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Land Niederösterreich und der Stadt Wien.

 

© 2017, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

Lektorat: Andrea Hörandner

Umschlag: Jürgen Schütz

Umschlagbild: © kssss – fotolia.com

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-57-6

 

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-71-7

 

 

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Die Autoren:

Markus Orths wurde 1969 in Viersen geboren, studierte Philosophie, Romanistik und Anglistik in Freiburg und lebt als freier Autor in Karlsruhe. Seine Romane erschienen im Schöffling & Co. sowie im Hanser Verlag. Für seine Texte wurde er mehrfach ausgezeichnet u.a. mit dem Telekom-Austria-Preis (2008) in Klagenfurt, dem Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld (2009) und dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar (2011).

 

Marlen Schachinger wurde 1970 geboren und lebt in Niederösterreich. Sie veröffentlichte mehrere Romane sowie Prosa, Lyrik und Essays in nationalen und internationalen Literaturzeitschriften und ist Herausgeberin mehrerer Anthologien, zuletzt des Erzählbands übergrenzen (Septime 2015). Sie hält die künstlerische Leitung des Instituts für Narrative Kunst Niederösterreich und ist Dozentin ebenda sowie an der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien. 2016 erschien im Septime Verlag ihr Roman Martiniloben.

 

Michael Stavarič, 1972 in Brno geboren, lebt als freier Schriftsteller und Übersetzer in Wien. 2006 sorgte er mit seinem fulminanten Romanerstling stillborn für Aufsehen weit über die österreichische Literaturszene hinaus. Es folgten zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Kinderbücher, u.a. Terminifera (2007), Die kleine Sensenfrau (2010), Brenntage (2011) oder Nadelstreif & Tintenzisch, Ein Bestiarium (2011). Sein Werk wurde mit diversen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, zuletzt mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis. 

 

Klappentext:

Erstmals verfassen drei AutorInnen ein »Requiem der Sprache«: Ihre Totenmesse vertraut dem Wort, verzichtet gänzlich auf Musik und ist keiner Religion verpflichtet. Bewusst wird außerdem so manch Denkgewohntes infrage gestellt; denn der Tod kennt keine Konfession und keine Überzeugungen. »Requiem – Fortwährende Wandlung« fokussiert primär den Charakter des Veränderlichen allen Lebens – sei es menschlich, tierisch oder pflanzlich. Denn es sind unzählige Wandlungen, die alles Dasein in seiner Gesamtheit prägen, bevor das Sterben als letzte große Wandlung beginnt. Die finale Metamorphose ist jedoch der Tod. Ebenso im Mittelpunkt steht die Frage des Umgangs mit dieser Unausweichlichkeit: Geboren, um zu sterben – will man es auf den Punkt bringen. Darin schwingt jedoch auch implizit die Reflexion des »Wie leben? « mit – wie leben, damit die Zeit der Metamorphose aus unserer Sicht »gut« genannt werden kann, und was hinterlassen wir allem Danach. »Requiem – Fortwährende Wandlung« wurde im Mai 2017 in der Pfarrkirche in Gaubitsch (NÖ) als Liturgische Feier unter Anwesenheit des Pfarrers Christian Wiesinger von den drei AutorInnen Marlen Schachinger, Michael Stavaric und Markus Orths uraufgeführt und liegt nun als Buch im Septime Verlag vor.

… am Anfang war das Wort, und das Wort hieß »sterben«, und die Ergänzung »müssen« beschwor seine Unausweichlichkeit, und das Wort hallte in uns wider, und das Wort erschreckte. Am Anfang war der Wunsch, von all dem niemals zu wissen. Und das Wort wurde Kunst, und mit dieser Unruhestifterin verwandelte es sich in Geschichten, und in den Geschichten wuchsen Bildwelten, und wir hörten und lasen sie, und sie wandelten auch uns im Wahrnehmen und Erleben. Und am Ende war noch immer das Wort, und das Wort heißt weiterhin »sterben«, und die Ergänzung »müssen« beschwört nach wie vor seinen unausweichlichen Charakter, doch die literarischen Arbeiten von Marlen Schachinger, Michael Stavaric und Markus Orths hallen in uns wider, sie spiegeln das Leben in allen Facetten, sie spiegeln uns den Tod, und sie geben uns Kraft der Sprache und ihrer Verwandlungskunst im Rahmen ihrer liturgischen Feier »Requiem« ihre Erzähluniversen, und das ist noch immer nicht das Ende, denn im Kehraus feiern wir: das Leben …

 

 

REQUIEM

Fortwährende Wandlung

 

Markus Orths

Michael Stavarič

Marlen Schachinger

 

Die einzelnen Texte stammen von:

Markus Orths

Michael Stavarič: Lesung

Marlen Schachinger: Evangelium

 

 

INTROITUS

 

 

Herr, gib ihnen die ewige Ruhe,

und das ewige Licht leuchte ihnen.

Dir gebührt Lob, Herr, auf dem Zion,

Dir erfüllt man Gelübde in Jerusalem.

Erhöre mein Gebet;

zu Dir kommt alles Fleisch.

Herr, gib ihnen die ewige Ruhe …

 

Herr, gib ihnen die ewige Ruhe,

und das ewige Licht leuchte ihnen.

In ewigem Gedenken lebt der Gerechte fort:

vor Unglücksbotschaft braucht er nicht zu bangen.

 

Befreie, o Herr, die Seelen aller verstorbenen Gläubigen von jeder Fessel der Schuld.

Deine Gnade komme ihnen zu Hilfe, auf dass sie entrinnen dem Rachegerichte.

Lass sie genießen des ewigen Lichtes Glückseligkeit.

 

 

 

Ewige Ruhe jetzt, und hast den Raum gefunden, der dich umgeben wird für den Rest deines Todes, und liegst dort, am Ort der Ewigkeit, am Ort der Klebrigkeit, und Nähe nicht möglich mehr, Umarmung nicht möglich mehr, Aufrichten nicht möglich mehr, Tag der Aufrichtigkeit, als dein Gesicht verschwand, deine Hand schon beinah ins Gebein gesackt, Schmetterlingsflügel, sagtest du einmal, Schmetterlingsflügel, nicht berühren, Markus, du darfst keine Schmetterlingsflügel berühren, nein, sonst geht er ein, der Schmetterling, doch jetzt berühre ich den Schmetterlingsflügel deiner Hand und die nackten Knochen darunter, jetzt berühre ich deine Schmetterlingsfinger, komm, erzähl mir eine Geschichte.

