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Emmanuelle Bayamack-Tam

ICH KOMME

Roman

Aus dem Französischen übersetzt
von Christian Ruzicska

Emmanuelle Bayamack-Tam

Ich komme

Roman

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Institut Français.

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Je viens«.

© 2015 P.O.L. Éditeur, PARIS

Erste Auflage

© 2017 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Christian Ruzicska

Lektorat: Malte Fabian Rauch

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz:

Erik Spiekermann & Marco Stölk, Berlin

Herstellung:

Renate Stefan, Berlin

Druck und buchbinderische Verarbeitung:

Friedrich Pustet, Regensburg

Papier Innenteil: 100g Fly 05

Papier Vor- und Nachsatz: 115g Fly 05

Papier Überzug: 130g Munken Lynx

Gesetzt aus Lyon und FF Din

Printed in Germany

ISBN 978-3-906910-14-7
eISBN 978-3-906910-15-4

Inhalt

EIN ANFANG IM LEBEN (CHARONNE)

DIE SCHWIERIGEN ZEITEN (NELLY)

DAS KUNSTGEWERBE (GLADYS)

EIN ANFANG IM LEBEN
(CHARONNE)

Verstärkungskraft

Verborgen und in tiefer Spur

Gleich einer Heckwelle unter Wasser

Gleich einem dunklen Gesang –

Ich komme

HENRI MICHAUX,

»Agir, je viens«, Angesichts der Riegel

EINER DER GROSSEN VORTEILE der Verwahrlosung durch die Eltern äußert sich darin, dass sie die Kinder daran gewöhnt, sich für belanglos zu halten. Einmal erwachsen, werden sie sich diese Gewohnheit zu eigen gemacht haben und leicht handzuhaben sein, einfach zufriedenzustellen, wunschlos schon mit nichts. Umgekehrt wiederum werden diejenigen, die mit dem irrigen Gefühl großgeworden sind, sie wären was, die emotionalen Ansprüche ins Unendliche steigern, sich beim geringsten Verstoß empören, und keine Ruhe geben, bis sie Euch die Existenz versaut haben. Probiert es aus.

Ich erkenne auf den ersten Blick einen Erwachsenen, dessen Kindheit unbemerkt verlaufen ist, begann doch meine eigene mit einer brutalen Aussetzung. Da ich noch keine drei Tage alt war, bin ich deswegen niemandem böse, vor allem meiner biologischen Mutter nicht, zu deren Entlastung gesagt werden darf, dass sie mich gar nicht kannte. Hätten wir Zeit gehabt, eine Verbindung aufzubauen, sie hätte mich womöglich behalten. Und reden wir gar nicht erst von meinem Vater, oder besser, reden wir nur von ihm, um ihm die Absolution leichter erteilen zu können: Kannte meine Mutter mich gar nicht, so legte er in meinem Leben nur das Vorüberziehen eines Kometen hin – zugegeben, kein einziger Komet würde jemals knapp an der Küste zwischen Krypta und Gebärmutterschleim entlangrauschen, aber mir ist sonnenklar, wovon ich rede, und ich halte daran fest.

Bei meiner zweiten Aussetzung bin ich sechs Jahre alt, ein ausreichend fortgeschrittenes Alter, um sich von nichts täuschen zu lassen. Am Tisch in diesem Dienstzimmer der Kindersozialhilfe mögen die Erwachsenen noch so sehr ihre Worte wählen, sich in Umschreibungen und gedämpftem Gemurmel verlieren, wobei die einen nicht sagen wollen, was die anderen nicht hören möchten, so geht’s doch nur darum, sich darauf zu einigen, dass meine Adoption ein Misserfolg sei. Dass ich gegenteiliger Meinung sein könnte, bitte, das interessiert wirklich niemanden: Es möchte gar scheinen, ich sei die Einzige, die sich gebunden hat und auch die Einzige, die sich in einer Beziehung entfaltet, für die meine Eltern kaum ausreichend harte Worte finden, um sie schlechtzumachen:

»Wir können einfach nicht mehr.«

»Wir sind am Ende.«

»Würde man nicht denken, wenn man sie so sieht, was? Sie wirkt nett, aber sie hat es geschafft, uns in einem Jahr das Leben komplett zu versauen.«

Und ja, sie haben nicht besonders lange gebraucht, um ihre Illusion nach einer Adoption mit großem Tamtam, einem Musterding, bei dem sich alle Welt über meinen kleinen herausgeputzten und aufpolierten Kopf hinweg gratulierte, in den Wind zu schießen – und zwar in einem Maße, dass meine Mutter sich heute seitens der Ware getäuscht wähnt, sie, die bei meinen unfrisierbaren Haaren nichts zu erreichen vermag, und das ist nur eine der zahlreichen Klagen, die sie gegen mich auspackt:

»Sie macht noch ins Bett, können Sie sich das vorstellen?«

»Wir fragen uns sogar, ob sie es nicht absichtlich macht, um uns zu nerven, um uns noch mehr Arbeit aufzuhalsen.«

»Als ob wir nichts anderes zu tun hätten, als ihre Laken zu waschen, ihr Bett neu zu richten …«

Ja, in Wirklichkeit haben sie tatsächlich nichts oder fast nichts anderes zu tun, meine Eltern, deren eigene Eltern sie jeglicher Sorge um Lebensunterhalt enthoben haben. Ihre beruflichen Aktivitäten beschränken sich darauf, mit im Normalfall und glücklicherweise dann doch stets abgetriebenen künstlerischen Schöpfungen zu liebäugeln, und wenn ich auch mit sechs Jahren keinen Schimmer habe von der Arbeitswelt, so ist es mir doch keinesfalls entgangen, dass meine Adoptiveltern im Idealfall untätig sind, ganz abgesehen davon, dass ich seit geraumer Zeit nicht mehr das Bett nässe.

Es ist zu heiß in diesem winzigen Dienstzimmer. Man hat mich auf einen Stuhl gepflanzt, dessen geflochtene Sitzfläche mein zartes Fleisch irritiert; genau gegenüber einem an der Tür fixierten Standspiegel, der leicht verzerrend wirkt. Ich erblicke mich in ihm, unerwünscht und steif im gesmokten Kleid, von dem meine Mutter der Meinung war, es wäre gut, mich damit auszustaffieren, um den Leuten vom Heim der Kindersozialhilfe zu beweisen, dass sie die Regeln der Kindermode beherrsche und ich ein kleines Mädchen sei, um das man sich kümmert. Unglücklicherweise spannt mein massiver Oberkörper die hübsche Faltenkrause am Brustlatz bis zum Bersten auf, während die Träger aus englischer Spitze in die Polster überzähligen Fleisches schneiden, die ich zwischen Achselhöhle und Schlüsselbein aufweise. Womit gesagt ist, dass der Effekt von Fassungslosigkeit verpfuscht ist, den meine Mutter mit ihrem tadellosen Kleidchen erzielen wollte.

