Die große Schneetänzerin-Saga: Drei bewegende Romane über die Kraft von Freundschaft und Liebe in Zeiten voller Schrecken und Dunkelheit.
Über »Schneetänzerin«:
Es hätte die schönste Zeit ihres Lebens sein können: Friedlich wachsen die junge Anna und ihre Freundin Helene auf dem abgeschiedenen ostpreußischen Gut Mechnitz auf. Doch dann wird ihr kleines Paradies bedroht: Adam, Annas große Liebe, meldet sich freiwillig für die Front und Helene stürzt sich in eine gefährliche Liebe zu dem Kriegsgefangenen Robert – obwohl ein machthungriger SS-Offizier Ansprüche auf sie erhebt. Und während die Ostfront mitsamt Hunger und Tod immer näher rückt, müssen Anna und Helene um ihr Glück und ihre Zukunft kämpfen.
Über »Das Herz der Schneetänzerin«:
Bremen, 1950: Die Jahre nach dem Krieg waren hart, die Nahrungsmittel knapp und die Winter kalt, doch nun ist es Zeit, nach vorn zu blicken – auch für Anna und ihre Familie. Durch ihre Arbeit in der Kantine der amerikanischen Besatzer nimmt Annas Leben eine ganz neue Wendung: Mit der quirligen Gisi kehren Fröhlichkeit und Ausgelassenheit in ihren Alltag zurück … und mit dem charmanten GI Samuel Herzklopfen und Küsse bei Sonnenuntergang. Doch darf Anna ihren Gefühlen wirklich folgen, solange sie nicht weiß, welches Schicksal ihre Jugendliebe Adam ereilt hat, der in den Kriegswirren 1944 verschwand?
Über »Der Traum der Schneetänzerin«:
Manchmal muss man seine Heimat verlassen, um ein neues Zuhause zu finden. Deswegen packt auch Anna ihre Koffer und besteigt einen Dampfer, der sie in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten bringen soll. Nur ganz so strahlend ist die Neue Welt leider nicht: Zahllose Einwanderer suchen verzweifelt nach Arbeit. Eine zarte Hoffnung auf Glück tut sich auf, als Anna Anstellung auf einer Ranch findet. Endlich wieder Weite und Pferde, Sonnenduft und Pfirsicheistee – und eine neue Liebe? Doch auch in diesem Paradies ziehen bald dunkle Wolken auf …
Über die Autorin:
Judith Nicolai wurde 1976 in Karlsruhe geboren. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bereits mit 14 Jahren. Dennoch machte sie erst eine Ausbildung zur Buchhändlerin und studierte anschließend Gartenbauwissenschaften. Heute lebt sie in der Nähe von Karlsruhe.
Bei dotbooks erschien bereits Judith Nicolais Roman »Die Frauen vom Schlehenhof«.
Die komplette »Schneetänzerin«-Trilogie ist auch als Sammelband unter dem Titel »In Zeiten des Sturms« erhältlich.
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Originalausgabe Oktober 2017
Copyright © der Originalausgabe 2017 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Vera Baschlakow
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von Arcangel sowie shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-96148-178-1
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Judith Nicolai
Schneetänzerin
Das Herz der Schneetänzerin
Der Traum der Schneetänzerin
Drei Romane in einem Band
dotbooks.
Als Adam und ich uns begegneten, traf uns nicht der Blitzschlag der ersten großen Liebe, wie ich es mir in meinen Tagträumen immer ausgemalt hatte. Ich thronte weder in einem jagdgrünen Samtkleid auf einem temperamentvollen Schimmel, noch rettete Adam mich vor einer Horde ungewaschener Wegelagerer, die es auf meine Brillanten abgesehen hatten. Ganz im Gegenteil. Ich saß heulend im Dreck und wischte mir Rotz und Tränen ohne große Umstände mit dem Zipfel meiner Kittelschürze ab, da ich kein Taschentuch dabeihatte. Ausgerechnet in diesem wenig erhebenden Moment trat Adam in mein Leben. Zu meiner Ehrenrettung möchte ich allerdings erwähnen, dass ich an diesem denkwürdigen Sommertag noch nicht einmal zehn Jahre alt war. Aber lassen Sie mich erzählen.
Juli 1937, Gut Mechnitz, Ostpreußen
»Anna, willst du nicht ein paar Heidelbeeren pflücken gehen? Wenn du das Kännchen vollkriegst, gibt es zum Abendessen Gnietsch.«
Mutters Tonfall verriet mir, dass sie diesen Vorschlag nicht machte, um ihrer gelangweilten Tochter die Zeit zu vertreiben. Vermutlich ging es ihr auch nicht so sehr um eine Milchkanne voller Beeren oder den für die Gegend hier typischen Nachtisch mit Zucker und Milch. Sie hoffte wohl eher auf ein paar friedliche Stunden, in denen sie ungestört die Holzkisten mit Geschirr, Hausrat und Wäsche auspacken konnte, die der Fuhrmann am Mittag endlich vom Bahnhof in Wehlau gebracht hatte. Also drückte sie mir unser Milchkännchen aus Emaille in die Hand und schob mich mit sanftem Nachdruck aus der Küche.
Gehorsam hüpfte ich ins Freie und zwängte mich durch die schmale Tür, die neben unserem Haus in die Mauer eingelassen war, hinaus auf den Feldweg. Insgeheim war ich froh darüber, dass Mutter mich nicht zum Helfen verdonnert hatte und ich dem ungemütlichen Durcheinander aus Kisten, zusammengeknülltem Zeitungspapier und Holzwolle für eine Weile entrinnen konnte.
Das rote Emaillekännchen schwang in meiner Hand, während ich über den ausgetrockneten Feldweg hüpfte, dass der Staub nur so flog. Die Nachmittagshitze ließ die Luft, die schwer über dem knochenweißen Sandweg hing, flirren. Nur ein paar Schwalben flogen unbeeindruckt von der schwülen Wärme in Zickzackbahnen über den Weg, dass mir schon vom Zusehen ganz schwindelig wurde. Ein Stück hinter der hohen, efeubewachsenen Mauer standen die Insthäuser, in denen die Landarbeiter und ihre Familien wohnten. Vor einem dieser schmalen Backsteinhäuschen mit ihren taschentuchgroßen Gärten spielten zwei Mädchen im Sand mit Murmeln. Ich winkte ihnen schüchtern zu, blieb aber nicht stehen, denn ich hatte eine Aufgabe zu erledigen.
Nach einer guten Stunde sah ich immer noch den roten Boden der Kanne durch die wenigen darauf herumkullernden Beeren hindurchleuchten, doch das war kein Wunder. Der Weg hinüber nach Grünhayn verlief nur ein kurzes Stück am Waldrand entlang. Den größten Teil der Strecke schlängelte er sich durch Wiesen und an Getreideäckern vorbei. Jetzt, kurz vor der Ernte, überragten mich die Roggen- und Haferähren um Haupteslänge, sodass ich beinahe das Gefühl hatte, durch einen Irrgarten zu laufen. Einen Irrgarten ohne Heidelbeeren freilich.
