Fabian Scheidler, geboren 1968 in Bochum, arbeitet als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen und Theater. 2009 gründete er gemeinsam mit David Goeßmann das unabhängige Fernsehmagazin Kontext TV (www.kontext-tv.de). Sein Buch Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation erschien 2015 bei Promedia (9. Auflage 2017) und wurde von der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen zu den TOP 10 der Zukunftsliteratur 2015 gewählt (www.megamaschine.org).
Am 25. Januar 2017, wenige Tage nach der Amtseinführung von US-Präsident Donald Trump, geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Der Dow Jones Index der New Yorker Börse erreichte unter dem Jubel der Anleger erstmals die Schwelle von 20.000 Punkten. Zugleich rückten die Zeiger der »Weltuntergangsuhr« (»Doomsday Clock«) auf zweieinhalb Minuten vor zwölf – und damit so nah an Mitternacht heran, wie seit dem Zünden der ersten US-Wasserstoffbombe 1953 nicht mehr. Die Uhr spiegelt die Einschätzungen führender Nuklear- und Umweltwissenschaftler über die Gefahren von Atomkrieg, Klimachaos und Risikotechnologien wider.1
Der Freudentaumel der Anleger und die nahende Mitternacht für die Menschheit: Deutlicher lässt sich die Tatsache, dass sich unser Wirtschaftssystem auf Crashkurs mit dem Planeten und seinen Bewohnern befindet, kaum ausdrücken. Was die Börse feiert, ist unser Verderben. Das Ergebnis dieses Zusammenpralls ist wachsendes globales Chaos auf allen Ebenen: in der Politik, in der Wirtschaft, in unseren Köpfen und in den natürlichen lebenserhaltenden Systemen.
In meinem Buch Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation habe ich beschrieben, wie das aggressive System aus endloser Geldvermehrung und militarisierten Staaten, das vor 500 Jahren in Europa entstand, zwar für einen kleineren Teil der Weltbevölkerung enormen Wohlstand geschaffen hat, für den größeren Teil jedoch von Anfang an mit Krieg, Völkermord, Umweltverwüstung, Ausbeutung und Elend verbunden war.2 Für viele Menschen im Globalen Süden ist das Chaos also nicht neu. Auch für Europäer war die Expansion der Megamaschine in den letzten 500 Jahren immer wieder mit Phasen von destruktivem Chaos und exzessiver Gewalt verbunden, von den Bauernkriegen im 16. Jahrhundert bis zu den Weltkriegen.
1930 schrieb der italienische Philosoph und Kommunist Antonio Gramsci im Gefängnis: »Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.«3 Auch wir leben wieder in einer »Zeit der Monster«. Doch bei allen Ähnlichkeiten gibt es einen entscheidenden Unterschied zu früheren Systemkrisen: Heute steht durch die rasante Zerstörung der Biosphäre und die sich erneut verschärfende atomare Bedrohung die Überlebensfrage für die Menschheit im Raum.
Die öffentlichen Diskussionen gehen angesichts dieser Lage allerdings auf beunruhigende Weise an den wichtigsten Fragen vorbei. Eine breite Debatte über einen grundsätzlichen Wandel unseres Wirtschaftssystems findet nicht statt. Die Tatsache, dass sich die deutsche Regierung auf Druck der USA weigert, dem UN-Vertrag zur Abschaffung von Atomwaffen beizutreten, für den mittlerweile 122 Länder gestimmt haben, ist den meisten Medien bestenfalls eine Randnotiz wert.4 Dabei geht es um unser aller Überleben. Klimanachrichten rangieren, wenn nicht gerade ein UN-Gipfel stattfindet, meist unter Vermischtes, obwohl sie eigentlich Titelthemen sein müssten. So zum Beispiel der Hinweis auf eine NASA-Studie aus dem Jahr 2014, die feststellt, dass der gewaltige westantarktische Eisschild begonnen hat, unwiderruflich auseinanderzubrechen. Der daraus folgende Meeresspiegelanstieg von etwa 1,2 Metern lässt sich bereits nicht mehr aufhalten.5 Zusammen mit dem übrigen Meeresanstieg bedeutet dies, dass Küstenstädte wie New York, Hamburg, Schanghai, Kalkutta und Alexandria, obwohl sie noch stehen, eigentlich schon Geschichte sind. Doch darüber herrscht weitgehend Schweigen. Das Scheitern einer ganzen Zivilisation scheint keine Schlagzeilen mehr wert zu sein.
Führende Klimawissenschaftler weisen immer wieder darauf hin, dass wir unsere Treibhausgasemissionen um 80 Prozent bis 2030 senken müssen, um eine realistische Chance zu haben, die Erwärmung auf 2 Grad zu begrenzen und eine weiter eskalierende Katastrophe zu verhindern.6 Doch die EU ist auf dem Weg, selbst ihr viel zu niedriges Ziel von 40 Prozent zu verfehlen. In Deutschland steigen die Emissionen, statt zu sinken, vor allem durch den ungebremst boomenden Auto-, LKW- und Luftverkehr – so als hätte hier noch nie jemand das Wort Klimawandel gehört.7 Eine ernsthafte Diskussion über dieses dramatische Versagen der Politik, das lebensbedrohliche Konsequenzen für uns alle und vor allem für unsere Kinder und Enkel hat, findet nicht statt. In der angeblichen Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft zählen Fakten wenig, wenn sich mit ihrer Verdrängung noch eine Weile Profit machen lässt. Anlässlich des Klimagipfels in Durban (Südafrika) 2011, wo die Regierungschefs aus aller Welt zusammenkamen, formulierte es der damalige Vorsitzende des UN-Klimarats Rajendra Pachauri so: »Um ehrlich zu sein: Niemand hier schenkt der Wissenschaft irgendeine Beachtung.«8 Es ist nicht allein Donald Trump, der sich im postfaktischen Zeitalter eingerichtet hat, sondern der größte Teil der politischen Eliten. Auch in Europa. Und ein Teil der Bevölkerungen auf beiden Seiten des Atlantiks unterstützt sie dabei.
Der Grund dafür ist leicht zu erkennen: Der Krise des Lebens auf der Erde ins Auge zu sehen und angemessen darauf zu reagieren, würde bedeuten, nicht nur einige Infrastrukturen, sondern unser gesamtes Wirtschaftssystem vollständig umzubauen. Der Aufbau einer Ökonomie, die auf Gemeinwohl statt Profit, auf gerechte Verteilung statt auf endloses Wachstum setzt, ist umso dringender, als das gegenwärtige System einem winzigen Teil der Weltbevölkerung zu absurden Reichtümern verhilft, während 800 Millionen Menschen hungern und Milliarden um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen. Doch das politische Establishment in den Industrieländern hat sich bisher geweigert, einen grundlegenden Umbau in Richtung sozialer und ökologischer Gerechtigkeit in Angriff zu nehmen. Reiche Interessengruppen, die auch um den Preis eines verwüsteten Planeten ihre Privilegien zu verteidigen suchen, haben ihren Zugriff auf die Staatsapparate in den vergangenen Jahrzehnten erheblich ausweiten können. Als Ergebnis ihres Erfolges wächst das Chaos und die Fliehkräfte nehmen zu.
