Elena ALEXIEVA wurde 1975 in Sofia geboren. Sie studierte Internationale Beziehungen und promovierte im Fach Literaturwissenschaft in ihrer Heimatstadt. Dort lebt und arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin und Autorin.
Insgesamt hat Alexieva 13 Bücher veröffentlicht, u. a. die Erzählbände »Chitatelska grupa 31« (»Lesegruppe 31«, 2005), »Koi« (»Wer«, 2006) und »Sindikatat na domashnite liubimtsi« (»Das Syndikat der Haustiere«, 2010), die Romane »Ritsarat, diavolat, smartta« (»Der Ritter, der Teufel, der Tod«, 2007) und »Nobelistat« (»Der Nobelpreisträger«, 2012). Alexieva schreibt auch Theaterstücke – 2014 erschien »Angelski ogan« (»Engelsfeuer«) und 2015 »Zhertvi na liubovta« (»Liebesopfer«). Die Autorin erhielt zahlreiche Preise für ihr Werk, darunter den Helikon-Preis für zeitgenössische bulgarische Prosa (2006) und den Asker für Theaterkunst (2013).
Yordanka BELEVA gewann erste Preise bei verschiedenen Wettbewerben für Prosa und Lyrik in Bulgarien. Ihre Texte wurden ins Englische, Deutsche, Kroatische und Arabische übersetzt.
Von ihr erschienen die Gedichtbände »Penioari i ladii« (»Morgenmäntel« und Kähne«) und »Й«( »J«), sowie zwei Bände mit Kurzgeschichten: »Kliuchove« (»Schlüssel«) und »Nadmorskata visochina na liubovta« (»Die Höhe über dem Meeresspiegel der Liebe«).
Silvia CHOLEVA, geboren 1959 in Sofia, ist Dichterin, Schriftstellerin, Verlegerin und Journalistin. Zu ihren Werken zählen sechs Gedichtbände, zwei Bücher mit Fragmenten, ein Roman, ein Kurzgeschichtenband und zwei Theaterstücke. Cholevas Lyrik wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Die Autorin gewann die Preise » Ivan Nikolov « für Lyrik, » Christo G. Danov« und eine Auszeichnung des Kulturministeriums in Bulgarien. Als Journalistin arbeitet sie beim Bulgarischen Nationalradio, wo sie eine Kultursendung moderiert, sowie als Redakteurin für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften mit dem Schwerpunkt Kultur. Silvia Choleva unterrichtete an drei Universitäten in Sofia. Im Jahr 2012 gründete sie gemeinsam mit Iglika Vassileva und Kaloian Ignatovski in Sofia den Lyrik-Verlag DA.
Peter DENCHEV, studierte Theaterregie an der Kunstakademie »Krastio Sarafov« in Sofia (Abschluß 2010). Er wurde in verschiedenen Prosa- und Lyrikwettbewerben in Bulgarien nominiert und ausgezeichnet. Seine Kurzgeschichten »Istorii v minalo vreme« (»Geschichten im Präteritum«) sind in Bulgarien 2010 erschienen, sein Roman »Tihoto sartse« (»Das stille Herz«) im Jahr 2012. Einige seiner Geschichten sind ins Serbische, Mazedonische und Englische übersetzt worden.
Als Regisseur hat Denchev an allen größen Bühnen in Bulgarien inszeniert, vor allem Texte von Edward Albee, Jordi Galceran Ferrer, Shakespeare und Molière. Seine Inszenierungen gastierten auf Festivals im Kosovo, in Serbien und Rumänien.
Kristin DIMITROVA, geboren 1963 in Sofia, ist Autorin des Romans »Sabazij« (»Sabazios«) sowie von elf Gedichtbänden und zwei Erzählbänden. Außerdem hat sie zahlreiche Gedichte aus dem Englischen übersetzt. Texte der mehrfach preisgekrönten Autorin und Übersetzerin wurden bereits in 27 Sprachen übertragen und sind in 35 Ländern erschienen.
Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit lehrt sie an der Fakultät für Westeuropäische Sprachen an der Sofioter Universität »Hl. Kliment Ohridski«, an der sie selbst englische Philologie studiertе und später im Fach Kommunikationswissenschaft promovierte.
Dejan ENEV, geboren 1960 in Sofia, studierte bulgarische Philologie an der Sofioter Universität »Hl. Kliment Ohridski«, arbeitete unter anderem als Anstreicher, Lehrer und Journalist. Für seine Kurzgeschichten erhielt Enev zahlreiche Preise in seiner Heimat Bulgarien. Er veröffentlichte insgesamt über 20 Bücher – mehrere Bände mit Kurzgeschichten, Essays und Lyrik. Im Jahr 2008 erschien auf Deutsch beim Deuticke Verlag der Erzählband »Zirkus Bulgarien«, übersetzt von Norbert Randow und Katrin Zemmrich. Das gleiche Buch erschien zwei Jahre später auch in England bei Portobello Books, London, übersetzt von Kapka Kassabova. »Zirkus Bulgarien« wurde 2010 und 2011 in der Longlist des Frank O`Conner Preises empfohlen.
Vassil GEORGIEV, geboren 1975, ist Autor von drei Erzählbänden: »Budistki plazh« (»Buddhistenstrand«, 2008), »Verfall« (2011), erschienen auf Deutsch bei Ink Press Verlag (2015), und »Ulichnik« (»Straßenjunge«) sowie zwei Romanen: »Apparat« (2013) und »Ex Orbita« (2016). Seine Geschichten wurden ins Tschechische, Mazedonische, Deutsche und Polnische übersetzt. Der Erzählband »Verfall« gewann 2011 den Helikon-Preis für zeitgenössische Prosa. »Apparat« wurde 2014 Roman des Jahres in Bulgarien.
