Dunkle Seiten
IX
Twilight-Line Medien GbR
Obertor 4
98634 Wasungen
Deutschland
1. Auflage, August 2017
eBook-Edition
ISBN: 978-3-944315-55-3
www.twilightline.com
© 2017 Twilight-Line Medien GbR
Alle Rechte vorbehalten.
In einem vergessenen Gelass
Matthias Ramtke
Amara
Marc Hartkamp
Strahlende Winde
Oliver Henzler
Die drei Tode des Robert Klein
Stefan Bursche
Die Rumpelkiste
Nadine Y. Kunz
Fernsehen ist alles
Susanne Ulrike Maria Albrecht
Scar
Alexander Knörr
Matthias Ramtke
Der nackte Beton hatte Risse.
Schritte auf der Treppe. Schwer und langsam, fast schon bedächtig. Ilka horchte auf, dann hastete sie zur Wohnungstür. An den Füßen trug sie nur Socken, damit sie kein zu lautes, verräterisches Geräusch auf dem Fußboden verursachte. Sie spähte durch den Türspion, wartete.
Die Schritte wurden lauter.
Das Gebäude war äußerst hellhörig.
Ilka, die in der dritten Etage auf der linken Seite wohnte, hörte sogar die Greisin aus dem ersten Stock, wenn sie sich zum Briefkasten schleppte, das Gesicht verzerrt vor Anstrengung, die ihr der eine Treppenabsatz abverlangte.
Die Schritte wurden lauter, Ilkas Herz pochte heftiger.
Sie drückte das Gesicht an die Tür, das Auge weit aufgerissen. Sie presste die Lippen fest aufeinander, versuchte flach zu atmen.
Ein dunkler Haarschopf erschien, zerzaust vom langen Arbeitstag. Dann die Schultern, der Rücken.
Der Mann verschwand kurz aus ihrem Sichtfeld, dann tauchte er wieder auf. Er stieg jetzt die Treppe hoch, die an ihrem Absatz endete.
Ilka trat zurück, strich ihre altmodische Schürze glatt, die sie immer trug, wenn sie zu Hause war, zupfte in ihren kurzen, stumpfen Haaren, atmete tief ein und öffnete schließlich die Tür.
Hendrik blieb kurz stehen, hob den Kopf. Er lächelte sie müde an.
„Ilka“, sagte er. „Grüß dich.“
Sie lächelte zurück. „Wie war dein Tag? Ich hab gehört, dass du kommst, und da wollte ich dich fragen, ob du mir später vielleicht helfen könntest. Ich habe hier ein Regal, und das bekomme ich nicht an die Wand und du bist doch geschickt, oder? Hendrik?“
Er straffte sich, die blaue Arbeitshose spannte sich über einem leichten Bauchansatz, was ihn in Ilkas Augen keineswegs unattraktiver machte. „Kann ich machen, Ilka. Du hast gehört das ich komme?“
Sie senkte den Blick, nestelte nervös an den Bändern ihrer Schürze. „Na ja, ich höre meistens, wenn jemand kommt, und du trittst ziemlich stark auf.“
Dumme Ziege!
Zu ihrer Überraschung lachte Hendrik. „So ein Tag kann einen ganz schön schaffen. Ist gut, gib mir ein paar Minuten. Ich möchte erst was essen.“
„Oh, du kannst auch bei mir was essen. Ich mach was. Was möchtest du? Was isst du gern?“
Er winkte ab und grinste sie schief an. „Lass nur, Ilka. Keine Mühen. Ich esse, dann komme ich, okay?“
Sie wollte ihn zurückhalten, ihm sagen, dass es ihr keine Mühen machte, aber er lief die Treppe bereits weiter nach oben. Er wohnte unterm Dach.
„Ist gut!“, rief sie ihm hinterher.
Sie blieb noch eine Weile stehen, lauschte dem gleichmäßigen Poltern seiner Schritte, hörte, wie er mit dem Schlüsselbund klimperte, die Tür aufsperrte und sie hinter sich schloss.
Hinter der Wohnungstür gegenüber raschelte es.
Sophie beobachtete Ilka durch den Türspion. Schadenfroh, hämisch. Die hässliche Ilka.
