Christian Signol

Die Kinder
der Gerechten

Aus dem Französischen
von Corinna Tramm-Berger

Inhalt

Vorwort

Erster Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Zweiter Teil

Fünf

Sechs

Sieben

Dritter Teil

Acht

Neun

Zehn

Elf

Epilog

Impressum

Weitere Bücher

Die französische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Les Enfants des Justes im Verlag Albin Michel, Paris.

ISBN 978-3-8251-6163-7

Erschienen 2017 im Verlag Urachhaus

www.urachhaus.com

© 2017 Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart

© 2012 Editions Albin Michel, Paris

Umschlaggestaltung: Ursula Weismann

Umschlagabbildung: © plainpicture / NaturePL / David Noton

Gesamtherstellung: CPI books GmbH, Leck

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

Vorwort

Präsident Francois Hollande bezeichnete im Jahre 2012 die Gefangennahme, Internierung und Deportation der Juden als »Verbrechen, das in Frankreich von Frankreich verübt wurde«. Mir wäre die Formulierung »vom französischen Staat« lieber gewesen, der in der Tat all dieser abscheulichen Verbrechen schuldig ist, in keiner Weise aber mit dem Frankreich zu jener Zeit gleichgesetzt werden kann. Ich war zutiefst verletzt, ebenso wie ich von den Worten Jacques Chiracs 1995 verletzt war. Nicht meinetwegen, aber im Hinblick auf meine Eltern und Großeltern. Mein Vater engagierte sich während des gesamten Krieges gegen die Nazis, war als Fahnenflüchtiger bei der STO, dem »Pflichtarbeitsdienst«, da er nicht für Hitler arbeiten wollte, und später im Widerstand der Gruppen Veny, im Netz Buckmaster auf dem Kalksteinplateau des Lot. Meine Großeltern, die eine Bäckerei hatten, teilten an alle Flüchtlinge Brot aus: an Spanier, Juden, die Gestrandeten des Exodus. In meinem Heimatdorf wurde nicht ein Einziger denunziert.

Mein Frankreich trägt keine Schuld. Die Helden dieses Romans, an dem mir so viel liegt, Virgile und Victoria, ebenfalls nicht. Sie ähneln in vielem meinen Großeltern. Nicht äußerlich, sondern in ihrer natürlichen Güte und Vorurteilslosigkeit gegenüber wem auch immer und in ihrer Weigerung, das Unglück als gegeben hinzunehmen. Mein Frankreich ist das des Widerstands gegen die Barbarei der Nazis und das der großzügigen Menschlichkeit. Es ist das Frankreich der Demut, der Stille und des Mutes. Auf dieses Frankreich bin ich stolz und fühle mich als wachsamer Hüter der Erinnerung, auch wenn es weder ein Gesetz zum Gedenken noch eines zur Reue gibt.

Christian Signol

März 2012

Vier

Im Verlauf der folgenden Tage fanden sie nicht die Kraft, über diesen Vorfall zu sprechen, der ihnen dermaßen Angst gemacht hatte. Victoria wich Sarah nicht mehr von der Seite, erzählte ihr vom nahenden Weihnachtsfest und versprach ihr, dass sie wie jedes Jahr an der Mitternachtsmesse teilnehmen würden, nicht in Monestier, sondern in Saint-Martial.

»Virgile auch?«

»Ja, Virgile auch. Er ist ein Ungläubiger, aber Weihnachten geht er trotzdem zur Messe.«

Beide blieben sie besorgt, da Dr. Dujaric schlechte Nachrichten aus der besetzten Zone brachte. In diesem Jahr 1941 waren Anfang Dezember in Paris siebenhundertfünfzig Juden französischer Nationalität festgenommen worden, das hatte eine panische Welle in Richtung der freien Zone ausgelöst. Virgile hatte zwei Überfahrten pro Woche durchgeführt, und eine weitere war für den Abend vor Weihnachten geplant. Bei seinem letzten Besuch hatte Victoria den Arzt gefragt, ob sie Sarah mit zur Mitternachtsmesse nach Saint-Martial nehmen könne, doch er hatte es ihr ausgeredet.

»Man sollte nicht gerade jetzt Risiken eingehen. Es wäre besser, davon abzulassen.«

Die Enttäuschung der Kleinen spiegelte das Ausmaß der Erwartung eines wunderbaren Ereignisses wider, so wie Victoria es ihr ausgemalt hatte. Von da an tat sie ihr Möglichstes, um das Haus so schön zu schmücken und Weihnachten vorzubereiten, als gäbe es nichts, das den Glanz trüben könnte. Da bisher nie Kinder zum Fest im Haus gewesen waren, hatten sie auch nie einen Baum geschmückt, geschweige denn Geschenke gekauft. Ihre Einsamkeit war nur durch die Weihnachtsfeiern mit den Nachbarn Henri und Rose im Anschluss an die Mitternachtsmesse erhellt worden. Doch der Krieg hatte diesen ganz gewöhnlichen Freuden ein Ende gesetzt, bei denen man sich vor allem über die Neuigkeiten der nahen und entfernten Familie unterhielt, über das, was in Monestier passierte, und über die Ereignisse des vergangenen Jahres.