Vassil Georgiev ist promovierter Jurist, der als Rechtsanwalt und Universitätsdozent in Rechtswissenschaften tätig ist.
Georgi GOSPODINOV, geboren 1968, ist Dichter, Prosaschriftsteller und Dramatiker. Sein »Natürlicher Roman« ist in über 20 Sprachen erschienen.
Der Roman »Physik der Schwermut« (2012, deutsche Übersetzung 2014 im Literaturverlag Droschl) stand auf der Shortlist für den Brücke-Berlin-Preis (2014) und den Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt (2014).
Gospodinov hat auch zwei Theaterstücke geschrieben, von denen das zweite – »Die Apokalypse kommt um 6 Uhr abends« –
2010 den bulgarischen Asker-Preis für das beste Theaterstück des Jahres gewann.
Sein jüngstes in deutscher Sprache erschienenes Buch ist der Erzählband »8 Minuten und 19 Sekunden«, Literaturverlag Droschl, 2016. Georgi Gospodinov war von 2008 bis 2009 im Rahmen des Berliner Künstlerprogrammes des DAAD in Berlin zu Gast und erhielt 2012 ein Stipendium des Wissenschaftskollegs zu Berlin.
Im Sommersemester 2015 vertrat er die Siegfried-Unseld-Professur und unterrichtete Kreatives Schreiben an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Jahr 2016 erhielt Gospodinov den schweizer Literaturpreis »Jan Mihalski« für seinen Roman »Physik der Schwermut«.
Seine verfilmte Kurzgeschichte »Die blinde Vayscha« wurde im Jahr 2017 für den Oskar nominiert – in der Kategorie Bester animierter Kurzfilm.
Angel IGOV, geboren 1981, ist Autor der Romane »Krotkite«
(»Die Gehorsamen«) und »Kratka povest za srama« (»Kurznovelle über die Scham«) sowie von zwei Erzählbänden.
Der Roman »Krotkite« wurde in sechs Literaturwettbewerben in Bulgarien nominiert und mit dem Hristo-Danov-Preis ausgezeichnet.
Kurzerzählungen des Autors wurden u. a. ins Französische, Polnische und Ungarische übersetzt.
Igov unterichtet Englische Literatur und Übersetzen an der Sofioter Universität »Hl. Kliment Ochridski«.
Er war Rezensent für die Zeitung »Kultura«, die Zeitschrift »Menager« und die Fernsehsendung »5 po Richter«.
Er war Jurymitglied verschiedener Literaturwettbewerbe und übersetzt aus dem Englischen. In seiner Übersetzung erschienen in Bulgarien u. a. Romane von Paul Auster, Martin Amis, Ian McEwan, Angela Carter, John Banville, William Wortsworth und Samuel Taylor Coleridge.
Mirela IVANOVA, geboren 1962 in Sofia, ist Dichterin, Schriftstellerin und Journalistin. Sie besuchte das Deutsche Gymnasium in Sofia, danach studierte sie bulgarische und russische Philologie in Plovdiv. Ihr erster Gedichtband »Kamenni krile« (»Steinerne Flügel«) erschien 1985. Bisher veröffentlichte Ivanova 7 Gedichtbände in Bulgarien und 2 in Deutschland beim Wunderhorn Verlag Heidelberg – »Einsames Spiel« und »Versöhnung mit der Kälte«. Außerdem erschienen von ihr zwei Bücher mit Erzählungen – »Bavno«(»Langsam«) und »Vsichki razkazi sa za teb« (»Alle Erzählungen sind für Dich«) – sowie die Bücher – »Duma po duma« (»Wort für Wort«) und »Ploshtad Bulgaria” (»Platz Bulgarien«). Sie arbeitet als freiberufliche Journalistin für die Deutsche Welle und schreibt Drehbücher. Sie gewann u. a. den Hubert-Burda-Preis fur junge osteuropaische Lyrik (2002) und den BulgarischenNationalpreis »Hristo G. Danov« (2003). 2008/2009 nahm sie ein einjähriges Schriftstellerstipendium im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg wahr.
Zachary KARABASHLIEV, geboren 1968 in Varna, ist Autor von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und Drehbüchern. Mit 24 Auflagen gehört Karabashlievs erster Roman »18 % Grau« (2008) zu den erfolgreichsten Werken der neuen bulgarischen Literatur. Er wurde in viele Sprachen übersetzt, darunter ins Englische, Französische, Polnische, Russische und Kroatische. Außerdem wurde er 2009 mit dem VIK-Preis für den besten bulgarischen Roman ausgezeichnet. In der landesweiten Umfrage im Rahmen der Aktion »Das große Lesen« kam »18 % Grau« unter die 100 beliebtesten Bücher Bulgariens. 2017 sollen auch die Dreharbeiten für einen Spielfilm nach dem Roman beginnen.
Außer in Bulgarien wurden Karabashlievs Theaterstücke
u. a. in den USA, Deutschland und Portugal inszeniert. Das Theaterstück »Sonntag Abend« wurde mit dem Theaterpreis Asker ausgezeichnet (2009).
Weitere Werke dieses Autors sind u. a. die Bücher mit Kurzgeschichten »Symmetrie« und »Kurze Geschichte des Flugzeugs«.
