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Der Text und die Bebilderung wurden für die deutsche Ausgabe gekürzt und überarbeitet.
Übersetzung aus dem Französischen von Eliane Hagedorn,
Ursula Held und Bettina Runge
Mit 57 farbigen Abbildungen und einer Karte
ISBN 978-3-492-97790-6
© Éditions Paulsen, 2017
Titel der französischen Originalausgabe: »À corde tendue.
Thomas et Alexander Huber«
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2017
Redaktion: Christian Thiele, München und
Willi Schwenkmeier, bei Traunstein
Karte: Léonie Schlosser
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de
Covermotiv: Max Reichel, Franz Hinterbrandner und
Christian Lobensommer
Litho: Lorenz & Zeller, Inning a.A.
Datenkonvertierung: psb, Berlin
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Der Tag ist kaum angebrochen an diesem Sommermorgen des Jahres 1952. Thomas Huber, ein Bauernjunge aus dem Chiemgau, radelt wie ein Verrückter nach Süden, Richtung Berge. Er ist 13 Jahre alt und hat den Kopf voller Träume. Vom Hügel nahe seines Heimatdorfs Palling aus hat er schon oft die Chiemgauer Alpen betrachtet – die erste Gebirgsgruppe, die sich am Horizont abzeichnet. Es sind vierzig Kilometer bis dorthin, aber das ist ihm herzlich egal. Vor ein paar Wochen hat ein Cousin ihn zu einer Hüttenübernachtung mitsamt einer ersten einfachen Gipfelbesteigung mitgenommen. Seitdem hat Thomas Feuer gefangen, er sehnt sich nach den Bergen. Die Leute aus dem Dorf halten ihn für verrückt: Jeden Abend übt er in den maroden Felsen des alten Pallinger Steinbruchs das Klettern, immer mit dem Risiko, sich dabei den Hals zu brechen. Seine Eltern, strenge und traditionsgebundene Bauern, schimpfen mit ihm.
An diesem Morgen lässt er den elterlichen Hof, der jetzt schon schwer auf den Schultern des Heranwachsenden lastet, einfach mal hinter sich. Er hat nur eine Schwester, und so fällt ihm die Aufgabe zu, den Betrieb weiterzuführen. Er weiß schon, dass er keine höhere Schule besuchen kann und erst recht nicht, wie er es sich eigentlich erträumt hätte, Musik studieren wird – er, der so gern singt und voller Eifer mehrere Stunden am Tag Geige spielt. An diesem Morgen macht er sich einfach davon. Er tritt in die Pedale, als sei der Leibhaftige hinter ihm her, nur ist er magnetisch angezogen von der Hörndlwand, einem der schönsten Kletterberge in den Chiemgauer Alpen. Thomas hat kein Topo zur Planung und Orientierung, er hat keine Ausrüstung und keinerlei technisches Know-how – er hat nur die verrückte Zuversicht, dass er klettern kann, schließlich ist er ja die Wände im Steinbruch hochgekommen. Ihn treibt ein unbändiges Verlangen.
Bald ist er am Fuß des Berges angelangt und begutachtet ihn. Oberhalb des Sockels verspricht ein etwa 200 Meter hoher vertikaler Kamin einen leichten Aufstieg zum Gipfel. Er überwindet also den Wandfuß und begibt sich kurz darauf in den Kamin. Ohne jede Angst, weder vor dem Abgrund, der sich nach und nach unter ihm auftut, noch vor den technisch anspruchsvollen Passagen, die ihn erwarten, klettert er free solo, ohne Seil und ohne Erfahrung. Ohne es zu wissen, ist er in den Redwitz-Kamin eingestiegen, eine klassische Klettertour im vierten Grad, 1912 durch den Münchener Alpinisten Willi von Redwitz eröffnet. Nach etwa einem Drittel des Kamins stößt Thomas auf einen Überhang. Unmöglich, hier weiterzukommen: Die ausgesetzte Passage ist zu anspruchsvoll für ihn. Doch die letzten Meter, die er bis zum Erreichen des Felsblocks geklettert ist, kommt er nicht wieder zurück, dafür reicht sein spärliches technisches Repertoire nicht aus. Ihn erfasst Panik. Wenn er hier stürzt, ist er tot. Wie in Trance, unter Adrenalin, gelingt ihm dann doch der Weg zurück, und er steht mit wild klopfendem Herzen am Fuß des Berges. »Ich weiß nicht, wie ich da runtergekommen bin«, erzählt Thomas Huber heute mit einem Lächeln.