Die hässliche Ilka machte sich an den Klempner aus dem Dachgeschoss ran. An den jungen Kerl. Dieses Mauerblümchen!
Sophie, die Frau von Sönke. Sie stritten sich oft, manchmal schlug er sie.
Das Gebäude war äußerst hellhörig.
Dann wurden die Risse im Betonboden des Kellers tiefer, breiter, verzweigter. Wenig nur, für das menschliche Auge kaum sichtbar. Dort hinten, in einem vergessenen Gelass, neben zwei Kartons und der Leiche eines Staubsaugers.
Ilka wusste das.
Sie verschwand in ihrer Wohnung und versperrte die Tür.
Sie stand neben ihm, beobachtete ihn. Den Ausdruck auf seinem Gesicht, Konzentration und Anspannung, aber auch jene Spur von Heiterkeit, die er immer ausstrahlte.
„Einen Dübel, bitte“, sagte er.
Ilka hielt ihm die Schachtel hin, er holte den passenden Dübel heraus.
„Das sieht gut aus.“
„Bis jetzt sieht man ja noch gar nichts. Wird sich zeigen, ob ich richtig gebohrt habe.“
„Es wird schon richtig sein“, gab sie zurück und legte den Kopf leicht schief. Ihre Brille verrutschte etwas, Ilka rückte sie gerade.
Ein Poltern, etwas kratzte an der Wohnzimmerwand hinter ihnen. Hendrik drehte sich um, runzelte die Stirn und warf Ilka einen fragenden Blick zu.
Sie wurde rot. „Das sind die Nachbarn. Bei denen ist es oft laut“, erklärte sie.
„Wirklich? Ich habe noch nichts gehört.“
Sie nickte, eine Strähne fiel ihr ins Gesicht. „Sie streiten sich oft.“
„Doch, jetzt wo du es sagst … Einmal, nachts, da hat es ziemlich laut gescheppert, und dann hat jemand geweint. Aber es hat fast so geklungen, als ob es aus einer anderen Wohnung gekommen wäre.“
Ilka schwieg. Hitze flutete ihr Gesicht. Am liebsten wäre sie im Boden versunken.
„Ilka, gibst du mir das Brett?“, fragte Hendrik.
„Ja, natürlich.“ Sie wandte sich ab, suchte hektisch nach dem Regalbrett.
„Auf dem Sofa“, erinnerte er sie.
„Ja, natürlich. Auf dem Sofa.“
Sie griff danach und hörte das Klatschen einer Hand auf nackter Haut. Hendrik schien nichts zu bemerken.
„Bist du fertig? Hendrik?“
„Wenn du mich drängelst, dauert es länger.“ Er grinste. „Gut Ding will Weile haben, oder?“
Sönke brüllte etwas.
„Das war deutlich!“, witzelte Hendrik.
Die Hitze wich aus ihrem Gesicht, drängte sich in ihren Brustkorb.
Nicht jetzt! Nicht jetzt, bitte!
„Bist du jetzt fertig?“, wiederholte sie ihre Frage.
„Nur noch … so! Ich hoffe es hält eine Weile. Wenn nicht, dann kannst du …“
„Danke! Ich danke dir.“ Sie drängte ihn zur Tür, stieß ihn regelrecht aus der Wohnung.
„Ilka, ist alles in Ordnung mit dir? Ilka?“
Nein! Nichts ist in Ordnung! Nein, nein, nein!
„Ja. Mir geht es gut.“ Sie hob die Hand zum Abschied, ihr Herz brannte. „Danke nochmal! Tolle Arbeit!“
Bevor er etwas sagen konnte schloss sie die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss, einmal, zweimal.
Sönke brüllte weiter. Ein Rumpeln, ein Quieken, als wäre ein kleines Ferkel in der Nachbarwohnung.
Der nackte Beton hatte Risse.
Ilka schleppte sich ins Wohnzimmer, ihre Augenlider flatterten, sie schnappte nach Luft.
„Blöde Schlampe!“, erklang Sönkes Stimme. Sie hörte ihn klar und deutlich, als stünde er direkt vor ihr, als galt sein Zorn ihr, nur ihr allein, nur Ilka.