Zachary Karabashliev kehrte nach 17 Jahren aus den USA nach Bulgarien zurück. Er lebt in Sofia und ist Chefredakteur des Ciela-Verlags.
Alek POPOV, geboren 1966 in Sofia, studierte Philologie an der Sofioter Universität »Hl. Kliment Ohridski« und war u. a. als Kulturattachee der bulgarischen Botschaft in Großbritannien und Nordirland tätig. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten, Essays und Theaterstücke. Heute lebt und arbeitet er in Sofia. Popov veröffentlichte mehrere Erzählbände und Romane. Für »Die Hunde fliegen tief« (2008 in deutscher Sprache erschienen) wurde er mit dem renommierten Elias-Canetti-Preis 2007 ausgezeichnet. Sein Roman »Mission London« wurde in 16 Sprachen übersetzt und im Jahr 2010 verfilmt. Der Film »Mission London« gehört zu den beliebtesten bulgarischen Filmen seit 1990.
Todora RADEVA wurde 1973 in Plovdiv geboren, studierte an der Sofioter »Hl. Kliment Ohridski« Kulturwissenschaften und blickt auf zahlreiche Veroffentlichungen in Bulgarien zurück.
Mit ihren Kurzgeschichten »Sieben Arten den Sari zu binden« gewann sie 2005 den Nationalpreis für literarische Debüts. Der Band wurde auf mehreren Buchmessen und Literaturfestivals präsentiert, u. a. in Wien, Belgrad und Leipzig. Einige Erzählungen daraus wurden ins Englische, Deutsche und Französische übersetzt (Veröffentlichung u. a. 2008 im Sammelband »Concertos pour phrase«).
Todora Radeva schreibt Drehbücher für das Bulgarische Nationale Fernsehen, leitet Kulturprojekte, ist in der Öffentlichkeitsarbeit und Werbung tätig und war mehrere Jahre die Programmdirektorin des Internationalen Sofioter Literaturfests, dem wichtigsten Literaturforum Bulgariens.
Alexander ŠPATOV ist Autor der Sammelbände »#LiveFromSofia« (2014), erschienen auf Bulgarisch und Englisch, und »Tom 2.0« (»Band 2.0«, 2015), der die überarbeiteten Versionen der Erzählungen seiner ersten drei Sammelbände enthält. Einer davon, »Belezhki pod linia«, erschien 2008 unter dem Titel »Fusnotengeschichten« im Wieser Verlag, Österreich. Im Jahr 2005 gewann Špatov den Debütpreis »Juzhna prolet« in Bulgarien sowie den Literaturpreis des Stadthauses Sofia für das Jahr 2015. Er ist Vorstandsvorsitzender eines gemeinnützigen Vereins, dessen Ziel das Entstehen neuer Leseräume in den Städten ist.
Todor TODOROV, 1977 in Sofia geboren, studierte Philosophie und arbeitet als Dozent an der Sofioter Universität »Hl. Kliment Ohridski«, wo er Philosophie des Mittelalters und der Renaissance, mittelalterliche arabische Philosophie, Geschichte der Philosophie und Fotografie unterrichtet. Für seine Erzählung »Van Gogh in Paris« ist er mit dem Rashko-Sugarev-Preis für die beste Kurzgeschichte ausgezeichnet worden. Er ist Autor der Erzählbände »Hexen, Mörder, Nixen, Dichter – Dunkelmagische Geschichten« und »Immer die Nacht«, erschienen 2012 bzw. 2016 beim Größenwahn Verlag. Der Autor ist ein Liebhaber der Nachtlesung und vertritt die Idee, dass Lesen und Träumen miteinander verwandt sind.
Silvia TOMOVA ist Autorin zweier Sammelbände mit Kurzgeschichten – (»Dobar den, R.« (»Guten Tag, R.«) und »Cherni maslini i dvama mazhe« (»Schwarze Oliven und zwei Männer«) –
und der Romane »Kozha« (»Haut«), »Tit ot Nikomedia« (»Tit aus Nikomedia«), »Pechatariat« (»Der Buchdrucker«) und »Milost za prijatelite « (»Erbarmen mit den Freunden« ). Tomova gewann 2007 den ersten Preis beim nationalen Wettbewerb für Kurzgeschichten »Rashko Sugarev« und 2010 den Preis für das Buch des Jahres der Akademie »Liber« im Jahr 2010. Ihre Texte wurden ins Kroatische, Polnische und Weißrussische übersetzt. Der Roman »Pechatariat« wurde im Jahr 2016 fünfmal für Literaturpreise in Bulgarien nominiert und gewann den Preis »Vanja Konstantinova«.
Emanuil A. VIDINSKI ist ein bulgarischer Schriftsteller, Dichter, Verleger und Musiker. Zu seinen Werken zählen die Erzählbände »Kartografii na biagstvoto« (»Kartografien der Flucht«, 2005) und »Egon i tishinata« (»Egon und die Stille«, 2015) sowie der Roman »Mesta za dishane« (»Orte zum Atmen«, 2008). Er war Musikredakteur der bulgarischen Zeitung »Literaturen vestnik«, Verleger der Edition »Svetovni romani«, Redakteur beim Altera-Verlag, Rundfunkjournalist in der bulgarischen Redaktion der Deutschen Welle in Bonn sowie Chefredakteur des Panorama-Verlags in Sofia. Als Musiker war Vidinski Mitglied der Ethno-Rockband »Gologan« und ist Sänger und Gitarrist in der von ihm gegründeten »Par Avion Band«.