Doch ich traute mich nicht, allein in den Wald zu gehen, wo es die besten Heidelbeerstellen gab. Denn dort konnte man nicht nur auf Wildschweine und Damwild treffen, sondern mitunter auch auf den alten Heinrich. Das war ein verhutzelter, alter Mann mit langen, grauen Spinnwebhaaren, die ihm in Strähnen vom ansonsten völlig kahlen Kopf hingen. Seine viel zu großen Hosen hatte er mit einem Stück Schnur knapp unter den Achselhöhlen zusammengebunden.
Eigentlich wohnte Heinrich bei seiner Enkeltochter und ihrem Mann in einem der Insthäuser, doch zu deren großem Missfallen und noch größerer Verlegenheit strich er oft tagelang durch die Wälder rund um Grünhayn, wo er Pilze und Beeren sammelte und vermutlich auch das eine oder andere Kaninchen, das das Pech hatte, in eine seiner selbst gebastelten Fallen geraten zu sein. Diese Schätze tauschte er gegen Schnupftabak oder verkaufte sie an alle im Dorf und auf Gut Mechnitz, die so nett waren, ihm ein paar Pfennige dafür zu geben. Begegnete er mir auf der Straße oder dem Gutshof, zog er auf übertriebene Art seinen speckigen Hut, murmelte vor sich hin und versuchte, mir übers Haar zu streichen. Das fand ich lustig und unheimlich zugleich.
Vater hatte gesagt, ich bräuchte mich nicht vor Heinrich zu fürchten. Er habe aus dem großen Krieg den Grabenkoller mitgebracht und sei deswegen ein bisschen wunderlich. Doch was genau Vater damit meinte, hatte ich nicht so recht verstanden. Denn so ein Graben war ja alles in allem eine äußerst erfreuliche Angelegenheit: Im Frühjahr fand man dort Froschlaich und die gelben Sumpfdotterblumen, die ich so gerne mochte. Und im Herbst konnte man Staudämme darin bauen oder die Wiesenchampignons sammeln, die an den Böschungen wuchsen. Außerdem raunten und murmelten Gräben doch so nett, wenn im Frühjahr das Schmelzwasser von den Wiesen abfloss. Warum der alte Heinrich also ausgerechnet wegen eines Grabens den Koller bekam, wollte mir nicht einleuchten.
Heute frage ich mich manchmal, was nach dem Einmarsch der Roten Armee aus Heinrich geworden sein mag. Dann habe ich beinahe das Gefühl, dass er sich immer noch in den polnischen Wäldern herumtreibt, weil ihm niemand gesagt hat, dass der Krieg vorbei ist und die Deutschen weg sind.
Im Wald konnte ich also keine Beeren pflücken, dabei hätte ich Mutter so gerne eine Freude gemacht und sie mit einem gut gefüllten Kännchen überrascht. Seit wir hier auf Gut Mechnitz wohnten, durchstreifte ich begeistert Wiesen und Waldränder und sammelte voller Freude Brombeeren, Tannenzapfen und die ersten Pilze. Ich war überzeugt davon, dass eine reiche Ausbeute an Heidelbeeren auch Mutters Laune erheblich bessern würde. Dann würde sie den Ort, der seit zwei Wochen unser Zuhause war, mit ebenso freundlichen Augen betrachten wie ich.
Bereits auf der letzten Etappe unserer Reise hierher, nachdem wir nach einer schier endlosen Fahrt durch den polnischen Korridor in Königsberg endlich den verplombten Zug verlassen und in die kleine Bummelbahn umsteigen durften, hatte das Land mich begeistert. Unter der hohen Kuppel des Frühsommerhimmels grasten Rinder, begleitet von einer buckligen, stelzbeinigen Wachkompanie aus Störchen. Durch das Fenster unseres Zugabteils, das wir nun endlich wieder öffnen durften, drang außer dem rußigen Atem der Lokomotive ein Hauch frischer, nach Erde, Wald und Ostsee duftender Luft.
Der Abschied von Bremen, dem für zwei Familien viel zu kleinen Siedlungshäuschen und der strengen, wenn auch liebevollen Aufsicht meiner Großeltern und Tante Heidruns, bei denen wir bisher gewohnt hatten, war mir nicht sonderlich schwergefallen. Zu verlockend war das, was mich am Ziel unserer Reise erwartete: Ein Leben in einem Märchenland, in dem es Kühe, Schafe und sogar Elche gab, vor allem aber so viele Pferde, dass sich hier auf Gut Mechnitz drei Stallknechte und noch mehr Burschen ausschließlich um die schweren Arbeitstiere, die Reitpferde und die wertvollen Zuchtstuten kümmerten. Wie konnte ich da unser altes Leben vermissen?
Während ich diesen angenehmen Gedanken nachhing, war ich unversehens weiter in Richtung der Deime getrottet, als ich eigentlich vorgehabt hatte. Doch auf der anderen Uferseite war ein Wäldchen, in dem es bestimmt Heidelbeeren gab. Da es schon einige Zeit nicht mehr geregnet hatte, rieselte nur ein staubiges Rinnsal über die Steine im Bachbett. Ich würde nicht bis zur Brücke gehen müssen, sondern konnte hier durchs Wasser waten und die flache Böschung auf der anderen Seite hinaufkraxeln. Schuhe trug ich im Sommer ohnehin keine.
Tatsächlich wurde ich im lichten Schatten des Buchenwäldchens fündig. Während ich fröhlich vor mich hin sang, ließ ich eine Beere nach der anderen in das Milchkännchen fallen, manche landeten auch in meinem von der Hitze ausgedörrten Mund. Auf das Donnergrollen achtete ich nicht.
Als ich den Blick hob, erschrak ich: Über mir hatten sich Unwetterwolken aufgetürmt. Gerade in diesem Moment schienen sie beschlossen zu haben, ihre Last nicht mehr länger mit sich zu schleppen, sondern sie an Ort und Stelle und in möglichst kurzer Zeit loszuwerden. Es begann in Strömen zu regnen. Vom Himmel fielen große, harte Tropfen, die mich ins Gesicht und in die nackten Arme zwickten.
Ich rannte, so schnell mich die Beine trugen, zurück zum Bach. Anstelle des gerade noch so trägen Rinnsals schäumte das Wasser wütend über das Bachbett, von den prasselnden Regentropfen aufgepeitscht, trübe vom Lehm, den es vom Uferrand mit sich riss. Mehr rutschend als kletternd, mühte ich mich hinunter bis ins Wasser, das mir schon fast bis zu den Knien reichte, und watete auf die andere Seite.
Die Uferböschung ragte vor mir auf wie eine Wand, Gras und Steine glänzend vor Nässe. Schon beim ersten Schritt rutschte ich aus und landete wieder im Wasser. Beim zweiten Mal nahm ich tüchtig Anlauf und klammerte mich an einem Büschel Hahnenfuß fest, dessen gelbe Blüten mir über den Uferrand hinweg ermutigend zublinzelten. Doch das verräterische Kraut ließ mich im Stich, seine schlüpfrigen Blätter glitten mir durch die Finger, und ich rutschte wieder zurück ins Wasser, wo ich mit dem rechten Knie schmerzhaft auf ein paar Kiesel aufschlug. Die Milchkanne kullerte neben mir die Böschung hinab, ihr wertvoller Inhalt landete im Wasser.