Aber dieses Weihnachten war kein gewöhnliches. So bat auch Victoria Virgile, einen Wacholderbaum zu schlagen und ein Spielzeug für Sarah herzustellen. Sie selbst beschloss, nach langer Zeit einmal wieder ins Dorf zu gehen, um ein Geschenk zu kaufen, und während ihrer Abwesenheit vertraute sie die Kleine Virgile an. Es gab zwei Möglichkeiten, nach Monestier zu gelangen: über den Posten auf der Nationalstraße oder über den auf der Brücke über dem Fluss. Sie nahm die Straße, wie sie es gewohnt war, und ignorierte die näher liegende Brücke, die sie zu sehr an Virgiles gefährliche Aktivitäten erinnerte.

Dank ihrer Papiere als Grenzgängerin passierte sie den französischen wie den deutschen Posten ohne Schwierigkeiten und legte die dreihundert Meter bis zum Marktplatz zurück, ohne weiteren Uniformierten zu begegnen. Sie freute sich sehr, die Geschäfte um die Kirche herum endlich einmal wiederzusehen, auch wenn sie ihr weniger gut ausgestattet erschienen als vor dem Krieg. Im ersten kaufte sie Girlanden, ein Paket Baumwolle und Kerzen, im zweiten bat sie, sich die Puppen und Puppenwagen anschauen zu dürfen.

»Sie haben also ein kleines Mädchen zu Hause?«, fragte die Verkäuferin, die sie gut kannte.

Victoria wurde unsicher und antwortete: »Ich erwarte eine meiner Schwestern mit ihrer Tochter.«

»Und wie alt ist sie?«

»Zehn Jahre.«

Während Victoria auswählte, ließ die Chefin nicht davon ab, ihr Fragen zu stellen, als würde sie sie verdächtigen, sodass sich Victoria fragte, ob sie nicht die Gendarmen informierte. Sie verließ das Geschäft mit einem Gefühl des Unbehagens und ohne den Puppenwagen, den sie vorgehabt hatte, zu kaufen. Danach besorgte sie einige Dinge für ihren Haushalt und kaufte Süßigkeiten. Doch es gelang ihr nicht, dieses unangenehme Gefühl abzuschütteln, das sie bis in die Hauptstraße verfolgte und nur noch stärker wurde, als die Deutschen sie aufforderten, ihre Pakete zu öffnen.

»Aha, kleines Mädchen zu Hause!«, stellte der deutsche Posten fest.

Und da Victoria nicht antwortete, sprach er weiter: »Ihr Name?«

Sie hätte beinahe »Sarah« geantwortet, stolperte aber über das Wort und murmelte: »Anne.«

»Und wie alt ist das Kind?«

»Zehn Jahre.«

Am französischen Posten stellte ihr der diensthabende Gendarm keine Fragen, jedoch mochte sie den Blick, den er ihr zuwarf, ganz und gar nicht, sodass sie sich beeilte, nach Hause zu kommen, und sich schwor, keinen Fuß mehr nach Monestier zu setzen. Bis Weihnachten dauerte dieses Gefühl der Bedrohung an, dann erst verschwand es endlich angesichts des Baumes und der darunter liegenden Geschenke.

Virgile hatte aus Pappelholz zwei helle Holzschuhe gefertigt, oben verziert mit einer Lederlasche. Sie fesselten Sarah mehr als die Puppe, das in Glanzpapier eingewickelte Weihnachtskonfekt und die schön verpackten gebrannten Mandeln in den Paketen, obwohl auch diese mit weiteren Bonbons und Schokoladenstückchen versehen waren. Angesichts der Freude der Kleinen waren Victoria und Virgile einfach nur glücklich. Und was war es ihnen für ein Vergnügen, dabei zuzuschauen, wie sie versuchte, mit den Holzschuhen in der Küche auf und ab zu laufen und sie auf dem Holzfußboden wie Victoria klappern zu lassen.

»Ein echtes Mädchen vom Lande, wie ich!«

Tatsächlich hatte Victoria, seit Sarah auf ihrem Hof Sauvénie lebte, nach und nach Kleider gestrickt und gekauft, die ihr das Aussehen eines Kindes vom Lande und nicht aus der Stadt gaben. So war sie im Laufe der Zeit zu Victorias großer Befriedigung allen kleinen Mädchen des Tals ähnlich geworden, und sie betrachtete diese Verwandlung als ein Pfand zusätzlicher Sicherheit.

Sie nahmen ein üppiges Mahl ein: Pasteten, Steinpilze und Kartoffeln in Entenschmalz gegart, feines Gebäck und Obstsalat. Dann spielten sie Karten, da Virgile Sarah im Verlauf der langen Dezemberabende die Grundregeln eines Spiels beigebracht hatte. Es war nach zwei Uhr morgens, als Sarah einwilligte, hinauf in ihr Zimmer zu gehen, die neuen Holzschuhe noch immer an den Füßen. Als sie oben war, stellte sie sie deutlich sichtbar auf die Kommode, sodass sie von ihrem Bett aus zu sehen waren. Victoria beugte sich über sie, um sie zu küssen, und spürte sogleich, wie sich zwei Arme um ihren Hals schlossen.