Der bulgarisch-deutsche Lyrikband »Par Avion« mit Gedichten Emanuil Vidinskis wurde von Petya Lund ist Deutsche übersetzt und vom eta Verlag in Berlin herausgegeben (2017).
EIN FREMDER FREUND
Bulgarische Geschichten aus dem 21. Jahrhundert
Anthologie
Erste Auflage 2017
© eta Verlag
Alle Rechte vorbehalten www.eta-verlag.de kontakt@eta-verlag.de Schönhauser Allee 26
10435 Berlin
© Autoren:
Elena Alexieva / Yordanka Beleva / Silvia Choleva / Peter Denchev / Kristin Dimitrova / Dejan Enev / Vassil Georgiev / Georgi Gospodinov / Angel Igov / Mirela Ivanova / Zachary Karabaschliev / Alek Popov / Todora Radeva / Alexander Špatov / Todor P. Todorov /
Silvia Tomova / Emanuil A. Vidinski
© Übersetzung aus dem Bulgarischen:
Elvira Bormann-Nassonowa / Gabi Tiemann / Andreas Tretner Herausgeber: Emanuil A. Vidinski
Vorwort: Andreas Tretner
© Gestaltung: Kapka Kaneva
Lektorat: Lore Horlamus / Elvira Veselinović
Druck und Bindung: Abagar, Weliko Tarnowo, Bulgarien ISBN 978-3-9818408-0-3
Mit besonderem Dank an die Übersetzer Elvira Bormann- Nassonowa, Andreas Tretner und Gabi Tiemann für die stetige Unterstützung, Verständnis und Geduld.
Petya LUND, Verlegerin
Das alte Zeitkapsel-Spiel: Man stelle sich vor, eines fernen Tages die Geschichte Bulgariens – sagen wir, der letzten 50 Jahre – ausschließlich anhand der in dieser Zeit im deutschsprachigen Raum erschienenen Anthologien zeitgenössischer Erzählungen von da rekonstruieren zu müssen … Die Chancen stünden gar nicht so schlecht.
Gemessen am notorischen Scheuklappenblick von uns Zentraleuropäern, der demgemäß immer nur sporadischen Präsenz bulgarischer Autoren auf dem hiesigen Buchmarkt ist es verblüffend festzustellen, dass solche Sammlungen in schöner Regelmäßigkeit alle fünf bis zehn Jahre erschienen sind. Betitelt »Der Mandelzweig«, »Erkundungen«, »Der Tag, die Nacht und wieder der Tag«, »Elegie« oder »Dudelsack live« , zuletzt, im Bilanzmodus des ausgehenden Säkulums, »Bulgarische Erzählungen des 20. Jahrhunderts« oder schlicht »Bulgarien Prosa« und schließlich »Gegenwarten«.
Ihre Flaschenpostrelevanz für die Nachgeborenen mag auf Hellsicht und Gespür der Herausgeber zurückgehen, kundige und schwer zu ermüdende Vermittler wie Hartmut Herboth, Barbara Antkowiak, Dietmar Endler, Norbert Randow, Valeria Jäger, Alexander Sitzmann und Thomas Frahm – doch ebenso sprechen die Vorzüge des »kleinen« Genres dafür: auf je schmalstem Raum, in hochauflösender Optik dem Flüchtigen
Bestand, dem Beständigen Transzendenz zu verleihen. Hieraus ergibt sich beim Wiederlesen manch erhellender Schauder, manch nachträgliche Prophetie.
Jede gute Kurzprosa-Anthologie also eine Art Eisbohrkern für künftige Zeitgeist-Archäologen?! Keine Bange: Nicht vorrangig dafür ist dieses neue Buch gemacht. Es will unters warme Licht Ihrer Leselampe, hier und heute.
Nun denn. Die uns angebotene bulgarische Eröffnung des 21. Jahrhunderts heißt: Ein fremder Freund. Wer ist er? Ältere Leser mag der Titel an eine trist unterkühlte intellektuelle Notgemeinschaft in der DDR der frühen 1980er erinnern, wie Christoph Heins berühmte Novelle sie entwarf; jüngere wiederum an die Infragestellung einer hitzigen WG-Kumpanei durch den 11. September 2001 in Elmar Fischers beinahe gleichlautendem Berlin-Movie. Selbst zwischen diesen Polen wüsste sich vorliegendes Buch zu behaupten. Zuvörderst aber ist der Titel Konzept, Verheißung auch, die Autoren und Leser miteinander einzulösen hätten.
Fremd bin ich eingezogen … »Sprich mit mir!« Angetreten sind hier die Dreißigbis Mittfünzigjährigen.
Nicht wenige Dichter unter ihnen, Theaterautoren. Keine repräsentative Gesamtschau aus akademischer Äquidistanz, eher das Gruppen-Selbstporträt einer lebendigen »Szene«, aus dem Inneren der Bewegung geschossen.
Auffällig insbesondere: die Autorinnen! In besagten Anthologien der Vergangenheit zu null bis fünfzehn Prozent vertreten (denkwürdig konsequent im Falle der profunden Jahrhundertschau des »Insel«-Verlags von 1995: sämtliche 41 Texte von Männern!) – hier nicht mehr nur statistisch, in deutlich eigener Tonalität präsent, sondern als schlüssige Gegenperspektive in einer patriarchal-paternalistisch gefügten Gesellschaft.
Es spricht sich allmählich herum: Die bulgarische Literatur erlebt gerade einen Höhenflug, der sie selbst zu überraschen scheint. Ein Indiz dafür ist, dass seit Langem wieder einmal gestritten wird – zur Sache. Gruppierungen bilden sich, Manifeste werden geschrieben. Und erstaunlich viele, sehr unterschiedliche Bücher.
