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© Querverlag GmbH, Berlin 2017

Erste Auflage: März 2017

Zweite Auflage: April 2017

Dritte Auflage: Mai 2017

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale

ISBN 978-3-89656-644-7

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Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Dieses Buch wurde möglich gemacht durch die freundliche Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

„Deine Größe macht mich klein, Du darfst mein Bestrafer sein.“

Rammstein 1997

Für Ines

Zum Sammelband

Queer könnte eine Kritik an der heterosexuellen Normalität bedeuten, meint aber in der Praxis mittlerweile häufig nicht viel mehr als eine ritualisierte Ablehnung anderer politisch engagierter Homosexueller und Linker. Nicht mehr die perverse Entgegnung auf die Feindseligkeit in der Gesellschaft, sondern ein Aktivismus, in dem sich autoritäre Sehnsüchte durch Sprech-, Denk- oder Bekleidungsverbote ausdrücken, steht im Mittelpunkt. Die einzig wichtige Frage scheint zu sein, wer progressiver und vor allen Dingen wer als reaktionär abzulehnen sei. Dieser Verwendung von Queer widmen sich die hier versammelten Artikel. Damit möchte ich an die Möglichkeit eines Queer-Begriffs erinnern, der nicht Strafe und Buße als emanzipatorischen Aktivismus missversteht, sondern Emanzipation und das Beharren auf dem Anderssein meint.

Das gesellschaftliche Klima hat sich nach der Einschätzung vieler Personen in den letzten Jahren rapide verschlechtert hin zu einer zunehmenden Feindseligkeit gegen das Andere. Dazu ist der grassierende Rassismus gegen Flüchtlinge ebenso zu zählen wie offene Homosexuellen- und Transfeindlichkeit. International feiern reaktionäre Parteien einen Sieg nach dem anderen. Unter Liberalen und Linken wird der politische Islam als Problem häufig verleugnet, der aber so oft Fluchtgrund gerade von Schwulen, Lesben und Transleuten ist und die ideologische Grundlage aktueller brutaler Anschläge darstellt. Die Reaktion der deutschen Politik wiederum dient sich dem Volksempfinden an und setzt auf schärfere Einwanderungsgesetze. Zugleich unterwerfen sich liberale Politikerinnen und verhüllen sich ganz halal bei Besuchen in islamischen Institutionen. Eine breite Aufklärung gegen Rassismus und Islam sucht man vergeblich. In Bezug auf die Feindseligkeit ist bei all diesen Entwicklungen allerdings nicht von einer neuen Ablehnung zu sprechen. Der Hass, der Gehalt des Ressentiments und die Liebe zur autoritären Ideologie sind nicht neu, sondern höchstens in ein zeitgemäßes Gewand gekleidet. Was zu viele Leute vorher dachten und fühlten, findet nun öffentliche Berechtigung. Die alte Feindseligkeit wird salonfähig. Rassismus, Homosexuellen- und Transfeindlichkeit finden ihren Weg von den Stammtischen in die seriösen Medien und eine ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit dem Islam, die unter anderem eine deutliche Religionskritik bedeuten würde, wird abgewehrt.

Vor diesem Hintergrund wird es besonders leicht, durch Schlagworte und ohne Argumente andere als reaktionär und antiemanzipatorisch abzukanzeln. Queere Aktivist_innen ziehen hierbei häufig besonders enge, ideologische Grenzen. Da es aber notwendig ist, den illegitimen Hass in dieser Gesellschaft mit einer deutlichen, perversen Entgegnung zu bekämpfen, darf Queer nicht autoritäre Sehnsüchte, Sprechverbote, Ablehnung von „zu bürgerlichen“ Homosexuellen, Liebe zum Islam und Hass auf Israel bedeuten.

