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Isidore Kaulbach

Die weiße Nelke

Ein Berlin-Leipzig-Krimi aus den 1920er Jahren

Isidore Kaulbach

Die weiße Nelke

Ein Berlin-Leipzig-Krimi aus den 1920er Jahren

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Herausgeber: Jürgen Schulze, Sebastian Brück
1. Auflage, ISBN 978-3-962810-29-0

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Inhaltsverzeichnis

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Über die Au­to­rin

Über die­ses Buch

Han­deln­de Per­so­nen

Ers­tes Ka­pi­tel.

Zwei­tes Ka­pi­tel.

Drit­tes Ka­pi­tel.

Vier­tes Ka­pi­tel.

Fünf­tes Ka­pi­tel.

Sechs­tes Ka­pi­tel.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel.

Ach­tes Ka­pi­tel.

Neun­tes Ka­pi­tel.

Zehn­tes Ka­pi­tel.

Elf­tes Ka­pi­tel.

Zwölf­tes Ka­pi­tel.

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel.

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel.

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel.

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel.

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel.

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel.

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel.

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel.

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Über krimischaetze.de

Kri­mi­nal­ro­ma­ne sind heut­zu­ta­ge er­folg­reich wie nie. Kri­mi-Klas­si­ker? Da den­ken die meis­ten so­fort an Aga­tha Chris­tie (1890-1976) oder Ed­gar Wal­lace (1875-1932). Tat­säch­lich ge­hör­ten die bri­ti­schen Au­to­ren zu den ers­ten, die in den »wil­den« 1920er Jah­ren ins Deut­sche über­setzt wur­den. Kri­mi-Fans ken­nen oft auch den Schwei­zer Fried­rich Glau­ser (1896-1938), den Na­mens­ge­ber des Glau­ser-Prei­ses – eine der wich­tigs­ten Aus­zeich­nun­gen für deutsch­spra­chi­ge Kri­mi-Au­to­ren. Wie viel­fäl­tig die Kri­mi-Sze­ne in der Wei­ma­rer Re­pu­blik war, ist in der brei­ten Öf­fent­lich­keit je­doch voll­kom­men in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten. Für kri­mis­chaet­ze.de ha­ben sich Jür­gen Schul­ze, Ver­le­ger des Null Pa­pier-Ver­la­ges, und Se­bas­ti­an Brück, Au­tor und Jour­na­list, zu­sam­men­ge­tan, um alte Kri­mi-Best­sel­ler neu zu ent­de­cken und als E-Book ver­füg­bar zu ma­chen – über­ar­bei­tet, in neu­er Recht­schrei­bung und mit er­klä­ren­den Fuß­no­ten ver­se­hen.

Über die Autorin

Isi­do­re Kaul­bach, ge­bo­ren 1862 in Han­no­ver, stammt aus ei­ner be­rühm­ten Künst­ler­fa­mi­lie. Ihr Va­ter Fried­rich Kaul­bach (1822-1903) war Hof­ma­ler im Kö­nig­reich Han­no­ver. Der be­kann­tes­te Ver­tre­ter der Fa­mi­lie war Isi­do­re Kaul­bachs in Mün­chen ge­bo­re­ner Halb­bru­der, der »Baye­ri­sche Ma­ler­fürst« Fried­rich Au­gust von Kaul­bach (1850-1920). Isi­do­re Kaul­bach wuchs im el­ter­li­chen Ate­lier- und Wohn­haus in der Wa­ter­loo­stra­ße 1 auf, heu­te Teil des Wa­ter­loo-Bier­gar­tens. In ih­rer Ju­gend gin­gen im Haus be­rühm­te Künst­ler ein und aus, un­ter an­de­rem Jo­han­nes Brahms, Cla­ra Schu­mann, Franz Liszt, Ernst von Wil­den­bruch, Jo­seph Joa­chim und An­ton Ru­bin­stein. Über die­se Zeit schrieb Isi­do­re Kaul­bach spä­ter das au­to­bio­gra­fi­sche Werk »Fried­rich Kaul­bach. Erin­ne­run­gen an mein Va­ter­haus.« Schon zur Zeit des Deut­schen Kai­ser­reichs pu­bli­zier­te sie er­folg­reich Ro­ma­ne, in der Wei­ma­rer Re­pu­blik war sie zu­dem als Re­dak­teu­rin des Han­no­ver­schen An­zei­gers tä­tig. Kaul­bachs To­des­da­tum ist nicht be­kannt, wird je­doch nach 1931 ver­mu­tet.

Über dieses Buch

In ei­ner Vil­la in der Nähe des Tier­gar­tens fin­det der Kunst­ma­ler Richard Claa­sen in sei­ner an­ge­mie­te­ten Ate­lier­woh­nung eine Lei­che. Es han­delt sich um Ma­ria Go­ladt­ka, Schau­spie­le­rin am Les­sing-Thea­ter, die öf­ter für Claa­sen Mo­dell ge­stan­den hat. Die jun­ge Frau wur­de kurz zu­vor er­sto­chen, Claa­sen be­teu­ert sei­ne Un­schuld, aber die In­di­zi­en spre­chen ge­gen ihn: Die Tat­waf­fe, ein Dolch, be­fand sich in sei­nem Be­sitz. Und sei­ne Hän­de und sein An­zug sind mit Blut be­fleckt. Claa­sen kommt in Un­ter­su­chungs­haft. Der Staats­an­walt Sey­del über­nimmt den Fall – und ge­rät in einen Kon­flikt: Sei­ne Toch­ter Eli­sa­beth ist mit Claa­sen ver­lobt und ver­sucht al­les, um des­sen Un­schuld zu be­wei­sen. Schließ­lich be­auf­tragt Eli­sa­beth den Pri­vat­de­tek­tiv Au­gust Fluth, Licht ins Dun­kel zu brin­gen: Die Spur führt in Claa­sens Ver­gan­gen­heit – und von Ber­lin nach Leip­zig. Da­bei er­ge­ben sich über­ra­schen­de Ver­bin­dun­gen: Nichts ist, wie es zu­nächst scheint, und letzt­end­lich bringt die sel­te­ne wei­ße Nel­ke, die ne­ben der Er­mor­de­ten auf dem Bo­den ge­fun­den wur­de, den ent­schei­den­den Hin­weis …

Isi­do­re Kaul­bachs Krimi­dra­ma lässt das Flair des »al­ten« Ber­lins zwi­schen In­va­li­den­park und Tier­gar­ten le­ben­dig er­schei­nen. Mit die­ser Aus­ga­be ist »Die wei­ße Nel­ke« erst­mals seit den 1920er Jah­ren wie­der er­hält­lich – an die neue Recht­schrei­bung an­ge­passt und mit er­klä­ren­den Fuß­no­ten ver­se­hen.

Handelnde Personen

Ma­ria (»Ma­ri­et­ta«) Go­ladt­ka: Schau­spie­le­rin am Ber­li­ner Les­sing-Thea­ter. Wur­de er­mor­det.

Richard Claa­sen: Kunst­ma­ler. Fin­det in sei­ner Woh­nung die er­sto­che­ne Go­ladt­ka.

Ha­gen­berg: der für den Fall zu­stän­di­ge Un­ter­su­chungs­rich­ter.

Staats­an­walt Sey­del: Verant­wort­li­cher Lei­ter der Er­mitt­lun­gen.

Eli­sa­beth Sey­del: des­sen Toch­ter, mit Richard Claa­sen ver­lobt.

Frau Frey­tag: Be­sit­ze­rin der »Mord­vil­la« und Claa­sens Ver­mie­te­rin

Fried­rich Hen­zen: ein wei­te­rer Mie­ter, teilt sei­ne Woh­nung mit Toch­ter Meta.

Meta Hen­zen: in Richard Claa­sen ver­liebt.

Al­fred Glau­bitz: Rechts­an­walt und ein Be­kann­ter Richard Claa­sens.

Thea Böh­mer: des­sen Ver­lob­te und eine Freun­din von Eli­sa­beth Sey­del

Rie­ke Mül­ler: Dienst­magd in der »Mord­vil­la«

Au­gust Fluth: Ame­ri­ka-Rück­keh­rer und pri­vat Er­mitt­ler

Franz Mark­worth: Klei­ner Gau­ner und Schmuck­dieb

Erstes Kapitel.

Müh­sam rich­te­te er sich im Ses­sel em­por und ließ die Hän­de sin­ken, mit de­nen er das Ge­sicht ver­hüllt hat­te.

