WORTLAUT 17. GRELL
Der FM4-Kurzgeschichtenwettbewerb. Die besten Texte.
© Luftschacht Verlag – Wien 2017
www.luftschacht.com
Einzelrechte © jeweils bei den AutorInnen
Herausgegeben von Zita Bereuter und Claudia Czesch
Satz: Luftschacht
Die Wahl der angewendeten Rechtschreibung obliegt
dem/der jeweiligen AutorIn. Layout- und Formatvorgaben
der einzelnen Texte wurden in der Regel beibehalten.
ISBN: 978-3-903081-16-1
ISBN E-Book: 978-3-903081-64-2
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die
Kulturabteilung der Stadt Wien
Zita Bereuter, Claudia Czesch
Wie grell ist das denn?
Cornelia Travnicek
Manche Dinge ändern sich nicht
Vinzenz Dellinger
Grelles Schwarz
Romina Pleschko
Am Beckenrand
Martin Peichl
Donau, Kanal, Treiben
Barbara Fohringer
La vie est belle
Lukas Gmeiner
Liebeszug
Verena Keßler
I Love Extreme Crazy Volume
Lea Moser
Spiegeleier machen keinen Lärm
André Patten
Patong
Amos Postner
Nachts wach
Sascha Preiß
Der Fisch und der Rauch
Zita Bereuter, Claudia Czesch
Bei manchen Jurysitzungen erkennt man sehr schnell die Einigkeit, was Geschmack und Urteil angeht. Bei anderen dauert das etwas. Die diesjährige Wortlautjurysitzung zählt ganz klar zu zweiter Gruppe. Nach jedem besprochenen Text schien ein Resultat noch weiter weg zu rücken. Aber der Reihe nach.
Bei Wortlaut, dem FM4-Kurzgeschichtenwettbewerb, wird Anfang März ein Thema bekannt gegeben. Heuer war das GRELL.
Bis Anfang Mai haben uns gut 800 Autorinnen und Autoren ihre Texte geschickt – herzlichen Dank an der Stelle!
Wochenlang hat sich die redaktionelle Vorjury (die FM4-RedakteurInnen Zita Bereuter, Jenny Blochberger, Claudia Czesch, Conny Lee, Maria Motter, Martin Pieper, Lisa Schneider, Simon Welebil, Irmgard Wutscher und Jürgen Lagger vom Luftschacht Verlag) durch diese Texte gelesen, hat sie auf der Rückseite kommentiert und weitergegeben. Und weiter. Und weiter.
Am Ende hat sich die Vorjury dann auf zwanzig Texte geeinigt – die mittlerweile von mindestens sechs JurorInnen gelesen waren. Die Diskussionen in dieser Sitzung sind regelmäßig lange, intensiv und teilweise heftig. Schließlich freuen wir uns auch in diesem Jahr über zwanzig sehr gute Kurzgeschichten – v.a. über das große grelle Spektrum, das diese eröffnen.
Anonymisiert und einheitlich formatiert hat die Jury diese zwanzig Texte erhalten.
Dann kam der Tag der Jurysitzung, an dem sich Sebastian Fasthuber (Kulturjournalist), David Fuchs (Wortlautgewinner 2016), Hosea Ratschiller (Kabarettist), Cornelia Travnicek (Autorin) und Yasmo (Rapperin und Autorin) auf zehn Texte einigen sollten. Und davon noch mal drei auszeichnen.
Und in dieser Sitzung hat sich dann gezeigt, wie unterschiedlich Meinungen zu Texten sein können. Nicht nur einmal haben sich vier gegen einen Text ausgesprochen, während die oder der Fünfte überzeugt und selbstbewusst – v.a. aber auch kompetent – erklärte, warum ihr oder ihm der Text gut gefallen habe.
Für diese konstruktive Kritik und die durchaus faire Diskussionsbereitschaft möchten wir uns bei der Jury besonders bedanken!