Die hier versammelten Erzählungen sind von 2001 bis heute entstanden – die Milleniumssalven an einer Stelle gerade noch zu hören. Eine vergleichsweise kurze Spanne, in dem sich das Land einmal mehr rapide verändert hat. 2007, in der Mitte des »Berichtszeitraums« sozusagen, ist Bulgarien der EU beigetreten, die Jahre zuvor hat es sich unter den Argusaugen von IWF, Weltbank und Europäischer Kommission präpariert dafür. Kein Text in diesem Buch, der davon spricht; kaum einer, der nicht davon handelte. Einblicke in die neuen Verhältnisse – die zwischen den Menschen herrschenden vor allem. Neue Helden und ein paar von den alten, in ziemlich verlorenen Umständen. Schlaglichter: vier, fünf Seiten lang; für den einen oder anderen Epochenaufriss braucht es nur wenig mehr.
Und sowieso sind Raum und Zeit des öfteren forsch entgrenzt, auf je besondere Weise zugerichtet. Hier kann der Sack eines Weihnachtsmanns ebenso wie die Jackentasche eines Unbehausten oder die Linie 13 der Pariser Métro zur magischen Zeitschleuse werden. Drusenhafte Idyllen im Sofioter Hügelbiotop Reduta der 1960er und im Plattenbeton von Mladost zwo anno 2010, während auf der Isle of Sheppey ausgangs der Themse und an einem Ort namens Kranak (benannt nach dem Mann, der ihn zu verlassen untersagt) der Raum anscheinend gänzlich aus der Zeit gekippt ist. Liebesgeschichten, in denen die Uhren verlässlich anhalten. Miezen mit Hunden, Tauben auf der Zunge und unterm Hut. Ausgeklügelte Labyrinthe. Bücher mit und ohne Cover, akuter Tintenfraß ...
Wie findet das alles zusammen, wie findet man da hinein?
Vielleicht so:
Je kürzer mitunter die Texte, desto gewichtiger der Moment, den sie erfassen. Der, wo einer sein Leben ändert, wenn nicht der, in dem er erkennt, dass er sein Leben nicht mehr ändern wird oder dass es sich ändert ohne ihn … Nehmen wir einfach an, es sei zugleich der Moment, in dem Sie beschließen, sich einer Literatur zuzuwenden, die für Sie früher nicht existent war. Ein guter, ein günstiger Moment, der nicht ohne Folgen bleiben wird. Denn natürlich steht hinter jedem dieser kleinen Texte ein Werk; von dieser Anthologie führen Strahlen in alle Richtungen; Sie könnten dem einen oder anderen nachgehen. Gut ein Drittel der vorgestellten Autoren haben in Deutschland, Österreich, der Schweiz bereits einen Namen oder zumindest ein Buch; die anderen sehen Sie hier auf dem Sprung – und mit ihnen einen jungen, neuen Verlag, dem wir alles Gute wünschen!
Andreas Tretner im März 2017
übersetzt von Gabi Tiemann
Ich beging Selbstmord. Ohne Erfolg natürlich. Sonst wäre ich nicht hier. Auf Kranak ist Selbstmord das schlimmste Verbrechen, besonders wenn man Sklave ist. Bei einem freien Bürger kann es noch durchgehen, aber davon gibt es ohnehin nur ganz wenige. Der freie Bürger kommt gar nicht erst auf die Idee, sich umzubringen. Ein Mensch, der sein Leben besitzt, würde es kaum so leicht wegwerfen. Für den Sklaven ist das anders. Wenn er sich das Leben nimmt, das ihm sowieso nicht gehört, erreicht er ein doppeltes Ziel, was allein seiner Existenz Sinn zu geben vermag, so paradox es auch ist. Zu allererst verringert der Sklave durch seinen Selbstmord mit vollem Bewusstsein und ganz absichtlich das Eigentum des Herrn, mit anderen Worten: Er stiehlt. Ich beginne nicht deshalb mit dieser Hypothese, weil ich etwa behaupten würde, dass alle Sklaven von Kranak zum Diebstahl neigen oder der Sklave prinzipiell auf eine unbedingt verbrecherische Weise gegen seinen Herrn opponieren will. Im Gegenteil. Kranak ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie der natürliche Antagonismus zwischen Sklavenund Herrn oft eine krankhafte Anhänglichkeit hervorbringt, die ich mir nur deshalb nicht als »Liebe« zu bezeichnen erlaube, weil ich zu konservativ dafür bin. Eben deshalb ist der Diebstahl für den Sklaven die einzige Möglichkeit, seinen rein materiellen Wert in den Augen des Herrn zu überbieten und dessen Aufmerksamkeit als menschliches Wesen auf sich zu lenken, wenn auch noch so verzweifelt und von der Misere seiner Lage dazu gezwungen, seine Existenz gerade durch das Ausscheiden aus Kranaks Welt zu bestätigen.
An zweiter Stelle befreit sich der Sklave durch den Selbstmord ein für alle Mal von den Qualen, von denen das Leben voll ist. Ein Leben, das, wie schon erwähnt, nicht seins ist. Aufgrund ihrer Klarheit und Schlichtheit bedarf die zweite Hypothese keiner weiteren Erklärungen. Aus Bescheidenheit stelle ich sie hintan, war sie doch der eigentliche Grund meines missglückten Selbstmords. Da ich aber ein zurückhaltender und einigermaßen schüchterner Mensch bin, würde ich nicht wollen, dass seine Positionierung an vorrangiger Stelle als versuchtes Eigenlob gedeutet wird.
