Zahltag

Noir Krimi

Christoph Ernst


ISBN: 978-3-95764-219-6
1. Auflage 2017, Altenau (Germany)
© 2017 Hallenberger Media GmbH

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Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Die Novelle Zahltag ist eine Hommage an Daniel Mainwarings Roman Build my Gallows high, 1946/1947 nach einem Drehbuch des Autors verfilmt von Jaques Tourneur als Out of the Past. Dem Verfasser ging es darum zu zeigen, wie zeitlos dieser über siebzig Jahre alte Klassiker des Film Noir ist. Der Stoff lässt sich mühelos in die Gegenwart des modernen Europas übertragen und dort völlig neu erzählen.

Kapitel 1

Für September war es frisch. Von See her blies es schneidend kalt rüber. Über dem Priwall wuchsen blauviolette Haufenwolken zu bizarren Gebirgen. Ich füllte gerade Luft in die Reifen von Doreens altersschwachem Ford Ka. Der Junge hatte frei.

„Kriegst du’s hin?“ Doreen klimperte mit ihren Autoschlüsseln. Sie stand zu dicht hinter mir und machte mich nervös.

„Wenn du mir ein bisschen Platz lässt und nicht auf die Hacken trittst.“ Ich lächelte matt, schob die Druckluftbombe zum nächsten Reifen und ging wieder in die Hocke. Mein Knie knackte. Ein Souvenir aus Kundus.

Sie lachte unsicher. „Sorry, Alex. Du bist eben so anziehend…“

Meine Sommersprossen laden einen bestimmten Typ Frau dazu ein, mich mit einem verspäteten Beach-Boy zu verwechseln. Leider benutzen sie meist Parfüms, die bei mir Fluchtinstinkte auslösen.

„Was hast du nur gemacht, bevor du herkamst?“ Sie verzog den Mund. Es sollte neckisch wirken.

„Dies und das.“ Ich schirmte die Augen ab und sah auf. „Ist nicht halb so spannend, wie du denkst.“

„Dann kannst du’s mir ja verraten...“

Doreen arbeitete in Lübeck, trug zu enge Jeans und hatte ständig Ärger mit ihrem Chef. Seit ich Anfang April die Station an der B 105 übernommen hatte, tauchte sie häufiger bei mir auf, obwohl ich sie durch nichts ermutigte - außer dem kleinen Gefallen mit den Reifen, den ich ihr bloß tat, weil auf der Tankstelle Totentanz war.

„Maik sagt, du warst in Afghanistan.“

Statt zu antworten, schraubte ich die Kappe aufs letzte Ventil, wischte mir die Hände ab und kam hoch. „Damit überstehst du die nächsten Tage. Die musst du dringend wechseln. Das Profil ist runter.“

„Wie?“ In gespieltem Erstaunen winkelte sie die Unterarme an. „Das fehlte mir grad noch.“

„Runderneuerte gibt’s ab fünfunddreißig.“

„Sind zusammen auch hundertvierzig. Plus Montage.“ Sie griff sich an die Stirn und stöhnte. Dann, als käme sie spontan auf die Idee, schenkte sie mir ein hoffnungsvolles Klein-Mädchen-Lächeln. „Es sei denn, du machst das für mich. Dafür koch ich dir auch was Schönes. Was isst du gern? Ich bin eine coole Köchin…“

Es sollte niedlich wirken, missglückte aber. .

„Frag den Jungen“, sagte ich. „Der ist morgen wieder da.“

„Den Taubstummen?“

„Der macht dir die Reifen besser als ich.“

Der Junge tauchte eines Abends Anfang Juni bei mir auf, gegen Ende der Schicht. Er bat mich mit Gesten um etwas zu essen. Ich gab ihm zwei belegte Brötchen, die ich sonst nur hätte wegwerfen müssen. Die verschlang er, als habe er seit Tagen nichts gegessen. Also packte ich ihm auch noch die ungeschmierten Schrippen ein. Statt sofort danach zu greifen, ging er raus, leerte die Mülltonnen, füllte frisches Wasser in die Scheibenwascheimer und fegte zwischen den Zapfsäulen. Erst dann schnappte er sich die Tüte.

Am nächsten Morgen kam er wieder. Seitdem hilft er mir. Er dürfte so um die achtzehn sein, ist geschickt und kann schreiben. Mittlerweile trägt er meine abgelegten Jeans und wir gehen zusammen angeln. Ich weiß, wo er schläft. Seinen Namen hat er mir bis heute nicht verraten. Ich frage ihn auch nicht. Er wird seine Gründe haben.