Im Nebel dieses Chaos zeichnen sich die Umrisse neuer autoritärer Ordnungsversuche ab. In den USA ist eine »ultrarechte Revolution« in vollem Gange, die darauf abzielt, die sozialen Errungenschaften der letzten 200 Jahre auszulöschen.9 Ihre Anführer kontrollieren alle drei Pfeiler staatlicher Macht, vom Kongress über das Weiße Haus bis zur Justiz. In der Türkei baut Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein autokratisches Regime auf, Tausende von Richtern, Staatsanwälten, Journalisten, Oppositionspolitikern und Regimekritikern sind eingekerkert. Auch in der EU hat sich in den letzten Jahren eine Art Slow-Motion-Staatsstreich abgespielt: Nicht-gewählte Bürokraten der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission diktieren in vielen Ländern inzwischen die Politik, fernab demokratischer Kontrolle. Wahlen haben darauf, wie der Fall Griechenland exemplarisch gezeigt hat, nur noch wenig Einfluss. Dieses zutiefst antidemokratische System dient in erster Linie dazu, einen kontinuierlichen Geldstrom in Richtung der Vermögenden aufrechtzuerhalten, die sich auf diese Weise die noch verbliebenen öffentlichen Güter aneignen. In der strukturellen Krise der Weltwirtschaft, in der Profite immer schwerer durch Produktion und Verkauf von Gütern und Dienstleistungen zu erzielen sind, nimmt der »Sozialstaat für Superreiche« immer deutlicher Gestalt an (vgl. das Kapitel »Tribut«).
In dem Maße, wie die Legitimität von Regierungen angesichts der zunehmenden Spaltung zwischen Arm und Reich bröckelt, werden äußere Feinde immer wichtiger, um Zusammenhalt herzustellen. Der permanente »Krieg gegen den Terror«, von dem heute im Grunde jeder weiß, dass er nicht weniger, sondern mehr Terroristen hervorbringt, dient in diesem Sinne als Versuch, die zerfallende politische Ordnung zu kitten und zugleich den Abbau von Bürgerrechten zu rechtfertigen.
In Stanley Kubricks Film 2001: Odyssee im Weltraum beschließt der Supercomputer HAL eines Tages, dass die Menschen an Bord des Raumschiffes ein Risiko für ihn sind, und schaltet sie Schritt für Schritt aus. Der letzte Überlebende schafft es jedoch, in das Rechenzentrum einzudringen und die Module des tödlichen Betriebssystems Stück für Stück herauszuziehen, bis der Superrechner nur noch Babylieder von sich geben kann und am Ende verstummt. Auch das Raumschiff Erde mitsamt seinen Bewohnern ist von einem verselbstständigten tödlichen Betriebssystem gekapert worden, und unsere einzige Chance besteht darin, die Module herauszuziehen und die Steuerung wieder auf manuell umzuschalten. Das bedeutet, nicht nur das Personal in Politik und Wirtschaft auszutauschen, sondern die Tiefenstrukturen unserer Gesellschaft, ihre grundlegenden Institutionen umzubauen.
Die vor uns liegende Epoche, in der um diesen Wandel gekämpft wird, nenne ich das »neue Zeitalter der Revolutionen«.10 Weder Dauer, noch Verlauf und Ergebnis dieser Übergangsphase lassen sich voraussagen. Sicher ist nur eines: business as usual wird auf lange Sicht nicht mehr möglich sein. Die verschlafenen Debatten im vergleichsweise satten Deutschland täuschen leicht darüber hinweg, dass wir es in vielen Teilen der Welt mit einem massiven Aufstand gegen die bestehenden Machtstrukturen zu tun haben. Massendemonstrationen sind in Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, den USA, Mexiko, Brasilien, Indien und – in etwas anderen Formen – auch in China seit Jahren an der Tagesordnung. Die Rebellionen des Arabischen Frühlings scheinen vorerst erstickt, doch sind die sozialen und ökonomischen Ursachen, die 2011 zur Revolte führten, in Ländern wie Ägypten nach wie vor unverändert. Der französisch-libanesische Politologe Gilbert Achcar, einer der profundesten Kenner der arabischen Welt, betrachtet die Ereignisse von 2011 als Teil eines langfristigen, möglicherweise Jahrzehnte dauernden revolutionären Prozesses, der gerade erst begonnen hat.11
Immer mehr Angehörige der jungen Generation weltweit sind in den letzten Jahren aufgewacht und haben erkannt, dass nicht nur ihre Zukunft, sondern bereits ihre Gegenwart geraubt wird. Sie blockieren als Teil der internationalen Klimabewegung zu Tausenden Kohletagebaue und Pipelines, sie durchbrechen als moderne Nomaden Grenzzäune, sie retten unter erheblichen Gefahren Geflüchtete im Mittelmeer, sie besetzen zu Zehntausenden tage- und nächtelang Plätze in Paris und Lyon (»La nuit debout«), in Madrid und Barcelona, in Athen und Thessaloniki, in Istanbul, New York und Baltimore, in Kairo, Bukarest, Rio de Janeiro und Dakar. Dass ihre Bewegungen zeitweise wieder vom medialen Radar verschwinden, bedeutet nicht, dass sie die nächsten zwanzig Jahre tatenlos zusehen werden, wie reiche alte Männer ihr Leben stehlen. Ihre Revolte findet meist nicht im traditionellen Rahmen politischer Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften oder NGOs statt, sondern in neuen Versuchen der Selbstorganisation. In einigen Fällen, etwa bei den Wahlkampagnen von Bernie Sanders in den USA, Jeremy Corbyn in Großbritannien oder Podemos in Spanien, ist aber auch der Versuch einer Wiederaneignung der parlamentarischen Demokratie zu erkennen (vgl. das Kapitel »Die Gatekeeper«).