Das gab mir zusätzlich zum aufgeschürften Knie und dem schmutzigen Kleid, das mir zu Hause bestimmt gewaltigen Ärger einbringen würde, den Rest. Ich blieb einfach sitzen und brach in Tränen aus – vor Wut, Angst und Schmerzen. Ich würde in diesem abscheulichen Bach elend verhungern oder von einem Wolf gefressen werden – vielleicht auch beides. Bei diesem Gedanken stieß ich ein jämmerliches Heulen aus, das vermutlich jeden Wolf verjagt hätte. Auf die Idee, bis zur nur ungefähr 100 Meter entfernten Viehtränke zu waten und dort aus dem Bach zu steigen, kam ich in meiner Not nicht.
Gerade wischte ich mir mit dem Zipfel meiner nassen Schürze Rotz und Tränen aus dem Gesicht, als ich das gedämpfte Trappeln von Pferdehufen hörte. Als ich aufschaute, blickten zwei neugierige Köpfe über den Rand der Böschung auf mich herab: der riesige Schädel eines Kaltblüters und ein lachendes Jungengesicht, das von regennassen Haarsträhnen umrahmt war.
»Was tust du da im Bach? Fängst du Krebse?«
Vor Schreck machte ich einen kleinen Satz im Wasser und schnaubte dann, um Würde bemüht, verächtlich durch die Nase.
Der Junge streckte seinen Arm zu mir herunter. »Halt dich fest, ich hol dich da raus.«
Ich packte mein Kännchen, dann griff ich nach seiner Hand. Er zog mich hoch, bis ich tropfend neben ihm im Gras lag, langte in seine Hosentasche und hielt mir ein gräuliches Taschentuch hin. »Hier, nimm das. Damit geht’s besser als mit der Schürze.«
Beschämt betrachtete ich meine schmutzigen Füße. Der Junge wedelte noch einmal mit dem Taschentuch, dann fiel sein Blick auf mein Knie, von dem das Blut tröpfelte.
»Das sieht böse aus. Tut bestimmt ziemlich weh. Traust du dich, auf Otto zu reiten? Wir haben ja denselben Heimweg.«
Meine Verlegenheit schlug in Neugierde um. Mit einem jähen Aufflackern weiblicher Eitelkeit wurde mir bewusst, dass mir immer noch die Nase lief. Da ich ungern noch einmal von meinem Schürzenzipfel Gebrauch machen wollte, griff ich nach dem Taschentuch und schnäuzte mich ausgiebig.
»Natürlich traue ich mich das. Otto kenne ich schon. Aber wer bist du?«, sagte ich schon wieder recht forsch, wenn auch mit verschnupfter Stimme.
Otto war eines der schweren Arbeitspferde aus dem Stall von Gut Mechnitz. Trotz seiner enormen Kräfte hatte er den Charakter eines Lämmchens und ließ sich gerne mit Streicheleinheiten oder einem Sommerapfel verwöhnen. Vater hatte mich gleich am Tag nach unserer Ankunft durch die Stallungen von Mechnitz geführt und mir die Pferde gezeigt. An die wertvollen Reitpferde und Zuchtstuten durfte ich nicht heran, aber die Arbeits- und Kutschpferde hatte ich seitdem schon öfter besucht.
»Ich bin Adam. Ich arbeite im Stall.«
Auch von ihm hatte Vater uns schon erzählt. Adam war der einzige Sohn einer Witwe aus einem der Nachbardörfer. Er war im Frühjahr konfirmiert worden. Damit war seine Volksschulzeit zu Ende, und er hatte begonnen, als Bursche in den Ställen des Gutes zu arbeiten. Er war ein guter Schüler gewesen, sodass er ohne Weiteres die höhere Schule in Wehlau hätte besuchen und das Abitur machen können. Doch dazu fehlte das Geld. Da der Weg vom Häuschen seiner Mutter nach Mechnitz viel zu weit war, als dass er ihn jeden Tag zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen konnte, wohnte Adam in einer Kammer im Dienstbotentrakt des Gutshauses. In jenem Sommer war er gerade 14 Jahre alt geworden.
»Ich heiße Anna«, sagte ich, als Adam mir den Arm entgegenstreckte, um mir aufzuhelfen.
Er zog mich hoch und hielt mir seine zur Räuberleiter gefalteten Hände hin. »Hier, steig auf.«
Vorsichtig stellte ich meinen linken Fuß hinein, stieß mich mit meinem aufgeschürften Bein vom Boden ab und landete mit Adams Hilfe auf Ottos breitem Rücken. Rasch hielt ich mich an seiner Mähne fest und schaute mich um. Ich fühlte mich fast wie im Ausguck eines Segelschiffes, als Otto sich schwankend in Bewegung setzte, von Adam am Zügel geführt. Auch Otto war erpicht darauf, endlich aus dem Regen und in seinen trockenen Stall zu kommen.
Aus dieser ungewohnten Höhe konnte ich die Getreidefelder rund um uns überblicken – goldgelb erstreckten sie sich übers Land, manchmal unterbrochen durch mattgrüne Grasflächen. Vor uns schlängelte sich der schlammige Weg, auf den immer noch die Regentropfen klatschten. Wenn ich die Augen fest zusammenkniff, sahen die Getreideäcker, durch die der kühle Regenwind fuhr und die Halme beugte, aus wie ein vom Sturm gepeitschtes Meer. Ich war der Kapitän unseres Schiffes, das den gelben Ozean kreuzte, und Adam mein Steuermann.
Ich richtete mich in meinem Ausguck auf und hob die Hand zu einem zackigen Gruß an meine unsichtbare Kapitänsmütze, während ich der zaudernden Mannschaft Befehle zubrüllte. Wir mussten die Segel reffen, bevor der Sturm uns die Wanten abriss und der Baum brach (ich hatte gerade mit großer Begeisterung Meuterei auf der Bounty gelesen). Adam schaute zu mir hinauf, sah mich mit seinen lachenden, braunen Augen an und salutierte ebenfalls.
Es hatte schon fast wieder aufgehört zu regnen, als Adam das kleine Tor zum Wirtschaftshof öffnete. Wir brachten Otto in den Stall und rubbelten ihn mit einem Strohwisch trocken. Dabei musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen und ordentlich strecken.
»Sag deinen Leuten lieber nichts davon, dass du fast im Bach ersoffen wärst. Sonst lassen die dich nicht mehr alleine vor die Tür«, riet mir Adam.
Ich nickte, denn das leuchtete mir ein. Ich hatte ganz und gar keine Lust, meine gerade erst gewonnene Freiheit wieder zu verlieren.
Wir hatten den gepflasterten Hof schon fast überquert, als hinter uns eine Tür zugeschlagen wurde.