Der wie durch ein Wunder glimpflich überstandene Misserfolg dämpft nicht etwa seine aufkeimende Leidenschaft, er bestärkt ihn in seinem Willen: Ich werde Bergsteiger. Auf der langen Fahrradfahrt zurück nach Hause beschließt er: »So geht das nicht. Ich muss das Klettern lernen, und zwar richtig.« Von seinen Eltern kann er keinerlei Unterstützung erwarten, sie wollen von dieser Marotte ihres Sohnes nichts hören. Erst drei Jahre später, mit 16, nachdem er die Schule verlassen musste, um auf dem Hof zu arbeiten, zahlt ihm seine Tante Katarina, die so gern reist und so neugierig und offen durch die Welt geht, die Mitgliedschaft bei der Alpenvereinssektion Traunstein. Ab da verbringt Thomas seine gesamte Freizeit in den Bergen und gehört bald zu den aktivsten Bergsteigern seiner Generation.
Dabei hat er niemals die Abenteuerlust, den Ehrgeiz und die Begeisterung verloren, die ihn mit 13 Jahren in den Redwitz-Kamin einsteigen ließen. Mehr noch, er hat sie seinen beiden Söhnen Thomas und Alexander unvermindert weitergegeben. Man kann den Weg der beiden Jungen an die Spitze der Bergsteigerkunst nicht nachvollziehen, wenn man die Leidenschaft ihres Vaters nicht kennt. Es gibt nicht zwei Hubers, sondern drei.
***
Anfang der Siebzigerjahre ist der unermüdliche Thomas Huber ein glücklicher und aktiver Mensch. Er betreibt den kleinen Hof in Palling inzwischen nach seinen eigenen Vorstellungen, zusammen mit seiner Frau Maria. Er hat die tatkräftige, fröhliche kleine Frau mit den braunen Haaren zu Beginn der Sechzigerjahre im Dorf kennengelernt. Maria ist das dritte von sieben Kindern. Ihre Eltern, Landwirte in einem Weiler der Gemeinde Palling, waren »sehr streng«, erzählt sie. Mit 14 musste sie die Schule verlassen, um für die Arbeit auf dem Hof zur Verfügung zu stehen. Mit dem Tausendsassa Thomas kann die Zwanzigjährige schließlich ihren Horizont erweitern. »Er hat mir das Skifahren, das Schwimmen, die Berge gezeigt. Ich hatte eine schöne Jugend«, berichtet sie mit einem breiten Lächeln. Und sie beweist Mut: Von ihrem Mann gesichert, meistert sie schöne Aufstiege, so etwa 1964 die imposante Nordwand am Großglockner, und unzählige Touren auf Skiern oder zu Fuß. Sie liebt die Berge und das Bergsteigen.
Ihr Mann ist in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder in den Alpen unterwegs gewesen, er nutzt dazu jede kleine Pause, die ihm sein harter Beruf gönnt. Zum Leidwesen seiner alten Eltern und der Nachbarn schwänzt er die sonntägliche Messe und lässt Maria – mit deren Zustimmung und absolutem Vertrauen er immer rechnen kann – häufig mit den 120 Mastrindern allein, um sich auf Bergabenteuer zu begeben. Mit seinem Motorrad, einer 250er-Horex, und seinen Seilkameraden durchkämmt er die Nordalpen, vom überragenden Watzmann, dem König der Berchtesgadener Alpen, bis zum deutsch-österreichischen Wetterstein, und unternimmt Abstecher in die österreichischen Ostalpen, zum imposanten Wilden Kaiser, dem Liebling der Wiener und Münchener Schule Anfang des 20. Jahrhunderts. Regelmäßig schafft er es auch in das Mont-Blanc-Gebiet, dort ist er einer der Ersten, der die Nordwand von Les Droites an einem Tag durchklettert, ohne Biwak. Außerdem bezwingt er viele der bekannten Nordwände der Alpen wie die Grandes Jorasses über den Walkerpfeiler. Natürlich durchstreift er auch die Dolomiten, wo er unter anderem die berühmten Nordwände der Drei Zinnen klettert. Im Wallis gelingt ihm die klassische Nordwand am Matterhorn. Thomas Huber ist ein engagierter, erfahrener und belesener Bergsteiger. Seine Helden sind die großen Wegbereiter: Dülfer, Preuß, Cassin, Buhl, Bonatti, Rébuffat …
Maria und er haben drei Kinder: Der 1966 geborene Thomas erbt traditionsgemäß den Vornamen seines Vaters, Alexander wird 1968 geboren und die Tochter Karina 1974. Die drei verbringen ihre Kindheit draußen, im Freien: Wenn sie nicht in der Schule sitzen, sind sie meist auf dem Feld, im Stall oder im Wald und helfen ihren Eltern. Die sind jedoch bemüht, ihren Kindern nicht das Joch aufzubürden, das sie selbst tragen mussten. Die Huber-Kinder sind im Skiklub, sie haben Musikunterricht, Alexander spielt Handball, und keiner von ihnen soll die Schule vernachlässigen: Studieren ist Pflicht!