Ver­wirrt, ver­stört schau­te er um­her. Vor dem An­blick der Wirk­lich­keit ver­weh­te die lei­se, un­kla­re Hoff­nung, die ihn wäh­rend der Mi­nu­te künst­lich ge­schaf­fe­ner Dun­kel­heit um­spielt hat­te: die Hoff­nung, dass er all das Schreck­li­che nur ge­träumt ha­ben möge. Nein, es war kein Traum! Dies war sein Zim­mer, in dem er je­den Ge­gen­stand kann­te! Dort zur Rech­ten die Tür zum Haus­flur, links wei­ter vor die dunkle, mit Lä­den ver­schlos­se­ne, die über die Ve­ran­da zum Gar­ten führ­te; ihr ge­gen­über die drit­te: der Ein­gang zum Ate­lier. Auf dem Mit­tel­tisch leuch­te­te ru­hig in der schwü­len Luft die Flam­me ei­ner halb her­ab­ge­brann­ten Ker­ze und brei­te­te ein mat­tes Licht über das Ge­mach.

Sie zeig­te ihm al­les, wenn auch zum Teil in Däm­me­rung ver­sin­kend: die Bil­der, die Mö­bel, die Vor­hän­ge, das zar­te Or­na­ment der De­cke. Sie zeig­te ihm auch das Eine, Gräss­li­che, das nicht hin­ein ge­hör­te in die­sen Raum: den Leich­nam, der dalag, nie­der­ge­sun­ken auf den Bo­den, ge­stützt von ei­nem Ses­sel, ge­gen den er ge­fal­len war, halb­auf­recht ge­hal­ten durch den Wi­der­stand – die blas­se, blut­über­ström­te Mäd­chen­ge­stalt, die mit ih­ren großen, weit ge­öff­ne­ten Au­gen, in de­nen das Ent­set­zen des To­des noch wohn­te, un­ver­wandt zu ihm her­zu­bli­cken schi­en.

Er mein­te, die­sen Blick nicht län­ger er­tra­gen zu kön­nen, der so fest auf eine be­stimm­te Stel­le sei­ner Brust ge­rich­tet war, dass er un­will­kür­lich mit der Hand dort­hin griff. Ei­nen dump­fen Laut des Ent­set­zens aus­sto­ßend, sprang er em­por; Blut an sei­nen Hän­den, an sei­ner Brust! Das Blut des Mäd­chens, das dort vor ihm lag, da­hin­ge­mor­det in sei­ner üp­pi­gen Schön­heit!

Das Ge­fühl ei­ner wahn­sin­ni­gen Angst vor der To­ten, die Emp­fin­dung, dass er et­was tun, et­was un­ter­neh­men, dass er Leu­te her­beiho­len müs­se, pack­te ihn plötz­lich. Er stürz­te zur Tür nach dem Flur und drück­te auf die elek­tri­sche Glo­cke, die dort an­ge­bracht war. Ein lan­ger, schril­ler, zit­tern­der Ton klang durch das Haus, aber nie­mand kam.

Er irr­te im Zim­mer um­her, war­tend, zu­wei­len einen ver­stör­ten Blick nach der Lei­che hin­über­sen­dend, de­ren Nähe er ver­mied. Bei ih­rem An­blick kam ihm die Erin­ne­rung an eine an­de­re, ge­lieb­te Mäd­chen­ge­stalt.

»Eli­sa­beth!«, schrie es in ihm auf, und von ei­nem er­höh­ten Schau­der er­grif­fen, eil­te er noch ein­mal zur Glo­cke, um ih­ren Ton von neu­em wach­zu­ru­fen. Zu­gleich aber riss er die Tür selbst auf, durch­eil­te den schma­len, dunklen Kor­ri­dor, öff­ne­te auch die En­tree­tür, trat auf den Flur und rief den Na­men der Magd hin­un­ter ins Sou­ter­rain.

Wie­der ver­gin­gen ein paar Se­kun­den. Die Ge­ru­fe­ne kam nicht. End­lich aber hör­te er ein leich­tes Geräusch, das von oben her zu ihm drang. Zu­gleich sah er, in das Trep­pen­haus hin­ein­spä­hend, wie ein Licht­schein sich aus dem obers­ten Stock­werk zu ihm her­ab­be­weg­te. Dann wur­de eine weib­li­che Ge­stalt auf den Stu­fen sicht­bar, die ein Licht in der Hand hielt.

»Ha­ben Sie ge­ru­fen, Herr Claa­sen?«, frag­te sie, »um Got­tes wil­len, was ist ge­sche­hen?«

»Sie sind es, Fräu­lein Hen­zen! Gott sei dank, dass Sie kom­men!«

»Aber, was fehlt Ih­nen? Sie sind bleich, wie der Tod! Ist ein Un­glück …?«

Er rang ver­geb­lich nach Wor­ten, sein hüb­sches, fei­nes Ge­sicht mit dem dunklen Haar und Bart war ver­zerrt. Mit ei­ner Hand­be­we­gung nur hieß er sie ein­zu­tre­ten. So­bald sie die Schwel­le über­schrit­ten hat­te, stieß sie einen Schrei aus und eil­te zu der Lei­che hin­über, um dann doch, von Ent­set­zen ge­bannt, auf hal­b­em Wege inne zu hal­ten.

»Ist sie … ist sie tot?«, stam­mel­te das Mäd­chen.

»Tot … er­mor­det!«

»Er­mor­det!« Sie sah ihn an; es war ein selt­sa­mer Blick, scharf und klar, aus tie­fen, schwar­zen Au­gen, die auf dem Grun­de sei­ner See­le schie­nen le­sen zu wol­len.

»Ich habe sie ge­fun­den, so wie sie da­liegt. Er­mor­det, hier in mei­nem Zim­mer! Es sind noch kei­ne zehn Mi­nu­ten ver­gan­gen, seit ich nach Hau­se ge­kom­men bin. Auf dem Flur war es dun­kel, Sie ha­ben es ja ge­se­hen. Im Fins­tern tap­pe ich mich nach der Tür, im Fins­tern su­che ich Licht zu ma­chen, das nicht auf sei­nem ge­wohn­ten Plat­ze steht. End­lich habe ich es ge­fun­den, zün­de ein Streich­holz an, und da sehe ich dies! Oh, es ist gräss­lich, gräss­lich!«

»Und eben­so un­ver­ständ­lich, wie gräss­lich«, sag­te das Mäd­chen, mit ih­ren schwar­zen, durch­boh­ren­den Au­gen ihn noch im­mer un­ver­wandt be­trach­tend. »Wie kommt das Fräu­lein hier­her zu Ih­nen um die­se Zeit in die ver­schlos­se­ne Woh­nung?« Sie trat einen Schritt nä­her zu ihm her­an, »Herr Claa­sen, kön­nen Sie sich den­ken, wer die­se ruch­lo­se Tat be­gan­gen ha­ben kann?«

Er öff­ne­te die Lip­pen, um ihr zu ant­wor­ten, aber in dem­sel­ben Au­gen­blick ver­stumm­te er wie­der mit ei­nem er­stick­ten Lau­te des Schre­ckens. An der Ve­ran­da­tür war ein Klop­fen er­tönt, das ihn jäh hat­te zu­sam­men­fah­ren las­sen.

»Es hat ge­klopft, dort an der Tür zum Gar­ten«, sag­te das Mäd­chen, »warum sind Sie so er­schro­cken?«

»Nicht er­schro­cken – nicht wei­ter er­schro­cken – es sind nur die Ner­ven. Der gräss­li­che An­blick hat mich al­ler Fas­sung be­raubt. Ich weiß … ich kann mir den­ken, wer es ist. Es wird der Rechts­an­walt Glau­bitz sein, ein Be­kann­ter von mir, er be­sucht mich öf­ters noch abends und nimmt dann häu­fig den Weg durch den Gar­ten.«

Mit wan­ken­den Schrit­ten ging er zur Ve­ran­da­tür und öff­ne­te sie. Die Flü­gel schlu­gen nach au­ßen auf, so­dass der Da­vor­ste­hen­de in die Däm­me­rung zu­rück­wei­chen muss­te und das Zim­mer nicht so­gleich über­se­hen konn­te. Von dort­her klang eine tie­fe, doch et­was har­te Män­ner­stim­me:

»Gu­ten Abend, Claa­sen … wie geht’s? Nun, wie weit ist seit neu­lich … ich mei­ne, das Por­trät von … Ah … Sie ha­ben Be­such …« Er hielt im Re­den inne und blick­te, nä­her­tre­tend, von Meta Hen­zen auf Richard Claa­sen, als ob ihn de­ren ver­stör­te Mie­nen be­frem­de­ten. Claa­sen aber stell­te sich, um ihm den un­er­war­te­ten An­blick der To­ten zu er­spa­ren, vor ihn hin, er­griff sei­ne bei­den Hän­de und sag­te im Ton tiefs­ter Er­schüt­te­rung:

»Hier ist ein furcht­ba­res Un­glück ge­sche­hen, fas­ten Sie sich zu­sam­men, Glau­bitz, es ist ein Ver­bre­chen…«

Der Rechts­an­walt prall­te ent­setzt zu­rück; in sei­ne ha­ge­ren, bart­lo­sen Züge trat ein Aus­druck töd­li­chen Er­schre­ckens. Fast un­sanft dräng­te er den Ma­ler bei­sei­te. Er hat­te die re­gungs­lo­se Ge­stalt am Bo­den er­blickt.

