Buch
Richard Papen stammt aus einfachen Verhältnissen. In einem kalifornischen Provinznest geboren, träumt er von nichts anderem, als von dort weg zu kommen. Endlich gelingt es ihm, ein Stipendium für das College von Hampden in Vermont zu erhalten, und die Welt, der er dort begegnet, schlägt ihn vom ersten Augenblick an in ihren Bann. Besonders fasziniert ist Richard von einer Gruppe fünf junger Studenten, die sich zusammen mit ihm bei dem verschrobenen Griechischprofessor Julian Morrow eingeschrieben haben. Da ist Henry, der Sohn reicher Eltern und heimlicher Kopf des Zirkels, da ist Francis, der leicht dekadente und blasierte Erbe eines großen Vermögens, da sind Charles und Camilla, die Zwillinge, die seit dem Tod ihrer Eltern von den Zuwendungen ihrer Großmutter leben, und schließlich Edmund, von allen »Bunny« genannt, der liebenswürdige Schnorrer, der stets auf großem Fuße lebt, ohne je einen Pfennig in der Tasche zu haben. Gemeinsam mit ihnen paukt Richard Griechisch, zusammen mit ihnen huldigt er dem täglichen Alkohol, in ihrem Kreis verbringt er wunderbare Wochenenden auf Francis’ feudalem Landsitz. Doch bald spürt er, dass unter der Oberfläche unverbrüchlicher Freundschaft Spannungen bestehen und dass ein furchtbares Geheimnis auf seinen Freunden lastet – ein Geheimnis, das auch ihn mehr und mehr in einen dunklen, mörderischen Sog reißt …
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Donna Tartt
Die geheime
Geschichte
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Rainer Schmidt
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel »The Secret History« bei Alfred A. Knopf, New York.
Die Übersetzung der Stelle aus »The Waste Land« wurde dem Band T. S. Eliot, »Das wüste Land«, übertragen von Ernst Robert Curtius, Insel Verlag Leipzig, 1990, entnommen.
Das Zitat aus der »Orestie« wurde dem Band Aischylos, »Die Orestie«, deutsch von Emil Staiger, Reclam, Stuttgart, entnommen.
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1. Auflage
Neuausgabe November 2017
Copyright © der Originalausgabe 1992 by Donna Tartt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1993
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: arcangel/© Alison Burford
Th · Herstellung: kw
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-22595-7
V002
www.goldmann-verlag.de
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Für Bret Easton Ellis,
dessen Großzügigkeit mein Herz
immer erwärmen wird;
und für Paul Edward McGloin,
Muse und Mäzen:
Ich kann nicht hoffen, je einen lieberen Freund
auf dieser Welt zu finden.
Ich frage nun nach der Entstehung des Philologen und behaupte
1. der junge Mensch kann gar nicht wissen, wer Griechen und Römer sind,
2. er weiß nicht ob er zu ihrer Erforschung sich eignet …
FRIEDRICH NIETZSCHE
Unzeitgemäße Betrachtungen
So kommt und lasst uns eine Mußestunde mit Geschichtenerzählen zubringen, und unsere Geschichte sei die Erziehung unserer Helden.
PLATO
Die Republik, Buch II
PROLOG
Der Schnee in den Bergen schmolz schon, und Bunny war seit ein paar Wochen tot, ehe uns der Ernst unserer Lage allmählich dämmerte. Er war zehn Tage tot gewesen, als sie ihn gefunden hatten, wissen Sie. Es war eine der größten Suchaktionen nach einem Vermissten in der Geschichte Vermonts – Staatspolizei, FBI, sogar ein Hubschrauber der Army; das College geschlossen, die Färberei in Hampden dichtgemacht; Leute, die aus New Hampshire, aus dem Staat New York, sogar noch aus Boston herbeikamen.
