Peter H. Brendt

 

Geschichten aus Thumberg

 

 

1. Wo ist der Wein?

 

***

Einleitung

 

Die wichtigen Entscheidungen in Thumberg werden in den Amtsstuben der Beamten und der Wachen getroffen. Das Leben spielt sich in den Adern der weitverzweigten Gassen und Straßen der Hafenstadt ab. Aber ihr Herz schlägt in den großen und kleinen Tavernen, Gasthäusern und Etablissements mit großzügigen Damen und zweifelhaftem Ruf. Die Grenzen sind bisweilen unscharf, aber eine Sache einigt sie alle. Man benötigt Bier, Wein oder Branntwein, um das Blut durch die Adern Thumbergs fließen zu lassen.

Im «Roten Pony»

 

Litwolff warf einen prüfenden Blick in den großzügigen Gastraum des «Roten Ponys». Es blieb nicht mehr viel Zeit bis zum abendlichen Wachwechsel am Nordtor. Deshalb saß nur eine Handvoll Gäste an den Tischen. Seine Handlanger nutzten die Gelegenheit für eine Pause in einem der Hinterzimmer.

 

Normalerweise gab ihm diese beschauliche Stunde die Möglichkeit, in aller Ruhe im Keller nach dem Rechten zu sehen. Jedoch diesmal nagten Sorgen an der gewohnten Gelassenheit.

 

Immer wieder schaute er nervös zum Vorhang hinter der Theke, der den Schankraum vom Getränkelager trennte. Der Wirt des beliebtesten Gasthauses in Thumberg erwartete, dass jeden Moment einer seiner Leute mit der Nachricht eintraf, dass die bestellten Vorräte endlich eingetroffen waren.

 

Süßtraube aus der Hellermark. Lieblich, süffig und normalerweise zu dem Preis nicht zu bekommen. So hochwertig, dass er sogar mit der in der Hafenstadt üblichen Verdünnung allen Gästen schmeckte. Und den besonderen Freunden des «Roten Ponys» schenkte er der Wein pur und unverwässert ein.

 

Bereits am Anfang des Handels warnte ihn sein Bauchgefühl. Hätte er nur darauf gehört. Das Angebot klang allerdings zu verlockend. Nicht so übertrieben, dass sein Misstrauen geweckt wurde. Aber günstig genug, um seine Neugier zu wecken.

 

Trotz der Bedenken bestellte der Gastwirt eine größere Menge als üblich. Neue Lieferanten teste er erst ausgiebig, bevor er die Bestellung beim nächsten Mal vergrößerte. Doch die ursprüngliche Lieferung war auf dem gewohnten Handelsweg verloren gegangen. Ein Steinschlag begrub Wagen, Zugtiere und drei Wagenführer in der Eisenschlucht nur zwei Tagesreisen vor Thumberg.

 

Aus diesem Grund saß das «Rote Pony» praktisch auf dem Trockenen. Die Alternative bestand aus dem saurem Effelwein, den er verabscheute und Kunden nie zumutete. Kurz, nicht nur die Versorgung der Gäste stand auf dem Spiel, sondern sein guter Ruf ebenfalls.

 

Und Bier gab es wegen der heißen Witterung, die die Brauer behinderte, erst wie üblich zum Beginn des Herbstes. Magere Zeiten, und wenn Sorm, der schleimige Weinhändler erfuhr, welche Leere im Keller des «Roten Pony» herrschte, verlangte er für das Effelzeug zusätzlich noch einen beachtlichen Zuschlag.

 

Seine Augen suchten Cryst. Vertrauter, Freund und Schutzbefohlener. Wie erwartet, schlief der in der hintersten Ecke, nah bei den mit Vorhängen verhängten Einzelzimmern für besondere Gäste und schnarchte. Die Feder am Hut taumelte bei jedem Atemzug, als ob ein kleiner Sommersturm damit spielte.

 

Nun war Litwolffs Situation ernst, doch nicht so hoffnungslos, dass er bereit war, die Position an der Theke aufzugeben. Quer durch Raum zu brüllen, lag unter seiner Würde und die wenigen Hilfskräfte pausierten im Hinterzimmer, bis nach dem Wachwechsel der Stadtwachen neue Gäste das Gasthaus füllten.