»Ich werde dich niemals verlassen«, murmelte die Kleine.

Victoria antwortete nicht. Langsam richtete sie sich wieder auf, ging zurück zur Tür und löschte rasch das Licht. Eine Weile blieb sie regungslos auf der Treppe stehen und wischte sich die Augen. Am nächsten Tag war Weihnachten, und Dr. Dujaric besuchte sie mitten am Nachmittag. Wie immer nahm er den Likör, den Virgile ihm anbot, dankend an und geriet in Entzücken über die Holzschuhe und die Puppe, die Sarah ihm zeigte. Dann vertraute er Virgile und Victoria an, dass die Kandidaten, die in die freie Zone passieren wollten, ständig zahlreicher wurden. Sie unterhielten sich lange über dieses Thema, denn der Sektor der Demarkationslinie wurde immer stärker überwacht. Dabei vergaßen sie die Kleine, die sich keine Silbe der Unterredung entgehen ließ, und als schließlich Stille eintrat, meldete sie sich zu Wort.

»Dann werden meine Eltern also auch bald kommen und mich holen?«

Victoria fuhr zusammen und wurde blass.

»Hast du es so eilig, uns zu verlassen?«

Sarah senkte den Kopf, antwortete nicht, und die Stille hielt ewig an. Die ganze Freude, die sich seit ungefähr zehn Tagen in dem für Weihnachten so hübsch dekorierten Haus angesammelt hatte, war im Nu wie weggeblasen.

Kurz darauf, am Tag nach einer Passage, bei der Virgile zwei englische Piloten, deren Maschine in der besetzten Zone abgeschossen worden war, nach Reillac gebracht hatte, tauchten gegen Mittag zwei französische Gendarmen auf Sauvénie auf, als man sich gerade zu Tisch begeben wollte. Virgile, der eben aus seiner Werkstatt gekommen war, ließ sie eintreten, forderte sie jedoch nicht auf, sich zu setzen, denn in dem Kleineren der beiden hatte er den wiedererkannt, der ihn am Flussufer festgenommen hatte. Victoria stand unbeweglich mit einem Handtuch in der Hand am Spülbecken und war erleichtert, dass sich Sarah oben in ihrem Zimmer befand.

Da richtete sich ihr Blick auf die drei Gedecke auf dem Tisch, im selben Moment, als der Brigadier, den seine Pluderhosen über den engen Stiefeln etwas lächerlich wirken ließen, sie ebenfalls bemerkte.

»Zu wievielt leben Sie denn hier?«, fragte er mit einem herausfordernden Blick.

Virgiles und Victorias Blicke begegneten sich und verrieten ihre Verwirrung. Doch Victoria war geistesgegenwärtig genug, um zu antworten, ehe über ihnen Schritte zu hören wären.

»Derzeit sind wir zu dritt. Die Tochter meiner Schwester hat uns in den Weihnachtsferien besucht.«

In diesem Moment erschien Sarah auf der Mitte der Treppe, und als sie die Männer in Uniform erblickte, wollte sie umdrehen.

»Komm nur herunter! Hab keine Angst!«, sagte Victoria und ging rasch auf die Treppe zu. Und da die Kleine zögerte, stieg sie ihr einige Stufen entgegen und nahm ihre Hand. »Setz dich hin!«, sprach sie weiter, »wir werden sehr bald essen.«

Sarah wurde von einem nicht zu kontrollierenden Zittern heimgesucht, das den Gendarmen nicht entgehen konnte.

»Wie heißt die Kleine?«, fragte der Brigadier.

»Anne«, antwortete Victoria überstürzt.

»Können Sie sie nicht selbst antworten lassen? Hat sie keine Zunge?«

Sarah hob den Kopf und sagte leise: »Ich heiße Anne.«

Innerhalb von sechs Monaten hatte sie ihren Akzent so gut wie verloren, und da sie ganz leise gesprochen hatte, war das, was noch davon übrig geblieben war, nicht zu hören gewesen.

»Und wo wohnt sie außerhalb der Ferien?«, fragte der Brigadier.

»In Labarrère.«

»Das liegt in der besetzten Zone. Haben Sie Papiere?«

Victoria machte Virgile ein Zeichen, die Schublade des Buffets hinter ihm zu öffnen. Er hielt dem Gendarmen die Dokumente hin, der sie eine ganze Weile untersuchte und sie ihm dann mit den Worten zurückgab: »Sie wird also am Ende der Ferien wieder abreisen. Das heißt in drei Tagen, wenn ich mich nicht irre?«

»Sie wird ein wenig länger bleiben«, sagte Victoria, »da ihre Mutter – meine Schwester – krank ist.«

Der Brigadier sagte einen Moment lang nichts, als wollte er die von Victoria ausgesprochenen Worte abwägen, dann fragte er: »Was hat ihre Schwester?«

»Tuberkulose.«

Eine lange Stille trat ein, während der die Blicke der Gendarmen mit Nachdruck auf der Kleinen ruhten. Dann wandte sich der Brigadier an Virgile.