Vater Thomas hegt über Jahre den Traum, Bergführer zu werden, doch er wagt den Schritt nicht, obwohl Maria ihn dazu ermuntert. Mitte der Siebzigerjahre ist er jedoch gezwungen, sich eine neue Tätigkeit zu suchen, denn der Hof ist zu klein und die wirtschaftliche Not zu groß. In Abendkursen bildet sich Thomas über drei Jahre weiter, steht morgens und abends im Stall – und bekommt anschließend eine Stelle bei der Traunsteiner Sparkasse, die er letztendlich leiten wird! Eine schöne Wiedergutmachung für den erzwungenen Schulabgang mit 15, aber erkauft mit einem enormen Arbeitsaufwand: Maria und er sind in diesen Jahren kaum zur Ruhe gekommen. Als Thomas die Stelle bei der Sparkasse antritt, können sie die Rinderaufzucht aufgeben, sie verkaufen die Herde und reduzieren den Betrieb auf die Getreideproduktion und Forstwirtschaft. Ihre Tatkraft und ihren Erfolgswillen aber geben sie an ihre Kinder weiter.
***
Die Huber-Kinder stehen an jedem Winterwochenende auf den Brettern und nehmen an zahllosen Skirennen in den Chiemgauer Alpen teil. Thomas ist neun, Alexander sieben, als ihr Vater die beiden auf die ersten Skitouren mitnimmt. Diese Ausflüge werden mit jedem Winter länger und führen immer höher. In den bayerischen Voralpen und Alpen gibt es praktisch keine Gletscher oder auffälligen prominenten Berge, daher führen die Unternehmungen die Hubers bald weiter von zu Hause weg, werden höher und steiler.
Im Sommer umwandert Maria mit den drei Kindern den Gipfel, den der Vater derweil mit seinen Seilkameraden besteigt. Die Aura dieses Bergsteigervaters wirkt sehr stark auf die beiden Jungen. Er nährt ihre Begeisterung mit eigenen Geschichten, aber auch mit den Erzählungen von großen Kletterern. Die Bibliothek der Familie umfasst alle großen Klassiker der Bergliteratur. Die Brüder verschlingen diese Bücher. Die Skirennen und Handballspiele erscheinen ihnen bald langweilig. »Das Bergsteigen hatte viel mehr als nur Wettkämpfe zu bieten: Es hatte für mich etwas Wildes an sich, etwas, das Freiheit und Abenteuer versprach«, schreibt Alexander viele Jahre später.
Mit elf Jahren muss Thomas nicht drängeln, damit sein Vater ihn auf die erste richtige Tour mitnimmt: Es geht zur Untersberg-Südwand, einer der schönen Wände in den Berchtesgadener Alpen. Der Junge ist begeistert. Im folgenden Jahr führt der Vater seinen Ältesten zur unvermeidlichen Hörndlwand in den Chiemgauer Alpen, dorthin, wo ein Vierteljahrhundert zuvor ohne Unterstützung seine Bergsteigerkarriere begann. Der Vater gewährt seinem Sohn die Hilfestellung, die er sich selbst damals gewünscht hätte.
Karina ist erst vier, doch der neunjährige Alexander platzt vor Ungeduld. Mutter Maria hat eine Bedingung, wohl die einzige, die sie ihrem Mann je gestellt hat: Er darf nicht beide Söhne gleichzeitig auf eine große Klettertour mitnehmen, das hält sie für zu gefährlich. Er hält sich an die Forderung seiner Frau – und findet eine Lösung für den todunglücklichen Zweitgeborenen: Er verspricht ihm, dass er ihn im folgenden Jahr auf Skihochtour mitnehmen wird, auf einen echten Viertausender. Es geht um das Allalinhorn nahe Saas Fee, einen der leichten Skiviertausender in den Walliser Alpen. Maria ist einverstanden, doch es wird eine familieninterne Vorsichtsmaßnahme getroffen: Thomas soll erst am Vorabend der Tour erfahren, dass sein kleiner Bruder mit dabei sein wird. Denn er wird wohl finden, dass Alexander zu klein sei und er sie durchaus den Gipfelsieg kosten könnte. Als sie an diesem Apriltag im Jahre 1980 am Fuß des Berges stehen, hat er aber keine andere Wahl. Widerwillig muss er sich dem »Komplott« beugen, das Vater und Bruder hinter seinem Rücken geschmiedet haben.