»Jesses, Maria und Josef! Was haste denn mit dem Marjellche gemacht, du Rotzbengel? Hastes in’n Misthaufen geschubst?« Frau Barkschat, die Köchin, war gerade aus der Milchkammer gekommen und rang die Hände vor ihrem beachtlichen, in eine geblümte Kattunschürze gehüllten Busen, als sie mich sah. »Das scheene Kleid ganz dreckig, und das Knie blutet auch! Na warte, dafür hättest du ’nen Satz warme Ohren verdient!« Frau Barkschats Kinn bebte vor Entrüstung.
Adam zog den Kopf ein, als rechnete er damit, dass Frau Barkschat gleich selbst zur Tat schreiten würde. »Tut mir leid«, nuschelte er verlegen. »Soll nicht wieder vorkommen.«
»Bitte verhauen Sie ihn nicht, Frau Barkschat«, bat ich schüchtern. »Adam kann nichts dafür. Ich bin hingefallen, in den Dreck, weil ich mich so vor dem Unwetter gefürchtet habe. Und dann hat er mich heimgebracht, wo ich doch mit dem schlimmen Bein nicht mehr laufen kann.« Ich schniefte ein bisschen und zog das verletzte Knie an, bis ich wie ein Storch schwankend auf einem Bein stand.
»Mhf.« Mit einem Geräusch der Missbilligung schüttelte Frau Barkschat den Kopf, packte dann Adam am Hemdkragen und mich am Arm und zog uns mit sich. »Klatschnass seid ihr, alle beide, wie wenn ihr in’n Bach gefallen wärt. Jetzt erst mal raus aus den nassen Klamotten, und dann kommt ihr zu mir in die Küche.«
Wenig später saßen wir an dem vernarbten Tisch in der Gutsküche. Ich mit verpflastertem Knie und in eine Decke gewickelt, aus der nur noch meine Nasenspitze herausschaute, Adam in frischen Kleidern. Die Haare standen ihm wild zu Berge, so heftig hatte er sie trocken gerubbelt. Vor sich hatte jeder von uns einen Teller mit einem gewaltigen Stück Kuchen, das so dick mit Streuseln belegt war, dass ich den Mund aufsperren musste wie ein hungriges Vogeljunges, um davon abbeißen zu können. Frau Barkschat goss aus einer verbeulten Blechkanne, die auf dem Herd vor sich hin dampfte, Kaffee in zwei Tassen. Dann gab sie Zucker dazu und Milch, die sich wie Wattewölkchen in der schwarzen Flüssigkeit ausbreitete.
Adam zwinkerte mir zu, bevor er sich über seinen Teller beugte und hungrig in den Kuchen biss. Vermutlich war ihm klar, dass diese Vorzugsbehandlung eher der Tochter des neuen Verwalters galt als dem Stallburschen. Das schien seinem enormen Appetit allerdings keinen Abbruch zu tun.
Als wir fertig gegessen hatten, scheuchte Frau Barkschat uns mit einem ungeduldigen Wedeln ihrer Hände aus der Küche. »Husch, husch, fort mit euch jetzt. Du ziehst dir man schnell was Trockenes an, Marjell, sonst wirste uns gleich krank, kaum dass dein Herr Vatter euch hergeholt hat. Und du, Freundchen«, sie holte zu einer Kopfnuss aus, vor der Adam sich aber flink wegduckte. »Du flitzt los und bringst mir endlich die zwei Dutzend Eier, um die ich dich schon heute Mittag geschickt hab, aber fix, ich habe für morgen noch Kuchen zu backen.«
Als wir aus dem Küchentrakt des Gutshauses ins Freie traten, hatte es aufgehört zu regnen. Die nassen Pflastersteine glitzerten silbrig im Sonnenlicht, sodass ich blinzelnd die Augen zusammenkneifen musste. Ein paar Schwalben schnellten auf der Jagd nach Insekten wie grau gefiederte Blitze über den Hof und stießen wilde Triumphschreie aus, wenn sie Beute gemacht hatten. Entzückt lachte ich auf, als eine von ihnen direkt über unseren Köpfen zielsicher durch einen schmalen Spalt zwischen Dach und Mauer in den Kuhstall schoss.
»Haste Schwalben im Stall, haste immer Glück im Haus«, sagte Adam altklug. »Und treue Freunde. Und die Fliegen tun sie auch fressen.« Ich nickte zustimmend, denn ich konnte mir gut vorstellen, dass es die Kühe glücklich machte, wenn die lästigen Fliegen ihnen nicht immer auf der Nase und in den Augenwinkeln herumsaßen. »Sie kommen immer wieder hierher, jedes Frühjahr. Sie erkennen sogar ihr altes Nest wieder und richten es für ihre Jungen her. Mit Spucke.«
»Was du nicht alles weißt«, sagte ich und warf Adam einen bewundernden Blick zu.
»I wo«, gab er bescheiden zurück, doch er errötete vor Stolz und Zufriedenheit.
Von diesem Tag an folgte ich Adam wie ein Schatten. Er war und blieb mein Steuermann, der mich durch die ersten Wochen und Monate in der neuen Heimat lotste und mir die Scheu vor den fremden Kindern mit dem ungewohnten Dialekt nahm. Wann immer Mutter es mir erlaubte, trieb ich mich in den Stallungen herum, half bei der Abendfütterung und beim Säubern des Sattelzeugs oder striegelte die Pferde. Adam stromerte mit mir durch den Wald, nahm mich mit zum Angeln und zeigte mir seine geheimen Pilzstellen. Einmal begegneten wir sogar einer Herde Hirschkühe, die beinahe direkt vor uns aus dem Dickicht brach.
Ich hatte Adam und die Pferde, für uns war auf Gut Mechnitz immer Sommer. Daran änderte auch der dunkle Schatten Adolf Hitlers, der sich im Westen vor die Sonne schob, zunächst nichts. Berlin war weit weg.
August 1944, Gut Mechnitz, Ostpreußen
Als ich die Schnürstiefel auszog und die Beine ins Wasser hängen ließ, konnte ich mir ein wohliges Seufzen nicht verkneifen. Nachdem wir den ganzen Tag in der glühenden Sonne gestanden und Heu gemacht hatten, fühlten meine Füße sich an, als hätte man sie langsam auf kleiner Flamme gekocht. Bekümmert schaute ich nach unten. Unter Wasser sahen die armen Dinger noch größer aus, als sie ohnehin schon waren, zu unförmigen, bleichen Flossen verzerrt. Ich paddelte ein bisschen mit den Beinen, ließ es aber schnell wieder bleiben, weil der Anblick mich schmerzlich an einen Frosch erinnerte.
Trotz der Hitze, die schon seit Wochen herrschte, war das Wasser im See angenehm kühl, während der wacklige Holzsteg unter meinem Hintern die Wärme des langen Sommertags abstrahlte. Ich biss in den Apfel, den ich mir unterwegs gepflückt hatte. Er war noch so sauer, dass mir die Spucke im Mund zusammenlief. So muss es im Paradies gewesen sein, dachte ich versonnen und kratzte mich am Knie. Nur ohne Schnaken. Ich verscheuchte das Biest, das sich gerade an mir festsaugen wollte und meine philosophischen Betrachtungen so rüde gestört hatte.