»Sie haben einen Kahn, nicht wahr?«

»Ja, habe ich«, antwortete Virgile nach kurzem Zögern.

»Wo befindet er sich?«

»Hinter meiner Werkstatt.«

»Wenn ich mich recht erinnere, sind Sie Schreiner?«

»Ja.«

»Und benutzen Sie den Kahn in dieser Jahreszeit?«

»Manchmal. Um Barsche und Hechte zu angeln.«

»Im Winter?«

»Ja, das ist die Jahreszeit für den Raubfisch.«

Der Brigadier richtete sich auf und fuhr in einem bemüht geistreichen Ton fort: »Und Sie fangen nie etwas anderes als Barsche?«

»Manchmal Forellen, aber nur sehr selten.«

Victoria entspannte sich, da sie begriff, dass die Gendarmen nicht wegen Sarah, sondern wegen der nächtlichen Aktivitäten auf dem Fluss gekommen waren. Und was das betraf, ging sie davon aus, dass Virgile sich würde verteidigen können.

»Nachts angle ich nicht«, sagte er. »Ich weiß, dass es verboten ist.«

Der Brigadier argwöhnte, dass man sich über ihn lustig machte, und verdrehte wütend die Augen.

»Nun, Sie werden künftig gar nicht mehr angeln können, weder nachts noch tagsüber, weil ich Ihren Kahn beschlagnahme.«

»Aber ich brauche ihn!«, empörte sich Virgile.

»Sind Sie Schreiner oder Fischer?«

»Beides.«

Der Brigadier überlegte, dann sprach er mit einer Stimme weiter, in der eine eindeutige Drohung wahrzunehmen war.

»Tun Sie nicht zu viel, Monsieur Laborie, sonst bringen Sie sich in eine missliche Lage.«

»Man soll nicht mehr angeln dürfen?«, bemerkte Victoria und kam so ihrem Mann zu Hilfe. »Und seit wann?«

»Seien Sie still!«, herrschte der Brigadier sie an. »Sie wissen ganz genau, dass es nicht ums Angeln geht! Sie befinden sich nah genug am Fluss, um zu wissen, was nachts dort vor sich geht. Seien Sie froh, dass ich nur Ihren Kahn beschlagnahme, anstatt Sie festzunehmen. Bringen Sie ihn heute Nachmittag Punkt vier Uhr an die Brücke hinunter. Haben Sie verstanden?«

»Sie brauchen nicht so zu schreien!«, sagte Victoria. »Wir sind nicht taub. Wir haben es gehört.«

Sie hatte nur noch einen Gedanken im Kopf: dass diese Männer verschwänden, dass sich die Gefahr von dem Kind entfernte, das man ihr anvertraut hatte.

»Und wann bekomme ich ihn zurück?«, fragte Virgile unvorsichtigerweise.

»Im Moment geht es darum, den Kahn zu beschlagnahmen, nicht darum, wann Sie ihn zurückbekommen! Haben Sie das jetzt kapiert?«

Er legte die Hand an seine Mütze und gab seinem Kollegen das Zeichen zum Aufbruch. Der zweite Gendarm war während der gesamten Unterhaltung stumm geblieben, seine Augen waren jedoch lebhaft überall im Raum umhergewandert. Sie gingen, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Stille trat plötzlich ein, dann ging Victoria zu Sarah, setzte sich neben sie und umfasste ihre Schultern mit den Worten: »Hab keine Angst, es ist vorbei.«

Die Kleine zitterte immer noch. Sie lehnte sich an Victoria, die ihr über die Haare strich und zu Virgile sagte: »Hol die Suppenschüssel. Essen wir, das wird uns guttun.«

Er erhob sich und kam bald darauf mit der dampfenden Schüssel zurück, die nach kräftiger Brotsuppe duftete. Dann füllte er Sarah, Victoria und zuletzt sich selbst ein.

»Dr. Dujaric wird sich nicht freuen«, murmelte er.

Victoria dachte stillschweigend nach, dann antwortete sie: »Vielleicht ist es besser. Es ist wirklich zu gefährlich geworden.«

In der Tat war sie in einer Hinsicht beruhigt: Sarahs Anwesenheit auf Sauvénie war nun bekannt und durch die Kontrolle der Papiere legitimiert. Was die Transporte betraf, hatte sie in den letzten Nächten solche Ängste ausgestanden, dass die Enteignung des Kahns auch eine Erleichterung bedeutete. Der Arzt würde das verstehen, und sie versuchte, es auch Virgile zu erklären. Ihm aber fiel es schwer, sich von diesem Boot zu trennen, das er selbst aus Weidenholz gebaut und das ihn seit zwanzig Jahren in seinen Stunden der Freiheit begleitet hatte.

»Ich werde ein anderes bauen«, sagte er.