Der elfjährige Alexander geht bis ans Ende seiner Kräfte, aber er gibt nicht auf, das Vertrauen seines Vaters trägt ihn. Wie berauscht vor Erschöpfung und Freude, folgt er seinem 13-jährigen Bruder mit etwas Abstand auf den Gipfel des Eisriesen. Das Allalinhorn wird dank Vaters Hilfe zu ihrem ersten Viertausender und zum ersten gemeinsamen großen Gipfel. Ihm folgen in den zwei Wochen danach noch neun weitere Viertausender, darunter die Dufourspitze, und in den kommenden dreißig Jahren noch viele mehr.
Gut zehn Kilometer vom Hof in Palling entfernt zeigt Vater Thomas seinen Söhnen am Ufer der Traun einen kleinen, etwa 15 Meter hohen Felsen, auf dem eine alte Befestigung steht: die Burg Stein an der Traun. Die Burgmauer, eine Art felsiges Mehrkornbrot, besteht aus in natürlichem Zement eingeschlossenen Kieseln – ein Traumterrain für die kletterhungrigen Jungs. Sobald sich eine Gelegenheit bietet, schwingen sie sich auf ihre Fahrräder und üben an der vom Himmel gesandten Wand, die sie in Windeseile erklimmen. Irgendwann treffen sie hier auf zwei junge Bergsteiger aus der Region: Gottfried Wallner und Fritz Mussner, Mitglieder der Traunsteiner Jungmannschaft, sie gehören zur Kletterelite des örtlichen Alpenvereins. Schnell erkennen die beiden bei Thomas, der ja von seinem Vater bestens angelernt wurde, eine vielversprechende Leichtigkeit und hohe Motivation. Sie laden ihn ein, in der Gruppe mitzukraxeln. Und so bekommt der zwölfjährige Alexander an einem schönen Julitag endlich die Chance, eine Seilschaft mit seinem Vater zu bilden!
Für die erste Tour mit Alexander wählt der Vater die Alte Westwand, eine klassische, beeindruckende Tour an der Ostseite des Kleinen Watzmann, einem der symbolträchtigen Gipfel in den Berchtesgadener Alpen. Das ausgesetzte Klettern ist dem Jungen eine wahre Freude. Er überwindet eine Passage mit einem 200 Meter tiefen Abgrund unter den Füßen, ermutigt durch seinen Vater am scharfen Ende des Seils. Und das Erlebnis wird ihm zur Offenbarung: »Ich glaube, dass ich die Ausgesetztheit nie mehr sonst in meinem Leben so intensiv wahrgenommen habe. Es war meine erste Begegnung mit dem Abgrund. Auch wenn ich mich später mit sehr viel größeren Wänden und noch stärker ausgesetzten Kletterstellen konfrontierte, die Intensität der ersten Begegnung übertrafen sie nicht. Deshalb ist sie in meiner Erinnerung auch heute noch so unvergleichlich lebendig, farbenfroh und klar.« Noch eine letzte Kletterpassage, dann folgt Alexander seinem Vater in die warme Nachmittagssonne auf dem Gipfel des Kleinen Watzmann. »Ich war überglücklich. Ich fiel meinem Vater in die Arme, unendlich dankbar für das, was ich an diesem Tag mit ihm erleben durfte.«
***
Die Brüder teilen dieselbe Begeisterung. »Wir waren damals als Kletterer fanatischer, als wir es heute sind. In unseren Köpfen existierte, egal zu welcher Tageszeit, nur eines: das Klettern«, erzählt Alexander.
Doch leider sind die Berge weit weg von Palling. Unter der Aufsicht ihres Vaters befestigen die zwei Brüder Haken am Dachstuhl der Scheune und verbringen dort als Seilschaft Stunde um Stunde in den Trittleitern und Schlingenständen – so üben sie das technische Klettern in Maximaldosis, beherrschen bald die nötige Seiltechnik aus dem Effeff. Auch ein großer Apfelbaum wird in Beschlag genommen, um das Klettern im Überhang zu simulieren. Stundenlang hängen sie in den Ästen, trainieren Kraft, Ausdauer, Technik – und Mut.