 

Er griff in die Apfelkiste, die genau für solche Zwecke hinter dem Tresen stand. Er bediente sich gern der faulen Früchte, um Handlanger mit dem Obst zu bewerfen und anzutreiben, wenn sie nicht schnell oder sorgfältig genug arbeiteten. Er suchte einen der wurmstichigen Äpfel aus und warf ihn mit geübtem Schwung über alle Tische dem Schlafenden an den Kopf.

 

Keine Reaktion!

 

Verärgert schnappte er ein zweites Apfelstück, als er im Rücken eine Bewegung fühlte. Endlich, dachte er, ist die Lieferung angekommen. Doch als er sich umdrehte, erblickte er nur die kleine Thilla, Cryst Tochter, die bei ihm ein- und ausging, wie er es ihr gerade passte.

 

Er suchte nach Worten für eine Standpauke. Denn eigentlich legte ihre Mutter, die Hexe Shaba, wert darauf, dass sie um die Uhrzeit die Schule besuchte. Er beschloss aber dann, erst die Angelegenheit mit dem überfälligen Wein zu regeln.

 

Er drehte sich wieder um und der Apfel traf ihn genau an der Stirn.

 

Die Reste sprühten über den Tresen, einige Stücke rutschten herunter und blieben in seinem dichten Schnur- und Kinnbart hängen. In diesem Augenblick dankte er den Göttern, kein außergewöhnlich matschiges Exemplar beim Griff in die Kiste erwischt zu haben. Jeder hier im «Roten Pony» wusste, selbst wenn Cryst die Augen schloss und schnarchte, bedeutete das nicht unbedingt, dass man ihn überraschen konnte. Seitdem er vor etlichen Jahren bei Litwolff auftauchte und sich im Gasthaus praktisch niederließ, gehörte er Tag und Nacht zum Inventar. Gab es Probleme mit einem Gast, erschien er wie ein Geist aus einer dunklen Ecke und bereinigte die Situation. Dafür nächtigte, aß und lebte er im Gastraum. Er hätte damit rechnen müssen, dass er den Apfel fangen und zurückwerfen würde.

 

Hinter dem Wirt kicherte jemand leise. Jetzt erinnerte sich der Gastwirt an die einzige Verbindung Crysts zur Welt außerhalb des «Ponys»: Shaba, die Hexe. Irgendwann tauchte die geheimnisumwitterte Frau auf, ein kleines Baby unter dem Arm, drückte es dem Verdutzten in den Arm und verschwand mit den Worten.: «Deine Tochter!»

 

Und genau dieses Kind, das eigentlich in den Unterricht gehörte, hatte sich vor dem Treffer mit dem Apfel neben ihn geschlichen. Eine gute Gelegenheit, einen Teil des eigenen Unmuts abzureagieren.

 

«Thilla. Was willst du hier! Die ist kein Ort für kleine Mädchen. Solltest du nicht in der Schule oder bei deiner Mutter sein?»

 

«Wegen der Schule bin ich hier. Wir haben eine Aufgabe bekommen. Sie lautet: «Begleite deinen Vater einen Tag bei der Arbeit!»

 

Litwolff fluchte. Seitdem dieser junge Lehrer aus der Hauptstadt eingetroffen war, nahm die Zahl der Gäste zu, die am Tresen über die Hausarbeiten schimpften, die er verteilte. Teobag, aufgrund irgendwelcher dubioser Untaten nach Thumberg strafversetzt, erfand stets neuartige Hausaufgaben für die Schüler. Zu seiner Schulzeit erinnerte sich der Wirt, gab es nur Schreiben, Lesen und Rechnen.

 

Letzte Woche hieß sie unter dem neuen Lehrer: «Wo liegen mehr Steine? Auf dem Marktplatz oder im Hof des Bürgermeisters?» Einen Tag lang wimmelte es von Kindern, die ihre kleinen Geschwister mitbrachten und beide Plätze bevölkerten. Die Bande markierte Pflastersteine mit Kreide und behinderte die Marktbesucher. Die Wachen trieben sie mit ihrem Tun zur Verzweiflung. Am Ende diskutierte die Kinderschar, ob die stadtbekannten Nierensteine von Samsu, dem Bettlerkönig, der jeden Tag auf dem Markt residierte, zu der Aufgabe zählten.

