Titel der Originalausgabe:
Frères migrants
© Editions du Seuil, 2017
Übersetzung © Beate Thill
© 2017 Verlag Das Wunderhorn GmbH
Rohrbacher Straße 18
D-69115 Heidelberg
www.wunderhorn.de
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eISBN: 978-3-88423-578-2
Aus dem Französischen von Beate Thill
Für
Hind Meddeb,
Jane Sautière,
Laetitia Fernandez,
Yasmina Ho-You-Fat
Deslauriers
Und für
René de Ceccatti
DER SICHTBARE TOD
DER NEOLIBERALE FRIEDEN
DIE NEUE BARBAREI
WORAUF ES ANKOMMT
DAS LÄUTEN DER TOTENGLOCKE
DAS DORT IST IM HIER
DIE MONDIALITÄT
IN-BEZIEHUNG-TRETEN UND WELT-BEZIEHUNG
ANGST UND ZUVERSICHT
DAS ÖKOSYSTEM DER BEZIEHUNG
DIE ANDERSHEIT, DIE WIR LEBEN (SOLLEN)
EIN UMHERIRREN, DAS ORIENTIERUNG GIBT
RECHT AUF POETIKEN
DIE ÄSTHETISIERUNG DES WEGS
DIE OFFENE SEELE DER GRENZEN
DIE LAGER DER ANDEREN WELT
IN DER WELT LESEN
Erklärung der Dichter
Das „Etwas“, das vor etwa zehn Jahren
geschah, werde ich „das Verschwinden der
Glühwürmchen“ nennen.
Pier Paolo Pasolini 1975
kurz vor seinem Tod
[…] sie wissen nicht, dass ihr Begehren so
weit trägt, in der großen Nacht, die sie einschließt.
Antoine de Saint-Exupéry,
Nicht an den Glühwürmchen verzweifeln.
Aimé Césaire
Wir müssen – abseits von Herrschaft und
Ruhm, in der Lücke zwischen Vergangenheit
und Zukunft – wie Glühwürmchen
werden, das heißt eine Gemeinschaft des
Begehrens bilden, die Lichter aussendet, die
tanzt trotz allen Widrigkeiten, eine Gemeinschaft,
die Gedanken mitzuteilen hat.
Georges Didi-Huberman
Hind, eine junge Filmemacherin, sagt: „In Frankreich ist das Mittelmeer an jeder Straßenecke und der von den Baggern zerstörte Dschungel von Calais wächst in den Winkeln der Boulevards wieder nach!“ …
Jane, eine junge Schriftstellerin, fügt leise hinzu: „Wenn ich in Paris heißen Kaffee und Brot mit Butter ausgebe, begegnen mir Augen, die keine Lider mehr haben. Mit Pupillen, gebleicht von den Nachtwachen und dem Salz in den Wüsten, wie Leuchttürme. Diese Körper aus dem Nirgendwo, die plötzlich auftauchen, schemenhaft zwischen Ufern und Stränden, in ihrem Schatten sehe ich endlos werdende Straßen, Gräber, angehäuft zwischen Inseln und Kontinenten, durch das Schicksal ihrer Herkunft finden sie sich durcheinander gemischt auf diesem Rettungsfloß mit Ballen und Koffern wieder … Jede dieser Gestalten scheint Ausdauer mitzubringen für alles, was kommen mag, sie haben es sich aufgepackt und tragen es ins Ungewisse.“
Jane seufzt: „Ihr Ziel bleibt, eine glühende Schrift, ohne Ankunft. Viele kleine Menschen – Kinder! – sind möglicherweise schon bei ihrer Geburt Staatenlose, Unberührbare, ewige Parias, nirgends zugehörig, verbannt in das Reich der Medusen und gesunkenen Boote.“
Hind verkündet weiter: „In Paris oder Ventimiglia und genauso seit fast fünfzehn Jahren in der Region von Calais, stranden Migranten am Rand aller Ränder, Minderjährige werden behandelt wie Massenvieh, selbst auf französischem Boden, in diesem Land der Menschenrechte, werden Razzien durchgeführt, wird die Hoffnung verfolgt!