»Sicher wirst du das. Aber erst einmal gibst du das alte zur vereinbarten Zeit ab. Ich habe keine Lust, in diesem Haus so bald wieder Uniformen zu sehen.«

Sie beendeten ihre Mahlzeit in einer Stille, die nur dann und wann von Victorias beruhigenden Worten Sarah gegenüber unterbrochen wurde. Dann machte sich Virgile, nachdem er seinen Kaffee getrunken hatte, auf den Weg zu seiner Werkstatt, wo die Arbeit auf ihn wartete. Dennoch hatte er dort nicht den Mut, auch nur das kleinste Werkzeug in die Hand zu nehmen. Dass man ihm sein Boot beschlagnahmte, empörte ihn. Er malte sich alle möglichen Strategien aus, um es der Konfiszierung zu entziehen, doch jedes Mal kam er zu derselben Erkenntnis wie Victoria: Es musste vermieden werden, die Gendarmen auf Sauvénie wiederzusehen.

Schließlich gab er auf und brachte den Kahn kurz vor der vereinbarten Zeit zur Brücke hinunter – ein letztes Mal genoss er die Freude, die er immer beim Dahingleiten auf dem vertrauten Wasser verspürt hatte. Er übergab ihn den beiden französischen Gendarmen, die gemeinsam mit zwei deutschen Soldaten Dienst hatten. Da erst begriff er, dass die Franzosen nur den Besatzern gehorchten, und seine Resignation verwandelte sich in Wut. Eiligen Schrittes kehrte er nach Sauvénie zurück, brütete über Rachegedanken und war fest entschlossen, den Kampf zusammen mit Dr. Dujaric wiederaufzunehmen, dessen baldigen Besuch er sich dringend herbeiwünschte.

Der Arzt ließ zwei Tage lang auf sich warten, denn die Überwachung um Monestier herum war seit den zahlreichen Überfahrten im Dezember verstärkt worden. Glücklicherweise dachte niemand daran, seine vielen Besuche bei den Bewohnern der Bauernhöfe auf beiden Seiten der Demarkationslinie einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Er besaß nicht die übliche Karte der Grenzbewohner, sondern einen echten Passierschein, der monatlich – und bis zu diesem Tag ohne die geringsten Schwierigkeiten – erneuert wurde.

Selbstverständlich war er über die von den Deutschen geforderte Beschlagnahmung des Bootes auf dem Laufenden, doch er schien nicht besonders betroffen. Im Gegenteil, er pflichtete Victoria bei.

»Es ist wirklich zu gefährlich geworden. Es wurde dringend Zeit, eine andere Methode anzuwenden.«

Und er hatte auch bereits eine Idee: Er erklärte Virgile und Victoria, dass die Demarkationslinie etwa senkrecht zum Fluss verlief, dessen Strömung von Osten nach Westen ging. Die Grenze zwischen besetzter und freier Zone entsprach also einer Nord-Süd-Linie. Seine Argumentation war einfach: Wenn man nicht mehr den Fluss passieren konnte, würde man eben durch den Wald gehen.

»Hier in Monestier sind zu viele Leute unterwegs«, schloss er. »Wir sind schon dabei, einen Weg einige Kilometer südlich, ungefähr zwischen Villefranche und Saint-Rémy, ausfindig zu machen. Wir werden die Linie am höchsten Punkt bei Brugère passieren. Von Ihnen aus sind es fünf oder sechs Kilometer, um zum Kontakt zu kommen. Können Sie mir helfen?«

Da Virgile und Victoria sich fragend ansahen, fügte er hinzu: »Es besteht keine große Gefahr, die Nationalstraße auf offener Strecke zwischen Monestier und Saint-Martial zu überqueren. Danach führt in westlicher Richtung eine Landstraße durch den Wald, die wenig benutzt wird. Von da an kann man auf kleineren Pfaden weitergehen.«

»In welche Richtung?«, fragte Virgile verwirrt.

»Richtung Périgueux natürlich, aber für Sie endet der Weg zwischen Brugère und Saint-Rémy. Weiter brauchen sie nicht zu gehen.«

Er schwieg und musterte Virgile und Victoria. Das Format und die Kraft, die dieser Mann ausstrahlte, waren ungewöhnlich. Die hellen Augen unter seinen braunen Haaren beeindruckten jeden, der sie zu fixieren wagte.

»Ich will weitermachen«, sagte Virgile. »Ich höre nicht auf, nur weil sie mir mein Boot genommen haben, im Gegenteil.«

Victoria begriff, dass dies für Dr. Dujaric als Grund nicht genügte, der mehr Überzeugung erwartete.

»Es werden Kinder wie unsere Kleine in Gefahr sein«, seufzte Victoria.

»Ja, viele«, stimmte der Arzt zu. Er blickte um sich und fuhr fort: »A propos, wo ist sie?«

»Sie spielt in ihrem Zimmer.«

»Das trifft sich gut, da ich Ihnen etwas Wichtiges anzuvertrauen habe.«

Victoria, die wie immer in der Nähe des Spülbeckens stand, spürte, wie ihre Knie nachgaben. Sie ging zum Tisch, an dem Virgile und der Arzt einander gegenüber saßen, und setzte sich ebenfalls. Doch Dr. Dujaric zögerte nun, als wäre das, was er ihnen zu verkünden hatte, außergewöhnlich ernst.

»Ich muss es Ihnen doch sagen«, murmelte er. »Ihre Eltern haben Zuflucht in einem Vorort von Périgueux gefunden. Sie werden etwa in acht Tagen die Linie passieren.«

Virgile drehte den Kopf zu Victoria, die völlig blass geworden war.