Ich schwitze. Das passiert häufig bei kleinen Mädchen, wenn sie schwarz sind und fett – und damit berühren wir das eigentliche Motiv der Enttäuschung meiner Eltern, auch wenn sie dem, selbst mit dem Kopf auf dem Richtblock, nicht zustimmen würden: Ich bin schwarz. Eher sachverständige Leute wären sich darüber sofort im Klaren gewesen, aber bitte, zum Zeitpunkt meiner Adoption wies ich eine eher olivfarbene Blässe auf, die der winterlichen Abschirmung geschuldet war. Da ich im Übrigen immer schon Sommersprossen hatte, konnte ich gut und gern als Weiße durchgehen. Wenn Ihr dem noch das tägliche Flechten meines Haars seitens einer capverdischen Erzieherin hinzufügt, dann versteht Ihr, warum meine Eltern heute von meiner Verwandlung verblüfft sind, diesem gemeinen Hokuspokus, der ihre elfenbeinfarbene Miniaturausgabe in eine pummelige, dunkelhäutige und kraushaarige Kreatur verwandelt hat.

Denn ich habe sie nicht nur über meinen Hauttyp hinweggetäuscht, sondern, einmal adoptiert, fing ich an, ungeheuer fett zu werden. Meine Grazilität, die zarten und kränklichen Züge meines Gesichts, sie waren einer Unverträglichkeit gegenüber Gluten geschuldet, die meine Mutter auf der Stelle entdeckt hatte, sie selbst eine wahre Spezialistin auf dem Gebiet der Diäternährung und ihrerseits allem gegenüber allergisch, was herauszufinden ich nicht sonderlich viel Zeit benötigte. Heute, da ich all meine Verdauungskräfte wiedererlangt habe, lässt mich ein Nichts Speck ansetzen, Gluten inbegriffen. Ich darf nunmehr alles essen und verzichte darauf auch nicht. Tatsächlich schlage ich mir, sobald meine Eltern mir den Rücken zugekehrt haben, und sie haben die Tendenz, ihn mir häufig zuzukehren, schamlos den Bauch voll. Essen ist die Lust meines Lebens, aber ich lasse nichts davon durchscheinen, denn Lust und Essen sind in meinem neuen Heim verrufen.

Meine einsamen Vergnügen erklären wahrscheinlich, warum ich mit kaum sechs Jahren drohe, die Kräuselfalten meines Kleides zu sprengen, und nun im Spiegelbild diese fleischigen Waden und aufgedunsenen Wangen aufweise, die Régis und Gladys entsetzen, ohne dass sie es wagen würden, vor der Direktorin des Heims darauf Bezug zu nehmen. Weder meine Fettleibigkeit noch meine afrikanische Herkunft bilden zulässige Gründe meiner Rückgabe, sie haben es gut verstanden und bemühen sich, clever zu spielen, indem sie zwischen rein erfundenen Geschichten und Zeugenaussagen lavieren, die sie sich aus dem Internet gezogen haben – denn im Hinblick auf diese entscheidende Unterredung, haben sie sich einer ernsthaften Dokumentationsarbeit sowie einigen Trainingssitzungen unterzogen, wobei sie die Leichtfertigkeit und Grausamkeit besessen haben, mich an ihnen teilnehmen zu lassen:

»Und schau mal hier, das ist nicht schlecht: Das Gör da, die haben es mit sieben adoptiert, zusammen mit seinem kleinen zweijährigen Bruder. Mit dem kleinen Bruder läuft es sehr gut, aber das Mädchen hört einfach nicht auf, ihnen zu verstehen zu geben, dass es niemals darum gebeten hatte, adoptiert zu werden und dass es nach Eritrea zurück möchte. Wir müssen eigentlich auch nur so was erzählen, was meinst du? Dass Charonne uns jeden Tag mitteilt, dass sie zurück in ihr Land wolle.«

»Aber Charonne ist in Frankreich geboren, nicht in Eritrea!«

»Eritrea kann uns egal sein. Es geht darum, dass sie uns bei jeder Gelegenheit einhämmert, sie wolle zurück ins Heim. Und wer weiß, vielleicht ist sie ja doch in Eritrea geboren, was wissen wir schon?«

»Wenn es darum gehen sollte, zwischen uns und den eritreischen Lagern zu wählen, und sie wählt dann die eritreischen Lager, ist das alles andere als gut für uns. Sie werden denken, wir würden sie schlecht behandeln.«

»Hier, lies mal das, schau: Da ist ein Vater, der berichtet, wie ihr Sohn die Vorhänge ihres Zimmers angezündet hat. Und er war noch nicht einmal drei Monate bei ihnen!«

»Viele adoptierte Kinder scheinen Pyromanen zu sein.«

»Sollen wir es damit versuchen? Mit Pyromanie? Wir können kein Kind behalten, das uns in Gefahr bringt, das wäre ja noch schöner!«

In der Furcht vor dieser imaginären Gefahr erbeben sie, sie werden rot, sie sind kurz davor, sich zu verkrampfen.

»Ganz abgesehen davon, dass sie sich selbst auch in Gefahr bringt. Tatsächlich haben wir ja Angst um sie, Angst, dass sie sich heftig verbrennen möchte, wenn wir mal andersartig beschäftigt sind.«

»Das wäre schrecklich, dieses kleine Mädchen, das man uns anvertraut hat, und das sich dann selbst verbrennt.«

Sie erbeben noch einmal, aber nun vor lauter Schreck und aus Mitleid mit mir. Nun gut, mit mir, das ist zu viel gesagt, denn dieses Ich besitzt nicht mehr Wirklichkeit als die Fehler und Missetaten, mit denen sie es beladen. Mein wahres Ich, es erbebt auch, aber vor Traurigkeit und Ungläubigkeit angesichts dieses furchtbaren Szenarios, das sie vor ihrem Computer aushecken.

»Ist das nicht zu dick aufgetragen, dass sie Feuer gelegt haben soll an den Vorhängen? Ist sie nicht zu klein, um so etwas anzustellen?«

»Ein Feuerzeug zu bedienen, dazu ist sie längst fähig.«

»Wir könnten auch behaupten, dass sie uns beleidigt.«

»Wir werden schrittweise vorgehen: Wir beginnen mit den täglichen Beleidigungen, mit der Weigerung, uns anzublicken, uns zu berühren, mit der Tatsache, dass sie nicht bei uns bleiben möchte, dass sie versucht hat, abzuhauen, und dann, falls ihnen das nicht reichen sollte, dann sprechen wir auch die Pyromanie an. Wie findest du das?«

Régis findet, dass es perfekt sei, und kaum war ihr Tag gekommen, breiten sie auch schon ihren nachgeplapperten Blödsinn vor der Direktorin des Heims der Kindersozialhilfe aus. Als sie bei der Geschichte mit der kriminellen Brandstiftung angelangt sind, lasse ich mich vom geflochtenen Stuhl heruntergleiten und platziere mich zwischen ihre düsteren und wolligen Rücken – denn man muss wissen, dass meine Adoptiveltern sich sommers wie winters einmuffeln bei dem vergeblichen Versuch, ihre innere Kälte auszugleichen. Ich greife nach ihren jeweiligen Händen, der von Gladys, die sich an die Tischplatte klammert, und der von Régis, die weich in seinem Schoß liegt, und führe sie dann, vor dem Expertenauge für kindliche Liebe der Direktorin an meine prallen Wangen.