Ein Birkenhain in einem Moor. Vollmond. Nackte Menschen wiegen sich im Takt einer unerhörten Melodie. Brüste wippen auf und ab, rote Brüste, beschmiert mit Blut. Die Menschen tragen gehörnte Masken.
Der nackte Beton hatte Risse.
Ilka krallte sich in die Armlehne ihres Sofas. „Bitte nicht!“, presste sie hervor. Adern an ihrem Hals, auf ihren Unterarmen, an ihren Schläfen. Sie pochten, pumpten heißes Blut durch ihren heißen Körper. Ihre Knie gaben nach, sie stürzte zu Boden.
Das Moor blubbert, wirft schwarze Blasen. Stinkende Dämpfe steigen auf. Der Kadaver eines Pferdes, der Kadaver einer Ziege, der Kadaver eines Kindes. Maden in leeren Augenhöhlen.
Ilka öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Wellen der Qual jagten durch ihren Körper. Sie zuckte mit den Füßen, trommelte auf dem Boden herum, wühlte im Teppich.
Sönke schlug und schlug und schlug. Sophie wimmerte. Blut rann über ihr geschwollenes Gesicht, sie krümmte sich, flehte ihn an. Sie konnte ihn nicht verlassen. Sie liebte ihn.
Ein Mensch beugt sich über eine Gestalt auf einem flachen Stein. In ihrer Faust glitzert eine krumme Klinge. Auf einem Scheiterhaufen wird eine Hexe verbrannt. Sie lacht und johlt, schimpft und flucht. Ihre Haut wird schwarz. Fliegen liegen auf einem Tisch, ihre Flügel sind ausgerissen. Sie strampeln mit den Beinchen.
Ilka schrie. Sie schrie, weil sie es nicht mehr aushielt, weil die Bilder ihr den Verstand raubten, weil es schmerzte. Oh, es schmerzte so sehr.
Sönke wandte sich ab. Sophie war am Ende. Sie würde mindestens zwei Wochen in der Wohnung bleiben.
Die nackten Menschen im Birkenhain. Sie stehen still, starren in die Luft. Dann drehen sie sich um, alle gleichzeitig. Sie starren ihn an.
Und er kommt.
Der nackte Beton hatte Risse. Mittlerweile passte der Finger eines Kindes in den Spalt.
Ilka lief mit geschlossenen Augen durch den Park. Die Sonne wärmte ihr Gesicht, ein Buchfink begleitete sie mit seinem Gesang. Sie kam nicht vom Weg ab, dafür war sie ihn schon zu oft gelaufen.
Jeden Tag die gleiche Runde, sie liebte es. Es gab nichts Schöneres als spazieren zu gehen, das Wetter in all seinen Facetten zu spüren, die Natur in sich aufzusaugen, frische Blumen und Kräuter zu sammeln und zu fühlen, wie lebendig die Erde zwischen all diesen stumpfen, toten Existenzen doch war.
An einem Teich unterhalb ihres Weges warf die dreijährige Emma Steinchen ins Wasser. Die Enten schnatterten erbost, tummelten sich am gegenüberliegenden Ufer. Ihre Eltern, Charlotte und Björn, saßen auf der Bank, fanden hin und wieder ein paar ermahnende Worte, hielten sich in den Armen. Sie wohnten ebenfalls in Ilkas Block, ein Stockwerk tiefer.
Björn schaute zu ihr hoch, Ilka hob die Hand zum Gruß. Er erwiderte die Geste freundlich, Charlotte warf ihm einen finsteren Blick zu. Sie konnte Ilka aus irgendeinem Grund nicht ausstehen. Wahrscheinlich dachte sie, dass Ilka Björn den Kopf verdrehen wollte, aber das war ganz und gar nicht ihre Absicht.
Sie wünschte sich eine glückliche Beziehung mehr als etwas anderes, doch niemals würde sie zur Ehebrecherin werden. Dazu fehlte ihr ohnehin der Mut.
Sie lief weiter.
Der Tag hatte einen faden Beigeschmack bekommen. Den Blick stur auf ihre Füße gerichtet, die Hände in den Taschen ihrer Jacke vergraben, die Schultern hochgezogen, nahm sie kaum noch etwas von der Welt wahr.