Es ist schwer zu glauben, dass Henrys bescheidener Plan diesen unvorhergesehenen Ereignissen zum Trotz so gut funktionierte. Wir hatten nicht die Absicht gehabt, die Leiche an einem unauffindbaren Ort zu verstecken. Genau genommen hatten wir sie überhaupt nicht versteckt, sondern einfach liegen gelassen, wo sie hingefallen war, in der Hoffnung darauf, dass irgendein Passant das Pech haben würde, über sie zu stolpern, ehe irgendjemand überhaupt gemerkt hatte, dass Bunny verschwunden war. Es war eine Geschichte, die sich selbst erzählte, einfach und gut: die losen Steine, der Leichnam am Grunde der Schlucht mit gebrochenem Hals, die schlammigen Rutschspuren von auf dem Weg nach unten in den Boden gestemmten Fersen – ein Wanderunfall, nicht mehr, nicht weniger, und dabei hätte man es belassen können, bei ein paar stillen Tränen und einer kleinen Beerdigung, wäre da nicht der Schnee gewesen, der in dieser Nacht fiel; der deckte ihn spurlos zu, und zehn Tage später, als es schließlich taute, da sahen die Staatspolizisten und das FBI und die Suchmannschaften aus der Stadt, dass sie allesamt über der Leiche hin und her gelaufen waren, bis der Schnee darüber wie Eis zusammengepresst worden war.
Es fällt schwer zu glauben, dass es zu einem solchen Aufruhr wegen einer Tat kam, für die ich teilweise verantwortlich war, und es fällt noch schwerer zu glauben, dass ich dort mitten hindurchspaziert bin – durch die Kameras, die Uniformen, die schwarzen Scharen, die auf dem Mount Cataract wimmelten wie Ameisen in einer Zuckerschüssel –, ohne auch nur dem Funken eines Verdachts zu begegnen. Aber durch das alles hindurchzuspazieren war eine Sache; davonzuspazieren hat sich leider als eine völlig andere erwiesen, und obwohl ich mal dachte, ich hätte diese Schlucht an einem Aprilnachmittag vor langer Zeit für immer verlassen, bin ich da jetzt nicht mehr so sicher. Jetzt, wo die Suchtrupps weg sind und das Leben um mich herum wieder still geworden ist, weiß ich, dass ich mir vielleicht jahrelang eingebildet habe, woanders zu sein, dass ich aber in Wirklichkeit die ganze Zeit da war: oben am Rand der Schlucht, bei den schlammigen Wagenspuren im neuen Gras, wo der Himmel dunkel ist über den zitternden Apfelblüten und wo der erste Frosthauch des Schnees, der in der Nacht fallen wird, schon in der Luft hängt.
Was macht ihr denn hier oben?, hatte Bunny überrascht gefragt, als er uns vier sah, wie wir ihn erwarteten.
Na, wir suchen nach neuen Farnen, hatte Henry gesagt.
Und nachher standen wir flüsternd im Unterholz – ein letzter Blick auf die Leiche und ein letzter Blick in die Runde, keine Schlüssel fallen gelassen, keine Brille verloren, hat jeder alles? – und gingen dann im Gänsemarsch durch den Wald, und ich warf noch einen Blick zurück durch die Schösslinge, die sich hinter mir wieder aufrichteten und den Pfad verschlossen. Und so wie ich mich an den Rückweg und an die ersten einsamen Schneeflocken erinnere, die durch die Fichten heruntergeweht kamen, daran, wie wir dankbar nacheinander in den Wagen kletterten und die Straße hinunterfuhren wie eine Familie in den Ferien, wobei Henry mit zusammengebissenen Zähnen durch die Schlaglöcher fuhr und wir anderen, über die Lehne gebeugt, plauderten wie die Kinder, so wie ich mich nur zu gut an die lange, schreckliche Nacht erinnere, die vor uns lag, und an die langen, schrecklichen Tage und Nächte, die darauf folgten, so brauche ich bis heute nur einen Blick über die Schulter zu werfen, und all die Jahre fallen von mir ab, und ich sehe sie wieder hinter mir, die Schlucht, wie sie sich in lauter Grün und Schwarz zwischen den Schösslingen erhebt, ein Bild, das mich nie verlassen wird.
Ich nehme an, es gab eine Zeit in meinem Leben, da hätte ich eine beliebige Anzahl von Geschichten gewusst, aber jetzt gibt es keine andere mehr. Dies ist die einzige Geschichte, die ich je werde erzählen können.
BUCH EINS