»Ein Mord!«, schrie er auf, »ein Mord hier bei Ih­nen! Das ist ja die Go­ladt­ka, die Schau­spie­le­rin vom Les­sing-Thea­ter, die Sie ge­malt ha­ben!«

Er tat einen Schritt zu der To­ten hin und starr­te wort­los auf sie nie­der. Dann wand­te er sich um, sah Claa­sen an mit ei­nem wil­den Blick und rief: »Was ist mit ihr ge­sche­hen? Und wer hat die­sen ver­ruch­ten Mord be­gan­gen? Claa­sen, wie kommt sie zu Ih­nen – in Ihre Woh­nung?«

Auf dem Bo­den, un­ter den Saum des Klei­des ge­glit­ten, lag ein spit­zer, blut­be­fleck­ter Dolch. Glau­bitz’ Fuß stieß da­ge­gen. Er hob die Waf­fe auf und be­trach­te­te die spit­ze, schar­fe Klin­ge und den fein­ge­ar­bei­te­ten, alt­sil­ber­nen Griff. Claa­sen hat­te die­sen Dolch für ein Bild als Mo­dell be­nutzt! Mit ei­nem ent­setz­ten Blick hielt der Rechts­an­walt ihn dem Ma­ler ent­ge­gen. »Um Got­tes wil­len … Ihr Dolch, Claa­sen … wie ist das zu ver­ste­hen?«

»Ich weiß es nicht«, stam­mel­te Richard, »ich bin selbst wie vom Schla­ge ge­rührt ge­we­sen … und mein … mein Dolch!«, er ver­stumm­te, asch­fahl im Ge­sicht.

»Ge­rech­ter Him­mel!«, schrie Meta Hen­zen auf ein­mal jäh auf, »Ihr An­zug ist mit Blut be­fleckt … und da … über­all Blut, an Ih­rer Hand … ret­ten Sie sich, Herr Claa­sen, sonst kommt das Ge­richt über Sie!«

Das lei­den­schaft­li­che Mäd­chen stand eine Wei­le mit flie­gen­dem Atem und fun­keln­den Au­gen vor dem nie­der­ge­schmet­ter­ten Man­ne. Dann stürz­te sie hin­aus. Der jun­ge Ma­ler fühl­te, dass eine große Schwä­che ihn zu läh­men droh­te. Mit al­ler Wil­lens­kraft hielt er sich auf­recht. Jetzt be­merk­te auch Al­fred Glau­bitz die Bluts­trop­fen an sei­ner Hand. Er rich­te­te sei­ne wildrol­len­den Au­gen auf den Un­glück­li­chen und fass­te des­sen Ge­lenk mit ei­ser­nem Griff.

»Claa­sen … Claa­sen«, flüs­ter­te er auf­ge­regt, »der Dolch und die Blut­spu­ren … das al­les er­zeugt einen schreck­li­chen Ver­dacht ge­gen Sie!«

Claa­sen brach fast zu­sam­men un­ter der Wucht die­ser zer­mal­men­den Wor­te. Er rang die Hän­de und fiel kraft­los auf einen Stuhl. Von sei­nen blei­chen Lip­pen ka­men end­lich stam­meln­de, von Qual durch­beb­te Wor­te:

»Ret­ten Sie mich aus die­ser ent­setz­li­chen Lage, Glau­bitz, ich fle­he Sie an – ste­hen Sie mir bei!«

»Wir müs­sen über­le­gen, lie­ber Freund, las­sen Sie uns Zeit«, gab der Rechts­an­walt zur Ant­wort. »Was hat­te das Mäd­chen hier bei Ih­nen im Zim­mer zu tun? Zu spä­ter Abend­stun­de? Und die­ser Dolch – kön­nen Sie be­wei­sen, dass er nicht der Ih­ri­ge ist?«

»Ein Rät­sel … ein grau­en­vol­les Rät­sel!«, rief Claa­sen fas­sungs­los.

»Aber Sie ha­ben die Go­ladt­ka doch ge­malt – sie muss doch täg­lich zu ih­ren Sit­zun­gen ge­kom­men sein. Wie ist es mög­lich, dass Ih­nen dies al­les rät­sel­haft sein soll?«

»Und doch kann ich al­les, was ich sage, be­schwö­ren! Oh, sa­gen Sie mir, was kön­nen wir tun?«

Glau­bitz hat­te jetzt sei­ne Er­re­gung ei­ni­ger­ma­ßen über­wun­den. »Zu­nächst wer­de ich ge­hen und einen Arzt ho­len«, sag­te er ru­hi­ger, »Dok­tor Grü­ner wohnt hier ganz in der Nähe. Und dann – es ist bes­ser, da­mit nicht zu lan­ge zu war­ten – wer­de ich auch gleich die Po­li­zei be­nach­rich­ti­gen.«

»Tun Sie das – ge­hen Sie, aber kom­men Sie bald zu­rück!«

Glau­bitz ver­ließ das Zim­mer und ließ Richard Claa­sen in Verzweif­lung zu­rück. Eine dump­fe Nie­der­ge­schla­gen­heit über­fiel die­sen. Wie im schwe­ren Traum saß er da auf ei­nem Stuhl ne­ben dem Tisch; er fühl­te nicht und dach­te nicht; es lag nur wie ein Alp­druck auf ihm. Drau­ßen lie­ßen sich bald ver­wor­re­ne Stim­men, Schrit­te, has­tig her­vor­ge­sto­ße­ne Lau­te ver­neh­men. Dann wur­de die Tür auf­ge­ris­sen, die Magd stürz­te in das Zim­mer, laut wei­nend und sich an­kla­gend, dass sie das Haus ver­las­sen habe, wäh­rend nie­mand zu sei­nem Schut­ze da war. Ihr auf dem Fuß folg­ten der Kri­mi­nal­kom­missar Mey­er und ein Schutz­mann in Beglei­tung von Al­fred Glau­bitz.

Noch im­mer saß Claa­sen, ei­nem Be­täub­ten gleich im Ses­sel. Er war un­fä­hig auf­zu­ste­hen, als die Be­am­ten mit Glau­bitz ein­tra­ten. Die fla­ckern­de Ker­ze war fast her­ab­ge­brannt und ver­brei­te­te ein un­si­che­res Licht.

Nach ei­ner klei­nen Pau­se er­schi­en auch der Arzt.

»Brin­gen Sie eine Lam­pe«, be­fahl der ers­te Be­am­te dem Dienst­mäd­chen.

Als die­ses, zit­ternd am gan­zen Kör­per, den Auf­trag er­füllt hat­te, be­trach­te­ten die Be­am­ten ge­nau die Lage der Lei­che und un­ter­such­ten mit kun­di­gem Auge die Wun­de und die Blut­spu­ren. Da­bei un­ter­lie­ßen sie nicht, den Ma­ler scharf zu be­ob­ach­ten, des­sen Ver­stört­heit ih­nen zu den­ken gab. We­nigs­tens wech­sel­ten sie einen Blick des Ein­ver­ständ­nis­ses mit­ein­an­der, als Glau­bitz ih­nen die ver­häng­nis­vol­le Waf­fe aus­hän­dig­te.

»Ge­hört Ih­nen die­ser Dolch?«, frag­te der Kri­mi­nal­kom­missar.
Richard nick­te.

Der Schutz­mann such­te in­des­sen nach Ge­gen­stän­den, die viel­leicht die Sa­che noch kla­rer er­hel­len konn­ten. An­fangs fand er nichts; doch end­lich bück­te er sich nach ei­nem Ge­gen­stand, den der Schein der Lam­pe, die er in der Hand hielt, grell be­leuch­te­te: Es war eine große, wei­ße Nel­ke. Der Mann hob die Blu­me auf und be­trach­te­te sie. Der Fund schi­en an sich nicht wich­tig; nur weil al­les, was ne­ben der Lei­che auf dem Bo­den lag, viel­leicht auf ir­gend eine Spur füh­ren konn­te, er­hielt das Dienst­mäd­chen den Auf­trag, die Nel­ke in ein Was­ser­glas zu stel­len.

Der Arzt hat­te in­zwi­schen die Wun­de un­ter­sucht; er konn­te nichts tun, als den vor etwa ei­ner Drei­vier­tel­stun­de ein­ge­tre­te­nen Tod zu kon­sta­tie­ren.

Eben woll­te der Kri­mi­nal­kom­missar mit Claa­sen, an des­sen An­zug er die Blut­spu­ren wahr­ge­nom­men hat­te, ein Ver­hör be­gin­nen – da tra­ten Meta Hen­zen und de­ren Va­ter ins Zim­mer. Der Buch­hal­ter Hen­zen, ein ha­ge­rer Mann, des­sen kno­chi­ges Ge­sicht von ei­nem lan­gen, wei­ßen Bart um­rahmt war, gab sich stets das An­se­hen großer Ehr­wür­dig­keit. Er hat­te mit­un­ter et­was Fei­er­li­ches in sei­nem We­sen, na­ment­lich bei au­ßer­or­dent­li­chen Vor­fäl­len, wenn er zu­fäl­lig Zeu­ge war. Er war viel in der Welt her­um­ge­kom­men, und man hielt ihn für einen ab­son­der­li­chen Men­schen.