»Wie kannst du nur immer diese unreifen Dinger essen! Du wirst dir noch den Magen verderben.« Helene kam über den Steg gepoltert und ließ sich ächzend neben mich fallen. Sie schürzte den Saum ihres Rocks bis zu den Oberschenkeln und sank dann nach hinten auf die groben Holzplanken. Ihre langen, blonden Haare umrahmten ihr Gesicht wie ein verrutschter Heiligenschein. »Mein Rücken bringt mich gleich um. Das war das letzte Mal, dass ich euch beim Heumachen geholfen habe. Nächstes Jahr braucht ihr gar nicht erst mit mir zu rechnen.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »So? Und was willst du stattdessen tun? Uniformknöpfe annähen oder Granaten zusammenschrauben in irgendeiner Fabrik im Westen? Das erlauben deine Eltern doch nie. Die behalten dich lieber hier, wo sie ein Auge auf dich haben können.«
Helene streckte mir die Zunge heraus, was ich geflissentlich übersah. »Und meinst du allen Ernstes, das wäre besser als das hier?« Ich machte eine vage Handbewegung über den See, in dem sich ein paar Schäfchenwolken und das silbrige Laub der Trauerweiden am anderen Ufer spiegelten.
»Na, wenn es doch für den Endsieg ist, können meine alten Herrschaften wohl schlecht Nein sagen, oder? Wer weiß, vielleicht melde ich mich ja auch als Flakhelferin, dann komme ich wenigstens hier raus und sehe etwas von der Welt.« Helene rümpfte die Nase. »Und nur, weil du dir nichts Schöneres vorstellen kannst, als auf Mechnitz Landpomeranze zu spielen, heißt das noch lange nicht, dass mir das auch gefällt.«
Hätte man Helene gefragt, dann wäre sie am liebsten in Königsberg geblieben. Dort hatte sie ihr Pflichtjahr im Haushalt eines Textilfabrikanten geleistet, der den Großteil seines nicht unerheblichen Vermögens dem Krieg und dem nicht endenden Bedarf an Uniformstoffen zu verdanken hatte. Helene hatte sich um die drei kleinen Kinder der Fabrikantengattin gekümmert und gelegentlich in der Küche ausgeholfen, wenn zu einer Abendgesellschaft geladen wurde. Dass dann trotz der Lebensmittelrationierungen sogar französischer Wein ausgeschenkt wurde, hatte Helene schwer beeindruckt.
Nach diesem Jahr in der Großstadt war es bei uns in der Provinz natürlich alles andere als aufregend. Da wir mit 17 aber noch lange nicht volljährig waren und Helenes Eltern nicht erlaubten, dass sie aus Grünhayn wegging, saß sie hier fest und wartete, wie sie erst kürzlich verbittert festgestellt hatte, auf ihre Volljährigkeit, das Ende des Kriegs oder einen Ehemann. Wobei sie das Eintreten des zweiten oder dritten Falles für mehr als unwahrscheinlich hielt, da Europas und seit drei Jahren auch Amerikas junge Männer zu Tausenden den Heldentod auf den Schlachtfeldern starben.
Um zu verhindern, dass sie, wenn sie schon nicht in die Stadt gehen durfte, zum Gräben Schaufeln oder ähnlich unangenehmen Einsätzen verpflichtet wurde, hatte Helene bei Lehrer Trusch vorgesprochen. Sie hatte ihm angeboten, eine Vorschulklasse für die jüngsten Kinder zu übernehmen. Herrn Trusch waren – wollte man Helenes blumigen Erzählungen Glauben schenken – vor Dankbarkeit beinahe die Tränen gekommen. Denn der zweite Lehrer war schon letztes Jahr eingezogen worden, und die Horde von Schülern, die durch die vielen evakuierten Städter aus dem Westen immer größer wurde, wuchs ihm schon längst über den Kopf. Herr Trusch war sogar höchstpersönlich nach Wehlau geradelt, um beim Schulrat die Einstellung seiner neuen Hilfslehrerin durchzusetzen.
Trotzdem half Helene uns gemeinsam mit den anderen Frauen und Mädchen aus dem Dorf beim Heumachen, bei der Getreideernte und später beim Kartoffelklauben, auch wenn sie es ohne große Begeisterung tat.
So, wie die Dinge lagen, würde Helene also noch eine Weile in Grünhayn bleiben. Darüber war ich froh, denn sie war schon seit der ersten Woche, die ich hier an der Dorfschule verbracht hatte, meine beste Freundin. Daran hatte sich auch nach dem Ende unserer Schulzeit nichts geändert, obwohl wir uns nun nicht mehr täglich sahen.
»Vielleicht ist nächstes Jahr der Krieg endlich vorbei«, überlegte ich laut. »Nach dem, was neulich in der Wolfsschanze passiert ist.«
Helene schnaubte abfällig. »Das glaubst du doch selbst nicht.« Sie stützte sich auf die Ellbogen und schaute über die Schulter zu Adam, der durch das hohe Gras zu uns ans Seeufer kam. »Adam, erklär mal der Kleinen, dass der Krieg nicht gleich zu Ende geht, nur weil ein paar Kerle mit Muffensausen versucht haben, unser Adolfche in die Luft zu jagen.« Ich konnte es nicht leiden, wenn Helene mich die Kleine nannte, besonders nicht vor Adam. Schließlich war ich fast einen Kopf größer als sie. »Ich weiß nicht, warum es ausgerechnet eine Bombe sein musste. Ich an ihrer Stelle hätte einfach eine Pistole genommen.« Helene fuchtelte mit den Händen und zielte mit einer imaginären Waffe auf Adam.
»Pass bloß auf, dass keiner hört, was du da redest. Vor allem nicht Werner, sonst kriegst du noch Schwierigkeiten.« Adams Schatten fiel über uns, als er den schmalen Steg betrat. Seine Schritte machten ein hohles Geräusch auf dem Holz und vibrierten unter meinem Hintern.
Ich hatte mich bisher nie für Politik interessiert. Wir hier in Grünhayn waren weit weg vom Krieg. Doch nun konnte ich vor dem, was in der Welt und jetzt auch bei uns im äußersten Zipfel des Deutschen Reiches geschah, vermutlich nicht mehr länger die Augen verschließen. Auch wenn ich das nur zu gerne getan hätte.
Die Nachricht von dem missglückten Attentat auf Hitler, das vor ein paar Wochen keine 70 Kilometer von uns entfernt im Führerhauptquartier bei Rastenburg verübt worden war, hatte uns überrollt wie eine Sturmflut. Dass auch Wehrmachtsoffiziere aus Ostpreußen an dem Anschlag beteiligt gewesen waren, hatte die Geschehnisse in unmittelbare Nähe rücken lassen.