Das Ergebnis ist eine grelle Mischung, die alles andere als durchschnittlich ist. Ob am Donaukanal, in Russland oder in Thailand. Man liest von Verlassenen, Verliebten und Verbitterten. Von Außenseitern, Angebern und Mitläufern. Von Lautem, von Grellem und von Hellem.
Schnell einig war sich die Jury bei den drei ersten Plätzen:
Grelles Schwarz wurde als „absurder, verstörender Text“ bezeichnet, mit „der originellsten Grundidee“ und „ganz vielen kleinen Kunstgriffen“, mit einer „leicht depressiven, aber trotzdem noch neugierigen und interessanten Stimmung“. Ein Text, bei dem zwar viel auseinanderfällt, er selbst „bleibt aber ganz und endet wunderbar und ist einfach ein guter Text.“
Am Beckenrand überzeugte mit dem „großartigen Einstieg“, die Geschichte sei „unterhaltsam“ und „witzig“ mit „ wunderbaren kleinen Bildern“. Dabei aber „morbid“ und „atmosphärisch“ und mit „der einen oder anderen Untiefe drinnen“.
Und Donau, Kanal, Treiben wurde mit dem Prädikat „grundsympathisch“ ausgezeichnet, ein Text, der beim Lesen „sehr viel Spaß„ gemacht und auch „sprachlich eine eigene Rhythmik“ in sich habe. Ein „schneller, dynamischer Text mit viel Atmosphäre“ und „mit einem sehr guten Schlusssatz“. „Und das Erdäpfelgulasch wird auf alle Fälle hängen bleiben.“
In diesem Sinn – Mahlzeit und viel Freude beim Lesen.
Wir gratulieren herzlich den hier vertretenen Autorinnen und Autoren!
Zita Bereuter und Claudia Czesch
Es war einmal, als die bereits vierte Tasse Kaffee ihren braunen Dreiviertelkreis auf einer Manuskriptseite hinterlassen hatte, und die Jurymitglieder sich in ihrem verrauchten Kammerl vor lauter Zigarettenqualm gegenseitig nicht mehr sehen konnten …
Nein, manche Dinge ändern sich doch. Also kein Zigarettenqualm und nicht ganz so viel Kaffee in den Bechern, dafür ein bisschen Tee, weil im Sommer hat man es wegen der Klimaanlage doch ständig mit dem Hals …
Es war also einmal, da mussten wir eine schwierige Entscheidung treffen.
Eine Jury, in der drei von fünf Leuten selbst Schriftstellerinnen bzw. Schriftsteller sind, ist eine sehr verständnisvolle. Man kennt das alles ja.
Eine Jury, in der drei von fünf Leuten selbst Schriftstellerinnen bzw. Schriftsteller sind, ist keine sehr verständnisvolle. Weil: Man kennt das alles ja.
Dass man manchmal zum Beispiel einfach nicht weiß, wie man diese dämliche Themenvorgabe in die eigene, eigentlich ur supere, aber irgendwie nichts damit zu tun habende Kurzgeschichte einbauen soll. Und den Text dann trotzdem einschickt. Weil: Warum nicht. Er ist ja GUT. SO GUT. Die Jury wird’s schon … und so weiter.
Oder, dass man sich selbst eigentlich immer wieder sagt, dass einem alle Literatur-Wettbewerbe im Grunde ein mit gewürztem Fleischgatsch gefülltes Stück Darm sind und man sich ganz sicher nicht darüber aufregen wird, wenn man nix gewinnt. SICHER NICHT. Und so fort.
We feel you.
Weil wir so viel mit euch fühlen, wollen wir ein bisschen Mitgefühl retour. Verständnis dafür, wie schwierig es ist, fünf ganz unterschiedliche Geschmäcker auf einen Nenner zu bringen, ohne am Schluss mit einem irgendwie lauwarmen Kompromiss dazustehen. Und weil wir genau das verhindern wollten, habe wir nicht nur einige Stunden wirklich ausführlich und ernsthaft diskutiert, unsere Prioritäten sortiert und Texte nach bestem Wissen und Gewissen selektiert, nein, wir sind auch noch auf die geniale Idee gekommen, wirklich alle Kurzgeschichten, die bei irgendeiner oder irgendeinem von uns ganz vorne gereiht waren, zumindest in die Anthologie mit aufzunehmen. Egal, wie sie bei den anderen bewertet waren. Volle Bandbreite. Für euch.