 

Als eine der Schülerinnen ihn fragte, wie viele er in den beiden Nieren mit sich trug, flüchtete der arme Kerl wütend in das «Rote Pony». Er besetzte seinen Stammplatz auf dem Marktplatz erst wieder, als es Abend wurde und die Schule geschlossen war.

 

«Scher dich weg!» Litwolff konnte jetzt keine Ablenkung brauchen. «Dein Vater muss etwas für mich erledigen.»

 

«F.ü.r.L.i.t.w.u.f. w.a.s e.r.l.e.d.i.g.e.n». Sorgsam, die Zungenspitze bis fast an die Nase hochgeschoben, buchstabierte das kleine Mädchen eine Notiz auf ihre Schiefertafel. Dann schob sie sich durch den Vorhang in den Raum hinter dem Schanktisch, in dem die Handlanger gerade ausruhten. Der Wirt ging davon aus, dass sie dahinter wartete und lauschte. Er beachtete Thilla nicht weiter, die eigenen Probleme beschäftigen ihn mehr.

 

Endlich schlenderte Cryst in seine Richtung. Die Kleidung verriet den Gasthausschläfer. Weinfleckiger Stoffmantel in Übergröße, Stoff genug, um sich für die Nacht einzuwickeln. Dazu abgetragene Stiefel, in einem breiten Gürtel steckte jetzt der Lederhut mit Krempe und einer Feder. Doch Litwolff wusste, dass den Trunkenbold ein fester Lederpanzer schützte. Die weiten Ärmel verbargen Messer, mit denen er vorzüglich umgehen konnte.

 

Während er sich näherte, bemerkte der Wirt als Erstes die Weinfahne seines Vertrauten. Fachmännisch erkannte er den Geruch der «Süßtraube». Der Stärke nach die unverdünnte Sorte. Dies erklärte, wo die letzten Reste aus dem Keller geblieben waren.

 

Als Preis für dn uneingeschränkten Aufenthalt im «Pony» löste Cryst alle Probleme, die sich ergaben. Wenn streitlustige Gäste die Stille und den Frieden im Gasthaus gefährdeten, erschien er wie durch Zauberhand aus den Schatten und sorgte für Ruhe. Und das mit einer Effizienz, die ihn als geborenen Kämpfer auswies.

 

Der richtige Mann für die Lösung des Problems, das die Existens des «Roten Pony» ernsthaft gefährdete.

 

 

Die Schwanengasse

 

Cryst wusste, es gab zwei Orte, an denen Männer unvorsichtig werden und Dinge erzählen, die sie besser verschwiegen. Einer war der Tisch eines Gasthauses nach ein paar Krügen Bier oder Branntwein. Der Zweite im Bett eines Straßenmädchens. Entweder vor dem Akt, um sich wichtig oder das Mädchen gefügiger zu machen. Gern auch danach. Erschlafft und in dem Bemühen, einen mitfühlenden Menschen zu finden, der bereit war Dingen zu zuhören, die, wie man später feststellte, lieber ungesagt gebelieben wären.

 

Auch Thana besaß ein besonderes Geschick darin, gerade in diesen Minuten ihre Kunden auszuhorchen und ihnen das Gefühl zu geben, nicht nur befriedigt, sondern auch verstanden zu werden. Zusätzlich hatte sie an ihm eine Narren gefressen, seitdem er sie aus den brutalen Klauen eines Zuhälter befreite.

 

So dauerte es nur kurze Zeit, bis das Straßenmädchen zu seinen wichtigsten Informanten in den Straßen der Stadt gehörte. Und schnell zu denen, die er er am besten bezahlte, wie er zähneknirschend zugab. Er hielt es deshalb für eine gute Idee, die Suche nach dem verschwundenen Wein bei ihr zu beginnen.

 

Allerdings gab es ein Problem. Shaba, die Hexe, hasste das Straßenmädchen von Herzen. Erfuhr sie von einer Zusammenkunft, suchte sie ihn im «Pony» auf und machte ihm die Hölle heiß. Dabei störte es sie nicht, dass die übrigen Gäste, ihre Standpauke mitbekamen.

 

Cryst seufzte tief. Er musste im Stillen einräumen, dass ihre Vorhaltungen eine gewisse Grundlage besaßen. Aber, er war und blieb ein Mann. Und wenn auch sie nicht müde wurde, zu behaupten, er sei der Vater der kleinen Thilla, leitete sie daraus lediglich Pflichten ihr und seiner angeblichen Tochter gegenüber ab. Jedoch keine Rechte.