Zerstoben in alle Winde! …
… sie werden von Polizeirevieren in Abschiebegefängnisse, von Abschiebegefängnissen nach Nirgendwo verschickt, ohne Beistand, ohne Zeugen, Anwälte, oft ohne Dolmetscher, ohne Wegzehrung, außer jener Angst, die ihnen entgegenschlägt, nicht nachlässt und alles gegen sie aufbietet! Besetztes Gelände wird geräumt, ohne einen Gedanken an die Kranken, die Frauen, die Kinder! Die, die Mitleid haben, werden vor Gericht gestellt, wegen eines ‚Solidaritätsdelikts‘1! Demonstrationen werden vor Ort erstickt, bevor man sie wagt! …
Hier, ganz nahe (doch auch so fern), vertreibt man sie, bestraft sie mit Untersuchungshaft, häuft Steine auf und verbarrikadiert den letzten freien Platz für die Erschöpften; da unten, ganz fern (doch auch so nah) sind es die Küstenwachen, Mauerwachen, Grenzwachen, – die Wächter über Leben und Tod – die darunter leiden, dass sie sie nicht mehr aufhalten können! … Der Zustrom hat biblisches Ausmaß, er schwillt an, ohne angefangen zu haben, beginnt neu, ohne abgeebbt zu sein … Manchmal schießen diese Wächter des Elends wild um sich, häufig foltern sie in ihrer Verzweiflung, und wenn sie dann an die Grenzen ihres eigenen Gewissens gelangen, weinen sie, ohne zu wissen warum!“
Hind ruft mit allem Groll ihrer Jugend: „Islamophobie, Unsicherheit, Identität, Immigration … Worte wie Monster! Unter der Hypnose der Medien zusammengetrieben zu einer schreienden Horde, sie mahlen heftig wie Zahnräder, bei allen Themen, fast ohne Ausnahme, bis sie Menschen zermalmen im vollen Licht der Städte und Girlanden der Boulevards! … Wir müssen handeln, das ist unsere Sache!“
Jane, mit erstaunter Geste: „Ich habe ihre Augen gesehen, es sind Glühwürmchen …
Ja, in dieser Nacht, auf diesem Rettungsfloß, unter diesem eisigen Horizont, in den kalten Hütten der Lager und Straßencamps, ständig abgerissen, ständig neu entstehend, in Europa, aber auch in Asien, Afrika, auf den Inseln der Karibik und im übrigen Amerika, was ihr da sagt, meine Lieben, ruft weltweit mit den Winden, Salzfunken, Himmelsfunken, eine Konferenz der Dichter und großen Geister zusammen, wie es sie noch nie gegeben hat …
Was heißt also handeln oder sich einmischen über das Dringliche hinaus, ohne das Dringliche beiseite zu lassen oder das Wesentliche zu verfehlen, und ohne zu bedenken, dass an der Grundlage dieses Dramas unsichtbare Kräfte wirken?
Doch wie könnte man sie übersehen? Der Neoliberalismus, der zu triumphieren scheint; seine Finanzen, ausgeliefert an fatale Hysterien; die Politik, die sich offenbar aufgegeben hat, Demokratien, die undurchschaubar werden; der Staat, der sich selbst schwächt, indem er das Ruder ganz den Wirtschaftsleuten überlässt und sich dem Willen unzähliger, profitorientierter Firmen beugt, die diffus im Gewebe der Welt agieren. Jedes Programm, jeder Bildschirm, jeder Fund in der Nano- oder Biowissenschaft, jede Masche des Geistes und jede einzelne Verbindung ist diesem Dogma unterworfen! … Wir sehen, wozu diese weltweite Verfinsterung führt: zu Ausschluss, Ablehnung, Gewalt, Dummheit, Hass und Abscheulichkeiten, die überall brodeln, die sich in den Schleifen der Algorithmen und sozialen Netzwerke verstärken, die auch in der instinktgeleiteten Meute der Medien explodieren, die so fasziniert ist von diesen Netzwerken, dass sie ihnen nacheifert. Es ist ein Verfall, der Verlust einer Ethik, und mit der Ethik schwindet die Schönheit. Pasolini2 hatte recht, als er sich sorgte angesichts der politischen Nacht, die in Italien zu triumphieren schien. Eine ähnliche Nacht hat uns umfangen, ohne Warnzeichen, unmerklich, unsichtbar, bis sie plötzlich eine böse Farbe annahm in der blonden Tolle dessen, der die mächtigste Nation der Menschheit führt …
1In Frankreich wurde der Flüchtlingsaktivist und Olivenbauer Cédric Herrou „wegen Beihilfe zur unrechtmäßigen Einreise“ am 8.8.2017 in zweiter Instanz zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, weil er Migranten über die französisch-italienische Grenze geholt und bei sich aufgenommen hat. Solche Fälle werden in Frankreich als „Solidaritätsdelikt“ bezeichnet. Anm. d. Ü.