Doreen verzog schmollend den Mund und rammte die Hand trotzig in die Hüfte. „Ich bin zwar nicht so blond wie diese Kim aus der Touristen-Info, aber brünett ist auch nicht übel. So kriegst du wenigstens kein’ Stress mit der freiwilligen Feuerwehr.“

„Was für Stress?“

„Bevor du herkamst, war Kim mit Maik zusammen. Der ist seit sechs Jahren Chef des Vereins. Hat sie dir das nicht erzählt?“

Deshalb also. Der Typ hasst mich. Ich blickte betont beiläufig auf meine Armbanduhr, schob den Lappen in die Seitentasche des Overalls und hob die Luftdruckbombe zurück auf den Füllstutzen.

Derweil rollte ein schwerer silberner Chrysler mit verdunkelten Scheiben neben die äußere Zapfsäule. Er blieb stehen, ohne dass der Fahrer den Motor abstellte oder ausstieg.

„Ich fürchte, ich muss. Kundschaft.“

„Wer nicht will, hat schon“, zischte sie, stieg in ihren abgelebten Ford, startete und fuhr in einem scharfen Bogen auf die Bundesstraße. Ich ging langsam zu dem flachen Coupé, aus dessen Doppelauspuff noch immer Abgas blubberte und trat um die Front herum an die Fahrerseite. Im selben Moment wusste ich, dass der Rest des Tages im Eimer war.

Hinter dem Steuer saß ein dunkler, muskulöser Frühdreißiger mit glatt gegeltem Haar und hartem Kinn. Er hieß Cengiz und weckte in mir alles andere als gute Erinnerungen. Nun ließ er das getönte Glas runter und entblößte grinsend seinen goldüberkronten Eckzahn.

„Lang nicht gesehen, Alex.“

„War auch gut so.“

„Sag das nicht, Digga. Alle haben dich vermisst.“

Cengiz hatte schwarze schläfrige Augen und sinnliche Lippen, die in krassem Gegensatz zu seinem Kinn standen. Mein Blick glitt an ihm vorbei durch das leere Wageninnere. Wenigstens reiste er ohne Begleitung.

„Lässt du immer den Motor laufen?“

„Zwölf Liter auf hundert. Bist du etwa öko?“ Er warf einen langen Blick über die gähnend leere Tankstelle. Bei der Wendung seines Kopfs glänzte das gegelte Haar. „Dein Laden läuft scheiße.“

„Ich komm zurecht.“

Er stülpte die Unterlippe vor. „Schon ’ne andere Nummer als früher.“

„Was willst du?“

„Reden.“

„Schulde ich dir was?“

„Wo ist der Spacken, der hier sonst rumhüpft?“

„Du machst noch immer ungern Fehler, was?“

„Kann ich mir nicht leisten.“

„Ich bin allein. Park die Karre da vorn und komm rein.“

Ich deutete auf einen Stellplatz neben der Waschanlage und ging vor in den Flachbau, wo sich der Shop und die Kassen befanden.

Hinterm Tresen angekommen bückte ich mich, schnappte mir die Teleskopstange, die dort lag und legte sie griffbereit aufs Plastik neben der Kasse. Keine halbe Minute später kam der Türke rein. Er trug einen teuren hellen Sommeranzug aus Seide, der ihm mindestens eine Nummer zu eng war, was ihm die Aura eines aus dem Leim gegangenen Mittelgewichtsboxers gab. Er sah sich prüfend um. Dann ließ er die Finger spielerisch über die Borde mit Ölzusatz, Politur und Scheibenreiniger gleiten, bevor er bei den Süßigkeiten stockte, sich ein ‚Mars’ nahm, die Folie aufriss und seine Zähne in die Schokoladenglasur versenkte.

„Komische Masche für dich. Benzinzapfer.“

„Ein ehrlicher Job.“

„Deshalb ja“, kam es kauend.

„Schmeckt’s?“

Er schob sich den Rest des Riegels in den Mund, knüllte die Verpackung zusammen, ließ sie achtlos fallen und tätschelte seinen Bauch. „Die Dinger machen süchtig.“

„Wie hast du mich gefunden?“

„Eines Tages fahr ich die Straße runter, und wer steht da? Mein alter Freund Alex. In Nordwestmecklenburg. Am Arsch der Welt.“

„Und?“

„Ich hab gedacht, ich halt mal. Um der alten Zeiten willen. Sehen, wie’s dir so geht.“

„Bis vor fünf Minuten hervorragend. Was willst du?“

„Ich arbeite noch für den Mann.“

„Max?“

Cengiz nickte lächelnd. „Er hat Sehnsucht nach dir.“

„So wie du?“

Er grinste. „Mehr.“

„Warum?“

„Keine Ahnung. Vielleicht hat er was Hübsches für dich.“

Ich lehnte mich zurück. „Das kannst selbst du besser, Cengiz.“

Er spitzte den Mund. „Max hält ’ne Menge von dir, Alex. Obwohl du’s damals verkackt hast. Er will dich bloß sehen.“