Auf der anderen Seite formieren sich nationalistische und rassistische Kräfte in vielen Ländern neu. Die große Gefahr besteht darin, dass sich die Vertreter des Großkapitals, wenn der bisherige neoliberale Pfad nicht mehr durchzuhalten sein wird, mit diesen Kräften verbünden, um linke Optionen zu verhindern, wie es in den 1930er-Jahren in Europa der Fall war. Doch eine Wiederholung dieser fatalen Entwicklung kann verhindert werden. Die Chancen dafür stehen sogar besser als vor 80 Jahren, immerhin sind die verheerenden Erfahrungen mit dem Faschismus noch immer im kollektiven Gedächtnis verankert. Donald Trump wurde von gerade einmal einem Viertel der Wahlberechtigten gewählt. Auf die ökologischen und sozialen Verwerfungen haben die Rechten nur Antworten, die das Chaos verschärfen. Wenn sich solche Kräfte dauerhaft durchsetzen, dann nicht, weil sie so übermächtig sind, sondern weil zu viele Menschen passiv bleiben. Der gesellschaftliche Wandel, den wir brauchen, kann nicht an eine Handvoll chronisch überlasteter Aktivisten und ein paar NGOs delegiert werden, er braucht die kontinuierliche tätige Mitwirkung breiter Bevölkerungsteile. Deutsche verbringen im Schnitt fast vier Stunden am Tag mit Fernsehen, ganz zu schweigen vom übrigen Medienkonsum.12 In vielen anderen Ländern ist es ähnlich. Wenn auch nur ein Teil von ihnen den Fernseher dreimal pro Woche ausschalten würde, um sich dem gesellschaftlichen Umbau zu widmen, würden die Chancen, ein globales Desaster zu verhindern, erheblich steigen.
Dieses Buch lotet Gefahren und Chancen der vor uns liegenden Übergangszeit aus und will einen Kompass für politisches Engagement in Zeiten wachsender Unübersichtlichkeit bieten. Während der erste Teil der Diagnose gewidmet ist, beschäftigt sich der zweite, mittlere Teil mit Therapievorschlägen, die sich insbesondere auf die ökonomischen Tiefenstrukturen beziehen. Der dritte Teil schert aus der üblichen westlich zentrierten Perspektive aus und beschreibt die Umbruchphase aus dem Blickwinkel der chinesischen Geschichte.
Teil I besteht aus acht Essays, die schlaglichtartig verschiedene Aspekte der systemischen Krisen und der neuen »tödlichen Ordnungen« beschreiben. »Risse in der Megamaschine« bietet einen Überblick über die Verbindungen von weltwirtschaftlicher Krise, ökologischem Kollaps und geopolitischem Umbruch, der mit dem Niedergang der US-Hegemonie und dem Aufstieg Chinas verbunden ist. »Chaos in den Köpfen« beschäftigt sich mit verschiedenen Methoden, diese Realitäten nicht zur Kenntnis zu nehmen, von der rituellen Selbstbestätigung bis hin zu Eskapismus und paranoischen Phantasien. Der dritte Essay, »Terror: die große Ablenkung«, zeigt, wie der permanente Ausnahmezustand dazu benutzt wird, systemische Fragen auszublenden und neuen Zusammenhalt gegen einen als überlebensgroß inszenierten Feind herzustellen. »Die globale Apartheid« ertastet die sichtbaren und unsichtbaren Mauern, mit denen die Hauptleidtragenden des Chaos daran gehindert werden, die kleiner werdenden Wohlstandsinseln zu erreichen. »Chaos in der Weltwirtschaft« beleuchtet die Ursachen für die Dauerkrise der kapitalistischen Ökonomie, insbesondere den Niedergang der regulären Lohnarbeit und die Dynamik von Schulden und Crashs. Die Versuche, Privilegien und Macht der bisherigen Profiteure in der systemischen Krise aufrechtzuerhalten, behandelt das Kapitel »Tribut«. Dabei spielen staatliche Subventionen für Großkonzerne, leistungslose Einkommen aus Eigentumsansprüchen und Aneignung durch Schulden entscheidende Rollen. »Der futurologische Kongress« zeigt, dass technologische Entwicklungen keineswegs naturwüchsig und schicksalhaft verlaufen, sondern wesentlich von den Institutionen der endlosen Kapitalakkumulation und der militarisierten Staaten geprägt werden, die sich im Silicon Valley inzwischen mit einer radikal antihumanen Ideologie verbinden. Das abschließende Kapitel des ersten Teils widmet sich dem »Zerfall komplexer Gesellschaften«. Im Vergleich mit historischen Beispielen wie dem Römischen Reich zeigt der Text die inneren Widersprüche und Grenzen komplexer Systeme und fragt danach, wie menschliche Gemeinschaften und Infrastrukturen von der Megamaschine entkoppelt werden können.
Der zweite Teil des Buches befasst sich mit Perspektiven einer gesellschaftlichen Reorganisation. »Vom Großen und Kleinen« widmet sich den Voraussetzungen gesellschaftlichen Wandels in den zwischenmenschlichen Beziehungen. »Wege zu einer zukunftsfähigen Ökonomie« erkundet Pfade zu einem Umbau wirtschaftlicher Institutionen: von den Eigentumsverhältnissen über die Rechtsformen von Unternehmen, die Rolle von Markt, Geld und Schulden bis zur Wachstumsfrage und den Handelsstrukturen. Welche Türhüter in unseren politischen und medialen Institutionen, aber auch in unseren Köpfen, den nötigen Wandel behindern, und wie sie zu überwinden sind, thematisiert das Kapitel »Die Gatekeeper«.
Der dritte Teil schließlich ist der Geschichte Chinas und seiner Rolle in der globalen Transformation gewidmet. Jenseits von Feindbildern und Idealisierungen zeichnet der Essay die Entwicklung von Chinas »nicht-kapitalistischer Marktwirtschaft« nach, ihre Zerstörung in der Epoche der Kolonialisierung und den Wiederaufstieg Chinas seit 1949. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Chancen für eine neue globale Friedensordnung, die sich aus Chinas besonderer Geschichte ergeben.