Die Entscheidung für den erstplatzierten Text war am Ende ganz eindeutig, das muss betont werden. Und die mit jeder verbalen Verteidigungsrunde weiter angewachsene Zuneigung zu den eigenen Favoritengeschichten hatte nach der Besprechung die Dimension aufrichtiger Liebe angenommen. Wir sind also nicht nur höchst zufrieden mit uns selbst – Grundvoraussetzung dafür, eine ordentliche (Literatur-) Rampensau zu sein – sondern auch mit dieser Anthologie.
Darum gehen hiermit unsere herzlichsten Glückwünsche an alle, die es dieses Jahr geschafft haben: Gratulation! Kudos! Gönnt euch!
Für alle anderen gilt: Nicht traurig sein. Fleischgatsch in Darm. Nach dem Wortlaut ist vor dem Wortlaut. Neues Jahr, neues Glück.
(Und wenn ihr euch fragt, was die Überschrift eigentlich mit diesem Vorwort zu tun hat, dann, ja, also, muss ich euch sagen: Ich habe eigentlich angefangen, einen ganz anderen Text zu schreiben. Ihr kennt das ja.)
Cornelia Travnicek, geb. 1987, hat im Wortlaut-Universum einen fixen Stern. Mit Wie ein Mixtape von Thomas Kunst belegt die damals 19jährige 2006 den zweiten Platz beim FM4-Kurzgeschichtenwettbewerb. 2009 wird sie Dritte. Damals begeistert sie die Jury mit ihrer Kurzgeschichte Aurum metallicum Oder Was für ein Kind ich bin. Daraus entwickelt sie den Roman Chucks (DVA 2012), der 2015 gleichnamig verfilmt wird und beim Filmfestival von Montreal mit dem ersten Publikumspreis „for the most popular film of the Festival“ ausgezeichnet wird.
Cornelia Travnicek studierte an der Universität Wien Sinologie und Informatik und arbeitet Teilzeit als Researcher in einem Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung. 2012 gewinnt sie beim Wettlesen um den Bachmannpreis den Publikumspreis für Junge Hunde (Roman, DVA 2015).
Zuletzt erschienen: Parablüh (Gedichte, Limbus 2017)
Ich wache auf. Die Sonne zeichnet durch die Jalousie ein Streifenmuster an die Wand. Ich schlage die Decke zurück. Mein linkes Bein fehlt. Ich rufe nach Paul. Er kommt ins Zimmer, in der rechten Hand die Zahnbürste.
– Mein Bein fehlt.
– Dein Bein fehlt nicht. Es ist da, genau neben dem anderen.
Er seufzt und verschwindet wieder im Badezimmer. Es nutzt mir nichts, dass Paul sich einbildet, mein Bein sei noch da. Mühsam setze ich mich auf, drehe mich und strecke mein übergebliebenes Bein aus dem Bett. Ich versuche aufzustehen. Es gelingt, aber ich muss mich an der Wand anlehnen. Auf meinem einen Bein, die Wände als Stützen nützend, kämpfe ich mich bis ins Wohnzimmer. Ich lasse mich aufs Sofa fallen.
Der Deckenventilator schleppt sich langsam im Kreis herum. Ich versuche, ihn dabei zu ertappen, wie er einen rhythmischen Fehler macht. Ich hoffe auf ein Flackern, ein Zucken, als wäre ein stockender Ventilator der Beweis dafür, dass das große Ganze selbst einen Fehler hat, dass die Dinge nicht sein müssen, wie sie sind. Er tut mir den Gefallen nicht.