 

Auch wenn der Glaube, Vater, den du in mich setztest wie ich einst als Kind die Kartoffeln in die Löcher unseres Gartens …

 

… die Löcher hast du ausgehoben, den Dünger habe ich aus der Packung gelöffelt und die Kartoffel mit ihren blasslila Trieben, ihren pelzigen Fühlern (wie Weidenkätzchen) in die Löcher gelegt und den braunen Torf mit der bloßen Hand aus dem Eimer über sie geworfen, bis alles, alles, alles bedeckt war, und du hast die Löcher geschlossen mit dem Auswurf der Erde vom Spaten …

 

… auch wenn der Glaube, Vater, den du in mich setztest wie ich einst als Kind die Kartoffeln in die Löcher unseres Gartens, auch wenn dieser Glaube, längst aus mir gerissen, dort liegt wie die Strünke der Kartoffeln, von ihren Knollen befreit, auf einem Haufen verrottend …

… und wie du mit der Grabegabel in die Erde stachest und die gereiften Kartoffeln auferstehen ließest, auf dass sie vertilgt würden von hungrigen Schlünden, und wie du den linken Fuß auf die Schulter der Grabegabel setztest, aus der spitze Zinken wuchsen, und wie du sie mit der Fußsohle niederdrücktest und in die Erde schlitztest, und wie du dein Gewicht auf die Grabegabel legtest, um die Kartoffelknollen zu heben aus dem Geheimnis ihrer Schwärze, in der sie ins Leben wuchsen, und wie du aufstöhntest, wenn einer der Zinken sich durch eine dicke Kartoffeln bohrte, und wie ich im Dreck kniete und die Kartoffeln eine nach der anderen von den Strünken befreite oder aus der nackten Erde klaubte und in den roten Eimer warf, und deine Enttäuschung, wenn nur ein paar mickrige Pimpfe an den Fäden hingen, und deine Freude, wenn die Kartoffel groß und prächtig und wunderbar waren, ich liebe dich …

 

… auch wenn dein Glaube also, den du in mich setztest und den ich aus mir riss, nicht mehr mein Glaube ist, auch wenn ich deinen Glauben verscharrt habe, auch wenn ich nicht mehr weiß, wie ich ihn würde heben können, selbst wenn ich es wollte, was nicht der Fall ist, so glaube ich dennoch daran, dass der Glaube Berge versetzen kann, und wenn dem so ist, wird dein Glaube dich dorthin geführt haben, wo du immer sein wolltest, in ein Reich, in dem du deine Mutter triffst und deinen Vater und das Päppken, deinen Großvater, dem du den Humor verdanktest, ich glaube, das Licht, das ewige Licht leuchtet für dich, die ewige Ruhe, in ewigem Gedenken lebt der Gerechte fort, vor Unglücksbotschaft braucht er nicht zu bangen, im Genuss der Glückseligkeit …

… und du starbst in ein Singen hinein, Heil’ger Josef, hör uns flehen, sangen sie, die dort standen und saßen am Bett des letzten Atemzuges und deine Hand hielten …

 

… und …

 

 

KYRIE

 

 

Herr Jesus, du Wort des Lebens! Kyrie eleison!

Herr Jesus, du Licht der Menschen! Christe eleison!

Herr Jesus, du bist unser Weg zum Vater! Kyrie eleison!

 

 

 

 

 

 

 

Man stirbt nicht

Ich sterbe

Du stirbst

Man stirbt nie

Das Man überlebt immer

 

Und du starbst ins Singen hinein

Und du starbst ins Weinen hinein

 

Der eine stirbt in die Stille hinein

Der andere stirbt in die Leere hinein

 

Der eine stirbt allein

Der andere stirbt im Beisein

 

Meine Großmutter starb ins Lachen hinein

 

Alle waren sie dort

Und beteten wie die Berserker

Die ganze Familie

Nur ich nicht

Und meine Großmutter starb ins Lachen hinein

Und die Geschichte stimmt

Und die Stimmung stimmt

 

Da saßen sie alle und beteten, die ganze Familie ein einziges Gebet, seit meiner Kindheit: Kirche, Gesang, Gebet, Gebet, Gebet, Einschlafen für mich ohne Abendgebet unmöglich ein lange Zeit, Indoktrination, unerhörte, Gebet, Gesang, Glaube, Christuskörperkreuz.

 

Und es kam also die Stelle im Gebetbuch, da dort stand: Herr, erbarme dich. Und danach aber, in Klammern, da fand sich die Regieanweisung, ein kursiv gedrucktes 3 x. Und alle wussten, und jedem der erprobten Kirchgänger war klar, und keiner würde dies im Mindesten bezweifeln: Jetzt hatte derjenige, der hier las, zu sagen: Herr, erbarme dich / Herr, erbarme dich / Herr, erbarme dich. Und sonst nichts.

 

Und mein Onkel war dran, der Sohn seiner sterbenden Mutter, und er las und las und betete vor, und dann kam diese eine Stelle, auf die er zusteuerte wie auf eine Klippe, und niemand weiß, warum er tat, was er jetzt tat, niemand weiß, warum er las, was er jetzt las, niemand weiß, wie ihm geschehen konnte, was nun geschah, es bleibt ein Wunder, ein Mysterium, denn mein Onkel war ein begnadeter Kirchgänger und auch noch Chorsänger, ein Mitglied im Kirchenchor, er kannte sich aus mit allem, was zu tun hatte mit Gebetbuch und Litanei und Brimborium, es bleibt ein Rätsel, seinen Fehltritt zu erleuchten, vielleicht lag es daran, dass der nahende Tod seiner Mutter ihm die Sicht vernebelte, vielleicht lag es daran, dass er Schmerz und Trauer nicht ertragen konnte, vielleicht lag es an der Nähe von Abgrund und Gipfel, an der Nähe von Schmerz und Lust, an der Nähe von Weinen und Lachen, an der Nähe der Gegensätze, die sich immer anziehen, um sich warmzuhalten, um sich zu ergänzen, weil sie wissen, Gegensatz braucht Gegensatz, um erst zu dem zu werden, was er ist, jeder Gegensatz braucht die andere Seite, um die eigene Seite aushalten zu können, nein, man weiß es nicht, woran es lag, jedenfalls sagte mein Onkel nicht, wie er es hätte tun sollen und wie es vorgeschrieben gewesen wäre: Herr, erbarme dich / Herr, erbarme dich / Herr erbarme dich.

 

Nein, mein Onkel sagte: Herr, erbarme dich dreimal.

 

Und alle mussten lachen

Und meine Großmutter

Starb

Ins Lachen hinein

Ein schöner Tod

Sagten alle

Danach

Ein schöner Tod

 

 

 

LESUNG

 

 

 

Kain und Abel

 

 

 

 

 

Kains Buße

 

Von guten Gedanken ist nicht viel geblieben, die Schatten der Vögel wischen über mich hinweg, als würden ihre Flügel löschen und nur auslöschen, mich ungeschehen machen wollen, um jeden Preis, Federradiergummis! Als ob es so einfach wäre, sich aus seiner Haut zu schrubben, sein Herz auszuwringen, Häuser abzutragen und Berge zu glätten, die Welt erneut zu wenden, wie ein irregeleitetes Fuhrwerk. Tritte am Waldesrand, Konturen von Fliegenpilzen gerade noch zu erahnen, man hört sie plötzlich züngeln und summen, Fleischfliegengeister, sie rollen um ihre Achsen und schlagen sich in Eichblätter ein. Die Zweige verwischen jedweden Gedanken, wenn man ihnen zu nahe kommt, die Rehe im Unterholz stehen starr, wie Schnappschüsse irgendeiner längst entglittenen Weltnachwelt, Trophäen, deren Farben allmählich zu verblassen beginnen.