Ganz im Ge­gen­satz zu sei­ner leicht er­reg­ba­ren Toch­ter, be­wahr­te er fast im­mer eine äu­ße­re Ruhe. Meta zog ihn zu der Lei­che her­an und rief au­ßer sich: »Sieh hier, Va­ter, so lag sie, als ich ein­trat, mit der blu­ti­gen Wun­de in der Brust! Und Herr Claa­sen sah selbst aus, wie der Tod! Ha­ben Sie kei­nen Ver­dacht, wer es ge­tan ha­ben könn­te?«, wand­te sie sich an die Be­am­ten, wäh­rend ihr Blick auf den Ma­ler ge­rich­tet war, der noch im­mer in der­sel­ben Stel­lung ver­harr­te.

»Der Dolch die­ses Herrn, der dort auf dem Bo­den ge­fun­den wur­de, und die Blut­spu­ren an sei­nen Rock ge­ben al­ler­lei zu den­ken«, be­rich­te­te Mey­er.

»Re­den Sie doch, Herr Claa­sen«, rief Meta lei­den­schaft­lich, »sa­gen Sie doch, dass Sie un­schul­dig sind … wenn Sie es kön­nen!«

»Mä­ßi­ge dich, Mäd­chen«, un­ter­brach sie Hen­zen mit sei­ner ge­mes­se­nen Stim­me. »Es ist nichts so fein ge­spon­nen, es kommt end­lich an die Son­nen. Der Herr­gott da oben wird den Weg zei­gen, der zu dem wah­ren Tä­ter führt.«

Kein Zu­cken in dem ei­ser­nen Ge­sicht des Man­nes ver­riet, dass ihn der An­blick der Er­mor­de­ten er­schüt­tert hat­te.

Der Kri­mi­nal­kom­missar nahm den Tat­be­stand auf, nach­dem er ein kur­z­es Ver­hör mit Claa­sen be­en­det hat­te. Die­ser sag­te da­bei nichts an­de­res aus, als zu­vor Meta und Glau­bitz ge­gen­über. Aber die Ver­dachts­grün­de wa­ren so schwer­wie­gend, dass Mey­er es für sei­ne Pf­licht hielt, ihn in Haft zu neh­men.

»Mor­gen früh«, sag­te er, »wird die ein­ge­hen­de Un­ter­su­chung durch den Herrn Land­ge­richts­rat und den Ge­richts­arzt statt­fin­den; wenn es Ih­nen dann ge­lingt«, wand­te er sich an den Ma­ler, »Ihre Un­schuld zu be­wei­sen und die vor­lie­gen­den Ver­dachts­grün­de zu ent­kräf­ten, dann wird man Sie wie­der auf frei­en Fuß set­zen; einst­wei­len sind Sie im Na­men des Ge­set­zes mein Ge­fan­ge­ner.«

Richard Claa­sen wi­der­setz­te sich nicht, als die Be­am­ten ihn in ihre Mit­te nah­men und ihn ab­führ­ten; un­ter trot­zi­gem Stolz ver­barg er, wie sehr er in­ner­lich litt; er knirsch­te mit den Zäh­nen vor ohn­mäch­ti­ger Wut und hät­te am liebs­ten wie ein Löwe um sei­ne Ehre, sei­ne Frei­heit ge­kämpft. Nur die Ein­sicht, dass der Kampf ver­ge­bens sein wür­de, brach sei­nen Wi­der­stand.

Meta Hen­zen aber sah mit tiefs­ter Er­schüt­te­rung den Aus­druck von Qual und Lei­den in Richards Zü­gen. Ihre Bit­ter­keit ge­gen ihn be­gann zu schwin­den; doch als sie ihn fle­hend an­sah, wäh­rend er den schwers­ten Gang sei­nes Le­bens an­trat, blick­te er an ihr vor­über voll kal­ter Gleich­gül­tig­keit. Und glü­hend lo­der­te ihr lei­den­schaft­li­cher Hass wie­der em­por. Moch­te er zu Grun­de ge­hen – moch­te er sei­ne Stra­fe er­lei­den für den Mord, den er be­gan­gen hat­te!

Zweites Kapitel.

Schwül und son­nen­durch­glüht brach nach ei­ner Ge­wit­ter­nacht der nächs­te Mor­gen an. Das Haus, in dem der Mord ge­sche­hen war, stand im vol­len Licht. Die Blu­men des Vor­gar­tens duf­te­ten, und die Ul­men am Git­ter be­weg­ten spie­lend ihre Zwei­ge. Nie­mand hät­te ah­nen kön­nen, dass die­ses Haus über Nacht in eine Stät­te des Grau­ens ver­wan­delt wor­den war.

Die Kri­mi­nal­be­am­ten frei­lich, die mit dem Land­ge­richts­rat Ha­gen­berg und dem Ge­richts­arzt prü­fend das Haus und sei­ne Um­ge­bung be­trach­te­ten, ver­rie­ten den Vor­über­ge­hen­den, dass hier et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­ches vor­ging. Die­se Her­ren sa­hen nicht aus, als ob sie den Stand der Blu­men be­gut­ach­ten oder sich an dem leuch­ten­den Grün der Bäu­me er­freu­en woll­ten!

Be­vor Ha­gen­berg das Haus selbst be­trat, mus­ter­te er des­sen äu­ße­re Si­tua­ti­on ge­nau. Es lag an ei­ner der ele­gan­ten Stra­ßen des mo­der­nen Ber­lin, die am Tier­gar­ten ent­lang füh­ren, zeig­te Cha­rak­ter und Stil ei­ner nicht sehr um­fang­rei­chen Vil­la und war auf al­len Sei­ten von ei­nem dicht­be­grün­ten Gar­ten um­ge­ben. Vom Git­ter des Vor­gar­tens war es un­ge­fähr zwan­zig Schrit­te ent­fernt, hat­te eine Hoch­par­terre, zu des­sen Tür vier Stu­fen em­por­führ­ten, ein obe­res Stock­werk mit fünf Fens­tern Front und dar­über ein stei­les, schie­fer­be­deck­tes Dach mit drei Man­sar­den­fens­tern. Zwei Wege führ­ten um das Ge­bäu­de her­um an den bei­den Sei­ten­fron­ten ent­lang, die gleich der vor­de­ren je fünf Fens­ter, aber kei­ne wei­te­re Tür­öff­nung auf­wie­sen. Da­ge­gen be­fand sich an der Rück­sei­te der Vil­la eine gleich­falls um vier Stu­fen über den Gar­ten er­höh­te Ve­ran­da, die sich, von der einen Ecke des Hau­ses be­gin­nend, zwei Fens­ter weit an ihm hin­zog und mit dem In­nern durch eine Glas­tür in Ver­bin­dung stand. Nach hin­ten und nach den Sei­ten dehn­te der Gar­ten sich so weit aus, dass man von den Nach­bar­grund­stücken und -ge­bäu­den jetzt zur Som­mer­zeit kaum eine Spur zu er­bli­cken ver­moch­te.

Das Haus lang­sam um­schrei­tend hat­ten die Her­ren des Ge­rich­tes die­se Tat­sa­chen fest­ge­stellt, als der Kri­mi­nal­kom­missar Mey­er an der Rück­sei­te des Hau­ses mit ei­nem Ruf der Über­ra­schung plötz­lich ste­hen blieb. Er deu­te­te leb­haft auf eine Stel­le un­ter dem Fens­ter, das als drit­tes von der Ecke des Hau­ses ne­ben der Ve­ran­da lag, und rief: »Se­hen Sie hier – se­hen Sie doch, Herr Land­ge­richts­rat, die­se fri­sche Ab­schür­fung an der Mau­er un­ter dem Fens­ter! Und ge­ra­de un­ter die­sem Fens­ter, das di­rekt in das Mord­zim­mer führt!«

Ha­gen­berg sah durch sei­ne Bril­le be­däch­tig nach der be­zeich­ne­ten Stel­le.

