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© Luftschacht Verlag – Wien

Umschlaggestaltung: Michael Roher

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Michael Roher

Tintenblaue Kreise

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Wenn ich an Phillip denke, enden meine Gedanken immer öfter mit einem Fragezeichen.

Drei Wochen habe ich jetzt schon nichts von ihm gehört.

Drei Wochen, seit das mit Tenka passiert ist.

Die Sonne knallt vom Himmel und verbrennt mir den Nacken, während ich da sitze, am Strohhalm meines Eistees herumkaue und mich frage, ob Phillip seine Sprachbox eigentlich abhört.

„Hast du meine Nachrichten bekommen?“, will ich ihn fragen.

„Hast du meine Elfenschrift im Baum gesehen?“

Oder: „Weißt du noch, das Serviettenschiff, das du gefaltet hast? Ich habe es Malakoff getauft und bei mir oben aufs Fensterbrett gestellt. An manchen Tagen kann es von dort aus sogar den Fluss riechen.“

Aber Phillip ist nicht da.

Hebt nicht ab. Ruft nicht zurück. Ist einfach weg.

Und ich sitze draußen vor dem Café Leguan, schaue den Eiswürfeln im Glas beim Schmelzen zu und versuche zu verstehen, was das alles soll.

Aber vielleicht fange ich besser von vorne an …

Inhalt

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Teil 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Teil 3

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

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1

Biene.

Das bin ich.

Biene Sabine Mütz.

Sternzeichen: Skorpion.

Lieblingsspeise: Radieschen.

Zweitbeste beim Papiertellerfrisbeeweitwurf.

Begeisterte Kritzelkünstlerin.

Und das wunderbarste Kind der Welt. Das behauptet zumindest Mama. Und Papa.

Und auch der alte Jockel sagt: „Biene Sabine, du bist das wunderbarste Kind der Welt!“

Und dann grinst er verschmitzt und streut großzügig Zucker auf die Milchschaumhaube seines Kaffees.

Der alte Jockel ist Stammgast hier bei uns im Café Leguan.

Jeden Tag kommt er gleich in der Früh, setzt sich an seinen Fenstertisch, schlürft heißen Kaffee und schaut auf die Straße hinaus. Liest Zeitung oder spielt Mühle – mit Frau Almut, wenn sie da ist. Oder mit Biene Sabine, also mir. Oder alleine, wenn Biene Sabine gerade keine Zeit hat. Wenn Biene Sabine nämlich zum Beispiel Hausaufgaben machen muss, oder gerade Mamas neue Schlagzeugtrommeln ausprobiert, oder zum Hafen spaziert, um die Möwen zu füttern.

Oder wenn Beere kommt.

Beere kommt am Mittwoch.

Mittwoch ist Bandprobe.

Beere winkt Papa und bestellt: „Einmal Pfefferminz mit Milch, bitte!“

Papa nickt und gießt grünen Sirup in ein Glas.

„Zahnpastasaft für den Herrn, kommt sofort!“, sagt er, rührt noch Milch dazu und reicht mir die Mixtur auf einem kleinen, silbernen Tablett, damit ich sie servieren kann.

„Mmh. Vielen Dank, Biene!“

Beere nimmt einen Schluck und wischt sich mit dem Handrücken über die Lippen.

„Wow! Das Zeug ist echt gefährlich gut. Ich glaube, ich bin schon süchtig!“

Und dann zieht er einen Stuhl herbei und fragt:

„Hast du Zeit?“

Ich nicke glücklich, weil ich weiß, was jetzt kommt.

Es ist unser Ritual.

Ich setze mich neben ihn und fische meinen Kugelschreiber aus der Hosentasche.

„Magst du was Bestimmtes?“

„Hm.“ Er überlegt. „Vielleicht was mit Meerestieren?“

Manchmal sitzen wir dann über eine Stunde und Beere schaut mir zu, während ich seinen Unterarm mit Figuren, Mustern und Ornamenten verziere, bis keine freie Hautstelle mehr zu sehen ist.

„Voll cool!“

Beere schnalzt begeistert mit der Zunge. Begutachtet mein blaues Kunstwerk.

Sagt was von wegen, dass er sich von nun an so lange nicht mehr waschen wird, bis ich groß bin und eine echte Tätowiererin.

Und dann sage ich, dass er sich aber bitte doch waschen soll, weil er sonst zu stinken anfängt und weil ich ja außerdem noch viel üben muss, damit ich richtig gut werde.

„Und dazu brauche ich deinen Unterarm jeden Mittwoch wieder frisch und unbemalt!“

„Ist okay, Biene“, verspricht Beere und wuschelt mir durch die Haare.