2In seinem Artikel aus dem Jahr 1975 im Corriere della Sera beschreibt Pasolini, wie Anfang der 1960er Jahre durch Industrialisierung und Umweltbelastung in Italien alle Glühwürmchen ausgestorben sind. Bei seiner „literarisch-poetischen Betrachtung“ nimmt Pasolini dies als Bild für den tiefgreifenden Wandel von einer vormodernen Agrar- zu einer industrialisierten und konsumistischen Gesellschaft, worin er eine „anthropologische Mutation“ sieht. Seine Analyse zeigt viele Parallelen zu der heutigen Situation unter dem Neoliberalismus auf der Welt. Hier das Zitat, auf das sich Chamoiseau in seiner „Erklärung der Dichter“ unter anderen bezieht: „Was mich betrifft, so will ich ganz klar sagen: ich gäbe – selbst wenn ich ein Multinationaler wäre – den ganzen Montedison-Konzern für ein Glühwürmchen her.“; Pier Paolo Pasolini, Freibeuterschriften. Berlin (Wagenbach) 1978, S. 71 u. 72. Anm. d. Ü.
Aber verlassen wir das Unsichtbare und wenden uns dem zu, was Ihr seht, in diesem dämmernden Moment, wie seit Jahren, Jahr für Jahr und noch auf Jahre, Menschen, Tausende Personen, nicht Quallen oder Trauben gelber Algen, sondern Leute, kleine große alte, viele verschiedene Einzelwesen, untergehen und sterben und noch lange umkommen werden, in den Halseisen der Grenzen, am Rand der Nationen, Städte, und Rechtsstaaten …
Die Grenzen Europas richten sich auf zu violetten Schießscharten. Sie lassen eine Danteske Hölle entstehen, wie jener Abgrund, von dem Glissant sprach3. Ertrunkene mit starr geöffneten Lidern, Strände, an denen in der Gischt Leichen auftauchen. Und die Kinder, hinuntergespült zu den Muscheln und Korallen, schlafend im Sand oder von den erbarmungslosen Wellen zerrissen.
Hier, Lampedusa, teils Fels, teils Fackel, teils Auster, fast ein Stern, der außerhalb von Raum und Zeit lebende Substanz ansaugt und verdaut und mit ihr das Kobaltblau der Erde, ihre strohgelbe Ehre, ihre grüne Verantwortlichkeit, die Sonnen ihres Bewusstseins dazu.
Dort, rot die Insel Malta, um die sich furchtbare Kränze bilden, Ringe des Überlebens, stürmische Wogen der Herzen, Hoffnungen hochgetürmt in der Gischt vor verschlossenen Horizonten.
An den Rändern Griechenlands und Italiens – zerrissenes Weiß über dem Grau der Hilflosigkeit – Menschen, keine Felsen, keine Plastikhüllen, einzelne Menschen, Tausende von ihnen, häufen ballen umschlingen sich, eine schmutzige Spitze, wo sich Tod oder Leben nicht mehr unterscheiden lässt, sie halten sich fest, in schlotterndem Elend. Scharlachrot und Violett ineinander verschlungen.
Schreie verbergen sich in den Geräuschen des Winds. Schwarze Flöße schwimmen in schwarzen Wogen. Kreisende Schmerzen, in endloser Wiederholung, aus der zerstörten Heimat in eine Sackgasse der Papiere, die unterschrieben, bestätigt und … vergessen sind! Seien es Anträge auf Schutz, auf Asyl, bis zu den sogenannten Menschenrechten.
Irak, Syrien, Eritrea, Afghanistan, Sudan, Libyen … sind offene Adern. Blut spritzt, starr violett schimmernd wie die Glut in der Schmiede. Es sind lebende Wogen, die bluten, die anbranden, ich spreche von Menschen, von Einzelnen. Ihr Blut fließt auch in uns, es ist unser Blut, sie bluten für alle. Die Afrikaner, sie sind die Erstgeborenen der Menschheit, ein ganzer Kontinent liegt auf dem Grund des Atlantiks ohne Adresse, die Ladungen der Sklavenschiffe, die jahrhundertelang am Fundament Afrikas fraßen – nun erhält dieser Kontinent in genau der gleichen Entsetzlichkeit im Mittelmeer seine Entsprechung. Eisblau, vom klaren Denken vergessen! Es ist wie ein Spasmus der kollektiven Geschichte, ein Schluckauf, ein Auskotzen – eine echte Wiederkehr, nicht des Gleichen, aber der wiederzugelassenen Mächte des Schreckens.
3„…am Grund des Atlantiks. In diesem Abgrund liegen Friedhöfe von Sklavenschiffen, mit vielen ihrer Matrosen. Die Beutegier, die verletzten Grenzen, die gehißten und gefallenen Flaggen, von der westlichen Welt. Und die hier den dichten Teppich mustern, sind die Söhne Afrikas, mit denen man Handel trieb, sie stehen auf keiner Ladungsliste, keiner kennt ihre Zahl.“ Edouard Glissant, Patrick Chamoiseau: Die unbezähmbare Schönheit der Welt. in: Brief an Barack Obama, Üb. Beate Thill, Heidelberg (Wunderhorn) 2011, S. 9; Anm. d. Ü.