Fabian Scheidler
Berlin, im August 2017
Unter Ökonomen macht seit einiger Zeit das Wort von der »säkularen Stagnation« die Runde. Mit dem sperrigen Begriff ist die Tatsache gemeint, dass die Weltwirtschaft einfach nicht mehr rund laufen will. Einige Zentralbanker haben inzwischen sogar laut darüber nachgedacht, »Helikoptergeld« auf die Bevölkerung niederregnen zu lassen, um die stotternde Maschine wieder in Gang zu bringen. Anstelle von Investitionen in die sogenannte Realwirtschaft fließt das Geld vor allem in spekulative Geschäfte. Die Folge: Das Finanzsystem ist aufgeblähter und instabiler denn je – was selbst der IWF zugibt – und der nächste Crash nur eine Frage der Zeit. Eine der Ursachen für die Misere der Weltwirtschaft ist die zunehmende Spaltung zwischen Arm und Reich in den meisten Ländern der Erde, ob in Japan, Indien, den USA oder Deutschland. Während die acht reichsten Menschen der Erde so viel besitzen wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, verliert ein immer größerer Teil der Menschen jede ökonomische Perspektive.1 Mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 40 oder gar über 50 Prozent ist dieser Prozess längst in Südeuropa angekommen. Je erfolgreicher neoliberale Politik Löhne drückt, prekäre Beschäftigungsverhältnisse schafft und den öffentlichen Sektor zerstört, je effektiver Großunternehmen in Billiglohnländer ausweichen und Gewinne in Steueroasen verlagern, desto mehr verschärft sich diese Krise, die letztlich die Fundamente des Systems selbst untergräbt. Denn die wachsende Menge der Marginalisierten hat schlicht und einfach nicht mehr das Geld, um die globale Produktion von Gütern und Dienstleistungen noch zu profitablen Preisen aufzukaufen (siehe den Abschnitt »Chaos in der Weltwirtschaft«).
Eine Folge davon ist der Verfall politischer Stabilität, der sowohl im Globalen Süden als auch im Norden zu beobachten ist. Nachdem sich die neoliberalen Wohlstandsversprechungen der letzten 30 Jahre als leer erwiesen haben, schwindet das Vertrauen in die etablierte Politik rapide. Die US-Wahlen von 2016 bezeugen das ebenso wie der Brexit, die Implosion der traditionellen großen Parteien in Frankreich und der drohende Zerfall der EU. Das Misstrauen gegen Eliten betrifft nicht nur Politiker, sondern auch etablierte Medien, die ebenfalls einen dramatischen Schwund an Glaubwürdigkeit zu verzeichnen haben. Rund 80 Prozent der Menschen zwischen 18 und 34 in der EU haben kein Vertrauen mehr in Medien und Parteien.2 Der Niedergang der Sozialdemokratie und auch der traditionellen konservativen Parteien, die tief in die diskreditierte und oft korrupte neoliberale Politik verstrickt sind, hat ein politisches Vakuum geschaffen. In Südeuropa konnten zum Teil emanzipatorische Kräfte dieses Vakuum nutzen, wie etwa die Partei Podemos in Spanien. In anderen Ländern ist es jedoch rechten Demagogen gelungen, die Lücke zu füllen. Dabei haben ihnen einige große Medien und Teile des alten parteipolitischen Establishments einen wichtigen Dienst erwiesen, indem sie linke Alternativen systematisch kleingeredet oder lächerlich gemacht haben, wie etwa die Kampagnen von Bernie Sanders in den USA, Jeremy Corbyn in Großbritannien oder Jean-Luc Mélenchon in Frankreich. In Griechenland zerstörten Europäische Zentralbank, EU-Kommission und IWF mit massiver Unterstützung der Bundesregierung gezielt die erste Syriza-Regierung, die der verheerenden Kürzungspolitik etwas entgegenzusetzen versuchte. Zwar war das Ziel in all diesen Fällen nicht, Rechtsextremen die Tür zu öffnen, aber es wurde billigend in Kauf genommen, um zu verhindern, dass ein erfolgreiches linkes Projekt Schule machen könnte.3
Der Verfall politischer Stabilität ist allerdings nur das Symptom für Verwerfungen, die weit tiefer reichen. Der Glaube daran, in einer auch nur halbwegs sinnvollen Gesellschaft zu leben, die eine auch nur halbwegs positive Zukunft hat, zerbricht. Der britische Sozialwissenschaftler David Harvey spricht angesichts von Massenarbeitslosigkeit, prekären und zunehmend als sinnlos empfundenen Jobs sowie politischer Desillusionierung von »universeller Entfremdung«.4 Die Erzählung vom Fortschritt, die über Jahrhunderte das ideologische Fundament der westlichen Zivilisation gebildet hat, zerfällt vor unseren Augen. An ihrer Stelle macht sich existenzielle Orientierungslosigkeit breit. Immer mehr Menschen verlieren materiell und emotional den Boden unter ihren Füßen. Damit verbunden sind Angst, Chaos in den Köpfen und oft auch Hass und Wut.
In den USA vertrauen nur noch 19 Prozent der Bürger ihrer Regierung – beim Kongress sind es sogar nur 9 Prozent – und nur noch 20 Prozent den Medien.5 Angesichts eines gigantischen Haushalts- und Handelsdefizits, einer tiefen Spaltung des Landes und ausufernder Gewalt mehren sich inzwischen Stimmen, die die USA auf dem Weg zu einem failed state sehen. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman schrieb nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten in der New York Times: »Sind die USA ein gescheiterter Staat und eine gescheiterte Gesellschaft? Das ist durchaus möglich.«6 Zu einem ähnlichen Schluss kommt Jim Sciutto, Chefkorrespondent des Senders CNN für nationale Sicherheit, der jahrzehntelang aus Bürgerkriegsländern wie Somalia oder Afghanistan berichtet hat. Beide liegen damit auf einer Linie mit James Clapper, bis Januar 2017 Direktor der National Intelligence, der Dachorganisation der US-Nachrichtendienste.7 Auch wenn die USA nicht mit dem Irak zu vergleichen sind, ist doch die Gefahr eines inneren Zerfalls real. Dieser Befund ist umso gravierender, als er ein Land betrifft, das über die bei Weitem größte Militärmaschinerie in der Geschichte der Menschheit verfügt – einschließlich von tausenden Atomsprengköpfen, die das Potenzial haben, das Leben auf der Erde großenteils auszulöschen.
Die politischen Krisen in den einzelnen Ländern gehen einher mit einem tiefen Umbruch der geopolitischen Struktur. In der 500-jährigen Geschichte des modernen Weltsystems gab es immer wieder Staaten, die über lange Zeiträume hegemonial waren, weil sie eine ökonomische, militärische und kulturelle Dominanz erreichten, die es ihnen ermöglichte, die Spielregeln zu definieren. Diese Hegemoniephasen sind für die Entwicklung des modernen Weltsystems von entscheidender Bedeutung, denn die Maschinerie der endlosen Kapitalakkumulation braucht, um zu funktionieren, einen gewissen Grad an Stabilität, Ordnung und klaren Spielregeln. Bisher gab es vier solcher Hegemoniezyklen: die von den Genueser Bankiers finanzierte Vorherrschaft der Spanier und Portugiesen im 16. Jahrhundert, die niederländische Hegemonie im 17. und frühen 18. Jahrhundert, das Britische Empire im 19. Jahrhundert und schließlich die US-Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg.8 Seit den 1970er-Jahren zeigen sich allerdings Risse im amerikanischen Empire, die nach dem Desaster des Irakkriegs und der Finanzkrise von 2008 immer deutlicher werden. Der Niedergang einer Hegemonialmacht und der Aufstieg einer anderen waren bisher stets mit lang anhaltenden Kriegen verbunden, die durch die Industrialisierung des Militärs immer verheerendere Ausmaße annahmen. Die Frage, ob angesichts des Niedergangs der US-Hegemonie neue Kriege vermieden werden können, ist daher für unser aller Überleben und für die Chancen eines sozial-ökologischen Wandels von entscheidender Bedeutung. Nicht nur die sich zuspitzende Konfrontation der USA mit Russland, etwa in der Ukraine oder in Syrien, sondern auch die sich verschärfenden Spannungen mit China sind beunruhigend.