Es ging uns im Vergleich zum Rest des Reiches zwar noch gut, doch der Krieg hatte auch bei uns seine Schneisen geschlagen, im Dorf und auf dem Gut. Einige unserer früheren Schulkameraden hatten in Aufopferung für Führer und Vaterland ihr Leben gegeben, so stand es zumindest in den Briefen, die die Eltern vom Schicksal ihrer Söhne unterrichteten. Obwohl die meisten Familien in Grünhayn evangelisch waren, hatten es sich einige der Frauen zur Gewohnheit gemacht, sich jedes Mal zu bekreuzigen, wenn ihnen Frau Kranz, die Postbotin, über den Weg lief. Die arme Frau Kranz errötete dann, sah beschämt zu Boden und drückte ihre lederne Umhängetasche fester an sich, als wäre sie für die Todesnachrichten persönlich verantwortlich, die sie überbringen musste.
Auch auf Mechnitz waren die meisten Arbeiter eingezogen worden. Adam als Vorarbeiter war das bisher erspart geblieben. Die Landwirtschaft war einer der Schmierstoffe für das Getriebe der Kriegsmaschinerie, und Mechnitz ein wichtiger Lieferant für Getreide und Kartoffeln. Daher war Adam unabkömmlich gestellt und durfte dem Führer an der Heimatfront dienen. Dafür dankte ich dem lieben Gott jeden Abend und bat ihn, mir Adam auch weiterhin nicht zu nehmen.
Da es auf dem Gut trotz der Zuteilung von Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen an Arbeitskräften fehlte, hatte ich mit ein wenig Fürsprache durch Herrn von Stilke, dem Gutsbesitzer, meinen Reichsarbeitsdienst auf Mechnitz ableisten können und war danach einfach geblieben. Auf dem Gut, bei meinen Eltern und bei Adam. Wie hätte ich da – auch wenn die Welt um uns in Scherben zerbrach – wirklich unglücklich sein können? Nur wenn ich die leeren Pferdeställe betrat, tat mein Herz weh. Schon in den ersten Kriegsjahren waren die meisten unserer Pferde eingezogen worden. Bloß einige der Arbeitstiere hatte man uns gelassen, die nun bei den Milchkühen im Stall standen.
Ich drehte mich um und sah zu Adam hoch. »Aber es muss doch etwas zu bedeuten haben, dass sich die Offiziere gegen Hitler stellen, oder?«
»Ich weiß es nicht, Anna.« Adam legte mir flüchtig die Hand auf die Schulter, bevor er sich neben mich auf den sonnengewärmten Holzsteg setzte. »Vielleicht hat Helene ja recht. Aber wenn tatsächlich die Russen kommen, wird der Krieg schneller vorbei sein, als uns lieb ist.«
Ich fasste mir unwillkürlich an den Hals. »Meinst du, dass das passieren kann? Immerhin bauen sie doch jetzt im Osten den Verteidigungswall.«
Helene schüttelte den Kopf. »Meine Güte, sei doch nicht so naiv. Glaubst du wirklich, dass dieser Graben die Russen aufhält? Außerdem denke ich langsam, dass alles besser ist als dieser ewige Krieg. Sogar die Russen.« Meine zaghaften Einwände tat sie mit einer Handbewegung ab. »Was sollen die denn schon gegen uns haben«, sagte sie leichthin. »Wir kleinen Leute haben den Krieg doch nicht angezettelt. Den hohen Herren in Königsberg und Berlin wird es bestimmt ans Leder gehen, aber uns?«
»Und was ist mit den Dingen, die man hört? Das, was die SS in Russland getan haben soll? Glaubst du, dass die Russen mit uns anders umspringen würden?«, warf Adam ein.
Seine Worte ließen einen Geschmack in meinem Mund zurück, der noch saurer war als der des Apfels, in den ich vorhin gebissen hatte. Eine dunkle Wolke hatte sich über den schönen Sommerabend gelegt.
Adam schien es genauso zu gehen, er schüttelte sich unwillig und stand auf. »Lasst uns aufhören, über diese Dinge zu reden, und lieber schwimmen gehen. Wir müssen bald wieder füttern und melken.« Als er sich das Hemd aufknöpfte, sah er auf mich herab und bemerkte meinen bedrückten Gesichtsausdruck. »Lass den Kopf nicht hängen, Kleine. Vielleicht kommt ja auch alles ganz anders.« Väterlich tätschelte er mir den Kopf, bevor er seine Hose auszog und ins Wasser sprang.
Adam hatte es nur meiner Niedergeschlagenheit zu verdanken, dass ich mich nicht auf der Stelle für sein herablassendes Verhalten revanchierte, indem ich ihm nachsprang und ihn untertauchte.
Wir sahen Adams Rücken nach, der sich hob und senkte, als er mit kräftigen Zügen hinaus ins tiefe Wasser schwamm.
»Hat sich ganz schön gemausert, unser Adam, was?«, bemerkte Helene versonnen, während sie ihre Augen mit der Hand beschattete, um besser sehen zu können.
Lieber hätte ich mir die Zunge abgebissen als zuzugeben, dass mir gerade ein ganz ähnlicher Gedanke gekommen war. »Sag mal, hast du eigentlich auch noch etwas anderes im Kopf als Jungs?«, entgegnete ich unfreundlich.
»Doch, schon. Manchmal denke ich an hübsche Kleider und Lippenstift. Und an Schokolade natürlich.«
»Reicht es dir nicht, dass Werner dir nachläuft wie ein Schoßhündchen?«
Helene tätschelte mir gutmütig das Knie. »Reg dich nicht auf, ich mache dir deinen Adam schon nicht streitig.«
Errötend schob ich ihre Hand weg. »Da gibt es nichts streitig zu machen.«
»Wie du meinst. Ich gehe jetzt jedenfalls ins Wasser. Kommst du auch?«
Bockig schüttelte ich den Kopf. »Nein, geh nur. Ich habe keine Lust.« Tatsächlich hätte ich nichts lieber getan, als mich mit einem gewaltigen Sprung in den kühlen See zu stürzen, aber als Helene ihren Rock auszog und ich ihre wohlgeformten, zart gebräunten Beine sah, schämte ich mich vor ihr und vor allem vor Adam. Im Gegensatz zu Helene hatte ich nun mal nicht die Zeit, meine Nachmittage auf einer Decke im Garten meiner Eltern zu verbringen und ein Sonnenbad zu nehmen. Selbst wenn ich im Fegefeuer schmoren würde, hätte mich in diesem Moment nichts auf der Welt dazu gebracht, die Hosen auszuziehen und meine dünnen, weißen Beine zu enthüllen und meinen verfilzten Badeanzug, dessen Hinterteil die Angewohnheit hatte, mir beinahe bis in die Kniekehlen zu hängen, wenn er nass war. Am liebsten hätte ich Helene darum gebeten, sich wieder anzuziehen, damit Adam ihren fast nackten Körper nicht zu Gesicht bekam. Doch vermutlich hätte mich das in eine gewisse Erklärungsnot gestürzt.
Denn manchmal, wie ein Wetterleuchten am Horizont, das bereits wieder verlischt, wenn man ihm den Kopf zuwendet, gab es Momente, in denen sich ein fremdes Gefühl in meine unschuldige Kinderfreundschaft zu Adam schlich. Das war etwas, das mir Angst machte, gleichzeitig aber mein Herz in ahnungsvoller Vorfreude klopfen ließ. Ich wollte nicht, dass sich zwischen uns etwas änderte. Alles sollte so bleiben, wie es war. Ich war nur nicht ganz davon überzeugt, dass mein verräterisches Herz das auch so sah. Aber das konnte ich noch nicht einmal Helene anvertrauen.