»Hm, ja …« sag­te er ge­dehnt, »dem­nach scheint es fast, als hät­te der Spitz­bu­be den Weg durch das Fens­ter ge­nom­men. Üb­ri­gens kann auch ich Ih­nen et­was zei­gen, was Sie bis­her noch nicht ge­se­hen ha­ben. Be­mer­ken Sie die Fuß­spu­ren hier in dem wei­chen Bo­den des Bee­tes un­ter dem Fens­ter?«

»Frei­lich! Wahr­haf­tig!«, rief der Kri­mi­nal­kom­missar und knie­te im Ei­fer des Su­chens auf der vom Ge­wit­ter­re­gen noch feuch­ten Erde des We­ges nie­der. »Das sind Fuß­spu­ren, un­ver­kenn­bar, auch die Re­se­d­a­pflan­ze hier ist nie­der­ge­tre­ten. Aber die Spu­ren sind durch den Re­gen in der Nacht ver­wischt wor­den; man kann nicht mehr er­ken­nen, in wel­cher Rich­tung der Fuß sich ein­ge­drückt hat.«

»Ha­ben Sie ges­tern Abend nichts da­von be­merkt?«

Der Kom­missar wur­de rot vor Är­ger. »Nein. Herr Land­ge­richts­rat, lei­der nein! Ich habe selbst­ver­ständ­lich ge­nau un­ter­sucht, ob die Fens­ter und die Ve­ran­da­tür des frag­li­chen Zim­mers ver­schlos­sen wa­ren, aber da ich al­les in Ord­nung fand, so …«

»Dies Fens­ter war also ver­schlos­sen?«

»Al­ler­dings.«

»Wis­sen Sie das ganz ge­nau?«

»So wahr ich Sie hier vor mir sehe, Herr Land­ge­richts­rat. Nur die Ve­ran­da­tür war spä­ter ge­öff­net wor­den, weil Herr Rechts­an­walt Glau­bitz, der heu­te als Zeu­ge er­schei­nen wird, durch sie ein­ge­tre­ten war.«

Ha­gen­berg be­trach­te­te noch ein­mal al­les ge­nau und schüt­tel­te den Kopf. »Son­der­bar«, sag­te er, »wenn der Mör­der nach voll­brach­ter Tat durch das Fens­ter ent­wischt wäre, so könn­te es nicht ver­schlos­sen ge­we­sen sein. Wäre er aber von hier aus in das Haus ge­drun­gen, so hät­te man ihn ent­we­der noch drin­nen fin­den müs­sen …«

»Vi­el­leicht ha­ben wir ihn ja schon ge­fun­den.«

»Sie mei­nen Herrn Claa­sen? Hm … ja … nein … es ist nicht sehr wahr­schein­lich, dass er durchs Fens­ter in sei­ne ei­ge­ne Woh­nung ein­ge­stie­gen sein soll. Un­mög­lich frei­lich ist nichts – die Er­fah­rung habe ich in mei­ner lan­gen Pra­xis oft ge­macht. Ist er aber nicht der Mör­der, so müss­te die­ser sich nach voll­brach­ter Tat zur Stra­ße hin aus der Woh­nung ent­fernt ha­ben, wo­bei er sich der Ge­fahr aus­ge­setzt hät­te, von je­man­dem be­ob­ach­tet zu wer­den. Die Stra­ße ist frei­lich abends sehr ein­sam, und ein vis-à-vis des Tier­gar­tens we­gen un­mög­lich.«

»Al­ler­dings. Aber im­mer­hin …«

»Nun, wir wer­den se­hen.«

Die Her­ren be­ga­ben sich wie­der zur Vor­der­sei­te des Hau­ses zu­rück und stie­gen die nied­ri­ge Trep­pe zur Ein­gangs­tür em­por. Ei­nen Blick zu­rück­wer­fend, sag­te Ha­gen­berg: »Von der Stra­ße aus kann man nur we­nig se­hen, das Ge­sträuch und die Bäu­me sind sehr dicht; aber die gan­ze Sa­che muss sich ja auch nach hin­ten zu ab­ge­spielt ha­ben.«

Da­mit be­tra­ten sie den Flur des Hau­ses, der sie mit an­ge­neh­mer Küh­le be­grüß­te. Ohne wei­te­re Stu­fen er­streck­te er sich di­rekt bis zu der En­tree­tür des un­te­ren Stock­werks, die dem Ein­gang ge­gen­über, ein we­nig wei­ter nach rechts hin lag. Ne­ben den Ein­tre­ten­den stieg die Trep­pe vom In­nern des Hau­ses her, auf die Front­sei­te zu ge­rich­tet, hell und be­quem em­por.

Vor der En­tree­tür mach­te Ha­gen­berg noch ein­mal Halt, be­trach­te­te sie ein­ge­hend und sag­te dann in sei­ner lang­sa­men, gründ­li­chen Art: »Be­ach­ten Sie, dass die­se Tür ohne Glas­fül­lung und ne­ben dem Schloss noch mit Drücker­vor­rich­tung ver­schließ­bar ist. Wenn sie ges­tern Abend nicht zu­fäl­lig of­fen stand, so muss der Mör­der wirk­lich durchs Fens­ter ein­ge­drun­gen sein, oder einen Drücker zu der Tür be­ses­sen ha­ben.«

Die an­de­ren Her­ren be­jah­ten stumm. Der Kri­mi­nal­kom­missar drück­te auf die elek­tri­sche Glo­cke zur Sei­te. Frau Frey­tag selbst, die Be­sit­ze­rin des Hau­ses, öff­ne­te ih­nen. Sie war eine klei­ne run­de Per­son, ehr­ba­re Wit­we ei­nes wohl­ha­ben­den Bau­un­ter­neh­mers, ge­gen­wär­tig zit­ternd vor Angst und Auf­re­gung.

»Der Ma­ler Richard Claa­sen«, re­de­te Ha­gen­berg die be­ben­de Alte an, »in des­sen Zim­mer die Tote ge­fun­den wur­de, ist Ihr Mie­ter, nicht wahr?«

»Ach du lie­ber Gott, ja!«, gab sie stam­melnd und stöh­nend zur Ant­wort.

»Wo be­fin­den sich Ihre Zim­mer und wo die des Ma­lers?«

Der Land­ge­richts­rat hat­te sich in­zwi­schen in dem dämm­ri­gen Vor­raum der Woh­nung um­ge­schaut, der sein Licht nur durch Milchglas­schei­ben in den obe­ren Tei­len von drei hier mün­den­den Zim­mer­tü­ren er­hielt. Eine von ih­nen lag der En­tree­tür ge­ra­de ge­gen­über, rechts und links an den Schmal­sei­ten des Kor­ri­dors eine der an­de­ren.

»Hier die­se gan­ze Sei­te vom Haus – es sind drei Stu­ben, die in­ein­an­der ge­hen – die habe ich an Herr Claa­sen ver­mie­tet«, sag­te Frau Frey­tag mit Über­win­dung, wäh­rend sie, dem Land­ge­richts­rat ge­gen­über­ste­hend, nach links deu­te­te. »Da, die bei­den Tü­ren ge­hen in sei­ne Zim­mer; die­se hier in ein Nord­zim­mer, das hat er sich zum Ate­lier ein­ge­rich­tet; und die­se hier«, sie zeig­te auf die Tür dem Ein­gang ge­gen­über, »Oh Gott! Die führt in das Zim­mer, wo es pas­siert ist. Ach, wenn mein Mann noch leb­te!«

»Und wo woh­nen Sie selbst?«

»Hier an der rech­ten Sei­te; die­se Tür hier führt in mei­ne drei Stu­ben. Es ist nicht sehr be­quem, nur die­ser eine Ein­gang; aber es hat auch wie­der sein Gu­tes. Wenn das Mäd­chen – die Kü­che und das Mäd­chen­zim­mer sind näm­lich im Sou­ter­rain …«

»Das eine Ih­rer Zim­mer stößt, wie mir scheint, un­mit­tel­bar an die­ses hier, in dem der Mord ge­sche­hen ist. Ha­ben Sie ges­tern Abend nicht ir­gend ein ver­däch­ti­ges Geräusch ge­hört?«

»Ach, du lie­be Zeit! Ich war ja gar nicht zu Hau­se! Um sechs Uhr schon bin ich fort­ge­gan­gen, bald nach Herr Claa­sen. Ich hat­te mei­nen Kon­zertabend im Zoo­lo­gi­schen Gar­ten. Ach, wenn ich hät­te ah­nen kön­nen, was mein ru­hi­ges Haus be­tref­fen soll­te, wäh­rend ich den Klän­gen der Mu­sik lausch­te, wäre ich nie fort­ge­gan­gen, um mein Ver­gnü­gen zu su­chen!«

»Wer be­wohnt au­ßer Ih­nen und Herrn Claa­sen noch das Haus?«

»Ach, nur ganz we­ni­ge Per­so­nen; ich habe mein Leb­tag auf Ruhe im Hau­se ge­ach­tet; hier un­ten ist also wei­ter nie­mand. Im ers­ten Stock, da wohnt der Herr Jus­tiz­rat Horn mit sei­ner Frau und sei­nem Sohn; die sind aber schon seit drei Wo­chen in He­rings­dorf, nur der Die­ner ist hier­geblie­ben. Ganz oben, das ist eine klei­ne Woh­nung; die habe ich auf Für­spra­che an einen al­ten Buch­hal­ter Hen­zen und sei­ne Toch­ter ab­ge­ge­ben. Ei­gent­lich wäre es auch noch eine Woh­nung für fei­ne Leu­te, und wenn mein lie­ber Mann noch leb­te.«