Das Gerichtsurteil war schnell verkündet. Obwohl ich es vielleicht besser als »routiniert« bezeichnen sollte. In meinem Fall wäre jedes Verzögern überflüssig und unerwünscht gewesen. Da auf Kranak nur die freien Bürger männlichen Geschlechts berechtigt sind, Recht zu sprechen, und sie zu wenige sind, um alle Schöffensitze zu besetzen, verurteilte mich ein Gericht aus dem Oberst, dem Doktor sowie dem Minister für das Wohlergehen der unfreien Bevölkerung zu fünfzig Jahren. Die Sitzung und das Urteil wurden von der Verlobten des Doktors genauestens protokolliert, einer gebildeten, jungen Person mit fortschrittlichen Ansichten, die seit Kurzem erst auf Kranak ist, aber ihre Präsenz ist schon beeindruckend.
Ich kann nicht sagen, dass mich das Urteil überrascht hätte. Nach Kranaks Gesetzen ist es vollkommen gerecht, obwohl es aus der Perspektive des Verurteilten übertrieben grausam ist. Aber welches gerechte Urteil scheint dem, für den es bestimmt ist, nicht übermäßig grausam, gemessen an der von ihm verübten Tat, was auch immer sie sei? Das ist doch das Ziel jeder Rechtsprechung, nicht einfach abzuschrecken oder zu bestrafen, sondern die verbrecherische Absicht mit der Wurzel auszureißen, wie einen schlechten Zahn, an dessen Stelle kein neuer vorgesehen ist.
Fünfzig Jahre sind die härteste Strafe. Für den, der in seiner Verzweiflung beschlossen hat, sich umzubringen, sind die fünfzig Jahre, zur natürlichen Länge des Lebens hinzugefügt, vor dem er sich doch davonmachen wollte, eine echte Katastrophe. In Kranaks Gesetzen steht eigentlich, dass die zu verhängende Strafe »ewiges Leben oder die größtmögliche Annäherung« zu sein habe, »damit der Verurteilte in vollem Maß die Qualen des Lebens erfahren und ertragen muss, das er sich zu nehmen versucht hat.« Aber da das Serum von celia abricardia, das zur Urteilsvollstreckung injiziert wird, nicht mehr als ein halbes Jahrhundert Langlebigkeit garantiert und celia abricardia, auf dessen Anbau Kranaks ganzer Reichtum beruht, nicht unvernünftig verschwendet werden darf, fällt das Urteil bei Selbstmord seit jeher so aus. In außergewöhnlich schweren Fällen, bei wiederholtem Versuch, wurde gegen Ende der vorgesehenen Frist eine zweite Dosis des Serums gespritzt, aber das ist wohl nur in der fernen Vergangenheit vorgekommen. Kranaks Gerichtsarchive wurden sorgfältig aufbewahrt für künftige Generationen und die Vorräte von celia abricardia nicht übermäßig schnell aufgebraucht.
Die Sache ist, dass das Serum dieser Pflanze an anderen Orten so hoch gehandelt wird, dass Kranaks ganze Produktionskolonie mit den Einkünften aus seinem Verkauf unterhalten werden kann, einschließlich der Verwaltung, der Handelsorganisationen und der Familien der freien Bürger, die in ihnen arbeiten. Die Sklaven haben nicht das Recht, Familien zu bilden, dafür aber wird außerordentlich wohlwollend darauf geschaut, wenn Kinder von ihnen geboren werden. Die Kolonie auf natürliche Weise zu bevölkern ist die günstigste Lösung, nur leider die einzige, mit der die Verwaltung total gescheitert ist. Unter den Sklaven gibt es einen stillen Widerstand gegen solche Politik, und die wenigen Kinder, die geboren werden, reichen bei weitem nicht aus, um ganz ihre unbekannten Väter und verschlissenen Mütter zu ersetzen, wenn deren Arbeitskraft der Kolonie nicht mehr zur Verfügung steht.
Es heißt, mit dem Geld, das man durch den Verkauf von einem Milliliter Serum erhandelt, könne man an die tausend Jahre in Saus und Braus leben. Keiner von uns hat von diesem Geld aber auch nur einen Kreuzer je gesehen. Wahrscheinlich weil Kranak nur eine Produktionsbasis ist, eine von vielen – so hat das zumindest ein anderer Sklave gehört, mein Freund, als er ein Gespräch zwischen dem Oberst und der Verlobten des Doktors belauschte. Aber es kann auch einfach leeres Gerede gewesen sein, womit er sie betören wollte. Es ist kein Geheimnis, dass der Oberst um sie herumscharwenzelt, seit sie da ist. Der Doktor tut so, als bemerke er es nicht. Einmal hatte sich der Bauch der Verlobten verdächtig gewölbt, aber eine erfahrene Sklavin half ihr, es loszuwerden. Jetzt ist die Verlobte wieder, wie sie vorher war, nur dass sie schweigsamer geworden ist. Die übrigen freien Frauen von Kranak können sie nicht ausstehen. Deshalb hält sie mit den Sklaven zusammen und ähnelt uns von Tag zu Tag mehr.
Celia abricardia ist eine große Pflanze, die man vermutlich Blume nennen könnte, aber mit den Ausmaßen eines kleinen Strauchs. Der Stiel ist niedrig, dick und auffallend hart, bedeckt mit spitzen, dunkelbraunen Dornen, die mit einem besonderen Präparat behandelt werden, unter dessen Wirkung sie vertrocknen und von selbst ausfallen. Andernfalls wäre das Ernten der Blüten, aus denen das Serum gewonnen wird, unmöglich.