 

Der Bruder hängt zwischen zwei Wolken, tiefstehende, sich an den Bäumen labenden Kreaturen, himmlische Aasfresser, konturlos und dennoch Körper verschlingend, wie paradox es doch ist, taubefleckt zu seinen Füßen ein Schemel, als ob dieser eine Entschuldigung wäre, umgestoßen vom Wind, mitgerissen von Wildschweinrotten, es fällt kein Traum herab. Aus dem Körper des Bruders scheint es zu regnen, ich muss die Augen schließen, was man doch nur dann macht, wenn mit dem Regen etwas nicht stimmt, als ob der Bruder ein Wetterphänomen wäre, das den saueren Waldboden noch saurer macht.

 

Er ist tot, was sollte er auch sonst sein, wenn doch kein Boden unter seinen Füßen, baumelnd über dem Mariannengraben, schwebend vor der Auferstehung, Tiefseekalmare saugen an seinen Fesseln, Leuchtgarnelen in seinem Haar formieren sich zu einer Art Heiligenschein, als ob sich die Seele nunmehr tatsächlich aufrafft in lichte Höhen, wenn doch das Herz ausgekühlt und verglüht. Im klammen Gras, kaum zu verwechseln mit dem Herzschlag, huschen Waldmäuse ihren Hohlweg entlang, Plankton treibt durchs Unterholz, keine Fähnchen im Wind, die flattern und den Weg nach Hause weisen würden. Blind in sich versunken, der alte Schäferhund am Waldrand, irgendwer hat sein Fell gegen den Strich gebürstet, doch so ein Sternbild gibt es nicht.

 

Er ist tot, man wird ihn nicht vergessen, alle werden zu seinem Begräbnis antanzen, Leichenbittermienen, doch später strömen Wodka und Bier, wenn erst die Steine auf ihm liegen und sich alle reichlich bekreuzigt, sich ordentlich geräuspert und sich ein paar auf den Toiletten einen runtergeholt haben … und warum auch nicht. Man erklärt das Unheil oft genug: Es sei doch menschlich! Man kennt das Unheil: Die alten Bücher warnten doch davor, einst geschrieben, um aller Seelenheil zu retten, heutzutage nicht mal mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt.

 

Wer faselt etwas von Gerechtigkeit, seine Sache war sie nicht, in der frisch ausgehobenen Erde ein paar Tonscherben, ein paar Spielsachen, ein paar längst vergessene Kulturen, bestimmt einst in den Brunnen gefallen, verschütt gegangen im eigenen Unvermögen, nichts wissend, viel betend, viel wissend, nicht betend, es heißt: Kein Meister sei jemals vom Himmel gefallen! Und wer ohne Sünde sei, werfe doch bitte schön den ersten Stein, ich mag Lapislazuli.

 

Der Mensch vollbringt nichts und Abel am allerwenigsten, tot einzutauchen in den Waldboden, in das fichtengrüne Meer mit seinen Untiefen, sich des eigenen Schicksals zu entheben, mich benutzend, sich vorzudrängeln in der Schlange, sich die Henkersschlinge wie ein Collier überzustreifen, überstreifen zu lassen, wehe ihm. Ab in den Schlund das Gewissen, zum Magenpförtner, warum darüber schweigen, nur weil es sich nicht schickt, Stoffwechselsonette, und alle meinen, es gräme die Toten, wenn man ungebührlich von ihnen redet, die hören und fühlen doch nicht. Die Toten kennen einen nicht mehr, sie erkennen die einfachsten Probleme nicht, was es doch heißt, weiterzuleben, sich alltäglich zu erinnern, ganz egal, ob eine Kindheit fröhlich oder schrecklich war, man vergöttert sie.

 

Am Waldrand haben wir gelebt wie Hunde, am Seerand sind wir herumgekreucht, aus der Ferne ließ sich kaum erkennen, wer Hund, wer Mensch, wer aufrecht und wer auf allen vieren in die taillierten Hütten kroch. Ungewöhnlich war das schon, grob zusammengezimmerte Verschläge, die an Sanduhren erinnerten, Vergänglichkeit mit Erinnerungswert. An der Küste haben wir gelebt, an der See, ohne zu erkennen, dass ein Abgrund am Waldrand lauerte, mit Flossen und Zähnen zwischen den Korallenpilzen, wo sich zwar das Licht brach an den Zweigen, doch schon ein paar Schritte weiter war es dunkler und unwirtlicher als anderswo an vergleichbaren Orten. In unserer Gegend gab es sogar ein Sprichwort: Geh nicht in den Wald, ohne etwas Seewasser im Kopf zu haben!

 

Ich weiß noch, als ich ihn zum letzten Mal sah, dass er hechelte, dass er seine Zunge halb über die Unterlippe rollen ließ, ein kleiner roter Teppich, auf den man sich sogleich legen wollte, seine Lefzen zuckten ständig, er pinkelte mir ans Bein, so schnell konnte ich gar nicht schauen. Ich weiß schon, dass es sich nicht ziemt, dass man so nicht über seinen Bruder spricht, als wäre dieser ein beliebiger Fußabstreifer, irgendein Mobiliar oder Inventar eines sich langsam auflösenden Hauses.

 

Ein paar aus den Hügeln trauern, die erkennen sich selbst und bekommen eine Ahnung von der Zukunft, ein paar Geschäftstüchtige fragen sich, wer die Sanduhrhütten übernehmen werde, das Grundstück mit den Beerensträuchern, die Boote und Fischreusen, die meisten halten sich bedeckt, flicken ihre Netze, scheuern ihre Büchsen, krempeln die Hosenbeine hoch, Vater und mir traut es wohl keiner mehr zu. Zugegeben, der Vater ist gealtert, keine Ahnung, wo die Zeit blieb, ja, wie viel Zeit noch bleibt, bis kein Hahn mehr kräht. Ich frage mich, ob ihre Hüte und Schnauzer echt oder aus Nebelpappmaschee sind, wer von ihnen ein Gewissen hat, doch kaum einer kann sich ein solches leisten, niemand mag verdorren.

 

Ein Regenguss schneidet mir das Wort ab, die Gedankengänge geraten ins Stocken wie ein Fuhrwerk im tiefen Matsch, Wasser läuft mir in den Kragen und eiskalt den Rücken entlang, wie mit einer rostigen Harke gezogen, von der Schwerkraft immer weiter befeuert, die von ganz tief unten nach einem langt. Der Prediger lässt den Totengräber schaufeln, zurück die Erde, dorthin, wo sie vorgestern noch war, ein öliger Film reitet am Boden auf, dabei will keiner zusehen, die Füße verlieren jedweden Halt, irgendetwas wäscht alles Wasser aus dem Himmel und leert die grauen Flächen unerbittlich aus, mit ein klein wenig Glück bricht sich noch irgendwer den Hals hier unten, einer sollte das, einer verdient es doch immer.