 

Er musste das Risiko eines Streits eingehen. Thanas Informationen hatten sich in der Vergangenheit immer als wichtig und unverzichtbar erwiesen. Den Weg zur Schwanengasse kannte er mit geschlossen Augen. Wie fast alle erwachsenen Männer in Thurmbeg.

 

Vielleicht entging Cryst deshalb der Schatten, der ihm leichtfüßig, aber entschlossen folgte.

 

***

Thanas empfing ihre Gäste im ersten Stock eines windschiefen Eckhauses der «Schwanengasse». Nah genug am Rand des berüchtigten Viertels der Stadt, damit die «ehrenwerten» Kunden sich nicht in das Gewirr und den Gefahren des Viertes aussetzen mussten. Aber erkennbar an einer Stelle, die bereits zu den verrufenen Stadtteilen gehörten. Ihre Besucher, so erzählte sie Freunden, mochten das leicht «anrüchige» Ambiente, wenn sie sie aufsuchten.

 

An ihrem Fenster stand außen ein Blumentopf. Nicht, dass die altersschwache Betonie viel hergab, aber sie signalisierte, dass Thana nicht allein und für zärtliche Dienste zur Verfügung stand. Allerdings irritierte Cryst die Art und Weise, wie sie heute die Pflanze aufgestellt hatte.

 

Hatte sie Besuch, drehte sie den einzigen Blütenkopf in Richtung Straße. «Das arme Ding muss ja nicht alles sehen, was in meinem Schlafzimmer so passiert», meinte sie. Doch diesmal lugte die Blüte frech in Blickrichtung ihres Bettes. Dass Thana bereits so früh am Tag betrunken war, hielt Cryst für unwahrscheinlich.

 

Er beschloss, vorsichtig zu Werke zu gehen. Die alte Holztreppe innen knarzte und krächzte bei jedem Schritt. Sie kündigte Besucher lautstark an, was durchaus im Interesse des Straßenmädchens war. Doch dies kam ihm im Augenblick nicht entgegen.

 

Er beschloss, an der Hauswand hochzuklettern und sich erst mit einem Blick durch das Fenster einen Überblick zu verschaffen. Die Risse und Spalten im Mauerwerk gaben genug Halt für die Fingerspitzen eines Kletterers. Dennoch schob er zwei dünne lange Klingen in eine spezielle Falte der Schuhsohlen, so dass ihre Spitzen eine halbe Handbreit nach vorne heraus ragten. Der beste Stahl aus Mith eignete sich hervorragend als Kletterhilfe. Das war nicht die erste Mauer, die er leise und verstohlen erklettern musste. Mit seiner Erfahrung und der Hilfe der kräftigen Finger erreichte Cryst bald das Fenster.

 

Langsam hob er den Kopf, um hineinzuschauen. Die Vorsicht war berechtigt gewesen. Im Schlafzimmer rechts und links von der Tür lauerten zwei unangenehm aussehende Kerle. Jeder hielt ein Messer in der Hand, von der Art, wie sie Strabbel der Schmied häufig an Herumtreiber, Straßenräuber und Steuereintreiber verkaufte. Gut, billig und brechen so gern in der Wunde des Gegners ab.

 

Die Unbekannten lauschten an der Zimmertür. Auf dem üblichen Weg über die Holzstufen hätte ihn das alte Holz rechtzeitig angekündigt.

 

Cryst suchte mit den Stahlspitzen an seinen Füßen einen festen Stand. Er verkeilte sie in einer Mauerspalte so, dass er beide Hände frei bekam. Thana konnte er nicht sehen. Möglich, dass die Männer sie unschädlich machten, in dem sie in den Schrank eingeschlossen oder gefesselt unters Bett schoben. Er hoffte, dass er sie unversehrt finden würde. Ansonsten mussten die Unbekannten mit mehr als nur Ärger rechnen.

 

Mit einem lautlosen Fluch suchte er in den Taschen nach einer geeigneten Waffe. Plötzlich begann die alte Holztreppe zu klingen und zu stöhnen. Kein Zweifel, da war jemand auf dem Weg in Thanas Schlafzimmer.