Gladys und Régis zucken vor Überraschung zusammen und die Frau Direktorin beugt ihren Oberkörper hinüber über den Schreibtisch, einer schlichten, auf Böcken liegenden Glasplatte, der sie von meinen Eltern trennt, als wollte sie sich zu uns gesellen, als wollte sie dem berührenden Bild beitreten, das ich taktisch zusammengestellt habe. Sie faltet ihre Beine auseinander, räuspert sich, moduliert einen Seufzer, lässt auf ihr Urteil warten, auf die Formel, die meinen Eltern möglicherweise ihre Freiheit zurückerstattet:

»Ich glaube …«

Ich fühle deutlich, wie Gladys Fingernägel sich ins Fleisch meiner Wangen graben. Die Frau Direktorin betrachtet plötzlich mit großem Interesse ihre eigenen Nägel, als gäbe es mit einem Male nichts Wichtigeres, als deren ausgefeilte Ovale abzuschätzen und ihren perfekten Glanz, eine beinahe appetitanregende karamellfarbene Lackschicht.

»Ich glaube, Sie haben nicht ganz verstanden, was eine Volladaption bedeutet. Und außerdem hatten Sie ja die gesamte Dauer der Umstellung, um Ihr gegenseitiges Einverständnis zu klären, nicht wahr?«

Bingo, ich habe gewonnen, ich kehre zurück nach Hause. Meine Eltern machen ein langes Gesicht, aber sie irren sich. Sie wissen es noch nicht, aber ich rette sie vor sich selbst und dem furchtbaren, kleinen inzestuösen Tête-à-Tête, das ihr Leben vor meiner Adaption dargestellt hat.

Régis und Gladys werden noch so viel dagegenhalten können, sie sind Bruder und Schwester. Dass es keine Blutslinie zwischen ihnen gibt, ändert nichts an der Sache. Bei der Hochzeit ihrer jeweiligen Eltern waren sie zehn und elf Jahre alt, womit sie also gemeinsam aufgewachsen sind. Merkwürdigerweise haben sie ihre kindliche Vertrautheit und ihr gemeinsam Erlebtes als angemessene Voraussetzung für eine Liebesbeziehung zwischen Erwachsenen betrachtet.

Heute, da ich selbst erwachsen bin und meine Eltern gut kenne, glaube ich sagen zu können, dass die geistige und emotionale Trägheit diese widernatürliche Vereinigung erklärt: Und ja, warum sich überhaupt noch die Mühe geben, in der Ferne zu suchen, wo sie doch einen gefälligen Partner unter ihrem eigenen Dach hatten, jemanden, mit dem ein geheimes Einverständnis und unmittelbares Verstehen bereits etabliert waren?

Wahrscheinlich liebten sie einander und lieben sich noch immer, aber das entschuldigt nichts und vor allem keinen Inzest. Indessen waren sie in ihrer Unschuld schmerzhaft darüber verblüfft, dass ihre Bindung steril ausfallen sollte, sahen dafür aber keinerlei ursächlichen Zusammenhang am Werk, gaben sich größte Mühe, sich fortzupflanzen, bevor sie sich dann schließlich für eine Adoption entschieden.

Gladys ist die Tochter von Nelly, Régis der Sohn von Charlie, und diese ganze kleine Familie auf i findet es unglaublich schade, dass mein Vorname dieser gleich- und wohlklingenden Abfolge soeben ein Ende gesetzt hat. Zu ihrem Unglück ist mein Vorname die einzige Sache, die ich von meiner biologischen Mutter habe, vorausgesetzt, dass sie auch wirklich die Autorin jenes Zettels ist, den man mir zwischen Body und Pyjama festgesteckt hatte: »Ich heiße Charonne.«

Zu meinen Anfangszeiten bei ihnen, als meine gesamte Familie auf i sich aktiv dafür aussprach, dass ich umgetauft werden sollte auf den Namen »Alice«, hätte ich selbst diesem unnützen Vermächtnis den Laufpass geben können, aber nein, ich hielt daran, ich klammerte mich daran fest. Trotz all meines guten Willens zur Integration wollte es mir scheinen, dass man mir dies doch zumindest zugestehen konnte, diese beiden Silben, die mich immer schon bezeichnet haben, und die eines Tages vielleicht ihre Erklärung finden sollten.

Während ich auf die Zeit dieser Erklärung warte, bewahre ich die gutmütigen Rundungen meines Vornamens inmitten all dieser spitzen Vokale, die permanent um meine Ohren pfeifen, wohnen doch sämtliche i unterm selben Dach, Nelly und Charlie auf der ersten Etage, Gladys und Régis auf der zweiten – die Küche und das Wohnzimmer im Erdgeschoss dienen als gemeinsame Räume.

Nach ihrem vergeblichen Versuch, sich meiner zu entledigen, bringen meine Adoptiveltern mich also zurück in die Nummer 27b auf dem Boulevard du Belvédère, in dieses Haus, das ich mindestens so sehr liebe wie die vier Bewohner. Seine willkommene Kühle empfängt mich schon beim Eingang, dem einzigen Raum, der nicht mit achteckigen Kacheln, sondern mit großen, gelbgrauen Blümchenfliesen ausgelegt ist. Während Gladys und Régis grummelnd in ihre elterliche Suite dort oben unterm Dach zurückkehren, begebe ich mich in die Küche. Nelly ist bereits dort, auf ihrem hohen Hocker einem aufgepflanzten Vogel gleichend:

»Ah, bist du wieder da? Haben sie dich behalten?«

»Na klar.«

Mit größter Vorsicht unternimmt sie es, von ihrer Hühnerstange herabzusteigen. Ihre Hand hebt an, meine beiden wollenen Bommeln zu streicheln, die mir als Zöpfe dienen.

»Hast du Hunger?«

Ich sage aus Gewohnheit und um Nelly, die es liebt, mich zu füttern, nicht zu enttäuschen Ja, in Wahrheit aber ist heute doch auch kein einziger Trost zu erwarten, weder vom Essen, noch von irgendetwas oder irgendjemandem: Die Traurigkeit ist viel zu groß und ich bin viel zu klein. Meine Adoptivgroßmutter wirbelt in ihrem Wickelkleid aus dunkelblauen und roten Rauten herum, hopp, die Nutella im Einbauschrank, hopp, die Packung Apfelsaft, hopp, die buttrig glänzende, zopfförmige Brioche: In kürzerer Zeit als man es aussprechen kann, steht alles vor mir auf dem großen dunklen Holztisch. Innerhalb eines Jahres hat meine Großmutter gelernt, mich zu verstehen und sie weiß, was ich liebe.

»Wie viele Scheiben willst du?«

Da ich mit der Antwort zögere, bemerkt sie endlich meinen erschütterten Gesichtsausdruck und fällt über mich her, Starenflug, der sich in den Hafer stürzt, entsprechend der Boscher-Methode, dem kolorierten Handbuch, mit dessen Hilfe sie es unternommen hat, mir das Lesen beizubringen. Erneut wagt ihre Hand die Berührung meiner Stirn, meiner Wangen, meiner Ohren mit einer leichten, aber unruhigen Liebkosung. Ohne etwas zu sagen, richtet sie ihre berühmten blauen Augen auf mich, diese Augen, die so viele Männer haben erschaudern lassen mit ihrem himmelblauen Schimmer und Saum aus dunklen Wimpern, wie sie bei einer Blonden so wundersam sind. Die meinen schwimmen plötzlich in schweren Tränen, die mir die Wangen hinunterlaufen und meine kleine Großmutter erschrecken, diesen Vogel, dem gegenüber ich mit heftigen Emotionen für gewöhnlich sparsam umgehe. Sie zieht mich an sich heran, drückt mich gegen das Rautenkleid und ergießt sich in beruhigendes Gurren:

»Ich weiß, ich weiß. Sie sind zu dumm, was soll man machen. Aber ich, ich bin sehr froh, mein Zicklein, dass du da bist.«

Ich wische umgehend meine Tränen trocken, lege meinen Kummer für später zur Seite und frage:

»Können wir uns deine Paris Match ansehen?«

»Willst du nicht ein wenig essen?«

»Nein, ich will erst die Paris Match anschauen.«

Sie seufzt, als hätte sie es satt, zum tausendsten Mal ihre alten Hefte durchzublättern, aber das ist reine Koketterie. Sie liebt es ebenso sehr wie ich, und sie zögert keine Sekunde, einen ordentlichen Stapel herbeizuschleppen, und ihn auf den zuvor sorgsam abgeputzten Tisch zu legen.

