bloß nicht aus dem Haus, tust du es doch, dann gnade dir Gott!«

Er atmet ein, atmet aus, viel zu laut, kurze Pause. Dann schneller, dann Stille. Ein hektischer Atemzug entweicht, deutlich zu hören. Er versucht, leise zu sein. Wie bei einem Versteckspiel, einem Kinderspiel. Als Räuber perfekt zwischen den Sträuchern verborgen. Für den Gendarmen unauffindbar, und doch gleich ertappt. Verraten durch den eigenen Atem. Das Anhalten hatte die Luft so aufgestaut – unmöglich, leise zu sein.

Ich bewege mich so wenig wie möglich. »Hoffentlich kommt der jetzt nicht ins Zimmer.« Ich habe nichts gesehen, nichts gehört und werde nichts sagen, niemals.

Ich konzentriere mich darauf, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, aber meine Gedanken wirbeln unkontrolliert durcheinander.

»Was soll ich denn jetzt machen?«

»Plopp!«, eine Garderobenstange schlägt auf dem Boden auf, die Tür fällt in Schloss, und weg ist er. »Scheiße, was mache ich denn jetzt nur?« Ich bin Mitwisser. Ich weiß weder, wie er heißt, noch wo er wohnt, noch wohin er flieht, aber ich bin Mitwisser.

Vorsichtig schleiche ich durch das Schlafbis ins Wohnzimmer. Die Wohnung ist total verdreckt. Überall liegt Müll, eine Kleiderstange, zerbrochene Sektflaschen.

Dillon liegt im Wohnzimmer, als hätte er von alldem nichts mitbekommen.

»Dillon, aufwachen!«

Er richtet sich auf, wickelt sich in eine dünne Fleecedecke. Mit der linken Hand fixiert er die beiden Enden unterhalb seines Kinns. Seine Rechte zittert. Zwischen Zeigeund Mittelfinger glimmt eine Zigarette, an der er im Sekundentakt hastig zieht.