 

Ich habe ihm einmal gesagt, dass er gehen solle, irgendwohin ins Kino, irgendwo weit weg, um wirklich etwas von der Welt zu sehen, dass er hier weg müsse, weil man so einem wie ihm nichts zugesteht, man presst ihn aus, umgarnt ihn, so gut es geht, schließlich nimmt man sich, was man will, und lässt die Worte sein, Buchstabenpfützen am Boden, Schneckenschleim, was immer auch vom Tage übrig blieb. Ich spüre selbst längst nichts mehr, den kleinsten Köter nicht, der mich in die Wade zwickt, irgendeinen Chihuahuascheiß, den sich Züchter hinter dem großen Teich zusammenschustern in ihren Freilaufgehegen, ein einziger Sonnenstich die ganze Brut, ein von der Hitze schockgeröstetes Land, ein missratener Landschaftsgärtner entschuldigt es auch nicht.

 

In der Predigt hieß es eben doch, dass der Herr sich aller Toten annimmt, dass er sie geleitet und bettet, vielleicht rahmt er sie auch, um sie im Himmel aufzuhängen, die größte und umfangreichste Porträtsammlung, die man sich nur denken kann, mit altbekannten Engeln als Kuratoren und einer Cafeteria voller aufgeschäumter Wolken. Ja doch, der Herr hat eben Geschmack, lässt sich nicht lumpen, Kartenermäßigungen bleiben dabei selten, alles hat seinen Preis, man kann das gar nicht oft genug betonen.

 

Er hat mich einmal gefragt, ob ich mit ihm ganz tief in den Wald kommen würde, zwischen den Wellenkämmen Pilze sammeln und Beeren kosten (bloß nicht mehr Fischen!), vielleicht hätte ich ja sagen, ihm die Pfade und Schluchten erklären sollen, wohin er schwimmen, auf was er achten müsse, wo die wirklich finsteren Ecken nach einem langen. In Asien deutet man es als Zeichen von Frische, aufgeschnittene Leiber, deren Herzen weiter schlagen, während längst ein Marktstand mit ihnen bestückt, all den Fischen und dem Geflügel und dem Ungeziefer. Das unbeirrbare Pochen der offenen Herzen lockt Käufer an, die dann tiefer in die Taschen greifen, manchmal schafft es so ein Herz bis zum häuslichen Küchentisch, schlägt so lange, bis man es ins heiße Öl gleiten lässt.

 

Er ist tot, eine sich längst zersetzende Frucht am Baum, ein schimmliger Klumpen Fäulnis in der Erde, Algenschlieren, die sich vom Grund lösen, seifiges Unbehagen, Augäpfel und Kulleraugen, die von innen verdorren und sich von außen aufwölben. Die körperlichen Gebrechen meines Bruders scheinen sich zu potenzieren, ich gebe es unumwunden zu, eine leichte, eine klitzekleine Schadenfreude sei einem vergönnt.

 

Beinahe wäre ich ausgerutscht am Weg ins Gasthaus, wo sich alle wiedersehen, klitschnass die Scheiben, beschlagen, milchig, Kondensstreifen am Plafond, den Koch hört man plötzlich brüllen, nimm das Fleisch vom Grill, wasch dir die Hände, stell dich nicht blöd an, sein Gehilfe ist so ein blasser Barsch mit Streifen um die Leibesmitte, an Brackwasser gewöhnt. Es wird gelacht und getuschelt, jetzt schon geht das Leben weiter, wie könnte es auch anders sein, ein Blitz züngelt selbstvergessen den Himmel entlang, man kann seiner Spur noch eine Weile mit Blicken folgen, als wäre da irgendwo eine Welle hinter dem Kiel. Das Grollen schließt die Kausa ab, die Sprache bleibt banaler noch als der zugestellte Tod, ein Briefumschlag mit seinem Namen, Abel, Schwamm drüber, Empfang quittiert.

 

Er ist tot, vollkommen richtig erkannt, schreib’s dir endgültig hinter die Löffel, würgt jemand im Gasthaus hervor, bevor ich ins Bett sinke, notiere ich mir das auf einem Stückchen Papier, ER IST TOT, kein Gott hielt mich ab und regelmäßig in die Häfen einfahrende Boote sind Wiederholungstäter.

 

 

Abels Lohn

 

Klebrig das Erdreich und bröckelig der Humus, jedwede Umarmung scheint Lichtjahre entfernt, sie haben mir meine Fischerkluft angezogen, dabei wäre ein Totenhemd das Gebot der Stunde. Was gäbest du dafür, dich nur einmal kurz hinter dem Ohr kratzen zu dürfen, dein ganzer Körper fühlt sich an, als wäre er eingeschlafen, nur kribbelt nichts, links und rechts nicht die geringste Gänsehaut, nicht das kleinste Nervenreißen, wenn du doch nur den Sargdeckel anheben könntest, bestimmt stecken ein paar Kartoffelknollen im Erdreich, die ein jedes Jahr neu austreiben.

 

Die Maulwürfe löffeln sich durch die Erde, als wäre diese Joghurt oder Sahne, die sind dafür gebaut, sich zu bekleckern, ein erdiger Geschmack folgt ihnen, umami nennt man das heutzutage, man sollte Maulwürfe durch den Fleischwolf drehen und eine Pastete aus ihnen machen dürfen. Als ich da im Wald wie ein Stück Schinken abhing, als der Fuchs vorbeilief und nach meinem Hosenbein schnappte, als sich die ersten Krähen einfanden, fiel mir der Name ein: Kain!

 

Ich glaube nicht mehr, dass es eine gute Sache war, dem Bruder den Wodka zu reichen, vielleicht hätte ich auf Vater hören sollen, der selbst in meinen wirrsten Träumen noch am Totenbett murmelt, es würde kein gutes Ende nehmen. Vielleicht hat er ja doch mich gemeint, vielleicht auch nur den Bruder, wie ich stets dachte, der am Kopfende des Bettes gelehnt, ein hungriges Frettchen, während ich dem Vater zu Füßen kniete, die gelblichgrauen Zehen meines Vaters, als würden sie längst keimen, doch darf im Traum alles sein. Ich stellte mir vor, wie sich diese später durch das Erdreich zur Sonne hin strecken und ganz egal, wie oft man sie auch kappen oder mit frischem Erdreich abdecken würde, sie täten ein jedes Mal neu austreiben, »Vatterlinge« könnten wir diese seltsamen Pflanzen nennen. Vielleicht würden sie sogar Früchte tragen, die zu kosten sich niemand traut, vielleicht würden ja wenigstens Tiere an ihnen nagen, die sind sich doch für nichts zu schade.