Die Geschichte des klassischen Alpinismus ist ihnen in großen Teilen vertraut. Alexander kann mit zehn Jahren alle wichtigen Alpengipfel über 4000 Meter aufzählen, er kennt ihre genaue Höhe, die verschiedenen Aufstiegsrouten und die Erstbesteiger. Sein Idol ist Hermann Buhl. Thomas verschlingt die Berichte von Walter Bonatti und Toni Hiebeler. Im extremen Fels, Walter Pauses legendäre Kletterbibel, kennen beide auswendig. Ihr Apfelbaum muss erdulden, wie sie dort besonders schwierige Passagen der von Pause beschriebenen Routen nachkraxeln, etwa die Erstbegehung der Großen Zinne. »Alles, was wir bisher in der Alpinliteratur gelesen hatten, spielten wir auf dem Apfelbaum nach, sogar das tragische Ende von Toni Kurz in der Eiger-Nordwand«, erinnert sich Thomas.
1936 war der Berchtesgadener Alpinist vor Kälte und Erschöpfung gestorben, nur wenige Meter von seinen Rettern entfernt in seinem Sicherungsseil am Abgrund hängend, da ein Knoten den Karabiner nicht passieren konnte. Eines der bekanntesten Dramen, das sich in den großen Nordwänden der Alpen ereignet hat. Unter dem wachsamen Auge des Vaters, der ihnen die bestmögliche Sicherheitsausbildung angedeihen lassen möchte, üben die Huber-Brüder also schon als Kinder, wie sie sich aus einer ähnlichen Notlage befreien können – drei Meter über dem Boden!
Zur klassischen Bergsteigerkultur und den technischen Kenntnissen, die sie sich mithilfe ihres Vaters zu eigen machen, gesellt sich schnell ein wachsendes Interesse an den Berichten deutscher Kletterer der Nach-68er-Generation, die den Brüdern neue Horizonte öffnet. Besonders ein 1980 erschienenes Buch hat es den beiden angetan, wie so vielen jungen Bergbegeisterten: Zeit zum Atmen von Reinhard Karl. In beunruhigendem Tempo überfliegt der Ausnahmekletterer, zudem ein beeindruckender Fotograf und Schriftsteller, die klassischen Wände der Alpen, bevor er sich dem Yosemite Valley und den Gipfeln Patagoniens zuwendet, um seinen Abenteuerhunger zu stillen. Fasziniert von Karls Büchern, beginnen die Brüder von fernen Gebirgen zu träumen. »Da werde ich mal klettern«, schwört sich Thomas und hört dabei The Doors, Jimi Hendrix und Led Zeppelin rauf und runter. Unter einem Querbalken der Scheune bauen Thomas und Alexander sogar die bayerische Nachbildung einer legendären Route im Yosemite, die Separate Reality – ein sieben Meter langes waagerechtes Rissdach …
Thomas Huber senior klettert vornehmlich mit seinem Ältesten, nicht unbedingt zur Freude von Alexander, der zu Hause bleibt. Doch die Situation entspannt sich im darauffolgenden Sommer. Gottfried Wallner, der Traunsteiner Jungmannschaftler, lädt Thomas zur Besteigung eines anspruchsvollen Klassikers im Wilden Kaiser ein: der Rebitsch-Spiegl-Führe durch die Fleischbank. Thomas, am Apfelbaum und im Wettstreit mit seinem Bruder geschult, meistert die Schlüsselstelle souverän im Vorstieg. Das ist die Eintrittskarte für die Traunsteiner Jungmannschaft! Ein großer Schritt nach vorn, denn er ist nun nicht mehr von seinem Vater abhängig, wenn er in die Berge will. Der kann sich ab sofort dem jüngeren Sohn widmen, die Ausflüge der beiden häufen sich daher. Und bald führt Alexander die Seilschaft. Wie zuvor seinem Ältesten gibt der Vater ihm unermüdlich sein Wissen und seine Fähigkeiten weiter, vor allem in Sachen Sicherheit, da ist er unnachgiebig. Die Brüder wissen die besondere Ausbildung durch ihren Vater sehr zu schätzen: »Unser Vater war unser Lehrmeister«, betont Alexander.
Aber die Touren mit den Talenten aus der Traunsteiner Jungmannschaft und die Ausflüge mit dem Vater reichen den Brüdern nicht, um ihren Berghunger zu stillen. Die unvermeidliche Lösung steht ihnen bald klar vor Augen: Sie werden einfach zusammen klettern!