Paul trägt ein Tablett mit Frühstück herein und stellt es auf den Couchtisch.
– Wirst du zurechtkommen?
– Ja.
– Ich hab’ dich lieb.
– Ich dich auch.
Die Wohnungstür fällt ins Schloss. Paul ist gegangen. Aus ich liebe dich ist seit einiger Zeit ich hab’ dich lieb geworden. Pauls Augen sagen, ich halt’s nicht mehr aus. Mein Kopf rechnet die dritte Wurzel aus Einunddreißig aus. Dreikommaeinsviereinsdrei …
Im Internet versucht ein Mann, auf einem Fahrrad zu fahren, das nach rechts fährt, wenn man nach links lenkt. Er schafft es nicht. Die eigene Wirklichkeit lässt sich nicht so einfach abändern. Acht Monate täglichen Trainings braucht er, um sein Hirn umzuprogrammieren. Danach kann er nicht mehr mit normalen Fahrrädern fahren.
Der Deckenventilator zerrührt die Stunden zu zähflüssigem Schleim.
Paul kommt nach Hause. Er fragt, ob das Bein wiederaufgetaucht ist. Ich verneine, frage im Gegenzug, ob er endlich etwas von Marie gehört hat.
– Marie ist seit über zwei Jahren …
Ich höre es nicht, meine Ohren fallen schnell genug ab.
Ich wache auf. Das Bein ist wieder, wo es hingehört, dafür fehlt mein rechter Zeigefinger. Anstelle des ersten Fingergelenks eine Schnittfläche, glatt und schwarz. Probehalber greife ich mit den übriggebliebenen Fingern in der Luft herum. Befremdlich. Dennoch, ein verlorener Finger ist eine Lappalie. Die meisten Chirurgen sehen davon ab, abgetrennte Finger wieder anzunähen. Ein nicht funktionstüchtiger Finger sei störender als einer, der gar nicht mehr da ist.
In der Küche wartet ein gedeckter Frühstückstisch auf mich. Auf einem Post-it steht musste heute früher raus. Ich habe keinen Appetit, nehme mir nur etwas Kaffee. Das Häferl entgleitet meiner Hand. Es zerspringt mit lautlosem Klirren. Der Kaffee malt einen Pollock an die Wand.
Ich gehe spazieren, um zu testen, ob das Bein auch nichts verlernt hat. Hat es nicht. Unten am Kanal kommt mir eine Frau auf einem Fahrrad entgegen. Sie lässt sich von einem großen weißen Hund ziehen. Schönes Tier. Beim Näherkommen bemerke ich, dass der Hund etwas im Maul hat. Meinen Finger. Die beiden rauschen an mir vorüber. Ich will rufen, halt, der Hund hat meinen Finger.
– Regnif neniem tah Dnuh red tlah.
Meine Zunge macht einen auf umgekehrt lenkendes Fahrrad. Mir wird kalt. Ich muss nach Hause.
Ich wache auf. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich mein linker Unterarm vom Ellenbogen ablöst und taumelnd auf einen schwarzen klaffenden Riss in der Wand zuschwebt. Ich will nach meinem Arm greifen, schreien, dieses Mal nicht! Ich kann mich nicht bewegen, kein Ton kommt über meine Lippen. Ich sehe zu, wie ein Teil von mir genommen wird. Das Loch schließt sich hinter meinem Arm.
Kriechend weicht die Lähmung aus meinem Körper. Ich drehe meinen Kopf zur Seite. Der Polster neben meinem ist unbeschlafen.
Ich wache auf. Es ist Sonntag. Paul ist sichtlich bemüht, gute Stimmung zu verbreiten. Er redet von der Arbeit. Sie haben diese Woche große Fortschritte gemacht mit dem neuen Projekt. Ich antworte ihm nicht. Kann ihm nicht antworten. Meine Zunge fehlt. Vielleicht ist es besser so, funktionstüchtig war sie ja nicht mehr.