Vor ihrem Block wäre sie beinahe in Hendrik gerannt, der sie schon von Weitem gesehen hatte und die Tür für sie offenhielt.
„Oh, entschuldige“, wisperte sie und begann mit den Zähnen das Fleisch an ihren Lippen zu lösen. Sie blieb stehen, sagte nichts.
„Willst du nicht rein?“
„Doch! Doch, natürlich. Entschuldige.“
„Entschuldige dich nicht immer. Alles ist okay“, schalt er sie. Sie kam sich vor wie ein ungezogenes Kind.
„Was war gestern los?“, fragte er, als sie die Treppen nach oben gingen.
„Nichts.“
Er lachte unvermittelt auf, seine Zähne leuchteten weiß. „Ich bitte dich. Du kannst es mir ruhig sagen. Ich höre dir gern zu. Du hast eine schöne, ruhige Stimme.“
Ihr Herz schlug schneller, ihre Zähne knabberten heftiger an ihren Lippen. Sie schmeckte etwas Blut, hob erschrocken die Hand an den Mund.
„Wirklich. Ich möchte dass du weißt, das du mir sagen kannst wenn dich etwas bedrückt. Du hast ja niemanden.“
„Du hast auch niemanden“, erwiderte sie und erschrak gleich wieder über ihre eigene Forschheit.
Oder? Hatte er jemanden? War er allein?
„Also, ich meine, du wohnst ja auch ganz allein. Du kannst mich besuchen, wenn du möchtest. Wir könnten zusammen Mittagessen, oder, Hendrik?“
Sie kamen auf Ilkas Absatz an, Sophie spähte durch den Türspion. Ilka spürte es.
Er drehte sich zu ihr um, der Absatz war nicht groß. Er duftete. Ilka spürte brennendes Verlangen zwischen ihren Schenkeln, sie rieb die Hände aneinander, schob die Brille hoch, nestelte an ihren Haaren.
„Heute nicht, Ilka“, sagte er. „Heute nicht. Ich habe noch Reste von gestern, die müssen weg.“ Er zwinkerte ihr zu und begann den Aufstieg zum Dachgeschoss.
„Ist gut. Vielleicht ein andermal. Vielleicht morgen. Ich würde mich freuen.“
„Hält das Regal?“, fragte er noch.
„Es hält. Vielen Dank.“
Er tippte sich zum Abschied an die Stirn.
Ilka lehnte sich an ihre Tür, schloss die Augen, dachte nach. Sie vergaß das sie noch im Hausflur stand.
Hinter der Nachbartür rumorte es.
Ilka riss sich los, suchte in ihren Taschen nach dem Schlüssel, bekam ihn aber nicht schnell genug ins Schloss.
Sönke trat auf den Flur hinaus, zog seine Turnschuhe an.
„Hey“, murmelte er.
„Hey“, antwortete Ilka ohne ihn anzusehen, drehte den Schlüssel, stieß die Tür auf und brachte sich in Sicherheit.
Hinter ihrer Stirn tobte es. Sie fühlte, wie sich der Schmerz einen Weg hinausbahnen wollte, doch sie hielt ihn im Zaum. Es ist nichts passiert. Bitte, kein Anfall. Es ist nichts passiert. Es ist nichts passiert.
Ilka seufzte, zog sich aus und ging ins Bett, obwohl es noch mitten am Tag war. Sie war ohnehin eher ein Nachtmensch.
Sophie saß im Schneidersitz auf ihrer durchgesessenen Couch und drehte sich einen Joint. Ihre Hände zitterten noch immer, dieses Arschloch hatte es ihr heftig gegeben. Hatte sie heftig geschlagen, heftig gedemütigt. So heftig wie noch nie zuvor.
Weil sie das falsche Bier gekauft hatte. Wegen einem Kasten beschissenen Bieres, dieser Wichser.
Sie liebte ihn. Seine Hände waren so stark, rau von der schweren Arbeit, groß wie Teller. In seinen dunklen Augen konnte sie sich verlieren; er bekam tolle Grübchen, wenn er lachte. Und sein …