»Mutterlinge« sollte ich in meinem Träumen ebenso zu Gesicht bekommen, Besagte verstarb lange schon vor dem Vater, war allerdings im selben Bett verreckt und der Bruder, erneut oben stehend, am Kopfende, hing an ihren Lippen, während ich unten, zu Mutters Füßen, deren Körper unter der sich aufplusternden Tuchent nicht mehr zu ertasten war. Die zierlichen Zehen der Mutter, ich nahm mir vor, ihre Nägel zu lackieren, heimlich vor dem Begräbnis, nachdem man sie ins übliche Frühlingskleid bugsiert, den Ehering nahm man ihr ab, wie später dem Vater auch, die wurden im Traum noch verhökert, um das Begräbnis zu berappen, der Dorfwirt meinte es nur gut mit uns. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, doch habt ihr ein gutes Geschäft gemacht, lispelte er und eine Woche später schon prangten die Ringe an den Händen eines anderen Paares, immerhin wohnten die am anderen Ende des Hügels.

 

Als sie mich unter die Erde legten, heulten nicht einmal die Hunde; zuvor schon besahen Bestatter meinen Körper und rieben ihre Finger an meinen Unterarmen, er riecht schon etwas streng, sagte der eine. Ich weiß nicht, wie ich mit diesem Geruch zurechtkommen können soll, der Bruder stand eine ganze Weile am offenen Sarg, mit ein paar Dorfbewohnern, von dort unten konnten ich ihre Nasenhaare gut erkennen, bis jemand meinte, man solle mir endlich die Augen schließen und es gut sein lassen, er hätte eben nicht allein am Waldrand rumlungern sollen, meinte einer im Hintergrund. Ich konnte der Stimme kein Gesicht zuordnen, diese Fähigkeit verlieren die Toten sogleich, der Humor folgt unverzüglich, es ist auch alles andere als komisch, den Lebenden ausgeliefert zu bleiben. Ganz egal, wie sehr man es auch zu Lebzeiten zu sein glaubte, im Tod ist man noch weitaus abhängiger von ihnen. Irgendwie ist man nur froh, wenn man endlich unter der Erde und die Stimmen gedämpfter nach unten zu einem steigen, man versteht nicht mehr so recht, was sie eigentlich reden, es ist wahrlich ein Segen.

 

Als wir noch Kinder waren (ich und der Bruder) und kein Geld fürs Kino hatten, träumten wir von Filmen, die man erst viel später werde drehen können, weil die Zeit heute noch nicht reif für sie (also wozu überhaupt ins Kino). Ich behauptete, irgendwann würde ein Streifen ins Kino kommen, »Stirb langsam« oder so ähnlich, und der Bruder lachte schallend, dass sich doch so etwas niemand werde ansehen wollen, weil keiner DARAN erinnert werden möchte, gottlos sei es zudem auch.

 

Als wir noch Kinder waren, musste ich nie darüber nachdenken, was aus mir werden solle, und der Tod war unendlich fern, und wäre die Mutter nicht viel zu früh verstorben, ich hätte gar nichts von Friedhöfen geahnt, für mich waren diese stets Äcker und Wiesen. So wie auch die Ställe nur einen Unterstand für Vieh darstellten und keinesfalls Schlachthäuser, und die Teiche, Seen und Meere ein Paradies für Fische und kein Sammelbecken für Todgeweihte, und Särge, nun ja, die waren nichts anderes als pfeilschnelle Seifenkisten.

 

Klebrig das Erdreich und bröckelig der Humus, aufbewahrt in dieser Enge zähle ich die Worte, die noch da sind, man vergisst im Zeitraffer, wenn man tot ist, drum sage ich mir noch eine ganze Weile meinen Namen und den des Bruders vor, male mir die Gesichter der Dorfbewohner aus, zunächst noch in Farbe, bald schon in schwarz, dunkle unleserliche Zeichen. Ich spüre die Würmer unter der Haut, sie wölben den Brustkorb, höhlen ihn aus, bloß nicht in Panik verfallen, an etwas Schönes denken, an den Wald und die Stille und … den Wald und die Stille, wie immer sich auch Stille oben anfühlen mag, hier unten ist sie etwas völlig anderes.

 

Als ob ich noch atmen könnte, tief Luft holen und nicht daran denken, wie alles in meinem Kopf verklumpt, der Sonnenschein über mir und die Vorstellung davon hier unten, beides klafft wahrlich auseinander. Im modrigen Wurzelwerk zwischen der Erdwärme zu liegen, die allmählich aufsteigt, die meine Knochen knistern lässt, mein Körper wird zu einer breiigen Masse, die von allerlei Käfern verschleppt, veräußert wird, während Larven weißlich kullern, immer weiter, ich kann doch alles ertragen, wenn man mir nur sagt, wie lang es dauert.

 

Nach der ersten Nacht kenne ich meinen Namen nicht mehr, und nach der zweiten kann ich nicht zwischen Leben und Tod unterscheiden, was mir auch nicht mehr wesentlich scheint, ich wünschte mir nur, jemand würde meine Augen erneut öffnen und kurz die Haare aus dem Gesicht streichen und die Heizung zurückdrehen, es ist unvorstellbar, wie heiß es wird, wenn man sich immer tiefer ins Erdreich gräbt.

 

 

Kains Erinnerung

 

Was man wohl fühle, wenn einem so ein See gehöre, ein ganzes Meer, das Land und die Felder und sogar der Wald hinter dem Haus und alles, was darin sei, hatte ich den Vater gefragt, stellvertretend für mich und den Bruder, da wir es genau wissen wollten. Unzertrennlich waren wir als Kinder, für andere kaum zu unterscheiden, selbst unsere Haarfarben glichen sich in warmen Sommern an, mein dunkles Haar wurde wenige Nuancen blasser, während seines nachdunkelte, das wie und warum hatte ich nie verstanden. Vater entgegnete, dass uns nichts gehöre, kein See, kein ganzes Meer, nicht allzu viel Land, vielleicht ein paar karge Felder und im Wald ende ohnedies das Reich der Menschen, dieses ließe sich nur durch Fällen von Bäumen erweitern.

 

Doch seien wir nunmehr Fischer, fügte er hinzu, wir tränken Wodka und verbrächten unsere Tage an der frischen Seeluft, es sei allemal besser, als staubige Felder zu bestellen. Ganz egal, wie hart das Leben eines Fischers auch sei, bekräftigte der Vater, auf dem Wasser seien wir dem Paradies näher, der Herr wache darüber, die Sünde lauere zu Land, nur dort hätte diese nach uns Verlangen. Ob nicht ein Schäfer oder Ackermann trotz allem ein leichteres Auskommen hätte, wollte mein Bruder noch wissen, während sich Vater bereits unwirsch abwandte, das Gespräch wäre beendet, wir sollen lieber die Netze aufrollen, Haken mit Ködern bestücken gehen, alles in allem wurden wir viel zu schnell erwachsen.

 

Vater und Bruder waren sich später nur allzu schnell einig, das Fischen hielte uns über Wasser, die ertragreichen Tage überwogen, die erfolglose Zeit war schon am nächsten Morgen vergessen. Schließlich und endlich, ein jeder dieser Morgen, wenn er denn gut sein solle, beginne mit einem Wodka, dessen waren sich beide gewiss, klar, rein, göttlich köstlich und erhellend, in schlichten gläsernen Bechern, keine morgendlichen Untersetzer von Nöten, kein sonstiges, gar reichhaltigeres Frühstück, nur wir und unser Heil. Der Bruder und ich hatten zu jenem Zeitpunkt endgültig unterschiedliche Haarfarben angelegt, die Sommer hatten mich restlos ausgebleicht, während die Winter seinen Haarschopf nach und nach dichter und dunkler werden ließen, unstet und flüchtig sollten wir fortan auf Erden sein.