China wird in absehbarer Zeit die größte Volkswirtschaft der Erde sein, auch wenn dieser Aufstieg durch die wachsende soziale Ungleichheit und die ökologische Krise im Land durchaus brüchig ist. Das Finanzzentrum der Weltwirtschaft verlagert sich zusehends nach Asien. Das gigantische Infrastrukturprojekt einer »neuen Seidenstraße« soll China in den kommenden Jahrzehnten über Zentralasien und Russland mit dem Iran und Westeuropa verbinden. Der Aufstieg Chinas und ein mögliches Zusammenrücken Europas und Asiens bereiten Washington erhebliche Sorge, weil die USA damit ihre Vormacht gefährdet sehen. Dass die Handels- und Investitionsschutzabkommen TTIP und TPP, die dazu dienen sollten, China zu isolieren, nun wahrscheinlich keine Zukunft mehr haben, verstärkt diese Tendenz. Die von Präsident Obama eingeleitete Verlagerung des militärischen Fokus nach Asien (»Pivot to Asia«) ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Die US-Streitkräfte haben einen Gürtel von Militärstützpunkten und Flugzeugträgern um China herum etabliert. Das Bemühen der chinesischen Regierung, die Landwege nach Europa auszubauen, ist auch als Versuch zu verstehen, einer potenziellen US-Seeblockade, die den chinesischen Handel lahmlegen könnte, zu entgehen. China baut zwar auch sein Militär aus und etabliert Basen im Südchinesischen Meer, aber der Hauptfokus der Regierung liegt darauf, eine militärische Konfrontation mit den übermächtigen USA zu vermeiden (siehe Teil III).
Dass die chinesische Führung nicht auf die militärische Karte setzen kann und will, birgt Chancen für eine neue geopolitische Formation, die nicht in einen verheerenden Kampf um neue Hegemonie mündet – und sich damit fundamental von dem Muster der letzten 500 Jahre unterscheidet. Entscheidend wird sein, ob die USA bereit sind, eine multipolare Weltordnung zu akzeptieren, in der sie zwar noch immer das größte Militär unterhalten, aber ihre ökonomische und politische Dominanz verlieren; oder ob sie den irrwitzigen Versuch unternehmen, Chinas Aufstieg militärisch aufzuhalten. Die Gefahr der zweiten Option, so aberwitzig sie erscheint, ist durchaus real, wie der britische Journalist John Pilger in seinem jüngsten Dokumentarfilm The Coming War on China schildert.9 Die EU spielt in dieser brisanten Lage eine wichtige Rolle: Setzt sie auf Abrüstung, Entspannungspolitik nach allen Seiten und ein Sicherheitssystem nach dem Muster der OSZE? Oder lässt sie sich in die Logik militärischer Eskalation hineinziehen? Angesichts der besorgniserregenden Aufstockung von Militäretats in der EU wird es von entscheidender Bedeutung sein, ob die Bürger dieser Entwicklung etwas entgegensetzen werden.
Das zunehmende politische und ökonomische Chaos trifft das Weltsystem in einer Phase, in der es in eine noch viel tiefere – und in seiner eigenen Logik letztlich unlösbare – Krise hineinsteuert: den ökologischen Kollaps. 500 Jahre Expansion und Raubbau haben inzwischen Dimensionen erreicht, die die lebenserhaltenden Systeme der Erde untergraben. Das »Kapitalozän«10 (Jason W. Moore) hat bereits in das schnellste und größte Artensterben geführt, seit vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier und mit ihnen die Hälfte aller Lebensformen auf der Erde durch einen Meteoriteneinschlag ausgelöscht wurden.11 Ein Prozent der fruchtbaren Böden gehen pro Jahr verloren, vor allem durch industrielle Landwirtschaft.12 Die großen unterirdischen Wasserspeicher etwa im Westen der USA oder im Nahen Osten leeren sich in bedrohlichem Tempo. US-Forscher haben errechnet, dass seit den 1950er Jahren acht Milliarden Tonnen Plastik hergestellt wurden – das Äquivalent von einer Milliarde Elefanten –, die inzwischen weltweit die Ökosysteme von Ozeanen, Flüssen und Seen für Jahrhunderte oder gar Jahrtausende kontaminieren.13 Doch statt die Kunststoffproduktion zu drosseln, lässt die Politik es zu, dass sie weiter steil ansteigt. Jede Minute werden auf der Erde allein eine Million Plastikflaschen produziert und weggeworfen. Die langfristigen Folgen dieser universellen Verseuchung für Wasserversorgung, Ernährung und Artenvielfalt sind kaum absehbar.
Währenddessen wird der Klimawandel von einer abstrakten Bedrohung in der Zukunft immer deutlicher zur Realität. Extreme Wetterereignisse nehmen überall auf der Welt, auch in Europa, deutlich zu. Während etwa Italien im Sommer 2017 unter einer der schwersten Dürren seit Jahrzehnten litt und in Rom das Wasser rationiert werden musste, kam in Berlin an einem einzigen Tag so viel Regen herunter wie sonst in einem halben Jahr; Straßen verwandelten sich in Seen, U-Bahn-Schächte in Wasserfälle. Solche extremen Wetterlagen werden durch eine Verschiebung der nördlichen Höhenströmung, des sogenannten Jetstreams, mitverursacht, die ihrerseits auf die Erwärmung von Atmosphäre und Ozeanen zurückgeht.14
In anderen Teilen der Erde, besonders in Afrika und Asien, nimmt das Klimachaos noch weit bedrohlichere Dimensionen an. Seit 2015 sind zwei Studien erschienen, die übereinstimmend voraussagen, dass im Laufe dieses Jahrhunderts große Teile des Nahen Ostens und Nordafrikas in Folge des Klimawandels unbewohnbar werden. Es wird dort – wenn der Klimawandel nicht rasch gestoppt wird – zu lang anhaltenden Dürren und an den heißesten Tagen zu Temperaturen kommen, bei denen menschliches Leben nicht mehr möglich ist.15 Wir wissen bereits, dass der Bürgerkrieg in Syrien durch den Klimawandel mitverursacht wurde, weil mehr als eine Million Menschen ihr Land infolge der schwersten Dürre seit Beginn der Aufzeichnungen verlassen mussten – und das bei lediglich 0,9 Grad Erwärmung im Verhältnis zum vorindustriellen Niveau.16 Noch beunruhigender ist das beginnende Abschmelzen der Himalaya-Gletscher. Wenn sie in einigen Jahrzehnten verschwunden sind, droht die Süßwasserversorgung von 1,5 Milliarden Menschen in Nordindien und großen Teilen Chinas zusammenzubrechen, weil in den regenarmen Jahreszeiten die Flüsse mangels Schmelzwasser austrocknen. Wie sich die dort lebenden Menschen dann noch ernähren sollen und wie in einer solchen Situation irgendeine Form von politischer Stabilität gewährleistet werden kann, weiß niemand. Die Idee, dass der Mensch die Natur beherrschen könne – eines der ideologischen Fundamente der Megamaschine – entpuppt sich angesichts dieser Dimensionen als Wahnvorstellung.