Mit der Kritik an dieser Verwendung von Queer richtet sich Beißreflexe an queere Aktivist_innen, die sich durch den autoritären Aktivismus nicht progressiver, sondern bedrängt fühlen. An politisch aktive Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transpersonen, die den Streit nicht meiden und aus dem Wahnsinn, der sich in queerem Aktivismus häufig äußert, keine plumpe Verwerfung jeder linken und liberalen Politik ziehen. An queere Theoretiker_innen und Wissenschaftler_innen in den Gender und Queer Studies, die an einer perversen Wendung von Queer interessiert sind. An jene schließlich, die sich über Anwandlungen wundern, die als „queer“ oder „queerfeministisch“ firmieren und darüber informieren wollen, womit sie es bei aktuellem queeren Aktivismus zu tun haben.

Die Beiträge

27 Autor_innen bieten in diesem Sammelband sehr unterschiedliche Einblicke in queeren Aktivismus, seine Ansätze und aktuelle Formen in mehreren Städten. Die Artikel sind teils polemisch formuliert, während andere eher diplomatisch verfasst sind. Sowohl Ablehnung von queerem Aktivismus insgesamt aufgrund seiner autoritären Ausformung als auch Versuche der Vermittlung, in welchen die Hoffnung nach einer neuen Besetzung von Queer besonders deutlich aufscheint, finden sich in diesem Band. Manche Texte erzählen aus eigener, mitunter aktueller Erfahrung im queeren Aktivismus, andere aus einer eher distanzierten Perspektive.

Zunächst widmet sich meine Einführung Beispielen aus Berlin und stellt den Versuch an, Queer durch die Kritik pervers zu wenden. Darauf folgen sieben thematische Abschnitte. Der erste Bereich steht unter dem Zeichen der Betroffenheit und beschäftigt sich mit einem schlechten Umgang mit Konflikten, der seine Berechtigung in Ideologie zu finden sucht. Anonyma beginnt diesen Teil mit einem Bericht aus Thüringen über „Betroffene“ von Kritik bei einem queeren Sommercamp. Koschka Linkerhand ruft gegenüber einer solchen Betroffenheitspolitik dazu auf, sich über „den identitären Tellerrand“ hinauszustürzen. Kleinbürgerlichen Moralvorstellungen in queerem Aktivismus geht Jakob Hayner in seiner Betrachtung eines merkwürdigen Vorfalls an der Humboldt-Universität zu Berlin nach. Darauf folgend beschäftigt sich Caroline A. Sosat aus einer psychoanalytischen Perspektive mit dem Betroffenheitsfeminismus und seiner Abhängigkeit von der Gegnerschaft.

Im zweiten Bereich Schmutzräume und Trigger übt Doloris Pralina Orgasma eine unsolidarische Kritik an den lustfeindlichen Awareness-Patrouillen in sogenannten Schutzräumen, die in den Augen der Polit-Tunte endlich Schmutzräume werden sollten. Till Randolf Amelung ruft dazu auf, sexuelle Gewalt nicht durch ein zum Aktionismus verkürztes Verständnis von Trigger zu relativieren, nur um damit inquisitorische Verfolgungen von der Gewalt bezichtigten Personen rechtfertigen zu können.

In der Rubrik Privilegiencheck steht der queeraktivistische Ansatz der „Reflexion“ und „Kritik“ von Privilegien im Mittelpunkt: Leo Fischer sieht in den darin enthaltenen Forderungen den Wunsch nach Rückschritt und gleichmäßig verteiltem Unglück statt einer Befreiung aller. Aus dem Privilegiencheck werden im queeren Aktivismus zahlreiche Verbote abgeleitet, etwa die Kleidung betreffend als Kritik an „Kultureller Aneignung“. Marco Ebert geht diesem Phänomen nach und hinterfragt den falschen Begriff von Kultur und Herrschaft, der sich etwa in der Vorstellung äußert, ein Faschingskostüm sei Unterdrückung. Diese Ansätze werden, wie Melanie Götz in ihrem Artikel ausführt, „zur unhinterfragbaren Wahrheit“ erhoben, obwohl sie vielfach bloß „szeneintern geteilte Politfloskeln“ darstellen. Christoph Wagner schließt den Privilegiencheck mit einem Bericht des Interventionsversuchs queerer Aktivist_innen beim Mainzer CSD 2016.