 

Ich mochte Wodka nicht sonderlich, er roch zwar fabelhaft, schmeckte allerdings durchwegs bitter, scharf, seiner Wirkung konnte ich lange Zeit nichts abgewinnen, seine Klarheit erschloss sich mir nicht, da konnten Vater und Bruder noch so davon schwärmen. Ich war generell ein Frühaufsteher, kaum auf den Beinen, schon vollends wach, auf irgendwelche »Muntermacherrituale« und »Klarsichtigkeiten« hätte ich schlichtweg verzichten können. Jedoch, das Wodkatrinken war ein Morgenritual, ohne das viele in den Hügeln nicht auskamen, ein Tag begann für mich folglich mit den ewig gleichen Handgriffen: aufstehen, Toilette, rasieren, anziehen, die Wodkaflasche aus dem Kühlschrank holen und trinken mit Vater und Bruder, Stiefel anziehen, die Nebelschwaden über dem See in Augenschein nehmen, hinaus aus der Stube, die Netze straffen, Breitgarn, Stachel, Lendseil, Käscher, Reusen, Dreizack, Winden, Senkgewicht und Fischstecher bereitstellen, raus auf den Steg, das Boot klar machen und auf die Besatzung, Vater und Bruder, warten.

 

Wir kauften unseren Wodka im nahen Dorf, es gab ihn dort reichlich und in Cellophan verpackt, was genau auf den Etiketten stand, hatte ich nie sonderlich beachtet, man schrieb dort etwas von: »Weil er besser kommt!«, die üblichen Werbebotschaften unserer Zeit. Vater und Bruder hätten im Übrigen nie einen anderen Wodka probiert, eine Sorte ist eine Sorte ist uns´re Sorte, so hätte man es in unserer Familie auf den Punkt gebracht, nur ich war durchaus empfänglich für Neues. Vater und Bruder vertraten hingegen die Meinung, dass Abweichungen von unserem »gottgegebenen« Tagwerk nichts als Schwäche darstellten, man hatte zu tun, was man immer schon getan hatte, mehr war nicht notwendig, mehr war nicht üblich, mehr war schon seit jeher eine falsche Entscheidung.

 

Im Dorf gab es durchaus Menschen, die etwas offener waren, in der Senke lebten tatsächlich wagemutigere Gemüter, in den Hügeln, wo wir hausten, dort stand die Zeit still, darauf konnte man sich verlassen. Vater und Bruder konnten dem Dorf nicht viel abgewinnen, sie rümpften die Nasen und hielten sich abseits, die monatlichen Einkäufe oblagen demnach meiner Obhut. Ich fuhr jeden letzten Freitag im Monat ins Dorf, suchte den dortigen Greißler auf, übergab ihm die Einkaufsliste, die Vater verfasst und die ich selbstverständlich längst verinnerlicht hatte. Während die Waren verpackt wurden, wartete ich vor dem Ladentresen, schaute mich um, was es so Neues gab, ich blätterte in Zeitschriften und musterte die frisch eingelangten Produkte.

Eines Tages stach mir ein neuer Wodka ins Auge, irgendeine angesagte Sorte sei das, wie der Greißler versicherte, sie präsentierte sich in einer schlichten, unaufdringlichen Flasche. Diese war etwas bauchig, der erste Längsstrich des großen, handschriftlichen »W« (das den Beginn des Wortes Wodka bildete) zog sich über das ganze Etikett (als wäre jemandem beim Schreiben der Stift nach oben hin abgerutscht), er traf auf seinem Weg auf ein rotes, ovales Auge, mehr gab es nicht anzumerken. Später dachte ich manchmal daran zurück, an das rote Auge und die sich über das Papier schlängelnde Linie, ob es jener Moment gewesen, an dem mir das eigene Sein entglitten war, was genau mich bewogen hatte zu tun, was ich tat, es gab keinerlei befriedigende Antwort darauf.

 

Ich weiß jedenfalls bis heute nicht, welcher Teufel mich an jenem Tag ritt, auf jeden Fall beschloss ich, unsere alte Wodkasorte abzusetzen, um nunmehr die neue zu probieren. Der Rückseite des Etiketts nach zu urteilen, kam besagter Schnaps aus fernen Ländern, irgendein König verbürgte sich für die Qualität, allerdings, und dessen war ich gewiss, würden Vater und Bruder schlussendlich alles schlucken. Und wer konnte es schon wissen: Vielleicht schmeckte dieser Wodka auch mir besser und alles wäre folgerichtig in trockenen Tüchern.

 

Wie nicht anders zu erwarten, beäugte man den neuen Wodka misstrauisch, Vater und Bruder äußerten sich zunächst missbilligend, doch tat irgendwann der Durst seine Wirkung, der Wodka durfte bleiben und wir tranken ihn am nächsten Morgen, eigentlich leerten wir die ganze Flasche, während uns das rote Auge wohlwollend dabei zusah. Vater und Bruder bemerkten keinen Unterschied, es schmecke wie immer, meinten sie, doch ich, ich musste es sofort eingestehen, schon nach dem ersten Schluck verspürte ich eine wohltuende, höchst seltsame Wirkung.

 

Der neue Wodka beflügelte mich vom ersten Tage an, ja, im Laufe der nächsten Wochen und Monate stellte sich eine Euphorie in meinem Innersten ein, die mir bislang unbekannt war, die mich vibrieren ließ, die ich nie mehr missen wollte. Ich schlief weniger, ohne müder zu werden, stand noch früher auf als die anderen, pinkelte nicht mehr in die Toilette, sondern ins Waschbecken, rasierte mich beidhändig, zog mich in Windeseile an, meist auch wieder aus, da mir die Kleidung nicht zu sitzen schien, ich brauchte da mehrere Anläufe, ich trank vier, fünf Gläser Wodka, mindestens aber eines mehr als die anderen, schlüpfte in meine Stiefel, zwinkerte dem roten Auge zu, verblies die Nebelschwaden über dem See, ich versuchte das tatsächlich jeden Morgen, ich überprüfte mehrmals die Netze, rollte sie auf und zusammen, flickte die Stellen, die mir verdächtig schienen, selbst dann, wenn Vater und Bruder meinten, ich sei übergeschnappt, ich sortierte all die Dinge, die wir zum Fischen benötigten, und die wir mit aufs Wasser nahmen, alphabetisch, ich reinigte jeden Morgen den Steg, saß ungeduldig im Boot, bis sich die anderen endlich bequemten, rief Vater und Bruder, sie sollen sich nun aber beeilen.