Der Kapitalismus hat schon viele ernste Krisen in seiner Geschichte überstanden und ist meistens mächtiger als zuvor daraus hervorgegangen. Aber kein Gesellschaftssystem hat je zuvor in dieser Weise planetare Grenzen erreicht. Wir leben am Anfang einer chaotischen systemischen Übergangsphase, die mindestens einige Jahrzehnte dauern wird und deren Ausgang vollkommen ungewiss ist. Eine Fortsetzung der gewohnten Funktionsweise von Wirtschaft und Politik ist in dieser Situation auf Dauer nicht mehr möglich. Die Zeiten, in denen man hoffen konnte, dass es schon irgendwie gut gehen wird, wenn wir weiter einfach unsere Jobs machen und alle vier Jahre zur Wahl gehen, sind vorbei. Wir werden daher aus unseren Zuschauersesseln aufstehen müssen, um uns einzumischen. Wenn wir sitzen bleiben, überrollt uns der Wandel, und er wird nicht von den menschenfreundlichsten Akteuren bestimmt werden. Denn diejenigen, die jetzt über Macht und Geld verfügen, werden ihre Privilegien im wachsenden Chaos mit immer härteren Mitteln zu verteidigen suchen. Dabei deutet sich an, dass sie – wie schon in den 1920er- und 1930er-Jahren – nicht davor zurückschrecken, sich mit neuen autoritären oder gar faschistischen Kräften zu verbünden.
Trotz dieser Gefahren birgt die bevorstehende Übergangszeit zugleich ein enormes Potenzial für tiefgreifende positive Veränderung. Die Ratlosigkeit großer Teile des wirtschaftlichen und politischen Establishments angesichts der Systemkrise öffnet Möglichkeiten, die derzeit vor allem rechte Strömungen und Autokraten nutzen – die aber ebenso gut von Menschen ergriffen werden können, die sich für eine gerechtere und menschlichere Zukunft einsetzen. Dabei fehlt es gar nicht so sehr an Alternativen in Theorie und Praxis. Im Grunde ist weitgehend klar, was zu tun ist: Es geht darum, eine Ökonomie aufzubauen, die dem Gemeinwohl und nicht der endlosen Geldvermehrung dient, einschließlich eines gemeinwohlorientierten Finanzsystems anstelle des derzeitigen Casinos. Große Vermögen und Einkommen müssen massiv besteuert werden, um den sozial-ökologischen Umbau zu finanzieren. Dazu gehört auch ein sehr schneller Ausstieg aus fossilen Energien und der ebenso rasche Aufbau dezentraler erneuerbarer Lösungen. Die Landwirtschaft muss von der destruktiven Agrarindustrie hin zu einer kleinbäuerlich-ökologischen Landwirtschaft umgebaut werden, womit ein erheblicher Anteil der Treibhausgasemissionen eingespart werden kann. Demilitarisierung, Regionalisierung, fairer Handel und die Stärkung der Rechte von Migranten und Geflüchteten sind weitere zentrale Handlungsfelder.
Was fehlt, sind nicht so sehr sinnvolle Ziele als vielmehr die Fähigkeit, sich zu organisieren und punktuell auf inhaltliche Schnittmengen zu einigen, um politische Stoßkraft zu entwickeln. Das neoliberale Rollback der letzten 30 Jahre hat die Fähigkeiten zur Selbstorganisation erheblich geschwächt. Es mag aber helfen, sich daran zu erinnern, dass die Geschichte der Moderne entscheidend von revolutionären Bewegungen mitgeprägt wurde. Einige von ihnen sind tragisch gescheitert, andere aber haben bemerkenswerte Erfolge errungen, etwa die Arbeiter-, Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen, die den größten Teil unserer demokratischen Rechte – so unvollständig sie auch noch sein mögen – in den letzten 200 Jahren erkämpft haben. Von ihren Fehlern und Erfolgen zu lernen und neue Formen der Organisation zu entwickeln, wird eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft sein.
Wie können ökologische Bewegungen, Arbeiter- und Erwerbslosenorganisationen, migrantische Initiativen, Friedensbewegte und viele mehr zusammenwirken, um politische Räume zu besetzen und dem Aufstieg der Rechten etwas entgegenzusetzen? Können alte und neue Parteien dabei noch eine sinnvolle Rolle spielen oder haben sie abgewirtschaftet? Wie können breite öffentliche Debatten um eine systemische Transformation in Gang gesetzt werden, die nicht nur die üblichen Verdächtigen erreichen – und welche neuen Medien müssen dazu aufgebaut werden? Von den Antworten auf diese Fragen wird es entscheidend abhängen, ob die Übergangsphase, in der wir uns befinden, in eine Welt führen wird, die noch ungerechter und gewalttätiger ist als die jetzige, oder in eine menschenfreundlichere Zukunft. Es kommt also auf uns alle an.
Das bedrohlich wirkende politische und ökonomische Chaos ruft sehr unterschiedliche Reaktionen hervor. Einige Menschen stecken einfach den Kopf in den Sand und flüchten in den Konsum (wenn sie es sich leisten können), in die Arbeit oder in virtuelle Realitäten. Eine gigantische Ablenkungsmaschinerie bietet dafür reichlich Gelegenheit. Dass immer mehr Menschen ihre Umgebung gar nicht mehr wahrnehmen, sondern ununterbrochen auf ihre Weltersatzmaschinen starren, selbst wenn sie spazieren gehen, ist dafür ein Symptom. Die Cyberindustrie macht mit dem Bedürfnis der Menschen, aus der Wirklichkeit zu fliehen, ein Vermögen. Das Endstadium dieser Entwicklung scheint erreicht, wenn Menschen mit ihren Virtual-Reality-Brillen in einer totalen Simulation, der sogenannten »Immersion«, versinken, die an die Matrix aus dem gleichnamigen Film erinnert.