»Was ist los?« Helene stützte die Hände in die Hüften und sah mich erstaunt an. »Du bist doch sonst immer als Erste im Wasser. Hast du deine Tage?«
Dass ich statt einer Antwort nur unwillig brummte, nahm sie als Zustimmung. Mit einem für sie seltenen Anflug von Zartgefühl ließ sie sich wieder neben mich auf den Steg fallen. »Dann bleibe ich auch hier. Ich ekle mich sowieso vor den Fischen, die mir immer an den Zehen knabbern wollen.«
In friedlichem Schweigen saßen wir nebeneinander auf dem Holzsteg, ließen uns die Nachmittagssonne auf den Nacken scheinen und spuckten auf unsere Mückenstiche. Das staubige Sommerlaub des Buchenwäldchens spiegelte sich im Wasser und färbte es grünlichgrau, versetzt mit goldenem Konfetti aus Sonnenlicht. In der Mitte des Sees zog Adam seine eleganten Bahnen. Aus den Augenwinkeln sah ich zu, wie er, beinahe ohne das Wasser aufzuwühlen, untertauchte und wie ein Fischotter auf uns zu glitt. Erst kurz vor unserem Platz am Steg tauchte er wieder auf und spuckte einen gewaltigen Wasserstrahl auf uns. Zur Revanche begann ich wild mit den Beinen zu strampeln, sodass gischtweiße, schäumende Fontänen auf Adam niederprasselten.
»Lasst das doch sein, ihr Kindsköpfe«, seufzte Helene und rutschte ein Stück nach hinten, um sich vor den Wassertröpfchen in Sicherheit zu bringen. »Sonst muss ich mir nachher noch die Haare eindrehen. Und ich kann euch sagen, dass ich dazu nicht die geringste Lust habe.«
»Warum musst du dir denn die Haare eindrehen? Hast du heute Abend etwas vor?« Ich quietschte, als Adam mein Bein packte und versuchte, mich zu sich ins Wasser zu ziehen.
»Ich habe dir doch erzählt, dass Werner heute auf dem Dorfgemeinschaftsabend einen Vortrag hält. Da muss ich natürlich hin, sonst schmollt er wieder und redet drei Wochen nicht mit mir.«
»Welcher Dummkopf kommt denn auf die Idee, im August einen Dorfgemeinschaftsabend zu organisieren? Wissen die denn nicht, dass wir noch mitten in der Ernte stecken?«, prustete Adam aus dem Wasser. »Und worüber um alles in der Welt will Werner einen Vortrag halten? Über seine Heldentaten in seinem Schreibstübchen in Königsberg?«
»Vielleicht will er ja auch Teilnehmerinnen für diese Lebensborn-Sache anwerben, über die Fräulein Elisabeth uns neulich beim BDM-Heimabend erzählt hat.« Ich kicherte verdruckst. »Du wärst bestimmt seine erste Wahl als Mutter seiner arischen Nachkommen.«
Helene sah uns streng an. »Seid nicht so albern. Bestimmt referiert er über die Wunderwaffe oder so.«
»Ach, und über die Wunderwaffe weiß er so gut Bescheid, weil er zum engsten Kreis des Führers gehört. Das hätte er wohl gerne.« Kopfschüttelnd zog Adam sich hoch auf den Steg und ließ einen feinen Tröpfchenregen auf uns niederregnen.
Helene ignorierte diese respektlose Bemerkung. »Wollt ihr nicht mitkommen? Mir wäre irgendwie wohler, wenn ihr dabei wärt. Nicht dass er doch noch von dieser Lebensborn-Sache anfängt.« Plötzlich hatte ihre Stimme einen bittenden Klang. »Ja, Anna?«
Fragend sah ich zu Adam hinüber. »Was meinst du? Wollen wir hingehen?«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich weiß wirklich nicht, warum du dich überhaupt mit ihm abgibst, wenn wir als Anstandsdamen dabei sein müssen.«
Ich hatte da so meine Theorie. Werner war ein Schulkamerad von Helenes älterem Bruder und schon seit Jahren in sie verschossen. Er war groß und massig und hatte schon mit Anfang 20 schütteres Haar. Mit seinem kantigen Unterkiefer erinnerte er mich immer ein bisschen an Hannibal, die Bulldogge von Großmutters Nachbarn in Bremen. Die Volksschule hatte er nur mit Müh und Not geschafft, aber in der SS gedieh er wie ein Fisch im Wasser und hatte es dort beim Sicherheitsdienst in kurzer Zeit erstaunlich weit gebracht.
Helenes Eltern hätten eine Romanze zwischen den beiden freudig begrüßt, und das nicht nur, um ihrer Tochter durch die Verlobung mit einem guten deutschen Mann die Flausen auszutreiben. Werner hatte nämlich – wie er gerne und oft erzählte – Beziehungen bis fast nach ganz oben. Da sprang schon mal die eine oder andere Kleinigkeit außerhalb der Zuteilung heraus, ein Viertelpfund Kaffee beispielsweise oder ein Fläschchen Schnaps. Außerdem durfte er einen der Dienstwagen seiner Königsberger Einheit fahren.
Als Schwiegersohn wäre er für die Kudes also ein wahrer Glücksfall. Vor allem, weil die ihm zugedachte Tochter, obwohl ausgesprochen hübsch, mitunter doch so aufsässig und kapriziös war, dass man befürchten musste, sie anderweitig gar nicht an den Mann zu bekommen.
Auch Helene wusste Werners Vorzüge durchaus zu schätzen: Selbst wenn sie nicht gerade bis über beide Ohren in ihn verliebt war, vertrat sie die Meinung, man brauche, während man auf den Richtigen warte, nicht auf die Annehmlichkeiten zu verzichten, die ein männlicher Begleiter mit sich bringt. Daher durfte Werner sie, wenn sie gerade nichts Besseres vorhatte, zu Festen begleiten oder zu einer Limonade einladen. Auch zu einer eigentlich verbotenen Ausfahrt mit dem Automobil ließ Helene sich nur zu gerne überreden. Manchmal durfte Werner bei diesen Gelegenheiten ihre Hand halten oder ihr den Arm um die Taille legen. Ich fand es zwar nicht richtig, wie Helene mit Werner umsprang, aber schließlich war sie meine beste Freundin.
Also gab ich Adam einen auffordernden Knuff in die Seite. »Na, komm schon, hab dich nicht so. Es wäre doch nett, mal wieder ein paar von den alten Kameraden zu sehen. Ich war schon seit Ewigkeiten nicht mehr im Dorf.«
Adam zierte sich noch ein bisschen. »Die meisten von deinen alten Kameraden hast du heute beim Heumachen gesehen, wenn ich mich recht erinnere. Zumindest die, die nicht an der Front sind.« Doch als ich ihm einen bittenden Blick zuwarf, gab er nach. »Meinetwegen. Ich hole dich um halb acht ab.«
Zufrieden zog Helene die Beine aus dem Wasser und schlug den Weg nach Hause ein, um sich für den Dorfgemeinschaftsabend hübsch zu machen, während Adam und ich zurück zum Gut gingen und unsere allabendlichen Pflichten in Angriff nahmen.