 

Wir ruderten mit dem Boot über den See, legten die Netze aus, kreisten die Fische ein, so gut es ging, und zogen und zerrten nach Kräften an den ins Wasser geglittenen Schwimmern und Seilen. Ein Netz nach dem anderen wurde im Laufe des Tages ins Boot zurück gehievt, die Zander, Welse, Hechte, Barsche, Karpfen, Brassen, Aale und so weiter wurden gemustert und sortiert (die Kleineren landeten wieder im Wasser), die Fische wurden ausgenommen, bisweilen filetiert, danach rauchten wir gemeinsam ein paar Zigaretten und frohlockten: über den guten Fang, die frische Luft, das gute Wetter, das Schöne und Gottgefällige in der Natur, es war einfach ein großes Glück.

 

Wenn ich es mir recht überlege: Kaum hatten wir damit begonnen, die neue Wodkasorte zu konsumieren, waren die Netze voll, wir fingen fortan reichlich Fisch, selbst an den kleinen Rotaugen und –federn fanden wir Gefallen, sie waren als Köder höchst willkommen. Pleiten und Flauten blieben aus, die Sonne schien aufs Wort, natürlich konnte das alles auch nur Zufall sein.

 

Ich saß manchmal noch länger am Pier, blickte über das Boot hinweg auf die See, das Wasser war überall und ich hatte nie gelernt, die verschiedenen Ausprägungen zu unterscheiden: Seen, Lacken, Buchten, Fjorde, Deltas, Lagunen, Becken, egal, welche Art von Wasser, es war vielleicht doch nicht mein Element. Das Boot schaukelte und schlingerte unterdessen, wenn ich den Kopf zur Hütte hin wandte, fiel fahler Lichtschein aus den Fenstern in die sich senkende Dämmerung, das Wasser gab schlürfende und schmatzende Geräusche von sich, oft genug hielt ich sie für ein böses Omen. Als ob sich monströse Wesen unter dem Steg daran machten, das Land für sich einzunehmen, nachdem sie längst über die Tiefen dort draußen herrschten. Ich stellte mir vor, wie der Rumpf unseres Bootes wohl von unten aussah, wie klein und zerbrechlich er wirken musste, verloren und allen Unbillen ausgeliefert, wie wenig wir doch auf dem Wasser daran dachten, dass unser Sein schon im nächsten Moment ausgelöscht werden konnte.

 

Wie dem auch sei, für Vater und Bruder verlief alles wie immer, sie blieben die, die sie waren, egal, wie viel Fisch sie fingen, für mich allerdings wurde das Leben zur Qual. Waren die ersten Monate mit dem neuen Wodka noch euphorisch verlaufen, änderte sich nach und nach meine Stimmung, ich wurde zusehends unruhiger, weinerlicher, wütender. Die Nächte waren mir plötzlich zu dunkel, die Tage zu hell, das Haus zu stickig, das Boot zu klein, die Fische, die wir nach oben hievten, taten mir leid, ich hatte ihren stummen Mäulern und toten Augen nichts mehr entgegenzusetzen, Vater und Bruder wurden mir in ihrer Ignoranz schier unerträglich.

 

Der Gestank der toten Fische stieg in meine immer empfindlicher werdende Nase, die Lichtbrechungen auf dem Wasser machten mich schwindelig, meine Ohren fühlten sich an, als sei Seewasser in sie geraten, jedoch das Unerträglichste und Furchtbarste von allem war das Ausnehmen der Fische: das Ansetzen des Messers im After, das Aufschlitzen der Bäuche, das Herausreißen der Eingeweide, das Abspülen des Schleims, das Abspülen des Blutes, das Abspülen des Kotes, das Abspülen der schuppigen Körper und die nachfolgende Reinigung der Dielen und Planken. Das Hervorritzen des Schleimes, Blutes, Kotes unter den eigenen Fingernägeln, das Waschen der Hände, der Blick in den Spiegel, das Entfernen der allerletzten Fischschuppen aus dem öligen Haar.

Ich konnte mich immer weniger an die Zeit erinnern, in der mir das Fischen sinnvoll erschienen war, ein altes und gefälliges Handwerk, sogar Jesus hatte sich mit Fischern umgeben, eine Tatsache, die Vater und Bruder viel bedeutete. Als Jesus einst am See von Galiläa entlangging, sah er zwei Brüder, Simon, genannt Petrus, und seinen Bruder Andreas; sie warfen gerade ihr Netz in den See, denn sie waren Fischer. Da sagte er zu ihnen: Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. Manchmal lasen sich Vater und Bruder diesbezügliche Stellen aus der Bibel vor, ihre Augen leuchteten und flackerten, die meinigen verengten sich zu wahnwitzigen Schlitzen, mein Magen rebellierte und ich ging lieber an die frische Luft.

 

Eines Nachts erwachte ich draußen im Hof, mich am schlammigen Boden wälzend, eingewickelt und verheddert in den zum Trocknen aufgespannten Netzen, über mir Vater und Bruder, die ich vage durch all die Maschen und Schlingen erkennen konnte. Ich schrie und schlug um mich, zappelte und schnappte nach Luft, die Stimme des Vaters schien mich beruhigen zu wollen, die Stimme des Bruders war weitaus hämischer, irgendwann fluchte er, er müsse schlafen gehen, denn über den Bergen werde es langsam hell. Sie pressten mich zu Boden, ihre beiden Körper legten sich auf mich, der Vater sah mir in die Augen und murmelte etwas vom Schlafwandeln, alles sei gut, den Schlamm könne man abwaschen und die bösen Träume auch.

 

Ich war mir nie sicher, ob die bösen Träume wirklich von mir waren, ob es tatsächlich ich war, der sie gebar und im Kopf immer und immer wieder ab- und durchspielte, so lange, bis sie mich sogar aus dem Haus trieben, schlafend und wankend, sie lockten mich auf die Felder, hinein in den dunklen Wald. Der Wald mit seinen Bäumen schien mir etwas zuzuflüstern, die Zweige rauschten in meinem Kopf, lauter noch als die See tagsüber, was auch immer in den Bäumen wohnte, was auch immer sich um die Stämme wand, es schien mir nicht wohlgesonnen.

 

Als der Morgen anbrach, fuhr ich zum ersten Mal nicht mit auf den See hinaus, Vater und Bruder meinten, ich müsse mich ausruhen, ich sei krank, irgendein Virus müsse mich erwischt haben, ein paar Tage Ruhe täten mir gut, danach wäre ich wieder der Alte. Ich lag im Bett, trank Wodka und erschrak, wie still es hier werden konnte, wer weiß, wann ich zum letzten Mal alleine in der Stube gewesen war, das kam nie vor. Der Wodka ließ mich frösteln, nein, er war kalt und warm zugleich, roch nach Schlick und fauligem Holz, im nächsten Moment reizte er die Nasenschleimhäute, erinnerte an Ammoniak, dann jedoch kam der Duft von Waldbeeren und Pilzen auf, Sporen und Staub. Je mehr ich davon trank, umso durstiger wurde ich, der Schweiß stand auf meiner Stirn und draußen vor dem Fenster tauchten die morgendlichen Sonnenstrahlen die Berghänge in ein fahles, unwirtliches Licht.