»Sind alle Haus­be­woh­ner an­we­send?«

»Ja­wohl, sie sind alle da; sie war­ten bei mir im Zim­mer.«

»Ist auch Herr Rechts­an­walt Glau­bitz da?«

»Glau­bitz? Ja­wohl, ja, so heißt der Herr, mei­ne ich. Ja, der ist auch ge­kom­men.«

»Es ist gut. Die Herr­schaf­ten sol­len bei Ih­nen im Zim­mer war­ten, bis ich sie ru­fen las­se. Wir …«, er wand­te sich zu sei­nen Beglei­tern, »wir wol­len nun zu­nächst in Ruhe die Stät­te der Tat be­sich­ti­gen.«

Auf einen Wink von ihm öff­ne­te Kri­mi­nal­kom­missar Mey­er die Tür zu dem Mord­zim­mer, wäh­rend Frau Frey­tag – zu ih­rer großen Er­leich­te­rung vor­läu­fig ent­las­sen – sich in ihre Woh­nung zu­rück­zog. Den Her­ren, die das ver­häng­nis­vol­le Zim­mer be­tra­ten, schlug eine schwe­re, war­me Luft ent­ge­gen; in den dump­fen Ge­ruch aber, der das Ge­mach er­füll­te, misch­te sich ein fei­ner Blü­ten­duft. Er kam von der wei­ßen Nel­ke, die im Was­ser­glas auf ei­nem klei­nen Ti­sche stand, ganz nahe bei der Lei­che des schö­nen Mäd­chens; die­se lag, wie am ver­gan­ge­nen Abend, auf den Bo­den da­hin­ge­streckt.

Ha­gen­berg be­trach­te­te die Tote mit großer Gründ­lich­keit, dann un­ter­such­te er zu­nächst die Ver­schlüs­se der Fens­ter und der Ve­ran­da­tür.

»Ist al­les noch wie ges­tern Abend?«, frag­te er den Kom­missar.

»Al­les un­ver­än­dert. Nur die Ve­ran­da­tür war ge­öff­net wor­den, als der Rechts­an­walt Glau­bitz durch sie ein­trat.«

»Ich weiß. Wa­ren die Vor­hän­ge an den Fens­tern nicht her­ab ge­las­sen?«

»Nein. Nur die­ser eine hier war zur Hälf­te zu­ge­zo­gen, wie er es jetzt noch ist.«

»Dies muss das Fens­ter sein, un­ter dem wir die Ab­schür­fung an der Mau­er ent­deckt ha­ben.«

»Al­ler­dings.«

»Hm … hier … nein, hier ist nichts zu se­hen!«

Die bei­den un­ter­such­ten das Fens­ter mit schar­fen Bli­cken, dann sag­te Ha­gen­berg: »Wenn der Mör­der hier ein­ge­drun­gen wäre, so hät­te er leicht Spu­ren auf dem Fens­ter­brett oder auf dem Fuß­bo­den zu­rück­las­sen kön­nen. Ich sehe je­doch nichts.«

»Er kann sich auch her­ein­ge­schwun­gen ha­ben, ohne auf das Brett zu tre­ten. Und das di­cke Fell hier auf dem Bo­den be­wahrt kei­ne Spu­ren auf.«

»Da­rin ha­ben Sie recht«, gab der Land­ge­richts­rat ein we­nig wi­der­stre­bend zu und wand­te sich so­dann ins Zim­mer zu­rück, um noch ein­mal Um­schau zu hal­ten. Plötz­lich blieb er vor dem Was­ser­glas mit der Nel­ke ste­hen, hob es auf und trat da­mit nä­her ans Licht.

»Sind Sie ein Blu­men­freund, Herr Kom­missar?«, frag­te er mit et­was iro­ni­schem Ton.

»Das könn­te ich ge­ra­de nicht be­haup­ten«, gab der an­de­re er­staunt zu­rück.

»Ich sehe das ohne Ihre Ant­wort; sonst hät­ten Sie be­mer­ken müs­sen, dass die­se Nel­ke … ist sie an der Lei­che ge­fun­den wor­den?«

»Nein, aus dem Fuß­bo­den ne­ben ihr.«

»Die­se Nel­ke ist ein ganz un­ge­wöhn­lich sel­te­nes Exem­plar. Ich ver­ste­he mich dar­auf, denn ich bin ein Blu­men­freund. Se­hen Sie nur ein­mal ge­nau­er her; auf den ers­ten Blick meint man, eine ge­wöhn­li­che wei­ße Nel­ke vor sich zu ha­ben, wenn auch von ab­son­der­li­cher Grö­ße. Nun be­trach­ten Sie aber ein­mal die ein­zel­nen Blu­men­blät­ter; da fin­den Sie auf je­dem eine fei­ne rote Fi­gur, aus drei Li­ni­en zu­sam­men­ge­setzt, fast wie ein zier­li­ches Drei­eck mit ei­nem ro­ten Punkt in der Mit­te. Die Blu­me kann uns viel­leicht einen wert­vol­len An­halt lie­fern. Wir müs­sen bei den hie­si­gen Gärt­nern nach­fra­gen, von wem sie stammt und wer sie ge­kauft hat. Fer­ner sor­gen Sie da­für, dass die Nel­ke bal­digst fo­to­gra­fiert, so­dann aber auch – man kann das jetzt ja ma­chen – mit Wachs in der Wei­se prä­pa­riert wird, dass sie ihr na­tür­li­ches Aus­se­hen be­hält.«

Der Kom­missar ver­neig­te sich stumm, und Ha­gen­berg wand­te sich nun zu dem Ge­richts­arzt, der in­zwi­schen mit der Lei­che be­schäf­tigt ge­we­sen war. »Nun, was ha­ben Sie ge­fun­den?«, frag­te er.

»Nur das, was mein Kol­le­ge Grü­ner ges­tern Abend be­reits fest­ge­stellt hat; die­ser Dolch passt ge­nau in die Wun­de. Der Stoß muss mit großer Kraft ge­führt wor­den sein, der Tod ist of­fen­bar fast au­gen­blick­lich ein­ge­tre­ten.«

»So wird uns vor­läu­fig nichts zu tun üb­rig blei­ben«, sag­te der Land­ge­richts­rat, »als dass wir auch die üb­ri­gen Zim­mer in Au­gen­schein neh­men und so­dann die Haus­be­woh­ner ihre Aus­sa­gen ma­chen las­sen.«

Er schritt vor­an in das nächs­te, als Ate­lier ein­ge­rich­te­te Zim­mer; die an­de­ren Her­ren folg­ten ihm. In dem ziem­lich großen, nach Nor­den ge­le­ge­nen Raum stan­den auf Staf­fe­lei­en Bil­der und Skiz­zen; ver­schie­de­ne Ti­sche wa­ren mit Gips­ab­güs­sen von Büs­ten und Fi­gu­ren voll­ge­stellt, und auf ei­ner am mitt­le­ren Fens­ter ste­hen­den Staf­fe­lei er­blick­ten die Be­am­ten das fast vollen­de­te Por­trät ei­nes schö­nen, üp­pi­gen Mäd­chens, des­sel­ben Mäd­chens, das nun ein Op­fer grau­sa­men, rät­sel­haf­ten Ver­bre­chens ge­wor­den war. Mit­leid, Em­pö­rung, Schau­der er­füll­ten das Herz Ha­gen­bergs, als er die­se vol­le, ju­gend­li­che Ge­stalt, die­sen licht­blon­den Kopf be­trach­te­te. Frei­lich lag ein Aus­druck trüber Schwer­mut in dem jun­gen Ge­sicht, und der Be­am­te, der in sei­nem Be­ruf nicht leicht von ei­ner an­de­ren Re­gung, als nur vom In­ter­es­se an der Auf­klä­rung des Ver­bre­chens ge­lei­tet wur­de, fühl­te sich selt­sam er­grif­fen beim An­blick des Bil­des, wäh­rend er an die stil­le Lei­che ne­ben­an den­ken muss­te. Noch wa­ren die Far­ben auf der Pa­let­te frisch, die Pin­sel noch feucht, und das Ar­beits­ge­rät lag auf ei­nem Sche­mel ne­ben dem Bild, als ob der Ma­ler so­eben die Sit­zung be­en­det hät­te.

Sich von dem Ge­mäl­de ab­wen­dend prüf­te Ha­gen­berg nun auch die­sen Raum und sei­nen In­halt mit großer Auf­merk­sam­keit. Al­les war in bes­ter Ord­nung, nur eins fiel ihm auf: In der Nähe der Staf­fe­lei stand ein klei­ner runder Tisch, und die rote Plüsch­de­cke die­ses Ti­sches lag da­ne­ben auf dem Bo­den, als hät­te je­mand sie, ei­lig vor­über­ge­hend, her­un­ter­ge­streift. Sonst war nichts zu ent­de­cken, was auf einen au­ßer­ge­wöhn­li­chen Vor­gang schlie­ßen ließ; we­der hier, noch in dem ne­ben­an ge­le­ge­nen Schlaf­zim­mer des Ma­lers. Das Bett war un­be­rührt, je­der Ge­gen­stand an am rich­ti­gen Platz.