Unter der Überschrift Queere Theorie treffen Rezensionen aktueller im queeren Zusammenhang besprochener Bücher auf Auseinandersetzungen mit Geschichte und aktuellen Entwicklungen queerer Theorie. Benedikt Wolf betont den eigentlich progressiven Charakter von Queer, um zugleich die antiemanzipative Wende in der Queer Theory hervorzuheben, durch die, statt eine Kritik an der heterosexuellen Normalität zu formulieren, vielmehr auf Angriffe gegen Homosexuelle gesetzt wird. Vojin Saša Vukadinović geht unter anderem dem Übergehen von Gewalt an Frauen und Homosexuellen in der queeren Theoriebildung nach und stellt die bislang unbeantwortete Frage, weshalb noch keine queere Konferenz zur Verfolgung von Homosexuellen in islamischen Staaten oder zur religiös begründeten Unterdrückung der Frau stattgefunden hat. Mit meiner Rezension des Buches Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität (2016) von Heinz-Jürgen Voß und Zülfukar Çetin gehe ich ebenfalls der antihomosexuellen Prägung aktueller queerer Ansätze nach. Insbesondere die Annahme des Buches, schwule Sichtbarkeit sei gleichbedeutend mit Unterdrückung, steht im Mittelpunkt. Hans Hütt hat Didier Eribons Rückkehr nach Reims (2016) gegen den queeren Konsens gelesen, dass es sich hierbei um ein bahnbrechend emanzipatorisches Werk handle. Der abschließende Beitrag zu queerer Theorie folgt darauf von Julia Jopp mit Überlegungen zum poststrukturalistischen Verständnis von Trans und den Wünschen sowie Zumutungen des Subjekts, die in diesen Theorien keinen Platz finden.

Eine zentrale Position vieler queerer Politgruppen ist die gegen Israel wegen seines angeblichen „Pinkwashings“. Daher wird dem Thema Pinkwashing und Antisemitismus ein eigener Bereich zuteil. Dirk Ludigs geht dem Wahnsinn, der sich in dieser Kritik äußert, auf den Grund, indem er sich mit denselben Fragen, die an Israel gestellt werden, an den Staat Kanada wendet. Die Frage nach dem antisemitischen Gehalt der Pinkwashing-Kritik vertieft Frederik Schindler in seinem Artikel. Am Beispiel des Kreuzberger CSD 2016 in Berlin und der dort stattgefundenen Anti-Pinkwashing-Reden fordert Dierk Saathoff queere Aktivist_innen dazu auf, „emphatisch für Emanzipation“ einzustehen. Ein weiteres Beispiel aus der Queer Theory bietet daraufhin Nina Rabuza in ihrer Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Homonationalismus und Pinkwashing der bekannten Genderwissenschaftlerin Jasbir Puar.

Wie die mitunter deutlich antisemitische queere „Kritik“ an Israel, so wichtig ist vielen queeren Aktivist_innen ihre Liebe zum Islam und teils insgesamt zur Religiosität. Diesem Phänomen widmen sich die drei Beiträge in der Rubrik Queering Islam: Im queeren Aktivismus werden Aussagen und Personen sehr häufig als „islamophob“ bezeichnet. Inwiefern diesem Begriff selbst Rassismus und Relativierung von Gewalt innewohnen, erörtern Nikolai Schreiter und Nikola Staritz in ihrem erhellenden Interview mit dem Psychoanalytiker Sama Maani. Jann Schweitzer weist mit seinem Artikel sowohl auf den Rassismus in einer nur scheinbaren Islamkritik hin als auch auf die Unfähigkeit von Queers und Linken, die Kritik an Heteronormativität konsequenterweise mit der Ablehnung von Rassismus, Religiosität und Islam zusammenzuführen. Tjark Kunstreich schließt den Themenbereich mit seinem Text zu den queeren Reaktionen auf den Anschlag im Pulse in Orlando, die sich um eine Kritik am Islam wanden und teils als Verhöhnung der Opfer bezeichnet werden müssen.