Die Blüten von celia abricardia sind prächtig und fleischig, gefärbt in allen Nuancen zwischen blassrosa und violett, je nach dem Entwicklungsstadium und der Parzelle, auf der die Pflanze angebaut wird. Celia abricardia ernährt sich von kleinen Nagetieren, deren Beschaffung immer schwerer wird, denn sie gedeihen auf Kranak nicht, und alle Versuche, sie zu züchten, sind total misslungen. Keiner von uns hat eine Vorstellung, woher sie importiert werden. Wir wissen nur, dass celia abricardia, eine der bösartigsten und launischsten Pflanzen der ganzen botanischen Welt, auch die kleinsten Veränderungen ihrer gewohnten Nahrung bemerkt. In diesen Fällen kann die betroffene Pflanze entweder sterben oder sondert zumindest tagelang einen scheußlich stinkenden Saft ab, der an allen Oberflächen kleben bleibt, unabhängig davon, ob sie organisch sind oder nicht, und sich fast nicht abwaschen lässt.
Ich bin Spezialist für das Sammeln und Sortieren der Blüten – eine Tätigkeit, die sehr viel Erfahrung und Kenntnisse sowie eine besondere Intuition für die Bereitschaft der Pflanze, sich ernten zu lassen, erfordert. Noch ein Grund, mir fünfzig Jahre aufzudrücken.
Das Besondere beim Pflücken von celia abricardia ist, dass man wegen der erwähnten Eigenwilligkeit der betreffenden Pflanze den Moment erwischen muss, in dem sie geneigt ist, das Abtrennen ihrer Blüten zu gestatten. Sonst ist das Pflücken unmöglich. Celia stößt ihren übelriechenden Saft ab, über den sie in erstaunlichen Mengen verfügt, und erlaubt es niemandem, sich ihr zu nähern. Nach solchen Ausbrüchen kann es gut sein, dass die Pflanze stirbt oder sich als ungeeignet für die weitere Verarbeitung erweist.
fenden Pflanze den Moment erwischen muss, in dem sie geneigt ist, das Abtrennen ihrer Blüten zu gestatten. Sonst ist das Pflücken unmöglich. Celia stößt ihren übelriechenden Saft ab, über den sie in erstaunlichen Mengen verfügt, und erlaubt es niemandem, sich ihr zu nähern. Nach solchen Ausbrüchen kann es gut sein, dass die Pflanze stirbt oder sich als ungeeignet für die weitere Verarbeitung erweist.
Die Blüten von celia abricardia werden bis zu drei Tage nach der erfolgreichen Bestäubung der weiblichen von den männlichen gesammelt. Die weiblichen Blüten enthalten bis zu achtzig Prozent mehr Nutzstoff als die männlichen. Die Kelchblätter sind vor der Verarbeitung besonders angenehm und saftig zum Kauen, wobei schon die Entwendung eines unbedeutenden Teils der Ernte für persönliche Bedürfnisse mit harten Sanktionen belegt wird. Trotzdem ist es keinesfalls unmöglich. Ich persönlich habe Blätter von celia abricardia schon über ein Dutzend Mal gekaut.
All das erzähle ich Lydia, während ich versuche, sie zu beruhigen. Lydia ist eine kleine, füllige Frau, deren natürliche Verfassung vermutlich heitere Schalkhaftigkeit oder sogar zweideutiger Übermut war, bevor sie nach Kranak kam, aber hier hat sie die finstere Reizbarkeit, charakteristisch für den überwiegenden Teil der Sklaven, übernommen, die überhaupt nicht in ihr breites, offenes Gesicht passt. Lydia ähnelt einer Schauspielerin, die vergessen hat, ihr Gesicht nach der letzten Vorstellung zu entspannen, obwohl ich überzeugt bin, dass ihre Schwermut überhaupt nicht vorgetäuscht ist. Sie ist verstimmt, weil sie für ein Bagatelldelikt verurteilt wurde, für das sie drei Jahre bekommen hat.
Lydia ist nicht mehr jung. Fast niemand auf Kranak ist es. Nur die Verlobte des Doktors war es, aber auch sie altertschnell. Das Aufschieben des Todes, mit dem die Sklaven hier bestraft werden, ist kein Aufschieben des Alters. Das ewige Leben, verankert in Kranaks Gesetzen, ist nichts anderes als ewiges Alter.
Lydia hat Angst. Sie fragt mich, ob es weh tut, wenn wir das Serum gespritzt bekommen. Ich erwidere ihr, ich hätte genau das Gegenteil gehört. Da ist kein Schmerz, nur ein leichtes Erschaudern, zumal der Doktor uns persönlich die Spritzen geben wird, der in seiner Eigenschaft als Mediziner gleichzeitig die Funktion des Urteilsvollstreckers erfüllt. Andere Sklaven, die bestraft wurden, haben mir gesagt, dass einen sofort nach dem Entfernen der Nadel aus der Vene ein besonderer Schwindel ergreift, als wäre das ganze Glück der Welt über einen gekommen, man kriegt weiche Knie, die Ekstase ist so groß, dass sie lähmend wirkt. Bis dieser Zustand sich ganz normalisiert, vergehen einige Tage, manchmal auch eine Woche. In dieser Zeit müssen die Bestraften im Lazarett bleiben, ihnen wird kein Kontakt zu Außenstehenden erlaubt. Man nimmt an, dass ihre zeitweilige Verwandlung von den anderen Sklaven falsch interpretiert würde, bei einem besonders ungünstigen Verlauf der Dinge könnte es zu einer unkontrollierten Welle von Verbrechen kommen oder, was noch schlimmer wäre, zu massenhaftem Diebstahl von Serum und seinem Missbrauch. Auf diese Weise wäre Kranaks Wirtschaft ein für alle Mal zerrüttet und vernichtet. Keiner hat Interesse daran, dass es so weit kommt, am allerwenigsten die Sklaven, die zum Großteil so alt und so lange in der Produktionsbasis sind, dass sie nichts anderes tun können, als celia abricardia anzubauen, zu pflücken und zu verarbeiten. Wenn sie woanders hinkämen, wären sie zu einem hungrigen und erbärmlichen Verlöschen verurteilt.