»Nimmst du keine Handschuhe?«

»Aber gewiss doch, für wen hältst du mich?«

Sie besitzt Handschuhe aus Ziegenleder, betörend schön, sehr fein, eine zweite Haut, die sie stets überzieht, um ihre alten Magazine zu handhaben. Ohne das, sagt sie, würden die Seiten am Ende grau werden und kaputtgehen, und das, das ist ausgeschlossen. Es muss erwähnt werden, dass es sich um Sammlerstücke handelt, Nummern, die aus den 50er oder 60er Jahren stammen, und in denen sie auf den ersten Seiten auftritt, Nelly Chastaing zu ihren Glanzzeiten, ein Glanz, von dem ich nur die sterbenden Flammen auffange, der es aber dennoch nicht versäumt, mich zu blenden. Nelly kann sich noch so sehr auf die achtzig zubewegen, sie bewahrt, was anderen den Kopf verdreht.

Auf dieser Nummer vom März 1962 trägt sie ein mit einem doppelten Perlensaum verziertes Twinset in einem pulvrigen Fuchsienrot. Damals war ihr, so viel ich weiß, jeglicher Schatten eines Kummers oder einer Enttäuschung noch fremd: Sie war stets schön, glücklich, gefeiert, und das sieht man den Fotos an, auf denen sie mit weißen, wohl aneinandergereihten Zähnen strahlend offen lacht. Die Reportage zeigt sie in den Armen von Fernand, ihrem ersten Ehemann, dem klugen Entdecker ihrer nixenartigen Schönheit und ihres natürlichen Talents. Er, er lächelt ebenfalls, aber mit weniger perfekten Zähnen und einem spöttischen Ausdruck, der wahrscheinlich des Fotos wegen aufgesetzt ist: Nelly und Ferdinand haben von Anfang an verstanden, die Legende zu verkaufen, die da wollte, dass er der pfiffige Manager eines eben erst seines ländlichen Lebens mit all seinen feuchten Auen und den sich neigenden Gräsern entrissenen Kindes war. Dass Nelly aber die Tochter eines Kaufmanns aus Toulon ist und immer schon zwei Schritte vom Cours Lafayette entfernt gelebt hat, das kam dann eben in ihrer offiziellen Biografie gar nicht erst vor. Eine weitere, auf den Juni 1958 datierte Bildreportage zeigt sie mit nackten Füßen in einem Flussbett oder ausgestreckt im wilden Gras, und zwar für eine fingierte Rückkehr zu den Quellen, die sie heute Tränen lachen lässt:

»Sie hatten von mir verlangt, dass ich mich im Stroh wälze, kannst du dir das vorstellen? Und dass ich neben einer Ziege posiere und behaupte, dass ich Herden gehütet hätte, als ich klein war!«

»Ich mag Ziegen, Ziegen sind freundlich.«

»Da irrst du dich gewaltig, Ziegen sind äußerst boshafte Tiere. Man muss ihnen nur in die Augen schauen, um es zu verstehen. Hast du jemals schon die Pupille einer Ziege gesehen?«

»Die was?«

Mit leicht zittrigem Zeigefinger zeigt sie auf ihre eigenen Augen, die so viele andere zum Weinen gebracht haben, all diese schüchternen und schließlich abgewiesenen Liebhaber, all diese allein zugunsten von Fernand und Charlie ausgeschalteten Verehrer – denn sie hatte, sagt sie, nur zwei Männer in ihrem Leben, was mir heute, da ich alt genug bin, um darüber zu urteilen, sowohl zu viel als auch zu wenig erscheint.

Dass man sich nicht täusche, ich bin für die gelebte Exklusivität von Liebesbeziehungen, wie meine Eltern schließlich auch, die nie mit jemand anderem geschlafen haben; wenn es einem aber nicht gelingt, sich an einen und ausschließlich einen Partner zu halten, dann doch bitte gleich die Vielzahl: Zwei, das macht keinen Sinn, drei auch nicht, vier auch nicht, all diese mittelmäßigen Spielstände, die niemals ausreichen, um sich weder eine Vorstellung von der körperlichen Liebe zu machen, noch von der Liebe überhaupt. Mit drei oder vier Liebhabern für großzügig gerechnet fünfzig Jahre sexueller Aktivität, läuft man Gefahr, dass man sich verzettelt, ohne jegliche Garantie, dass dieses Verzetteln nutzbringend sein oder man aus ihm irgendeine Lehre ziehen könnte.

»Siehst du, dies hier, das ist die Pupille: das kleine schwarze Rund.«

Ich schiebe die Paris Match von mir, die buttrig glänzende Brioche, und selbst die Vorstellung einer Ziege mit senkrecht stehenden Pupillen und Unheil bringenden Absichten: Ich bin müde und möchte diesen an Gefühlen reichen Tag beschließen. Kinder kennen gleich den Toten große Schmerzen, Schmerzen, die sie verblüffen, können sie doch weder deren Sinn noch deren Ende absehen.

Nelly geht mit mir hinauf bis in mein Zimmer. Meine Eltern haben es vorgezogen, mich auf der ersten Etage unterzubringen, anstatt mich ihre lichtdurchflutete Brautsuite mit ihnen teilen zu sehen. Ein Kinderzimmer hätte die Aufteilung ihres Lofts unterm Dach verunstaltet, diesen Raum, den sie selbst geschaffen haben, indem sie bei dem vergeblichen Versuch der Vereinfachung und Klärung ihrer kleinen, dunklen Existenz Zwischenwand um Zwischenwand niedergerissen haben. Ich verkünde, dass ich schlafen gehen werde, und beginne, mich auszuziehen, mir das gesmokte Kleid über den Kopf zu streifen und es auf den Aubusson-Teppich mit Lilienmuster gleiten zu lassen.

»Aber es ist erst sechs Uhr! Und du hast noch nicht einmal gegessen!«

Ausnahmsweise werde ich zu Bett gehen, ohne gegessen zu haben, das wird mir nicht schaden. Ich werde mit dem Kopf voran unter die Blümchensteppdecke kriechen und dabei deren wattierte Zartheit empfinden, werde das Licht schemenhaft durchscheinen sehen, und wie ein Feldhase in meiner Grube sein, selig, geschützt, kurz vor dem Winterschlaf. Die großen Schmerzen werden warten, bis ich selbst groß bin.