Der letzte Teil des Buches heißt Queer in Berlin und geht in vier kurzen Beiträgen beispielhaft auf queeren Aktivismus in der Hauptstadt ein. Zunächst mit einem Artikel von mir zum Kreuzberger CSD und dem Hass auf vermeintlich privilegierte Schwule, die „von oben“ umarmt mit den „Großkonzernen“ kuschelten. Elmar Kraushaar berichtet daraufhin von einem typischen Verlauf der „Pädo-Debatte“ in Berlin, die nahezu nie eine tatsächliche Debatte darstellt, sondern als Debatte mit aggressiven Beißreflexen verhindert wird. Ilona Bubeck hielt im September 2016 eine Brandrede im Zuge von harschen Diskussionen vor der Lesbenveranstaltung DYKE OUT!, die hier in erweiterter Form abgedruckt ist. Jan Noll schließt mit einem kurzen Statement zu demselben Vorfall, in welchem queere Aktivist_innen statt der von ihnen selbst so oft geforderten Solidarität eine lesbenfeindliche Spaltung hervorzurufen versuchten.

Dankeschön

Einen Sammelband wie den vorliegenden gibt es bislang nicht, unter anderem wegen der Beißreflexe, von denen er handelt. Umso herzlicher möchte ich mich bei den Unterstützer_innen bedanken, durch die die Zweifel an solch einer Veröffentlichung intensiv diskutiert und reflektiert werden konnten. Hervorheben und damit bedanken möchte ich mich für die große Hilfe im Lektorat bei Benedikt Wolf, Michael Bochow und Till Randolf Amelung. Darüber hinaus möchte ich mich bei Tuntenschwester Kuku Schrapnell bedanken, mit der ich zahlreiche lange und hitzige Diskussionen führte, die meine inhaltliche Arbeit an Beißreflexe maßgeblich prägten. Meine Freundinnen Ines und Fabienne begleiten mich seit vielen Jahren durch die Wirren des queeren und linken Aktivismus und behielten bei allem Ärger warme Herzen und kühle Köpfe. Sie und mein Partner Fabian Lindhorst, der in allen Belangen zu mir steht, machten mir und damit zahlreichen anderen Mut, weiterzudenken und Position zu beziehen. Ilona Bubeck und Jim Baker vom Querverlag veredelten auch Beißreflexe mit ihrem Lektorat und mitunter kontroversen Auseinandersetzungen. Ohne die beiden wäre dieser Sammelband nicht entstanden, denn sie drängten mich glücklicherweise dazu, an dem Projekt festzuhalten.

Das vorliegende Buch handelt unter anderem davon, wie auf Kritik an queerem Aktivismus einzig mit Abwehr reagiert wird. Die Herausgabe begleiteten bereits solche Beißreflexe aus unterschiedlichen Richtungen. Manche sonst lautstarken und selbstbewussten Autor_innen und Aktivist_innen äußerten aus diesem Grund ihre berechtigte Angst vor den Reaktionen aus der queerfeministischen Szene und zogen ihren Beitrag lieber zurück. Erwägungen möglicher Beißreflexe spielten auch bei meiner Herausgabe eine Rolle. Sie führten zur Ablehnung von Artikeln und Veränderungen in den Texten, die sich hoffentlich nicht gravierend und abschwächend auswirkten. Die befürchteten Anfeindungen sind tatsächlich zu erwarten: Verdammungen ohne den Versuch, das Angebot zur Reflexion wahrzunehmen, wobei namentliches Verächtlichmachen und Anprangern besonders beliebte Vorgehensweisen sind und die (meist nicht vorhandene) Argumentation überlagern. Beißreflexe ist dennoch entstanden und für jene gemacht, die Lust auf die Auseinandersetzung haben und die Idealisierung von queerem Aktivismus und queerfeministischen Ansätzen in ihrer aktuellen Form zugunsten einer kritischen Haltung gegenüber Ideologie, Verkürzung und Antiaufklärung im Gewand einer vermeintlich „emanzipatorischen Politik“ aufzugeben bereit sind.

Den Autor_innen danke ich wärmstens für ihr engagiertes Schreiben dieser zahlreichen Artikel! Den Leser_innen wünsche ich an dieser Stelle eine irritierende und erregende Lektüre, die Erhellung, Streit und Auseinandersetzung bringt. Wo Beißreflex war, soll Reflexion werden.

Patsy l’Amour laLove, März 2017