»Ich weiß, dass es hart für Sie wird, aber eine Frau wird sie holen.«

Seine Gastgeber sahen so erschüttert aus, dass der Arzt nicht weitersprechen konnte. Als Victoria ihn mit einem vorwurfsvollen Blick ansah, senkte er den Kopf, obwohl er es gewohnt war, Krankheit oder Tod zu verkünden. Was ihn jetzt bei seinen Gastgebern jedoch am meisten traf, war ihr Schweigen. Ein würdiges, aber doch bestürztes Schweigen.

»Es tut mir leid«, sagte er.

Und leiser: »Ich überlasse es Ihnen, es ihr selber zu verkünden.«

Dann fügte er mit einer Geste der rechten Hand hinzu: »Oder aber ich kann es selber tun. Es macht mir nichts aus. Wie Sie wollen.«

Das Schweigen hielt an und wurde vom Ticken der Uhr nur noch betont.

»Ich verspreche, Ihnen weitere Kinder anzuvertrauen«, fuhr er fort. »Ich brauche Menschen wie Sie, die fern der Städte und Dörfer leben. Die Verhaftungen häufen sich, wie ich Ihnen schon gesagt habe. Das heißt auch, dass immer mehr Kinder von ihren Eltern getrennt werden.«

Der Blick, den Victoria ihm zuwarf, ließ ihn innehalten. Er verstand, dass es keinen denkbaren Trost für die beiden gab, wenn sie Sarah verlören. Virgile betrachtete seine geöffneten Hände vor sich, die ein wenig zitterten. Victoria hatte sich wieder gefasst, fand aber immer noch nicht die Kraft zu sprechen.

»Ich habe Ihnen vom erstem Tag an nichts verheimlicht«, sprach der Arzt wieder weiter. »Ich habe Ihnen immer gesagt, dass sie nicht bleiben wird.«

»Das stimmt«, sagte Virgile und brach endlich das Schweigen. Er versuchte, dies auch Victoria in Erinnerung zu rufen, doch war sie in diesem Augenblick nicht in der Lage, es zu hören.

»Mit zehn Jahren braucht man seine Mutter«, fuhr der Arzt fort.

Victoria wich mit dem Oberkörper zurück, als wäre sie geschlagen worden.

»Entschuldigen Sie«, warf er ein, »ich weiß ja, dass Sie zehn Monate lang ihre Mutter gewesen sind.«

Bei diesen Worten schien es, als würde Victoria aus einem bösen Traum erwachen.

»Versprechen Sie mir nur eines, Doktor. Wenn sie je wieder von ihren Eltern getrennt wird … bringen Sie sie mir zurück.«

Der Arzt dachte einen Moment lang nach, dann antwortete er: »Ich verspreche es Ihnen.«

Victoria erhob sich, ging zur Spülküche, wo sie begann, mit ihren Kochtöpfen zu hantieren, während Virgile und der Arzt sich ratlos musterten und nichts fanden, was sie hätten hinzufügen können. So vergingen ein oder zwei Minuten, dann richtete sich der Arzt plötzlich auf.

»Man wartet auf mich. Ich bin spät dran.«

Er drückte Virgile die Hand und wandte sich zu Victoria, die über ihren Kochtöpfen gebeugt stehen blieb, als wenn sie sich entschlossen hätte, ihm den Rücken zu kehren. Dann ging er auf die Tür zu und blieb auf der Schwelle stehen.

»Auf Wiedersehen, Victoria«, sagte er. »Bis bald.«

»Auf Wiedersehen!«, antwortete sie, weigerte sich jedoch unverändert, sich auch nur ansatzweise zu ihm umzudrehen.

In den folgenden vierundzwanzig Stunden fanden weder Virgile noch Victoria die Kraft, Sarah die Neuigkeit zu verkünden. Dann fügte sich Victoria eines Morgens, geplagt vom schlechten Gewissen, als sie sie weckte, in ihr Schicksal. Sie setzte sich auf die Bettkante und verkündete mit einer betont heiter klingenden Stimme: »Deine Eltern werden in die freie Zone herüberkommen.«

»Wirklich? Wann?«

»In einigen Tagen.«

»In wie vielen?«

»In einer Woche, nicht später.«

Das Kind stieß einen Schrei aus und warf sich an Victorias Hals, die beinahe vom Bett gefallen wäre.

»Ich freue mich so!«, sagte sie immer wieder und hielt ihre Arme um Victorias Hals geschlungen, deren leidendes Gesicht sie nicht sah und auf dem sich trotz allem ein zartes Lächeln abzeichnete.

Victoria suchte die notwendige Kraft, um dieser Freude standzuhalten, die sie befürchtet hatte, und die sich nun genauso manifestierte, wie sie es sich vorgestellt hatte.

»Wer hat es dir gesagt?«, fragte das Kind mit leuchtenden Augen und löste sich von Victorias verkrampftem Körper.