Während ich mein Vorhaben umsetze, murrt und wühlt Nelly ein wenig umher, hebt mein Kleid auf, klopft ein Kopfkissen zurecht, zieht die Vorhänge zu und reicht mir schließlich eine Stoffpuppe mit Leinenzöpfen:

»Hier, nimm die: Sie wird mit dir schlafen.«

»Sie kann nicht schlafen, schau: Sie hat die Augen offen.«

Und tatsächlich sind sie ihr direkt aufs Leinengesicht gemalt, im selben Blau wie bei Nelly, doch für immer aufgerissen. Auch die Zöpfe sind blau, ebenso das ärmelfreie Kleid mit seiner Bauchtasche, das Damenhütchen mit seinem Spitzenvolant und die mit Spitze befransten Socken. Diese Puppe ist das erste Geschenk, das meine Adoptivmutter mir bei meiner Ankunft hier gemacht hat. Sie hatte sie mir feierlich hingehalten:

»Hier, die gebe ich dir. Sie hat mir gehört, als ich klein war, sie heißt Alice.«

Da Alice der Vorname ist, den man mir verpassen wollte, sah ich die Puppe auf Anhieb schief an und traf die Entscheidung, bis zu meinem letzten Atemzug Charonne zu heißen.

In Unkenntnis über meine Abscheu und den Widerwillen, den ich gegen diese Rivalin mit ihren weichen, langen Beinen und ihren Augen, die ebenso aufgemalt und ausdruckslos sind wie ihr Lächeln, nähre, steckt Nelly sie unter die Decke, damit sie mir im Unterschlupf Gesellschaft leiste, in welchem ich doch allein sein möchte.

»Nein, ich will die nicht! Nimm sie weg!«

»Aber was machst du denn da, Charonne! Willst du dich nicht richtig hinlegen? Du wirst vor Hitze vergehen da drunter!«

Hör an, vergehen, das ist eine gute Idee! Da ja eh niemandem wirklich daran gelegen ist, dass ich lebe, angefangen bei derjenigen, die mir vor inzwischen sechs Jahren das Leben geschenkt hat und die sich mitnichten fragt, wie ich wohl weitermache. Nellys Stimme dringt wie von fern und abgedämpft von der Dichte der provenzalischen Steppdecke zu mir:

»Raus da jetzt, aber sofort! Willst du, dass ich zur Ziege werde?«

Schon wieder die Ziegen, das ist eine fixe Idee. Aber ich kann selbst auch eine sein, kann ihren bockigen Eigensinn haben, ihr hochmütiges Kinn, die gehörnte Stirn, die in der Erde beziehungsweise in gesteppter Baumwolle wühlt, als ginge es darum, in ihr die bunt durcheinandergewürfelten großen und kleinen Schmerzen zu bestatten, die Schwierigkeit, zu sein, und die noch größere, nichts zu sein.

Nelly lässt mich schließlich in Frieden, ich darf beruhigt sein: Niemand wird kommen, um zu prüfen, ob ich in meinem improvisierten Bau nicht mangels Sauerstoff zu Tode gekommen sein mag. Ich werde ein gutes Stück später wieder erwachen, verschwitzt, zerzaust, und zwar hinein in diesen Sommernachtstraum, der mich bis heute verfolgt. Ich werde aus dem Bett steigen, mit dem Ziel, in die Küche zu gehen und mir dort ein Mitternachtsmahl zu kredenzen, wie ich es manchmal mit den Resten des Vorabends tue, so unersättlich wie ich bin – niemals zufrieden, nennen es meine falschen Eltern. Nur, dass ich, anstatt die wunderliche Treppe tapsend hinabzusteigen, für einen Moment im Flur der ersten Etage zwischen dem Zimmer meiner Großeltern, ihrem Bad und Büro herumirre. Und an die Tür dieses Büros habe ich soeben geklopft, angetrieben von ich weiß nicht welcher Lockung, die der brütenden Hitze geschuldet sein mag, den Schreien der Viecher im nahegelegenen Zoo, meinem eigenen Kummer ohne Gegenmittel, oder irgendwelchen kindlichen und genialen Intuitionen – denn mir wird geantwortet; wider alle Erwartung ruft eine schwache, aber sichere Stimme durch die mit Leder überzogene und von grünen Bronzeleisten verzierte Tür hindurch: »Treten Sie ein!«

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und dringe in dieses Zimmer vor, das ich kaum kenne. Wenn ich zweimal im Jahr meinen Fuß hier hineingesetzt habe, dann war das gleich das Ende der Welt. Das Ende der Welt, zweifellos bin ich dort, sind wir beide dort, ich und jener Unbekannte, der träge Charlies Ottomane besetzt, ein hochherrschaftliches Möbelstück, das er von seiner Mutter hat. In dem vertraulich ausgestrahlten Licht einer turmalinblauen Nachtlampe erkenne ich ein ausgemergeltes Gesicht, das seinerseits ebenfalls bläulich ist, sowie eine Hand, die sich mir entgegenstreckt und für einen Augenblick in der qualmigen Luft innehält, bevor die Stimme sich dann erhebt:

»Aber wer bist du denn?«

»Charonne.«

»Charonne, soll das ein Vorname sein?«

Ja, es ist einer, danke, dass Sie Notiz davon nehmen. Es ist sogar derjenige, den ich hartnäckig wider alle elterlichen Angriffe verteidigt habe, wider sämtliche Versuche, mich von ihm zu lösen, obgleich er doch das Einzige ist, was mir von meiner wahren Mutter geblieben ist, jener, die mich mangels Kenntnis meiner Person nicht geliebt hat.

Der Unbekannte stemmt sich auf einen Ellenbogen, um mich besser fixieren zu können, und ich halte seinem inquisitorischen Blick stand. Nach diesem Tag, den ich hinter mir habe, nach dieser zweiten weitaus schlimmeren Aussetzung als der ersten, kann mich kein einziger nächtlicher Besucher, kein einziges blaues Gespenst in Angst und Schrecken versetzen.

»Und du, wie heißt du?«

»Roger. Aber du kannst mich Coco nennen.«

»Bist du ein Freund von Nelly und Charly?«

»Das kann man so sagen.«

»Wohnst du hier?«

»Ja. Und du?«

Hier zu wohnen, nun, das ist gewiss meine Absicht, aber kein einziges sechsjähriges Mädchen entscheidet selbst weder über sein Leben noch über seinen Wohnort, und was mich betrifft, liegen die Dinge viel zu kompliziert, als dass ich mich dieser nächtlichen Erscheinung öffne. Er zerdrückt ingrimmig in einer mit Goldstreifen verzierten und bereits bedrohlich mit Kippen überfüllten Bonboniere seine Zigarette und fährt mit seiner Einvernahme fort:

»Kannst du lesen?«

Auch hier, was antworten? Die farbenfrohen Tafeln der Boscher-Methode fallen mir sofort ein: Kindliche Reigen, zurück von den Feldern, Klatschmohn, der sich mit reifen Ähren mengt, während ich schwerfällig unter Nellys Zuchtrute die Silben vortrage: Toto war stur. Papa hat Toto bestraft. Trotz seines Eigensinns, scheint Toto ein braver Junge zu sein, das Kleine isst sein weichgekochtes Ei, Maman näht wieder und wieder Dédés Mäntelchen: Ich kann, was man mir unter die Nase hält, noch so sehr enträtseln, ich spüre doch, dass mir ein wichtiges Geheimnis entgeht:

»Ein wenig kann ich lesen.«

»Wie alt bist du?«

»Sechs.«

»Ich habe mit vier lesen können.«

Er macht es sich wieder auf der Ottomane bequem, als wäre er von seinen Kindheitserinnerungen in den Bann gezogen. Trotz der erstickenden Hitze trägt er über seinem Hemd eine Jacke, ein bräunliches Wollgewebe in Fischgrätenmuster, ein altersloses Kleidungstück, alterslos wie er selbst.