Kopf­schüt­telnd wand­te Ha­gen­berg sich ab und ging lang­sam in das ers­te Zim­mer zu­rück. Wel­che Grün­de konn­ten den Ver­bre­cher ge­trie­ben ha­ben, die­ses Mäd­chen zu er­mor­den? Ein Raub konn­te nicht be­ab­sich­tigt ge­we­sen sein; da­ge­gen sprach al­les und be­son­ders der Um­stand, dass sie im Hau­se ei­nes frem­den Man­nes ge­tö­tet wor­den war. Nein, die­se Tat muss­ten tief­lie­gen­de Grün­de ver­an­lasst ha­ben!

»Nun, wir wer­den ja se­hen«, sag­te der Land­ge­richts­rat zum zwei­ten Mal, als woll­te er sich selbst Ant­wort ge­ben auf sei­ne Ge­dan­ken. Dann wand­te er sich dem Kri­mi­nal­kom­missar zu und füg­te lau­ter hin­zu: »Wol­len Sie jetzt die Güte ha­ben, die Haus­be­woh­ner her­ein­zu­ru­fen?«

Drittes Kapitel.

Nach ei­ner kur­z­en Pau­se er­schie­nen die Ge­ru­fe­nen: Frau Frey­tag, noch im­mer ängst­lich und zit­ternd, Meta Hen­zen, to­ten­bleich, in furcht­ba­rer Er­re­gung, ihr Va­ter hin­ter ihr, selt­sam ru­hig ne­ben der lei­den­schaft­li­chen Toch­ter. Auch der Rechts­an­walt Glau­bitz, Jo­sef, der Die­ner des Jus­tiz­ra­tes Horn, und Rie­ke, Frau Frey­tags Magd, wa­ren zur Stel­le. Zu­letzt kam Richard Claa­sen in Beglei­tung ei­nes Schutz­man­nes, der ihn aus der Un­ter­su­chungs­haft her­ge­führt und von den üb­ri­gen Haus­be­woh­nern bis­her ent­fernt ge­hal­ten hat­te. Claa­sens Aus­se­hen war zum Er­schre­cken elend und ver­stört.

An ihn wand­te sich der Un­ter­su­chungs­rich­ter nach Er­le­di­gung der nö­ti­gen For­ma­li­tä­ten zu­nächst mit der Fra­ge:

»Wa­ren Sie es, der die Lei­che zu­erst ent­deck­te?«

Claa­sen nick­te mit fins­te­rem Aus­druck, ohne die Lip­pen zu öff­nen.

»Sind Sie … ka­men Sie auf dem ge­wöhn­li­chen Wege in Ihre Woh­nung?«

Ha­gen­berg be­ob­ach­te­te ihn scharf, als er die­se Fra­ge tat, sah je­doch nur einen Blick un­ver­hoh­le­nen Er­stau­nens in den Au­gen des Ma­lers.

»Wie mei­nen Sie das?«, frag­te Claa­sen.

»Ich mei­ne, was ich fra­ge.«

»Ich wüss­te nicht, wie ich auf ei­nem an­de­ren als dem ge­wöhn­li­chen Wege in mei­ne Woh­nung ge­langt sein soll­te.«

»Fan­den Sie die Ve­ran­da­tür und die Fens­ter ver­schlos­sen?«

»Es war al­les ver­schlos­sen; al­les war, wie es jetzt ist, auch die Lei­che fand ich in der­sel­ben Lage, auf der­sel­ben Stel­le.«

»Als Sie das Haus ver­lie­ßen, wa­ren da die Fens­ter ver­schlos­sen, oder nicht?«

»Ge­schlos­sen. Ich weiß es be­stimmt, denn ich schlie­ße sie im­mer selbst, ehe ich abends fort­ge­he. Vom Gar­ten aus könn­te leicht je­mand ein­stei­gen, und wenn ich selbst auch nie­mals ängst­lich ge­we­sen bin, so habe ich es doch Frau Frey­tag ver­spro­chen, die mich gleich dar­um bat, als ich die Woh­nung mie­te­te.«

Die ge­nann­te Dame be­stä­tig­te mit Ei­fer des Ma­lers Aus­sa­ge und er­klär­te auf Be­fra­gen mit glei­chem Nach­druck, dass auch in ih­rer Woh­nung, wäh­rend ih­rer Ab­we­sen­heit vom Hau­se nie­mals ein Fens­ter ge­öff­net blei­be.

Ha­gen­berg schüt­tel­te den Kopf und blick­te nach­sin­nend kur­ze Zeit vor sich hin; dann ver­such­te er einen Coup der Über­ra­schung. Mit schnel­ler Be­we­gung er­griff er die Waf­fe des Mor­des und hielt sie dem Ma­ler ent­ge­gen.

»Ken­nen Sie die­sen Dolch?«

Claa­sen drück­te die Hän­de ge­gen die Schlä­fen; das Häm­mern im Kop­fe droh­te ihm das Den­ken zu rau­ben.

»Man sagt mir, dass die­ser Dolch der Ih­ri­ge sei?«, frag­te ihn Ha­gen­berg.

»Es ist so«, be­stä­tig­te Richard.

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter wech­sel­te einen be­deut­sa­men Blick mit dem Arzt.

»Um wie­viel Uhr ha­ben Sie die Lei­che zu­erst ge­se­hen?«

»Es war etwa ge­gen halb zehn Uhr, als ich nach Hau­se zu­rück­kehr­te; al­les war dun­kel, was mich be­frem­de­te, da Frau Frey­tag stets dar­auf hält, dass die Flur­lam­pe pünkt­lich an­ge­zün­det wird. Ich öff­ne­te, wie ich stets zu tun pfle­ge, die Tür mit dem Drücker, tas­te­te im Dun­keln nach mei­nem Zim­mer, und, nach­dem ich Licht an­ge­zün­det hat­te, sah ich … er­blick­te ich … oh, es war ent­setz­lich!« Er deu­te­te mit der Hand auf die Tote.

»Ihr An­zug und Ihr Kör­per wa­ren mit Blut be­fleckt, als ges­tern Abend die Be­am­ten ka­men. Wie er­klä­ren Sie das?«

»Ich hat­te in mei­ner ers­ten Be­stür­zung den Leich­nam auf­zu­he­ben ge­sucht, weil ich nicht glau­ben konn­te, dass ich eine Tote vor mir hat­te. Da­bei muss ich mich mit dem Blut be­fleckt ha­ben.«

»Wa­ren Sie lan­ge vom Hau­se fort ge­we­sen?«

»Ich war etwa um sechs Uhr fort­ge­gan­gen.«

Er blick­te hil­fe­su­chend zu Glau­bitz hin­über, als ob er den Freund um Bei­stand an­fle­hen woll­te. Aber die­ser sah düs­ter zu Bo­den und schwieg.

»Wo­hin wa­ren Sie ge­gan­gen?«

»Ich war mit Freun­den in ei­nem Re­stau­rant zum Mit­ta­ges­sen, das ich ge­wöhn­lich erst nach sechs Uhr ein­zu­neh­men pfle­ge.«

»Und um halb zehn, sa­gen Sie, kehr­ten Sie erst zu­rück?«

»Wir wa­ren in hei­ters­ter Stim­mung und hat­ten nach dem Es­sen noch einen Spa­zier­gang ge­macht.«

»Als Sie die Lei­che ent­deckt hat­ten, wes­halb rie­fen Sie nicht so­fort die Leu­te im Hau­se zu­sam­men?«

»Ich klin­gel­te drei-, vier­mal nach dem Dienst­mäd­chen – nie­mand er­schi­en. Da rief ich den Na­men der Magd – ver­ge­bens. Fräu­lein Hen­zen kam end­lich die Trep­pe her­un­ter, und ich bat sie in mei­ner Angst, in mein Zim­mer zu tre­ten und zu se­hen, was ge­sche­hen war.«

»Hat­ten Sie Lärm im Haus ge­hört, Fräu­lein Hen­zen?«

»Ich hör­te die Klin­gel un­ten laut und lan­ge und woll­te se­hen, was das zu be­deu­ten ha­ben konn­te. Herr Claa­sen, der sich in ei­ner wahn­sin­ni­gen Auf­re­gung be­fand, ließ mich in sein Zim­mer ein­tre­ten. Nie in mei­nem Le­ben wer­de ich die­sen Au­gen­blick ver­ges­sen! Ich tre­te ein –ah­nungs­los … Da liegt die Lei­che auf dem Bo­den, Herr Claa­sen steht da­ne­ben – zit­ternd, ver­stört, blut­be­fleckt. Ich schau­de­re im­mer noch bis ins Herz hin­ein, wenn ich dar­an zu­rück­den­ke!«

»Es ist auf­fäl­lig, dass die Schau­spie­le­rin ges­tern Abend zu Ih­nen kam – so spät noch. Er­war­te­ten Sie die Dame?«

»Nein.«

»Ha­ben Sie kei­ne Ah­nung, was sie bei Ih­nen ge­wollt hat?«

Richard ver­nein­te aber­mals.