»Dr. Dujaric.«

»Also ist es sicher! Ist es wirklich ganz sicher? Werden sie herkommen?«

»Nein. Jemand wird dich holen, um dich zu ihnen zu bringen.«

»Aber wohin denn?«

»Nach Périgueux.«

»Ist das eine Stadt? Ein Dorf?«

»Eine Stadt.«

»Wie Bordeaux?«

»Kleiner.«

»Ich bin so glücklich!«, wiederholte Sarah und drückte jetzt Victorias Hände.

Plötzlich bekam sie Zweifel und sagte: »Du auch?«

»Ja«, sagte Victoria, »ich auch.«

»Danke! Danke!«

Wie sollte sie reagieren, ohne sich zu verraten? Victoria tat so, als würde sie sich genauso freuen wie die Kleine, aber trotz ihrer Anstrengungen übermannte sie die Ergriffenheit. Um Sarahs Freude nicht zu dämpfen, richtete sie sich auf.

»Komm jetzt, steh auf. Wir beide haben viel zu tun.«

Und sie ging hinunter, um das Frühstück zuzubereiten, erleichtert darüber, die Kraft gefunden zu haben, mit Sarah zu sprechen.

Von diesem Morgen an kam es ihr vor, als würden die Stunden zu schnell vergehen, trotz ihrer Anstrengungen, sie zu verlangsamen und sich von Sarahs Gegenwart erfüllen zu lassen, derer sie so bald beraubt sein würde. Virgile dagegen hatte die Sprache verloren. Wenn sie am Tisch saßen, blieben seine Augen an der Kleinen hängen, die weit davon entfernt war, zu ermessen, wie sehr dieser Mann und diese Frau litten, die ihr zwar ans Herz gewachsen waren, aber für sie dennoch nicht mit denen zu vergleichen waren, unter deren Abwesenheit sie litt. Und nicht nur unter ihrer Abwesenheit, sondern auch unter der Angst, sie zu verlieren, sie vielleicht niemals wiederzusehen.

Victoria und Virgile blieben bis spät in die Nacht wach und vermieden es, an die anstehende Trennung zu denken, gegen die sie nichts unternehmen konnten. Zu groß war ihr Kummer darüber, zu sehen, wie Sarah sich freute und auch ihre Freude einforderte, die sie tagtäglich, Stunde um Stunde teilen sollten.

An dem Abend, an dem der Arzt wiederkam, begann die Kleine, ihren Koffer zu packen. Dr. Dujaric kündete für den übernächsten Tag gegen Mittag die Ankunft einer Frau mit Namen Fanny an. Er beschrieb sie kurz, erklärte, dass sie mit einem schwarzen Citroën Trèfle kommen und sogleich wieder abfahren würde.

»Sie können ihr vollkommen vertrauen. Sie arbeitet für eine israelitische Organisation, ›l’Aide Sociale Israélite‹.«

Mehr sagte er nicht, aber Virgile und Victoria verstanden, dass der Arzt wusste, was er tat. Er stand mit sehr gut organisierten Leuten in Verbindung, und das beruhigte sie, was Sarah betraf, auf eine gewisse Weise.

Der letzte Tag wurde für die beiden eine Qual, sie ließen das Kind nicht eine Sekunde allein. Der Abend war von einer Unruhe geprägt, der sie sich unmöglich entziehen konnten. Dann wollte Sarah früh zu Bett gehen, damit »der Morgen schneller herbeikäme«, und Victoria hielt sich nicht länger in ihrem Zimmer auf, wo sie normalerweise noch eine Viertelstunde lang blieb, ehe sie wieder hinunterging.

Am nächsten Morgen um acht Uhr standen der Koffer vor der Tür und das Kind hinter dem Fenster.

»Setz dich«, sagte Victoria. »Wir werden das Auto hören.«

Trotz der Kälte mussten sie dennoch hinausgehen, um auf die Straße zu spähen, und dann wieder zurückkehren. Virgile war nicht arbeiten gegangen. Auch er wartete erschüttert, aber lächelnd und hörte Victoria zu, die nicht mit Vorsichtsmaßnahmen geizte, die genauso vergeblich wie schmerzhaft auszusprechen waren. Schließlich fuhr ein schwarzes Auto auf den Hof, lange vor der vereinbarten Zeit. Eine blonde Frau um die dreißig mit lockigem Haar ging auf die Tür zu, die Sarah eilig öffnete, ehe sie auf die Frau zustürzte. Die Kleine nahm die Hand der Besucherin, die ihr einmal über die Haare strich und dann auf Victoria zuging, die auf der Türschwelle stand.

»Treten Sie ein, bitte«, sagte sie.

Die junge Frau nahm die Verletzbarkeit in der Stimme wahr und nahm die Einladung an. Sie drückte Virgile die Hand, während das Kind fragte: »Wo sind sie? Wie geht es ihnen?«

»Es geht ihnen gut«, antwortete die Besucherin mit einem seltsamen Akzent, den Virgile und Victoria nicht als Hinweis auf ihre elsässische Herkunft erkannten.