Mir scheint, dass Lydia mir wegen der Spritze nicht wirklich glaubt. Hier, so tut das weh, sage ich und kneife ihr leicht in den Arm. Nicht mehr. Versprochen. Bestimmt hätte sie in ihrem vorigen Leben gelacht oder mich auch gekniffen, aber hier, auf Kranak, reduziert sich ihre Reaktion darauf, mich misstrauisch anzuschauen und ihren Arm wegzuziehen. Ihre Haut hatte sich nicht einmal gerötet, trotzdem reibt sie die gekniffene Stelle lange und hartnäckig. Ihre Augen sind voller Tränen, die aber nie über ihre aufgedunsenen und aschgrauen Wangen fließen werden.
Ich frage, ob ich neben ihr stehen soll, wenn der Doktor ihr die Spritze gibt. Ich werde ihn bitten, sie zuerst dranzunehmen, mit der kleineren Strafe, und mich bis zum Schluss zu lassen. Ich glaube nicht, dass sie ablehnen. Die freien Bürger bei Kranak sind keine Ungeheuer. Sie sind streng und gerecht, das ist wahr, aber nicht herzlos. Dass sie oft mehr auf ihren Verstand als auf ihre Herzen hören müssen, ist für uns alle gut, für Kranak gut. Gerade deshalb sind sie freie Bürger und wir nicht. Abgesehen davon, dass sie sich ohne uns celia abricardia nicht nähern könnten, vom Anbau ganz zu schweigen.
Lydias Blick scheint sich etwas aufzuhellen. Ihr Misstrauen liegt an der Tatsache, vermute ich, dass die Sklaven sich gegenüber den erfolglosen Selbstmördern besonders verachtungsvoll verhalten. Im Unterschied zu ihnen werden die erfolgreichen zu Helden erhoben. Über sie dichtet Kranaks Volk Lieder und Legenden. Missglückter Selbstmord ist ein echtes Schandmal. Es muss mindestens eine neue Generation Sklaven vergehen, ehe der Verurteilte wenigstens einen kleinen Bruchteil seiner verlorenen Achtung zurückbekommt. Das ist der eigentliche Grund für Lydias Argwohn. Im Vergleich zu mir ist sie überhaupt keine Verbrecherin, sondern einfach eine ganz gewöhnliche, in die Jahre gekommene Sklavin.
Ich versuche, sie zu zerstreuen, damit sie nicht so viel an das Bevorstehende denkt. Frage sie, was sie arbeitet. Sie entgegnet unwillig, sie sei in der Brigade der Unschädlichmacher. Das habe ich auch vermutet. Es ist die unterste Stufe. Um Unschädlichmacher zu sein, braucht man nichts zu wissen und nichts Besonderes zu können. Deine Aufgabe ist, zwischen den Reihen celia abricardia herzugehen, die Stiele mit dem speziellen neutralisierenden Präparat zu spritzen und die trockenen Dornen in den Plastikcontainer, der auf deinem Rücken hängt, einzusammeln. Ich beschließe, wenn Lydia mich ihrerseits fragt, was ich arbeite, zu lügen, ich sei ein einfacher Pflücker. Ich will sie nicht noch mehr verstimmen. Sie fragt mich aber nichts. Gut möglich, dass sie nach den Urteilsvollstreckungen so tun wird, als würde sie mich nicht kennen.
Auf Kranak gibt es zwei Jahreszeiten, eine windige und eine windstille. In der windigen ist es kalt und feucht. Dann wird celia abricardia ausgepflanzt. In der windstillen Jahreszeit wird es heiß und feucht. Vor ihrem Ende haben die jungen Pflanzen schon ausgetrieben und blühen. Wenn die Bestäubung erfolgt ist, geht man zur Ernte über, die in den letzten Tagen der Saison abgeschlossen wird. Dann ist celia abricardia am schönsten, die Blüten leuchten in einer besonderen, fast psychedelischen Klarheit, als kämen sie aus einer anderen Welt. In solchen Momenten können die Felder mit celia abricardia sogar gefährlich sein, wenn man sie zu lange betrachtet. Das Bewusstsein trübt sich, die Selbstvergessenheit breitet sich blitzartig im ganzen Körper aus. Nach solch einem Erlebnis sind manche Sklaven vollkommen arbeitsuntauglich. Der Doktor behandelt sie mit eigenen Methoden,aber nicht immer erfolgreich. Ich habe keine Ahnung, was mit den Patienten geschieht, die sich nicht wieder erholen. Habe gehört, sie würden von Kranak ausgesiedelt, was seine Logik hätte, weil sie nie mehr gesehen werden, aber wohin man sie schickt und wie, bleibt ein Rätsel.