Selbst die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, die ja eigentlich einen Bildungsauftrag haben, beteiligen sich an diesem »Brot-und-Spiele«-Programm, indem sie ihre besten Sendezeiten mit endlosen Sportevents, Unterhaltungsshows und Krimis füllen. Fragen, die unsere Zukunft und das Überleben der Menschheit betreffen, gibt es dagegen bestenfalls nach Mitternacht, wenn die arbeitende Bevölkerung längst im Bett liegt, oder auf Nischensendern wie Arte. Produzenten und Konsumenten von Massenmedien scheinen einen unausgesprochenen Pakt zur Realitätsverweigerung geschlossen zu haben. Das hat fatale Konsequenzen: Denn Bürger, deren Köpfe statt mit relevanten Informationen mit einem Brei aus Biathlon-WM, Tatort-Leichen und den Busen von Schlagersängerinnen gefüllt sind, werden in politisch brenzligen Situationen wahrscheinlich gravierende Fehlentscheidungen treffen oder Bauernfängern auf den Leim gehen. Und genau das erleben wir mit dem Aufstieg rechter Demagogen in vielen Teilen der Welt.
Eine zweite Art der Reaktion, die besonders in den privilegierten Schichten zu finden ist, kann man als Bunkermentalität bezeichnen. Die Möglichkeit, dass mit unseren ökonomischen, politischen und medialen Systemen etwas grundlegend nicht in Ordnung sein könnte, wird militant geleugnet. Vertreter der selbsternannten »Leitmedien« rücken enger zusammen, um sich gegenseitig zu versichern, dass sie die Guten sind und immer alles richtig gemacht haben; Politiker einer ebenfalls selbsternannten Mitte hämmern sich selbst und uns ein, dass ihre Politik alternativlos sei; und Ökonomen, die noch nie etwas richtig vorausgesagt haben, geistern als unsterbliche »Experten« auf allen Kanälen umher. Diese Form postfaktischer Selbstgerechtigkeit nimmt inzwischen gespenstische Züge an. Wenn etwa Politiker wie Wolfgang Schäuble, Angela Merkel und Martin Schulz durch jahrelange Kürzungsdiktate gegen Länder wie Griechenland die Europäische Union fast zum Zerreißen bringen und dann als »große Europäer« gefeiert werden, hat man den Eindruck, in einer Orwell’schen Welt des »Neusprech« zu leben.17
Eine dritte Art der Reaktion – die teilweise das Resultat der ersten beiden ist – besteht darin, vor einer beängstigenden und scheinbar undurchschaubaren Welt in vereinfachende Erklärungen, Sündenbock-Theorien und verschiedene Formen des Wahnsinns zu fliehen. Dafür gibt es in der Geschichte zahlreiche Beispiele, von antijüdischen Pogromen und Hexenverfolgungen bis zur Ufologie. Seit einiger Zeit haben viele Menschen den Eindruck, dass diese Phänomene wieder zunehmen – wobei die Forschung noch keine Klarheit darüber hat, ob dies tatsächlich so ist oder nur die Sichtbarkeit durch das Internet zunimmt.18
Eine Frau etwa berichtet, ihr Ex-Mann sei fest davon überzeugt, reptiloide Aliens würden bald die Erde übernehmen. Zuhause häuft er schon Konserven an. Ein anderer glaubt, dass die Bundesrepublik Deutschland gar kein Staat ist, sondern nur eine Firma, aus der man schnell »austreten« müsse. Der Personalausweis sei ein Beweis dafür, dass man eben nur Personal dieser Firma sei. Zu dieser »Reichsbürger«-Theorie scheint auch die fixe Idee zu gehören, dass syrische Flüchtlinge sich bereits überall in geheimnisvolle »Mutterrollen« eintragen ließen, um Grundstück für Grundstück Deutschland zu übernehmen. Eine andere Frau erzählt entgeistert, der Leiter eines Trommelworkshops, an dem sie teilnahm, glaube sehr ernsthaft daran, die Neandertaler hätten sich vor zehntausenden Jahren in den Erdkern zurückgezogen (die Temperaturen von etwa 5000 Grad dort stören sie offenbar nicht). Im Übrigen müsse man nun zu Hunderttausenden auf Berlin zumarschieren, um die Regierung zu stürzen. Eine emeritierte Professorin für Soziologie beschuldigt mich in einer Rezension meines Buches Das Ende der Megamaschine, der »CO2-Propaganda« des militärischen Komplexes aufzusitzen, der mit Hilfe von »Chemtrails« unser Wetter manipuliere und uns alle umbringen wolle. Viele Klimaleugner von ähnlichem Schlage halten sich etwas auf ihr »systemkritisches Denken« zugute. Ja, die Zurückweisung der überwältigenden Evidenz eines menschengemachten Klimawandels gilt ihnen als Beweis ihrer Kritikfähigkeit und ihres Ungehorsams gegenüber Autoritäten. Ähnlich verhält es sich mit Bewohnern von sächsischen Kleinstädten, die ein Komplott zur »Islamisierung des Abendlandes« wittern. Auch sie verstehen sich als kritisch, ja rebellisch. Ebenso wie ein Mann, der mir bei einer Veranstaltung »kritische« französische Nachrichtenportale empfiehlt und hinzufügt, dass die Macher bisweilen als Rechte oder Antisemiten diffamiert würden – aber das sei »nur Propaganda«. Ein späterer Blick auf diese Seiten offenbart, dass sie für die französische Neuausgabe von Mein Kampf werben. – Werden die Leute alle verrückt? Oder waren sie es schon immer und trauen sich erst jetzt damit ans Licht der Öffentlichkeit?