»Das nächste Mal bring mir ein Buch mit, ja, würdest du das tun?«

Ich lasse mich darauf ein und kehre zurück in mein Zimmer. Unfähig, wieder einzuschlafen, hieve ich mich auf die schmiedeeiserne Brüstung, die einen winzigen Balkon abgrenzt, drei Reihen Terrakottafliesen, zwei Geranien, ich, festgekrallt an den Gitterstangen, die mir jedes Mal staubige Rostabdrücke auf den Fingern hinterlassen. Dieser Balkon ist mein Aussichtspunkt, mein Observierungsposten in der Takelage. Ich verbringe dort Stunden über Stunden, eingelullt vom Lärm des Boulevards und dem Rauschen der Blätter der Kastanienbäume – ganz abgesehen von der Kakophonie, die der zoologische Garten sporadisch entfesselt, und zwar tagsüber wie auch nachts, all dies Gezische, Gefauche und Elefantengeschrei, von dem Nelly und Charlie behaupten, dass sie es nicht hören würden:

»Bist du dir sicher, mein Zicklein? Denn es gibt im Zoo schon lange keine Tiere mehr, weißt du …«

»Seit 1987, um genau zu sein«, fügt Charlie bekräftigend hinzu, und hebt dabei einen weisen Zeigefinger in die Luft, wie er es bei jeder Äußerung tut, ganz gleich, was er von sich gibt.

Ich gebe mir gar nicht mehr erst die Mühe, sie über ihren Irrtum aufzuklären, weder bei diesen noch bei so manchen anderen Punkten. Sie sind taub wie Tonköpfe, diese beiden armen Alten, weigern sich aber energisch, sich Apparate anlegen zu lassen, und ziehen es vor, sich gegenseitig mit der Vorstellung eines dichtgemachten Zoos und verschwundener Tiere zu unterhalten.

In der blassen Nacht, die auf meine zweite Aussetzung folgt, höre ich sie, und zwar eindeutig, die Tiger, die Elefanten, die Panter, die Adler; ich glaube, sogar etwas von ihrer Trostlosigkeit und ihrem Zorn zu verstehen, aber ich kehre zurück ins Bett und lehne Alice gegen ihr Kissen, bevor ich unter meine Wühlmulde gleite. Morgen früh wird mich Nelly der Regel entsprechend vorfinden: ein kleines Mädchen wie es sich gehört, und keine aus seinem Bau hervortretende wilde, heißhungrige, unbändige Bestie. Ich schlafe über einer Liste guter Vorsätze ein, darunter der, weise zu sein, lesen zu lernen, und zwar so schnell wie möglich, und niemandem gegenüber auch nur ein Sterbenswörtchen von meinem nächtlichen Besucher zu erwähnen. Aber na bitte, mit dem Lebensschwung des Erwachens vergesse ich mein Schweigegelübde. Schlimmer, ich koche, ich will in allerhöchster Eile mit meinen Großeltern über ihren rätselhaften Gast sprechen, und kaum sitze ich am Frühstückstisch und lasse freudetrunken meine Beine über den Sessel baumeln, entfährt es mir:

»Ich habe den Monsieur gesehen, heute Nacht!«

»Welchen Monsieur denn, mein Zicklein?«

»Den Monsieur von Charlie!«

Nelly stößt darüber ihre Tasse Tee um, jene Tasse, die sich um ein Spiel zarter, die knittrige Krone der Mohnblume imitierender Ranken erweitert, ein Geschenk aus Ladakh, das ihr Gladys und Régis mitgebracht haben, jene großen Reisenden, die sich stets viel lieber auf Trekkingtouren begeben, auf Safarireisen, auf Kreuzfahrten, auf Kamelwanderungen, als ruhig zu Hause zu bleiben und bei ihren Eltern für den Rest derer Tage zu leben, ganz abgesehen davon, dass sie nun ein kleines Mädchen haben, das all ihre Fürsorge verlangt, aber siehe da, genau das ist zu viel für sie, diese Mühen, die sie für andere aufbringen müssten: Der Freude des Familienheims ziehen sie hundert Mal lieber die Unerbittlichkeiten des Himalayas vor, den gesattelten Rücken eines Kamels, und die diversen Costa Concordias.

»Der Monsieur von Charlie?«

Er ist da, ausgerechnet er, Charlie. Und wenn er seine Tasse nicht umstößt, so wirkt er dennoch nicht weniger erstaunt und wütend:

»Was erzählt die da? Welcher Monsieur?«

Ich lasse mich weder von seinem zänkischen Ton noch von seinem Blick aus der Fassung bringen, mit dem er mich durchbohrt.

»Es gibt einen Monsieur, der im Arbeitszimmer schläft. Ich habe ihn heute Nacht gesehen.«

»Und warum sagst du, dass es der Monsieur von Charlie ist?«

Tja, das stimmt, warum eigentlich? Nelly wischt ihren Tee mit zittriger Hand auf, und ich suche nach einer Antwort, die ihre Erregung beruhigen könnte, aber nein, ich finde keine. Vielleicht eine ähnliche Darbietung von Eleganz? Er war gebügelt und gestriegelt, mein nächtlicher Besucher. Mir schien sogar, ich hätte Manschettenknöpfe an ihm glänzen sehen. Nun, in dem engen Zirkel meines Umgangs ist Charlie der einzige Mann, der welche trägt. Silberne Spitfires, rotgoldene Geneva oder Sphere mit zweifarbigen Posamenten, für jegliche Gelegenheit die passenden Stücke, und wenn ich hier das Kapitel der Outfits meines Großvaters eröffne, ist damit nicht zugleich gesagt, dass ich es auch eines Tages werde abschließen können. Anstatt zu argumentieren, verschlinge ich einen ersten Bissen vom Croissant, den ich kaue, wie man es mir beigebracht hat, um dergestalt zu zeigen, dass ich ein kleines, wohlerzogenes Mädchen bin und es bedauere, unüberlegt gesprochen zu haben. Wir müssen nur zu etwas anderem übergehen, ein Thema finden, das niemanden erschreckt:

»Können wir die Boscher-Methode vornehmen? Ich habe Lust zu lesen.«

Charlie murrt vollkommen verständlich und auf eine für mich anzügliche Weise. Der Vorteil bei meinen Großeltern besteht darin, dass sie alles aussprechen, was ihnen in den Sinn kommt. Lüge, Verbrämung und Schamgefühl überschreiten inzwischen sämtliche Sachkenntnisse, die gemeinsam mit dem Rest zur Neige gehen: dem Fleisch, der Knochensubstanz, dem Haar, dem Zahnschmelz. Sie sprechen alles aus und benötigen, um zu reden, nicht einmal mehr einen Gesprächspartner. Hält man sich auch nur in ihrer Nähe auf, kann man von ihrem ungeordneten Innenleben alles aufschnappen, diesem sich fortwälzenden Strom müßiger und häufig verdrossener Gedanken. Das mag für Nelly noch durchgehen, die sich im Vollbesitz ihres Geistes befindet, Charlie jedoch, der den seinen bereits langsam zu verlieren beginnt, vergisst jedes dritte Mal, dass ich seine Enkeltochter bin und begrüßt mich von daher mit ratlosen Formulierungen:

»Aber was hat die denn hier zu suchen, diese Negerin?«

Das Haus, in das ich vor inzwischen einem Jahr gekommen bin, um in ihm zu leben, ist ein Haus aus Glas, nichts verschleiert sich hier noch, der Rassismus ebenso wenig wie andere Sachen. Nelly kann ihren Ehemann noch so sehr abkanzeln, »aber ich bitte dich, das ist Charonne«, er wird doch rückfällig mit seinem senilen Eigensinn und seinen Witzen zwischen Negerkuss und Mohrenkopf aus dem vergangenen Jahrhundert, die mich nicht weiter stören. Und man schaue genau hin, ich bin nicht wirklich schwarz, meine Farbe entzieht sich jeglicher Festlegung, ich habe meine eigene Vorstellung bezüglich dieser Frage, die Vergewaltigung meiner ruandischen Mutter durch meinen belgischen Vater, eine Vorstellung, die in meinem Kinderhirn ja gerade erst aufkeimt.

Mit meinen sechs Jahren habe ich nur das Gefühl, dass es für die ganze Welt besser sei, wenn ich heller wäre, wenn mein Haar in flachsblonden Strähnen herabfiele und meine Augen unmittelbar auf den gespannten Stoff meiner Wangen aufgemalt wären und zwar im gleichen Blau wie die von Nelly oder dem des Scheinmohns aus dem Himalaya, das sie auf ihre noch immer bebenden Lippen aufträgt – aber was habe ich da nur gesagt, das sie in diesen Zustand versetzten konnte? Und Charlie beruhigt sich ja auch nicht, er, der außerhalb seiner Wahnschübe so liebenswürdig ist und mit mir eine zeitlose Galanterie kultiviert, die mir schmeichelt und mich begeistert.

Sie sind alt. Ich trete zu spät in ihr Leben. Sie vermögen ihre Erregung nicht mehr zu verbergen, ihre Stimmungen nicht mehr in Schach zu halten, ihre Sprache nicht zu drosseln. Ich trete nach der Verbrämung hinzu, nach der Scham, nach der self-control. Ihnen bleiben die guten Manieren, aber auch nur so gerade eben und unter der Voraussetzung, dass zuvor nichts die sichere Monotonie ihres Tagesablaufs gestört haben mag.

Noch immer voller Wut gegen die Negerin, schleicht Charlie spürbar steifen Schrittes immer wieder um den Tisch. An der Knopfleiste seiner Jacke hat er das Ziffernblatt einer Uhr festgeschnallt, eine winzige, rot emaillierte Anstecknadel aus der Region sowie zwei betresste Ordensbänder, aber der damit geschaffene ordenskundliche Eindruck hält dem näheren Blick nicht stand. Trotz der affektierten Steifheit seiner khakibraunen Jacke wird man ihn nicht wegen illegalen Tragens einer Uniform arretieren: Alles ist ordnungsgemäß, weil nichts es ist. An gewissen Tagen ist dem so, da lebt er in seiner militärischen Einbildungskraft, in seiner gegenstandslosen Parade, er, der nicht einmal am Algerienkrieg teilgenommen hat. An solchen Tagen ist er eher verkleidet als gekleidet, seine antiquierte Eleganz weicht Aufmachungen, für die Nelly sich ein wenig schämt: Seemannsleinenhosen mit roten Streifen, Reederblazer, Kriegerblousons oder Jacken mit steifen Epauletten, ordensgeschmückte Barette sowie andere Medaillen aus Talmigold.

Und Gott weiß, was er sich selbst erzählen mag, wenn er im großen Aufzug die Prachtstraße abschreitet, begleitet von einem Negerlein, das an seinem Schoßzipfel hängt. Das ist eine von Charlies guten Seiten: Er sträubt sich nicht dagegen, mich auf seine Gesundheitsspaziergänge mitzunehmen – nun gut, Gesundheit, das ist schnell dahingesagt, denn er kann noch so sehr die hygienischen Wohltaten seiner Spaziergänge ins Feld führen, sie bestehen im Wesentlichen doch aus einem methodischen Ablaufen der Kneipen im Viertel. Hochgehievt auf einen Barhocker, leiste ich zweifellos meinen Beitrag zu seinem klaren Erfolg, kennt doch jeder Charlies rückständige Meinungen über Immigration und ethnische Herkunft. Aber er scheint seine Schadenfreunde an den scharfsichtigen Scherzen zu haben, deren Gegenstand wir darstellen, er und ich, dort, in diesen Kneipen, die allesamt dem Front National ergeben sind.

»Ja aber Charlie, wo hast du denn die da gefunden?«

»Hast du etwa vergessen, sie zu waschen?«

»Ist das deine? Haste deinen Schwanz mal in ne schwarze Muschi gesteckt?«

»War’s geil? Ging rein wie in Butter, was, alter Sack?«

Wie man sieht, ist das Niveau ausgesprochen hoch. Charlies Freunde müssen der Meinung sein, dass ich genauso dumm wie schwarz bin – denn natürlich sehen sie mich als solche, unfähig wie sie sind, die Subtilitäten einer Rassenmischung zu erfassen. Das mag bei mir noch durchgehen, die ich gerade mal sechs bin und kaum irgendwelche Vorstellungen davon habe, was eine Unterhaltung zu sein vermag, wie aber nur kann Charlie, dieser erhabene Bourgeois, der von guten Patern aufgezogen wurde, bei jedem Satz so viele Schwänze und Muschis akzeptieren, ob nun schwarz oder nicht? Ich habe keine Ahnung. Laut Nelly hat er sich sehr verändert und raunt ihr seither ganze Salven an Obszönitäten zu, was er in den ersten Jahren ihrer Ehe niemals gemacht hätte.

»Er war ausgesprochen prüde, stell dir vor. Ich habe ihn sogar ein wenig aufklären müssen.«

Und doch, bei ihrer ersten Zusammenkunft waren Nelly und Charlie keine Grünschnäbel mehr: Er war vierzig und sie dreiundvierzig. Ganz abgesehen davon, dass jeder von ihnen bereits ein Kind hatte: Gladys, die Miniaturausgabe ihrer Mutter, und Régis, der ganz im Gegenteil zur nordischen Schönheit seines Vaters mit einer hitzigen Verführungskraft ausgestattet ist – was nicht verhinderte, dass sie ein hübsches Paar abgaben und eine spektakuläre, neu zusammengesetzte Familie.