„Sonst ist er böse und du fackelst mir die Bude ab?“

Seine dunklen Brauen wanderten vielsagend nach oben. „So weit muss es nicht kommen.“

„Verstehe. Na schön. Wo?“

„Nicht weit. An der Küste. Kurz vor Heiligendamm…“ Er beugte sich vor und kritzelte die Adresse auf die Rückseite einer Visitenkarte. „Großes Haus am Rand der Dünen. Nicht zu verfehlen.“

„Wann?“

„Morgen, gegen zehn.“

„Ich muss mich hier erst um Ersatz kümmern.“

„Tu das. Max wartet nicht gern.“

Beim Rausgehen schnappte er sich noch ein ‚Mars’ und tippte zwei ausgestreckte Finger an die Stirn. Mein Blick folgte ihm durchs Glas. Drei Sekunden später hörte ich, wie der Sechs-Zylinder des Chryslers ansprang. Er setzte zurück und rollte auf die Bundesstraße.

Ich stand eine Weile still und starrte ins Leere. Egal wie weit du läufst, du schüttelst den Schatten nie ab, sagte ich mir. Selbst wenn du in die Grauzone flüchtest. Tritt nur einmal unbedacht ins Licht, schon ist er wieder da. Und folgt dir.

Ich schrieb dem Jungen eine Notiz und bat ihn, sich bis auf Weiteres um die Tankstelle zu kümmern. Schließlich griff ich zum Telefon und tippte Kims Nummer ein.

„Touristeninformation Dassow, Kim Hellwege.“

„Ich bin’s. Wir müssen reden. Passt es dir in einer halben Stunde?“

„Ich bin noch im Büro. Was ist denn los?“

„Nicht am Telefon. Ich hol dich ab.“

„Gib mir zwanzig Minuten.“

Ich legte auf. Die Wolkenwand im Nordwesten war jetzt blauschwarz und biss sich mit dem Rot des Neons an der Unterseite des Betondachs über den Zapfsäulen. Als ich die Teleskopstange zurück unter den Tresen schob, war ich mit einem Mal entsetzlich müde.

Kapitel 2

Die Touristeninformation ist in einem Backsteinbau unweit des Markts untergebracht, auf halbem Weg zur Kirche. Vor dem Eingang wartete eine schlanke Frau im hellen Sommermantel, der mich an einen Trenchcoat aus den Vierzigern erinnerte. Sie streifte sich das Haar aus dem Gesicht, als sie mich kommen sah.

Genau hier hast du sie kennengelernt, dachte ich. Und jetzt? Ist das jetzt der Abschied?

Ich entsinne mich, wie ich vor fünf Monaten das erste Mal durch diese Straße gefahren bin, das Gefühl im Bauch beim Rumpeln des Pflasters unter den Rädern, als ich in die muffeligen Gesichter der älteren Leute blickte, die leer stehenden Schaufenster zählte, den Mief der DDR-Provinz roch, der nach Jahrzehnten noch zwischen die geduckten Häuser gekrallt zu sein schien. Es war genau die Art Städtchen, wie ich es suchte, ein Ort, der seine Zukunft längst hinter sich hat, weit ab vom Schuss, der keinen mehr interessiert. Perfekt, um unterzutauchen.

Ich hielt spontan und stieg aus. Ging in die Touristenformation. Da stand sie und lächelte mich an. Mit einem Lächeln, das ich nie erwartet hätte. Nicht hier und nicht so. Ganz unbefangen und offen. Wir redeten eine Weile. Sie nahm sich Zeit. Ich spürte, dass sie mich mochte, doch erst als sie merkte, dass ich ihr wirklich zuhörte, wurde sie warm und der Knoten löste sich.

Ihre Liebe zur Landschaft strahlte etwas aus, das mir lange nicht mehr begegnet war. Es wirkte frisch. Unverdorben. Beinahe heil.

Sie sprach von der Steilküste bei Rosenhagen, dem Blick vom Stülper Huk, den Wiesen an der Stepenitz. Das Glänzen ihrer Augen, der Klang ihrer Stimme, die fließende Bewegung, mit der sie die Karte hervorholte und mir den Weg zum Strand zeigte, wirkten seltsam vertraut.

Ich bin auch an der Küste aufgewachsen, in einem Kaff, wo sich das Kreischen der Möwen mit dem Rascheln der Kiesel in der Brandung mischt. Gar nicht mal so weit von hier. Aber anders als sie hab ich meine Wurzeln gekappt und bin in die Fremde geflohen. Bis es mich ins Aus katapultierte.

Eigenartig.