Seit es Herrschaft von Menschen über Menschen gibt – also seit mindestens 5000 Jahren –, gibt es auch Verschwörungen. Ob es die Ermordung Cäsars, die illegale Absprache von Kaffeepreisen oder den Putsch gegen eine Regierung betrifft: Immer wieder versuchen Menschen, Macht- und Geldvorteile zu erlangen, indem sie heimlich miteinander Pläne gegen andere schmieden. Wenn man solche Komplotte aufdecken will und die Täter nicht in flagranti erwischt, braucht man – wie jeder Kriminalkommissar – Hypothesen. »Verschwörungstheorien« in diesem Sinne gehören also zum kriminalistischen Alltag. Heute wird mit diesem Wort aber meist etwas anderes gemeint: fixe Ideen, die darauf hinauslaufen, dass die ganze Welt als eine große Verschwörung organisiert ist. Es ist sehr wichtig, das eine vom anderen zu unterscheiden, denn bisweilen wird das abwertende Wort »Verschwörungstheoretiker« benutzt, um politische Gegner zu diffamieren, selbst wenn sie legitime Argumente ins Feld führen. Wenn etwa Menschen, die bei einem Staatsstreich oder einem terroristischen Anschlag auf gründlichen Recherchen und Beweisen bestehen und sich nicht mit Vermutungen zufrieden geben, mit Reichsbürgern und Ufogläubigen in einen Topf geworfen werden, dann dient der Begriff »Verschwörungstheoretiker« selbst als anti-aufklärerische Waffe. Daher benutze ich für fixe Ideen das Wort »Verschwörungsideologie«. Während ein guter Kriminalist ständig seine Hypothesen prüft, ja zu widerlegen versucht, produzieren Verschwörungsideologen geschlossene Systeme, die sich gegen Kritik immunisieren. Dass uns Außerirdische unterwandern, lässt sich schlichtweg nicht falsifizieren, vielleicht sind sie ja unsichtbar oder so schlau, dass wir sie nicht bemerken. Ob Neandertaler im Erdkern, Chemtrails oder die vermeintliche Weltherrschaft der Rothschilds: Solche Welterklärungsmodelle sind hermetisch geschlossen wie dogmatische Glaubenssysteme, die behaupten, dass ein transzendenter Gott die Weltgeschicke steuert.
Warum aber sind solche paranoischen Vorstellungen so populär? Ein Grund dafür liegt zweifellos darin, dass sich bei vielen Menschen ein Gefühl des Betrogenwerdens eingestellt hat. Wenn Kriege immer wieder mit Behauptungen gerechtfertigt werden, die sich später als Lügen entpuppen, wie zum Beispiel die angeblichen Massenvernichtungswaffen des Iraks;19 wenn einige Medien, die sich heute über »fake news« empören, selbst solche Falschmeldungen verbreitet haben;20 wenn die Hauptverantwortlichen der Finanzkrise mit außergerichtlichen Vergleichen davonkommen, während man in Berlin für dreimal Schwarzfahren im Knast landet;21 wenn Spitzenpolitiker ihr Insiderwissen ungestraft an Banken verkaufen können, wie jüngst der ehemalige EU-Kommissionspräsident Barroso; wenn Whistleblower, die milliardenschwere Steuerfluchtskandale aufdecken, gerichtlich verurteilt werden, während die Verantwortlichen, etwa der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, unbehelligt im Amt bleiben:22 dann liegt die Vermutung nicht fern, dass alles ein abgekartetes Spiel ist. Jede Paranoia enthält ein Stück Wahrheit, nur nicht auf einer wörtlichen, sondern auf einer symbolischen Ebene. So gesehen sind Reptiloide und Chemtrails Symbole für gesellschaftliche Kräfte, die tatsächlich vielen Menschen übel mitspielen. Das Problem des Paranoikers ist nur, dass er die symbolische und die wörtliche Ebene nicht unterscheiden kann.23
Die Ursachen für die Verbreitung paranoischer Weltbilder reichen aber noch wesentlich tiefer. In den vergangenen Jahrzehnten hat neoliberale Politik großen Teilen der Erdbevölkerung den Boden unter den Füßen entzogen. Wo die Menschen früher feste Anstellungsverhältnisse fanden, haben sich inzwischen befristete Hire-and-fire-Jobs verbreitet. Paketfahrer, die einst Beamte waren, sind heute nicht einmal mehr Angestellte, sondern prekäre Ich-AGs, die kaum noch wissen, wem das Unternehmen, für das sie arbeiten, gehört und ob es morgen noch existiert oder vom nächstbesten Hedgefonds zerlegt wird. Das Gefühl, ominösen Kräften ausgeliefert zu sein, die sich in einer unerreichbaren Sphäre bewegen, hat durchaus eine sehr reale Grundlage. Die Flexibilität, die von Arbeitenden heute allerorten erwartet wird, um dem mobilen, anonymisierten Kapital jederzeit zur Verfügung zu stehen, ist nichts anderes als eine Chiffre für Bindungslosigkeit und Entwurzelung.24 Die Befunde der Sozialpsychologie zeigen, dass Menschen, denen das Gefühl abhandenkommt, Kontrolle über ihr eigenes Leben zu haben, verstärkt zu paranoischen Weltbildern neigen.25 Der Soziologe Hartmut Rosa spricht angesichts der Aushöhlung menschlicher Weltbeziehungen durch Beschleunigung und Entfremdung auch von einer »Resonanzkatastrophe«: Menschen erleben ihre Mitwelt zunehmend als feindlich und stumm.26
Und hier kommen die beiden ersten Strategien der Verdrängung ins Spiel: Wenn die Ursachen für diese Entwurzelung und Entfremdung nicht öffentlich benannt und breit diskutiert werden, sondern die Gehirne der Menschen stattdessen mit billiger Unterhaltung zugeschüttet werden, während Politiker, Journalisten und Ökonomen den zunehmend verwirrten Bürgern einzureden versuchen, dass sie in der Besten aller möglichen Welten leben, dann wird das Ganze irgendwann im Kopf der Leute explodieren. Und genau an diesem Punkt stehen wir.
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Die 1930er-Jahre zeigen die beiden Möglichkeiten exemplarisch. In den USA schuf nach dem Wirtschaftscrash die Regierung Roosevelt – unter massivem Druck der Arbeiterbewegung – mit dem New Deal ein Programm, das Arbeitnehmerrechte stärkte, Banken einer strengen Regulierung unterwarf und die Steuersätze für Reiche auf über 80 Prozent anhob. Roosevelt ging 1933 sogar so weit, alle Goldvermögen im Land zu beschlagnahmen, um seine Politik zu finanzieren.29 Die Vermögenden mussten zuschauen, wie die staatlichen Inspektoren ihre Banktresore öffneten und die Goldbarren mitnahmen. In Europa dagegen unterstützten, nach anfänglichem Zögern, schließlich große Teile der wirtschaftlichen und politischen Eliten den Aufstieg der Faschisten. Vor die Wahl gestellt zwischen eine soziale Revolution, die ihre Vermögen und Privilegien bedroht hätte, und die nationalistischen und antisemitischen Bewegungen, wählten sie die Letzteren und öffneten damit die Schleusen für die Apokalypse des Zweiten Weltkriegs.