Mama meint ja, ich bin ein bisschen verliebt in Beere, aber das ist Blödsinn.

Also vielleicht ein gaaaanz kleines bisschen, aber sicher will ich den nicht küssen, so wie Mama den Papa mit Zunge und Augen zu – uuuaah, igitt!

Vielleicht ist es mehr so wie bei Shirin aus meiner Klasse und Justin Bieber.

Shirin hat Poster an ihrer Zimmerwand und überm Bett. Alles Bilder von Justin Bieber. Da sitzt sie dann davor und findet den einfach so süß und cool und schmachtet ihn an.

Und ich finde Beere süß und cool und schmachte ihn an, weil Beere Gitarre spielt, in Mamas Band, und mich bei seinem Gummizeug mitnaschen lässt. Er riecht gut nach Lavendelöl und hat auch schon ein paar echte Tattoos. Aber Beere sagt, dass er seinen einen Unterarm extra für mich reserviert und dass ich das Zeug zu einer Weltklasse-Künstlerin habe. Und vielleicht fährt er mir durch die Frisur dabei, so wie jetzt, und ich werde rot, weil es sich einfach gut anfühlt.

Beere wohnt nur zwei Straßen weiter, mit seiner Freundin Linda und seinem Sohn Jan.

Manchmal bin ich dort zu Besuch und wir kochen Spaghettinudeln mit roter Sauce, oder spielen mit Jans Kasperlfiguren. Oder wir fahren zum Fluss, machen Lagerfeuer. Grillen Äpfel.

Und jeden Mittwoch freue ich mich darauf, dass er kommt, sich von mir seinen Pfefferminzsirup servieren lässt und mir dann seinen Arm zum Bekritzeln hinhält.

So wie heute. So wie jetzt.

„Erkennst du es?“, frage ich. „Das ist ein Tiefseefisch.“

Ich fahre mit dem Finger die Umrisse auf seiner Haut nach.

„Da der Schwanz und die Flossen. Und da der Kopf.“

„Ah ja“, sagt Beere.

Doch ich bemerke, dass er gar nicht richtig hingesehen hat.

Gedankenverloren nippt er am Zahnpastasaft. Schaut zur Tür.

Aus seiner Jacke klingelt es.

Er tastet nach dem Handy.

„Lässt du mich mal kurz?“

Und geht.

Ich sehe ihn durchs Fenster die Straße rauf und runter wandern, das Telefon am Ohr.

Der Anruf kommt aus dem Spital. Aber das weiß ich natürlich nicht.

Dass etwas mit Jans Herz nicht stimmt. Dass ich Beere eine ganze Weile nicht sehen werde.

Von alledem habe ich jetzt noch keine Ahnung.

Trotzdem muss ich es erzählen.

Wegen der Sache mit Phillip nämlich.

Denn das mit Jans Herz, das war der Anfang.

Damit hat alles begonnen.

2

Papa sagt, er habe Mama auf dem Meer kennengelernt.

Papa war Koch auf einem Schiff, aber die Geschichte, wie Mama und er sich zum ersten Mal begegnet sind, ist jedes Mal anders.

Heute ist Sonntag und heute geht sie so:

Es war einmal ein gut aussehender, junger Koch namens Jonas Mütz (das ist Papa), der fuhr auf einem alten Kutter über die sieben Meere.

Eines nachts auf offener See geriet das Schiff in einen schweren Sturm. Wellen hoch wie Wolkenkratzer brachen darauf nieder und zogen es bis tief unter das Wasser. Und Jonas wäre beinahe ertrunken.

„Aber da war sie – eine bezaubernde Meerjungfrau namens Svenja Olavson, mit langem, blondem Haar und prallen Brüsten.“

„Jonas!“, mahnt Mama und verdreht die Augen.

„Was denn?“ Papa tut unschuldig. Mama grinst.

Papa fährt fort: „Also, eine wunderschöne und gut gebaute Meerjungfrau kam angeschwommen und rettete dem hübschen Jüngling das Leben.“

Und diese Meerjungfrau, das war Mama.

Und da haben sie sich unsterblich ineinander verliebt, also Jonas und Svenja Olavson.

Und später am Strand hat Svenja ihre Schuppen abgelegt und beschlossen, von nun an ein Mensch zu sein.

„Das geht“, sagt Papa. „Meerjungfrauen können das. Die streifen ihren Fischschwanz ab und dann haben sie Beine. Und was für Beine. Lang und schön waren die.“

Papa schnurrt, schaut Mama mit so einem Blick an und dann sagt er, dass Svenja und Jonas sich wirklich leidenschaftlich begehrten.