Adam war pünktlich. Ich hatte kaum den letzten Bissen meines hastigen Abendbrots hinuntergeschlungen, als er vor der Haustür rief. Rasch griff ich nach meinem Täschchen, das an der Stuhllehne hing, und ging zu ihm nach draußen.
Es war immer noch heiß, doch ein frisches Lüftchen streichelte uns die sonnenverbrannten Arme und versprach einen lauen Sommerabend. Bei jedem unserer Schritte wirbelten wir kleine Staubwölkchen auf, als wir über den Sandweg hinüber nach Grünhayn gingen. Ich konnte die Hitze des Tages, die wie Sirup auf dem Boden klebte, immer noch durch die dünngelaufenen Sohlen meiner Sandalen spüren.
Einen Teil des Getreides hatten wir schon geschnitten. An diesen Stellen schimmerte der trockene Boden zwischen den Stoppeln hindurch wie Kopfhaut durch schütteres Haar. Krähen marschierten in den Furchen umher und warfen uns über ihre spitzen Schnäbel hinweg arrogante Blicke zu, wenn wir ihnen zu nahe kamen. Die Kornelkirschen entlang des Wegs färbten sich schon rot.
Nach einer halben Stunde Fußmarsch erreichten wir Grünhayn. Der Feldweg mündete vor den ersten Häusern in die gepflasterte Hauptstraße. Diese wand sich in sanften Kurven um Kirche, Pfarrhaus und Friedhof herum, an der Schule und dem Gasthof Zum Lamm vorbei, ließ Frau Grigoleits Gemischtwarenladen und den Schreiner links liegen und holte vor der Deime noch einmal tüchtig Schwung, um sie mit Hilfe einer schmalen, steinernen Brücke zu überwinden. Dann verlor sie sich zwischen Feldern und Wiesen, um weiter in Richtung Kuglack zu mäandern.
Behäbige Backsteinhäuser reihten sich den Rinnstein entlang auf wie eine doppelreihige Perlenkette. In den schmalen Vorgärten spreizten Kletterrosen selbstbewusst ihre grünglänzenden Triebe vor den ziegelroten Mauern, hinter den Lattenzäunen bereiteten sich schon die Dahlien auf ihren großen Auftritt im September vor.
Vor dem Haus der Kudes blieben wir stehen. Ich spitzte die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus: unser altes Signal, die ersten Takte von Beethovens Schicksalssymphonie. Kaum war der letzte Ton verklungen, streckte Helene den Kopf aus dem Fenster ihres Zimmers im Obergeschoss, winkte uns zu und schloss dann mit einem lauten Knall die Schlagläden. Nur wenige Augenblicke später stand sie atemlos neben uns auf dem Bordstein.
»Da seid ihr ja endlich. Ich dachte schon, ich müsste doch alleine hin.«
Statt ihrer BDM-Tracht, die für eine Veranstaltung wie diese eigentlich die passendere Garderobe gewesen wäre, trug Helene eine strahlend weiße Bluse mit Puffärmelchen und einen rot karierten Kattunrock. Sehr nett und adrett sah sie damit aus. Bestimmt würde es Werner schwerfallen, sich auf seinen Vortrag zu konzentrieren. Wenigstens hatte sie darauf verzichtet, sich die Haare einzudrehen, sondern sie – vermutlich auf Betreiben ihrer Mutter – geflochten und zu einem Kranz um den Kopf gewunden.
Ich hakte mich bei Helene unter, und zu dritt schritten wir nebeneinander weiter bis zum Gasthaus, in dessen Hinterzimmer der Dorfgemeinschaftsabend stattfand.
Im Schatten der alten Kastanie, die ihre Äste wie einen Schirm bis auf die Straße reckte, standen Schneeweißchen und Rosenrot, wie wir Greta und Johanna, die Töchter von Lehrer Trusch, manchmal nannten. Die beiden gingen aufs Gymnasium in Wehlau, sodass wir sie unter der Woche nur selten zu Gesicht bekamen. Beide trugen ihre BDM-Uniform, einen dunkelblauen Rock und eine weiße Bluse, dazu ein schwarzes Halstuch.
Greta, die Jüngere, war so alt wie Helene und ich. Ich konnte sie gut leiden. Sie war klein und ein bisschen mollig, ihre weißblonden Zöpfe reichten ihr bis zur Taille. Wenn sie lachte, was sie gerne und oft tat, färbten ihre runden Wangen sich rot wie Winteräpfel.
Vor Johanna, der Älteren, hatte ich dagegen manchmal fast ein wenig Angst. Sie war mit ihren langen, rabenschwarzen Haaren und den eisblauen Augen nicht nur von beinahe überirdischer Schönheit, sondern auch ausnehmend klug. Nächstes Jahr im Frühling würde sie ihr Abitur ablegen und dann in Königsberg studieren. Geschichte, vielleicht aber auch Jura, hatte sie mir gerade neulich beiläufig erklärt. Johannas spitze Zunge war gefürchtet. Zusammen mit ihrem kühlen Lächeln ließ sie die wallenden Säfte ihrer unzähligen Verehrer – von denen der eine oder andere dem Alter nach durchaus ihr Vater hätte sein können – rasch wieder dahin fließen, wo sie hingehörten.
Greta mochte zwar nicht ganz so hübsch sein wie ihre ältere Schwester, dafür war sie aber eine talentierte Pianistin. Sie hatte sogar schon einmal an einem Konzertabend in der Stadthalle von Königsberg teilgenommen. Immer wenn ich sie spielen hörte, bereute ich es ein wenig, dass ich mich von Mutter nicht dazu hatte überreden lassen, beim Organisten Klavierstunden zu nehmen. Aber so, wie die Dinge lagen, musste ich wohl der Tatsache ins Auge sehen, dass meine einzige herausragende Begabung darin lag, dass ich den Mechnitzer Kühen ihre scheußlich schmeckende Hustenmedizin so geschickt einflößen konnte wie kein anderer. Und das war ein Talent, auf das ich mir durchaus etwas einbilden durfte.
»Der Untersturmführer könnte ja wenigstens pünktlich sein, wenn Vati uns schon dazu zwingt, diesen albernen Vortrag anzuhören«, sagte Johanna gerade zu Greta, als wir uns den beiden näherten. »Ich muss heute Abend noch den Ovid fertig übersetzen, sonst kriegt der Alte morgen einen Blutsturz vor Aufregung. Wenn er in zwei Minuten nicht da ist, gehe ich wieder heim.« Sogar Johannas Stimme war schön.
Greta lachte. »Nun sei doch kein Spielverderber, Hanne. Bei der Hitze kannst du dich sowieso nicht auf den ollen Ovid konzentrieren. Und vielleicht ist Werners Vortrag ja sogar ganz interessant.«