 

Wenn ich die Augen schloss, sah ich Vater und Bruder im Boot stehen, sie fletschten die Zähne und verbissen sich in Fischleiber, ich streckte die Hände aus und war kurz davor, sie zu berühren, so nah und gegenwärtig waren sie mir. Wasservögel sammelten sich hinter dem Boot, dort, wo der Beifang und die Eingeweide über Bord gingen, der See war riesig und die Zahl der hungrigen Schnäbel unüberschaubar.

 

Vater und Bruder schmissen manchmal (nur so aus Spaß) mit kleineren Fischen nach den Vögeln, diese flogen in Scharen auf und schnappten nach den in der Luft um ihre Achsen wirbelnden Fischleibern. Ich öffnete die Augen und hasste Vater und Bruder inständig, ich verfluchte sie vor dem Herrn, ihre Rohheit, ihre Grobschlächtigkeit, ihre aus allen Poren triefende Mittelmäßigkeit, die allen gewöhnlichen Menschen anhaftet.

 

Ich lag mehrere Wochen lang im Bett, ab und an stand ich auf und trat in den Hof, blickte auf den See, sah eine kräuselnde, sich immer wieder neu formierende Fläche, ich lauschte dem Wind, der mir ins Gesicht blies, ich blickte zum Himmel, sah allerlei Zeichen in den Wolken, Männer mit Bärten und Fische und Frauen mit Katzenzungen. Manchmal konnte ich in der Ferne unser Boot erkennen, es schlingerte in der Strömung, ich wusste, Vater und Bruder saßen an den Rudern und mühten sich ab, sie schwitzten und stanken.

 

Oft lag ich im Bett, trank Wodka, während es regnete, ich zählte mit, wie oft es blitzte und wie lange es dauerte, bis ein Donnergrollen die Hügel erschütterte, die Gewitter kamen zumeist näher, sie kamen immer näher und tobten über und in meinem Kopf. Blitz und Donner galten seit jeher als eine Manifestation Gottes, doch wann immer ich zum Himmel hochsah, wann immer ich auf eine Erscheinung, irgendein Zeichen hoffte, war dort, wo Gott nun eigentlich zu erkennen sein müsste, gar nichts. Nicht die geringste Spur von ihm, er scherte sich einen Dreck um seine Fischer.

 

Irgendwann schlief ich gar nicht mehr, doch meinem Körper mangelte es an nichts, es war vielmehr das Denken und Fühlen, das mich rasend machte, es war dieses Ab- und Zuwarten auf etwas, das ich nicht zu benennen wusste. Es war diese Warterei auf den Bruder, der einmal im Monat ins Dorf fuhr, um nunmehr an meiner statt die anstehenden Besorgungen zu erledigen. Ich wartete voller Ungeduld, brachte er mir doch Wodka mit, er brachte Kunde aus der mir langsam entrückenden Welt, er überbrachte Genesungswünsche des Greißlers, er brachte ein paar Zeitschriften, er strotzte nur so vor Kraft, wie ich, früher einmal.

 

Der Bruder betrat den Raum, er stapelte mit dem Vater die Waren auf, er legte die Nägel auf die eine Seite und Reis und Mehl auf die andere, er stellte die Gummischuhe neben die Tür und das Öl kam in den Schrank, er verteilte Unterhosen und zahlreiche alte »Weil-er-besser-kommt«-Wodkaflaschen kamen auf die Anrichte … ich zitterte und schnaubte. Der neue Wodka sei aus, meinte der Bruder lapidar, die Lieferung sei nicht eingelangt, der Greißler wisse angeblich nicht weiter. Für Vater und Bruder war die Sache damit gegessen, für mich allerdings brach eine Welt zusammen, das Licht erlosch und der See gefror in mir.

 

Vater und Bruder fuhren weiter hinaus, sie lachten und frohlockten mitten im See, die Netze wurden schwerer und voller, die Fische stetig größer und fetter, Petri Heil, Petri Heil. Der See in mir blieb gefroren, eine ebene, dunkle Fläche mit Furchen und Rillen, wie ein unbestellter, brach liegender Acker, der keine Früchte hervorbringt, keine Ähren, keine Fische, keine Ährenfische, ich blickte hinaus auf den See, etwas lief mir heiß über den Rücken, die Bäume flüsterten lauthals, mein Blick senkte sich.

 

Vater hatte einst zu mir gesagt, seinen Namen müsse man sich erwerben, es sei ehrbar und gottgefällig, es sei der Weg, den auch er gegangen sei, die Fischer und Jäger dieser Welt verdienen sich ihre Sporen, sie erwerben ihre Namen, ich solle an die Naturvölker denken, »kanah«, erwirb dir deinen Namen Kain, denk an die Indianergeschichten, die ihr so gern gelesen habt, an Ayita, die Ersttanzende, an Ahyoka, die Fröhlichkeit bringt, an Akando, den Angriff aus dem Hinterhalt.

 

Ich dachte an seine Worte, die sich bis heute in meinem Gedächtnis festgesetzt hatten, ich sehnte mich nach meinem Wodka, nicht dem »Weil-er-besser-kommt«-Zeug, das der Bruder angeschleppt hatte, ich wollte wieder der Alte sein, mit Vater und Bruder über den See treiben. Der neue Wodka sei nun einmal aus, bekräftigte der Bruder erneut, die Lieferung verloren, der Greißler mit seinem Latein am Ende und aus dem Königreich melde sich keiner mehr.

 

Der Bruder drehte mir seinen Rücken zu, der Vater wandte sich ab und ging in die Hütte, ich sah hoch, die Wipfel der Bäume schlenkerten im Wind, es war ein ablandiger Wind aus den Hügeln, kein auflandiger Wind vom See. Mein Bruder Abel, der Windhauch, er beugte sich zu einem Stapel Feuerholz hinab, Festmeter um Festmeter am Waldrand gestapelt. Ich erinnerte mich, wie wir früher oft gemeinsam Holz geschlagen hatten, abwechselnd, Keil um Keil.

 

Ich schlug nach dem Bruder, ich erschlug ihn mit der neben dem Spaltholz liegenden Axt, das Blut spritzte auf meine Hände, das Blut schrie vom Waldboden hinauf. Ich ließ die Axt fallen und sah hinauf zu den Bäumen, sie schlenkerten und schüttelten sich weiter im Wind, es war kein ablandiger Wind aus den Hügeln, es war ein auflandiger Wind vom See.

 

Ich ging zurück in die Hütte und setzte mich an den Tisch des Vaters, wir aßen Fisch und tranken »Weil-er-besser-kommt«-Wodka, Vater wollte wissen, wo der Bruder sei, und ich wusste es nicht mehr so genau, ich wusste überhaupt nichts mehr. Der See war gefroren und ich kein Hüter, nicht meiner selbst, nicht irgendeines Bruders, nicht des Vaters und nicht der toten Fische, deren Leiber draußen im Wind baumelten, zum Trocknen und Räuchern auf lange Stangen gehängt.