Meine Jugend war weder idyllisch noch verträumt. Trotzdem zog es mich hierher zurück. Ganz unbewusst. Hinter der früheren Grenze fuhr ich von der 105 ab. Ohne jeden Plan. Als ob die Luft in Mecklenburg anders schmeckte als im Westen.

Vielleicht liegt es daran, dass es hier noch ähnlich aussieht wie früher bei uns. Es gibt Plattenwege und Sandpisten, der Rauputz der Häuser wirkt ewig unfertig und bettelt um Farbe, lässt mich sofort an scharrende Hühner und aus Kistenbrettern gezimmerte Kaninchenställe denken, an den Geruch von Klee und Zweitaktergemisch.

Nur mit einer wie ihr habe ich nicht gerechnet. Einer, die mir direkt an die Seele fasst. Dabei ist sie viel zu jung für mich. Keine vierundzwanzig. Noch ein Welpe. Doch sie ist so hartnäckig wie bezaubernd. Der Altersunterschied sei ihr egal, sagt sie. Meine Fältchen um die Augen fände sie sexy.

„Übermorgen werden sie dich stören“, sage ich ihr. „Wenn du so alt bist wie ich heute, bin ich ein Greis.“

„Hör auf“, lacht sie. „In fünfzehn Jahren bist du mit Ach und Krach dreiundfünfzig. Das ist nicht alt.“

Ich bleibe hin- und hergerissen. Mal sage ich mir, die Kluft ist zu groß. Dann wieder wische ich die Zweifel beiseite und sehe es als Geschenk. Sie ist kein Kind mehr. Sie weiß, was sie tut.

 

Doch vor dieser Beichte graute mir. Weil ich sie wirklich mochte, weit mehr, als ich es mir bisher eingestanden hatte.

Im Näherkommen sah ich, wie sie sich fröstelnd den Mantel um die Brust zog. Als ahne sie, was auf sie zukam. Ich hielt und stieß die Beifahrertür auf.

„Wie war dein Tag?“

„Worüber willst du reden?“

„Sieht nach Regen aus.“

„Ziehst du deswegen so ein Gesicht?“

„Vorhin ist ein Typ vorbeigekommen, den ich von früher kenne.“

„Was wollte er?“

„Keine Ahnung.“ Ich langte nach den Zigaretten. „Morgen treffe ich seinen Chef in Heiligendamm.“

Das Feuerzeug machte Schwierigkeiten. Ich musste mehrmals drücken. Sie musterte mich von der Seite. „Wenn du weg willst, sag’s besser gleich.“

„Wie bitte?“

„Falls du die Nase voll hast von mir und dem Nest hier.“

„Was? Wie kommst du denn darauf?“ Ich schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht. Im Gegenteil.“

„Sondern?“

Ich sah in ihre Augen und hatte einen Kloß im Hals. „Zunächst mal: Ich heiß nicht Jensen. Mein richtiger Name ist Graf.“

„Alexander Graf?“

Ich nickte. „Ich hätte es dir eher sagen sollen, hatte aber Schiss, wie du reagierst.“

„Bist du verheiratet?“

„Nein.“

„Wirst du gesucht?“

Ich zuckte die Achseln. „Vermutlich.“

„Weswegen?“

„Ich bin vorbestraft. Es war eine dumme Sache, in die ich nach meiner Zeit bei der Armee reingeschlittert bin. Das ist abgesessen, doch danach kam noch was…“

„Nämlich?“

Ich war in den Travemünder Weg abgebogen und auf einer schmalen Schotterpiste an den See gefahren. Nun stoppte ich und stellte den Motor ab.

„Ist keine schöne Geschichte. Ich fürchte, es wird dir weh tun.“

„Hat der Mann, der vorhin vorbeigekommen ist, dich damit in der Hand?“

„Ja.“

„Gib mir auch eine.“ Sie deutete auf die Zigaretten.

„Seit wann rauchst du?“

„Gib mir einfach eine.“

Ich reichte ihr die Packung und gab ihr Feuer. Sie kurbelte das Fenster runter und blies den Rauch ins Freie. Über dem Wasser kreiste eine Möwe. Dann schwenkte ihr Kopf wieder zu mir zurück.

„Wer ist Alexander Graf?“

„Der lebte in Berlin und arbeitete mit einem Burschen namens Dennis Fischer zusammen. Als Detektiv. Vor anderthalb Jahren, an einem kalten Tag im Januar, sollten wir diesen Typen treffen, einen Immobilienhai namens Max Sterling. Er wohnte in einer Villa hinterm Halensee, ein protziger Bau in einem Garten von mindestens drei Hektar. Ich kannte Sterling nur vom Namen her. Nach der Wende hatte er mit Immobilien im Osten Geld gemacht und galt als große Nummer. Wieso er ausgerechnet auf Fischer und mich verfiel, ist mir bis heute ein Rätsel…“