„Deshalb hatten sie auch viel heißen, wilden und feurigen …“

„Papa!“ Ich presse die Augen zusammen und halte mir die Ohren zu. „Musst du das immer machen?“

Mama kneift Papa in die Seite. Papa grinst und gießt sich noch eine Tasse Kaffee ein.

„Ich erzähle jetzt!“, bestimmt Mama.

„Danke!“, seufze ich.

Papa schafft es einfach nicht, in seinen Geschichten jugendfrei zu bleiben.

Also übernimmt Mama: „Wir sind dann über Dänemark und Polen runter bis zum Schwarzen Meer. Dort bin ich schwanger geworden. Kurz darauf ist Tante Ilvi gestorben. Ich habe ihr Haus geerbt und wir sind hierher gezogen. Und dann bist du gekommen, Biene. In einer verregneten Novembernacht.“

Und jetzt kriegt Mama wieder diesen verklärten Blick, den sie immer hat, wenn sie sich an solche Dinge erinnert.

„Meine kleine Elfe“, sagt sie. Streicht mir übers Gesicht, beißt von ihrer Frühstückssemmel ab und kaut rührselig vor sich hin.

Ich habe tatsächlich ein bisschen abstehende Ohren, die vielleicht an Elfenohren erinnern.

Aber wenn Mama kleine Elfe sagt, dann meint sie damit meinen Geburtstag.

Ich bin nämlich ein Faschingskind. Geschlüpft am 11. 11. – zwar nicht um elf Uhr elf, aber meine Geburt hat angeblich genau elf Stunden gedauert. Zumindest in Mamas Version der Geschichte.

„Der Regen hat aufs Dach getrommelt wie verrückt, das weiß ich noch,“ erinnert sie sich.

„Das Fenster war offen, weil mir so heiß war. Und die Nachbarin ist gekommen und hat mir ein Wurstbrot gebracht, um vier Uhr in der Früh, weißt du noch, Jonas?“

Papa lacht, verschluckt sich fast an einem Brösel.

„Die ist da plötzlich vor der Tür gestanden, mit einem Teller in der Hand. Und genau da bist du auf die Welt gekommen, Biene.“

„Ja“, sage ich. Da bin ich auf die Welt gekommen.

Biene Sabine Mütz, Tochter einer Meerjungfrau und Kind eines Lügenbarons.

3

Unser Haus heißt Leguan.

Wenn man vom Brunnenplatz kommt und in die Mühlgasse einbiegt, ist es gleich das zweite auf der linken Seite. Außen grün gestrichen, ein paar Tische mit Sonnenschirmen davor. Und auf dem Schild über der Eingangstüre: Leguan. In großen, bunten Buchstaben.

Unten das Café und oben im ersten Stock, da wo das kleine Fenster ist, da wohne ich.

In Biene Sabines höchst persönlicher Kunst-und-Unfug-Zimmerhöhle.

Hier leben die violett-blau karierte Grinsekatze Ulla, meine Haustierspinne Nepomuk und seine fröhlichen Krabbel-Verwandten und natürlich Biene – also ich.

Inmitten von liebevoll arrangierten Filzstift-Installationen, Skizzenblättern, mit Kugelschreiber behübschten Barbie-Puppen, kreuz und quer über den Fußboden verteilten, bekritzelten Papierservietten, Glasmurmeln, Büchern, Tattoo-Magazinen, Schulzeug und sonstigem lebensnotwendigem Krimskrams.

„Bist du des Wahnsinns fette Beute! Wie sieht es denn hier aus?“

Na gut. Vielleicht bin ich ein bisschen chaotisch. Kann schon sein.

Aber muss man deshalb gleich so überreagieren?

Immerhin bin ich Künstlerin.

Aber keine Chance.

Mama und Papa sind da gnadenlos.

„Morgen ist Putztag. Da fährt die Eisenbahn drüber!“

Ich schnaube betont und mache mein bösestes Gesicht. Hilft nichts, weiß ich. Aber es macht Spaß zu schimpfen und zu maulen und zu murren und zu meckern und sich wilde Flüche auszudenken, während man aufräumt. „Sauerei und Malefiz, rotzverklebte Sabberlippe!“, rufe ich, während ich Laden zuschmeiße, Bücher ins Regal knalle, poltere und wüte.

Wenn dann alles wieder traurig langweilig und sauber ist, bringt Papa von unten Bananenmilch mit Zimt und Mandelsplittern zur Belohnung. Papa liebt es, andere mit seinen Kochkünsten zu verwöhnen. Deshalb hatte er auch die Idee, aus dem Wohnzimmer im Erdgeschoß ein kleines Lokal zu machen.