»Und wann werde ich sie sehen?«

»Heute Nachmittag. Man braucht nicht lange, um nach Périgueux zu fahren.«

»Dann fahren wir sofort los.«

Die junge Frau bemerkte einen Schatten von Trauer, der über die Gesichter ihrer Gastgeber fuhr, und sagte: »Hast du dich denn schon bei Monsieur und Madame Laborie bedankt?«

»Ja«, sagte Victoria. »Sie ist ein liebes Mädchen.«

Die Besucherin lächelte und hob die Handtasche, die sie neben sich auf die Bank gelegt hatte, auf den Tisch.

»Auch ich möchte mich auf das Herzlichste bei Ihnen bedanken. Monsieur Dujaric hat mir alles erzählt, was Sie für Sarah getan haben. Ihre Eltern und ich sind Ihnen sehr dankbar.« Dann öffnete sie die Handtasche und holte einige Geldscheine heraus. »Ich werde Sie für das bezahlen, was wir Ihnen schulden.«

»Ah! Sie auch!«, rief Victoria aus. »Ich habe ihrer Mutter schon gesagt, dass wir kein Geld wollen.«

»Aber Madame, das ist ganz normal, unsere Organisation hat Mittel für Ausgaben.«

»Vielleicht, aber nicht für uns. Wir sind durch die Gegenwart der Kleinen reichlich entlohnt worden.«

»Sie haben sie verköstigt, gekleidet und beherbergt.«

»Und sogar noch mehr«, sagte Victoria.

Und obwohl sie sich geschworen hatte, der Rührung nicht zu erliegen, sprach sie leise und ergriffen weiter. »Sie hat uns etwas gegeben, das uns lange Zeit gefehlt hat.«

Die Besucherin fragte leise: »Sind Sie wirklich sicher, dass Sie keine Bezahlung wollen?«

»Ganz und gar sicher. Wir leiden keine Not. Wir haben alles, was wir zum Leben brauchen.«

Entgegen ihrem Willen ließ Fanny den Blick durch die Küche schweifen, und Ungläubigkeit war in ihren Augen zu lesen.

»Können wir jetzt gehen?«, fragte Sarah und legte ihre Hand auf den Arm der jungen Frau.

»Ja, wir fahren gleich«, sagte sie. Doch sie rührte sich nicht und betrachtete ihre Gastgeber weiter mit einer Art erschütterter Fassungslosigkeit. »Wenn Sie erlauben, werde ich Sie wieder besuchen«, sagte sie.

»Wann immer Sie wollen«, entgegnete Victoria. »Gern. So werden Sie uns die Kleine wieder zurückbringen.«

»Ich weiß nicht, ob das möglich sein wird«, sagte die Besucherin, »aber ich verspreche Ihnen, dass ich es versuchen werde.«

Sie erhob sich und ging auf die Tür zu, wo Sarah bereits stand. Sie gab zuerst Victoria und dann Virgile die Hand. »Ich werde Sie nicht vergessen.«

Dann drehte sie sich zu Sarah um.

»Sag danke und auf Wiedersehen!«

Das ging schnell. Das Kind hatte es zu eilig, um sich noch lange aufzuhalten, und schnell rückte sie von Victoria ab, die sie ein letztes Mal an sich drücken wollte. Dann lief sie zum Auto und stieg hinein. Anders Fanny, die Virgile und Victoria noch eine Weile betrachtete, ehe sie einstieg. Sie ließ den Motor an, und die beiden erkannten gerade noch die kleine Hand, die hinter der Scheibe winkte.

Eine ganze Zeit lang blieben sie stehen, dann gingen sie langsam zurück ins Haus und setzten sich einander gegenüber an den Tisch, unfähig, auch nur das kleinste Wort herauszubringen. Sie lauschten auf eine Stimme ein Stockwerk höher, obwohl sie wussten, dass sie sie nicht mehr vernehmen würden.

Sieben

Wochen vergingen, in denen nichts dieses geheime, sich selbst genügende Leben störte, außer der Nachricht von Razzien, die am 8. Oktober 1942 in den Dörfern ringsherum stattgefunden hatten. Dr. Dujaric kam zu Besuch und informierte sie, dass die Weisemanns nicht betroffen gewesen waren. Es schien, als wäre die Gefahr für Sarahs Familie in Périgueux nicht größer als vorher, im Gegenteil: In einer großen Stadt nicht aufzufallen, war einfacher als in einer kleinen Ortschaft, in der jeder jeden kannte.

Nach und nach hatte Élie zu erzählen begonnen und erwähnte sogar den Tag, an dem seine Eltern ermordet worden waren. An jenem Abend weinte er sehr lange, doch Victoria begriff, dass es ihm guttat, sich ihnen anvertraut zu haben. Am nächsten Morgen schien er es vergessen zu haben, und Victoria spürte, dass in diesem Kind eine besondere Lebenskraft steckte, was sie schon während seiner Krankheit geahnt hatte.

Virgile schien erleichtert darüber, die Grenze zwischen freier und besetzter Zone nicht mehr überqueren zu müssen. Er hatte seinen Kahn in die Werkstatt geholt und unter einem Haufen Sägemehl verborgen. Zusammen mit Élie, der ihm gern zur Hand ging, verbrachte er ganze Nachmittage dort. Morgens blieb der Junge eher bei Victoria, wenn sie sich um den Hühnerhof und den Garten kümmerte.