»Die Leute haben sich umgedreht, ja, ja, wirklich. Man will es kaum glauben, wenn man Gladys und Régis heute so sieht, aber sie waren einfach sensationell.«

Was meinen Vater betrifft, so habe ich keine Ahnung, aber wir berühren hier, was das Drama im Leben meiner Mutter ausmacht: Nachdem sie zunächst ein kleines Mädchen von atemberaubender Schönheit gewesen ist, wurde sie zu einer x-beliebigen, ja geradezu unattraktiven Jugendlichen und dann Erwachsenen. Die Pubertät hatte gewirkt, wie sie es manchmal tut, wenn sie einen glänzenden Schwan in eine hinkende Ente verwandelt. Da ich die von Nelly liebevoll gepflegten und mit Legenden versehenen Fotoalben durchgeblättert habe, kann ich die Verwandlung bezeugen. Mit vier, mit sieben und noch mit neun Jahren war Gladys geradezu fulminant: Ihr silberglänzendes Haar fiel in Stufen über ihre Schultern, ihre Augen verjüngten sich an ihren Schläfen, und ihre Nase ging sichtbar aus einem von Gott geschmiedeten Plan hervor. Abgesehen davon, dass sie jedes Mal, wenn das Objektiv auf sie gerichtet ist, strahlend lächelt und sich dabei glücklich ihres Charmes und all dessen, was ihr die Zukunft bereithält, bewusst ist. Zwei Jahre später, zack!, entstellt eine massige und rotgesichtige Jugendliche sämtliche Schnappschüsse ihres persönlichen Albums. Die Veränderungen lassen schwer auf etwas rückschließen, noch schwieriger sind sie zu benennen, aber die Katastrophe hat stattgefunden. Die zierliche Silhouette, die zarte Hautfarbe, das aschfarbene Blond, die Klarheit und Lebhaftigkeit des Blicks sind einem bleifarbenen Teint gewichen, einem erloschenen Auge, glanzlosem und gekräuseltem Haar, einem Kuhnacken, tief liegenden Brüsten, und einer nicht vorhandenen und von Nelly, deren ästhetische Grundbegriffe der Belle Époque entspringen, als abstoßend empfundenen Taille. Dabei muss man wirklich anerkennen, dass sie selbst in Sachen Taille und auch bei allem anderen von der Natur verwöhnt worden ist: Nelly, heute vierundachtzig Jahre alt, ist noch immer auf ideale Weise blond und schlank. Sicher, ihr Blond ist in nicht geringem Maße den Kunstgriffen ihres Friseurs geschuldet, was aber den Umfang ihrer Taille betrifft, so kann ich bezeugen, dass alles echt ist: Kein Hüftgürtel und auch kein Korsett, schlicht eine Hungerdiät, gegen die sie seit ihrer Menopause nicht verstoßen hat.

»Nach fünfzig Jahren, meine arme Charonne, kommt uns alles zugute: einen Kuchen anzuschauen reicht, und hopp, schon hast du 500 Gramm zugenommen!«

Sie wirft mir einen brutalen Blick zu – von jener Brutalität, zu der sie fähig ist, die einen aber wohl immer überrascht bei einer Frau, die ihr Umfeld ans Gurren und gezierte Benehmen gewöhnt hat. Ich kann mich noch so sehr auf meinem Stuhl winden, den Kopf senken und ein wenig vor mich hin summen, ich weiß doch sehr genau, was sie mit ihrem spitzen Blick taxiert: Meine eigene Taille, die unter dem Fett verschwunden ist, meine Waden, die dreimal so dick sind wie die ihren, und das Herunterhängen meiner Bauchwülste unter dem T-Shirt. Möchte man eine klinische Bilanz ziehen, dann ist meine verpfuschte Adoption ein wahrer Erfolg: Meine Eltern haben aus einem leidenden und bleichen Kind ein vor Gesundheit nur so erstrahlendes Mädchen mit prallen und leuchtend roten Wangen gemacht. Aber bitte, anstatt sich darüber zu freuen, hören sie nicht auf, mir all diese durchschlagenden Zeichen körperlichen Wohlergehens vorzuwerfen: meine Korpulenz, mein dichtes Haar und die gefährliche Pigmentierung meines Teints. Es ist im Übrigen die ganze auf i endende Familie, die sich verbündet, um meine Fettleibigkeit niederzuschreien. Es muss festgehalten werden, dass sie alle vier von beneidenswerter Schlankheit sind, was bei Nelly schon fast Kachexie bedeutet. Was Gladys betrifft, so zieht sie den bestmöglichen Vorteil aus einem schweren Knochenbau und einer besonders stark ausgebildeten Muskulatur – geschuldet den Schwimm- und Tenniskursen, die man sie während ihrer gesamten Kindheit wohlmeinend hat wahrnehmen lassen, und über die sie sich heute bitter beschwert:

»Ihr hättet daran denken können, oder etwa nicht?«

»Woran denken können, mein Herz?«

»Dass Ihr mich zu viel Sport habt treiben lassen. Das hat mein Wachstum gehemmt. Ich bin in die Breite gegangen anstatt mich zu verfeinern.«

Und es stimmt, dass sie kurz ist, gedrungen, mit anormal großgewachsener Delta- und rückseitiger Oberschenkelmuskulatur, aber ohne einen Funken Fett, und das, das muss man wirklich anerkennen.

»Aber du hast das geliebt! Du warst doch diejenige, die immer noch mehr wollte!«

»Ich war klein. Es wäre an Euch gewesen, mich zur Vernunft zu bringen und Maß halten zu lassen.«

Aber meine Mutter ist eine wütende Frau. Sie ist auf die ganze Welt sauer, angefangen bei ihrer eigenen Mutter, die dafür nun zur Rechenschaft gezogen wird, ihrer Entwicklung zu große Bedeutung zugemessen zu haben, ihr zu viele kulturelle und sportliche Aktivitäten vorgeschlagen zu haben, zu viele Reisen ins Ausland, zu viele Aufenthalte beim Wintersport, zu viele Feinschmeckerrestaurants.

»Wenn ich nur daran denke, dass ihr mich ins Grand Véfour geschleppt habt, obwohl ich noch nicht einmal acht war!«

»Wir haben es gut gemeint, mein Herz.«

Es stellt sich heraus, dass laut Gladys der Leidensweg bereits mit ihrem uterinen Leben begonnen hatte:

»Du bist sechs Monate lang im Bett geblieben! Meinst du, es sei gut für ein Baby, in einem Fruchtwasser zu baden, das sich niemals bewegt? Niemals die Bewegungen seiner Mutter zu spüren? Durch ewiges Stagnieren muss es durch und durch übelriechend geworden sein, ja sogar toxisch!«

»Vor dir hatte ich bereits fünf Fehlgeburten: Es war Dr. Laugier, der mir geraten hatte, im Bett zu bleiben. Man hat mir sogar eine Cerclage gelegt, stell dir nur vor: ansonsten hätte ich dich verloren, wärest du nie geboren worden.«

Bei dieser Aussicht füllen sich Nellys Augen mit Tränen. Aber diesen Augen, die so viele Männer in den Ruin geführt haben, war es noch nie gelungen, Gladys zu rühren, sie, die sie nur eine fade Version dieser berühmten Pupillen geerbt hat, deren Blau sich bei ihr in einer brühigen Nuance färben – ganz abgesehen davon, dass ihnen unentwegt Bitterkeit eingespritzt wird.

»Und wenn ich nur daran denke, dass du mich nicht einmal gestillt hast!«

»Weißt du, das machte man damals eigentlich nicht so wie heute. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, es war weniger in Mode, ganz einfach. Und dann wollte dein Vater nichts davon wissen: Er hatte Angst, dass mir das die Brust lädiert.«