Das Café Leguan.

Den Namen hat Mama ausgesucht.

Leguan hat nämlich auch das Schiff geheißen, auf dem Papa Koch war, als Mama und er sich zum ersten Mal begegnet sind. Und Mama sagt, dass der Name deshalb Glück bringt. Ich könnte mir jedenfalls kein schöneres Zuhause auf der Welt vorstellen.

Am Nachmittag unten zu sitzen, bei Papa in der Küche, oder bei Jockel an seinem Fenstertisch, mit heißem Kakao und einem warmen Schokoladegefühl im Bauch, den Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee in der Nase; die Gäste, die kommen und gehen; das leise Klingeln, das die kleinen, silbernen Löffel machen, wenn jemand damit in seiner Tasse rührt; Papas Tiramisu und das Gemurmel der Leute rundherum – ich liebe das alles!

Oder wenn am Mittwoch nach Mamas Bandprobe noch alle zusammensitzen und plaudern.

Dann zaubert Papa ein großes Abendessen.

Frau Almut hilft beim Kochen.

Und Jockel beim Einkaufen.

Jockel gehört, das kann man so sagen, eigentlich schon zur Familie.

Er kommt, da sitzen wir meistens noch beim Frühstück.

Klopft an, sagt: „Ich wäre soweit und hätte auch Zeit.“

Jockel mag Reime.

Papa schreibt ihm auf, was er braucht, und gibt ihm Geld. Und ich: „Warte!“, schlüpfe in meine Schuhe, meinen Pulli, schnappe mir die Schultasche.

Und wir gehen ein Stück gemeinsam, der Jockel und ich.

Weil meine Schule ist gleich neben dem Markt oder der Markt ist gleich neben der Schule.

Je nachdem.

„Zucchini, Karotten, Zuckermais, Hirse, Schlagobers“, studiert Jockel Papas Liste.

„Mir scheint, heute gibt es wieder Jonas’ berühmten Hirseauflauf.“

Er reibt sich den Bauch und hängt sich meine Schultasche über die Schulter.

„Na, Biene? Erzähl mal! Wie geht es meiner Zuckerschnute? Was macht die Schule, meine Gute?“

Schule.

Ich kicke ein paar Steinchen.

Schule ist nicht gerade mein Lieblingsthema.

Ich finde Schule okay, aber, wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich meine Vormittage anders verbringen. Würde zum Beispiel eine wilde Ritterburg zeichnen, oder auf Mamas Schlagzeug Krach machen. Oder mit der Grinsekatze Ulla um die Wette faulenzen. Ich würde bei Beere läuten und fragen, ob ich zu ihm raufkommen darf und er mir Lieder auf der Gitarre vorspielt. Ich würde wichtige Bücher lesen, Weltliteratur wie Donald Duck. Oder im Café Leguan sitzen, russischen Tee mit Frau Almut trinken und mir von ihr die Karten legen lassen. „Sabine“, würde sie sagen und die Stimme wäre dabei runzelig wie ihre dünnen Finger.

„Sabine, es wird turbulent.“

Frau Almut hat große schwarze Augen und knalllila Lippen.

Frau Almut riecht nach Zigaretten und Pfefferminzkaugummi und ihre Ohren sind gespickt mit kleinen glänzenden Silberringen.

Frau Almut ist alt.

Frau Almut hat nicht viel zu tun.

„Früher“, sagt sie, „früher war ich eine Hexe.“

Und deshalb, behauptet sie, besitzt sie magische Fähigkeiten.

Mit früher meint sie ein anderes Leben.

Frau Almut hat schon sieben Mal gelebt. Das haben ihr die Karten verraten.

„Die Karten erzählen dir die Zukunft und die Vergangenheit, du musst sie nur lesen können!“, erklärt sie.

Papa sagt: „Frau Almut ist ein bisschen speziell.“

Aber ich höre ihr gerne zu.

So wie neulich:

„Sabine, Sabine. Es wird turbulent. Fortuna dreht am Rad, siehst du hier?“

Almut hat auf eine Karte gezeigt.

„Für die einen geht es aufwärts, für die anderen bergab und – ah, der Eremit! Eine Reise steht bevor. Aber es wird keine gewöhnliche Reise sein. Es ist eine Suche. Nach etwas. Nach jemandem. Dem Jenseitigen. Und …“

Sie hat mich angeglubscht, als wüsste ich Bescheid.

„Ich sehe auch einen Freund.“

„Vielleicht Beere?“