»In wel­chem Ver­hält­nis oder in wel­cher Be­zie­hung stan­den Sie zu ihr?«

»Ich mal­te sie.«

»Wenn Sie sie mal­ten, muss doch eine nä­he­re Be­kannt­schaft zwi­schen Ih­nen be­stan­den ha­ben.«

»Fräu­lein Go­ladt­ka wünsch­te, von mir ge­malt zu wer­den.«

»Wo ha­ben Sie Fräu­lein Go­ladt­ka ken­nen ge­lernt?«

Eine große Ver­wir­rung er­griff Richard Claa­sen. Fast ver­lor er den letz­ten Rest sei­ner Fas­sung. Ein flam­men­der Blick aus den Au­gen Meta Hen­zens traf ihn. Sie hat­te die Hän­de krampf­haft ge­ballt, und man sah es ihr an, dass sie mit dem Auf­ge­bot al­ler Kraft einen lei­den­schaft­li­chen Aus­bruch in Ban­den hielt.

»Die Ent­ste­hung die­ser Be­kannt­schaft hat nichts mit dem un­glück­se­li­gen Er­eig­nis zu tun«, sag­te Claa­sen nach ei­ner Wei­le, wäh­rend de­ren er um Samm­lung und Ruhe ge­run­gen hat­te.

Ha­gen­berg run­zel­te die Stirn. »Wis­sen Sie, dass Sie sich durch aus­wei­chen­de Ant­wor­ten noch stär­ker ver­däch­ti­gen? Ich rate Ih­nen, ge­treu zu be­rich­ten, was Sie über die Schau­spie­le­rin wis­sen.«

»Re­den Sie doch!«, brach Meta end­lich aus, »wes­halb ver­schwei­gen Sie denn, dass Sie Fräu­lein Go­ladt­ka lieb­ten? Ich selbst habe …«

»War­ten Sie, bis ich Sie zum Re­den auf­for­de­re, Fräu­lein Hen­zen«, er­mahn­te Ha­gen­berg das Mäd­chen, das mit fun­keln­den Au­gen, ei­ner Me­dea gleich, vor dem Ma­ler stand.

Richard, von al­len Sei­ten in die Enge ge­trie­ben, blick­te vol­ler Qual und Rat­lo­sig­keit um sich. Hat­te er denn kei­nen Freund, der ihm bei­stand?

»Ich habe Fräu­lein Go­lad­ka nie­mals ge­liebt, so wahr ich lebe«, be­teu­er­te er, »in mei­nem Her­zen wohnt ein an­de­res Bild; ich weiß nicht, was Fräu­lein Hen­zen zu sol­chen Aus­sa­gen be­rech­tigt.«

»Spre­chen Sie, Fräu­lein Hen­zen«, ge­bot Ha­gen­berg, »was wis­sen Sie über die Be­zie­hung der To­ten zu Herrn Claa­sen?«

»Herr Claa­sen hat es wohl ver­ges­sen«, sag­te Meta in der­sel­ben maß­lo­sen Er­re­gung, »dass ich vor ei­ni­gen Ta­gen gleich nach Fräu­lein Go­ladt­ka zu ei­ner Sit­zung be­stellt war. Herr Claa­sen hat­te mich näm­lich ge­be­ten, ihm für ein Bild Mo­dell zu ste­hen; ich tue es auch bei an­de­ren Ma­lern öf­ter, um mir ne­ben mei­nen Hand­ar­bei­ten noch et­was Geld zu ver­die­nen. Ich kam zu früh zu Herrn Claa­sen, und weil die Dame noch an­we­send war, war­te­te ich hier im Zim­mer, bis sie das Ate­lier ver­las­sen wür­de. Da hör­te ich ne­ben­an eine lau­te, er­reg­te Un­ter­re­dung …«

»Sie … Sie ha­ben die­se Un­ter­re­dung be­lauscht, Fräu­lein Hen­zen?« Der Ton, in dem Richard die­se Fra­ge tat, war so voll schmerz­li­cher Ent­rüs­tung, dass Meta ver­stumm­te. Mit Be­frem­den sa­hen die An­we­sen­den, dass plötz­lich Trä­nen in den Au­gen des selt­sa­men Mäd­chens glänz­ten.

»Ha­ben Sie den In­halt der Un­ter­re­dung ver­stan­den, Fräu­lein Hen­zen?«, frag­te Ha­gen­berg wei­ter.

»Ei­fer­sucht, Lie­be, Hass – al­les, al­les, wozu die Lei­den­schaft sie trieb«, rief Meta mit vom Wei­nen durch­zit­ter­ter Stim­me.

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter run­zel­te die Stirn. »Die Ant­wort ist un­ge­nau«, sag­te er. »Be­rich­ten Sie aus­führ­li­cher. Ihre Mit­tei­lung kann von großer Wich­tig­keit für den Gang der Un­ter­su­chung sein. Wer sprach von, Ei­fer­sucht, Lie­be und Hass, Herr Claa­sen oder die Er­mor­de­te? Be­sin­nen Sie sich und ge­ben Sie ge­nau Aus­kunft.«

Meta sah vor sich nie­der; man konn­te er­ken­nen, wie stark ihre in­ne­re Er­re­gung war. So stand sie einen Au­gen­blick, ohne zu ant­wor­ten.

Kur­ze Zeit ließ Ha­gen­berg sie ge­wäh­ren, dann wur­de er un­ge­dul­dig. »Wir war­ten auf Sie, Fräu­lein Hen­zen. Wenn Sie sich ein­zel­ner Äu­ße­run­gen oder Wor­te aus je­nem Ge­spräch er­in­nern, dann tei­len Sie es mir mit. Es ist Ihre Pf­licht. Was kön­nen Sie mir sa­gen?«

»Nein – ein­zel­ner Äu­ße­run­gen er­in­ne­re ich mich nicht«, gab Meta jetzt lang­sam zur Ant­wort. »Ge­nau­es konn­te ich nicht ver­ste­hen.«

»Sie schei­nen mir vor­hin et­was leicht­sin­nig in den Tag hin­ein­ge­spro­chen zu ha­ben. Sie sag­ten doch, es sei eine lei­den­schaft­li­che Un­ter­re­dung ge­we­sen?«

»Das war es auch. Sie spra­chen bei­de schnell und has­tig. Das Wort ›Lie­be‹ habe ich auch ge­hört.«

»Wer sprach es aus, der Ma­ler oder die Schau­spie­le­rin?«

Meta zau­der­te wie­der. Sie blick­te zu Claa­sen hin­über, und der Aus­druck ih­res Ge­sich­tes wur­de weich. Dann aber schau­te sie auf die Er­mor­de­te nie­der, und ein fins­te­rer Groll drück­te sich in ih­ren Zü­gen aus.

»Ich glau­be, dass bei­de von Lie­be ge­spro­chen ha­ben«, sag­te sie kurz und hart.

»Ist das al­les? Wis­sen Sie nichts Ge­nau­e­res an­zu­ge­ben?«

»Nein, wei­ter nichts.«

»Nun, be­sin­nen Sie sich; viel­leicht fällt Ih­nen spä­ter noch et­was ein. Ich wer­de auf die Sa­che zu­rück­kom­men. Sa­hen Sie an je­nem Tage Fräu­lein Go­ladt­ka das Ate­lier ver­las­sen?«

»Ja, sie ging in großer Er­re­gung an mir vor­über, ohne mich zu be­mer­ken; ich stand in der Ecke dort im Schat­ten.«

»Ha­ben Sie Fräu­lein Go­ladt­ka noch ein­mal nach die­sem Tag bei Herrn Claa­sen ge­trof­fen?«

»Nein.«

»Be­stä­ti­gen Sie die Aus­sa­gen Fräu­lein Hen­zens?«, frag­te Ha­gen­berg den Ma­ler.

Richard lä­chel­te bit­ter. »Nie­mand kann wis­sen, wel­cher Art der In­halt der Un­ter­re­dung zwi­schen mir und Fräu­lein Go­ladt­ka ge­we­sen ist; und ich wer­de ihn nicht ver­ra­ten.«

Ein schnei­den­des Auf­la­chen un­ter­brach auf ein­mal die Pau­se, die nach den letz­ten Wor­ten des Ma­lers ein­ge­tre­ten war; es mach­te auf die An­we­sen­den einen um so un­heim­li­che­ren Ein­druck, als die Nähe der stil­len Lei­che oh­ne­hin das Ge­müt ei­nes je­den mit lei­sem Schau­der er­füll­te.

Mit ge­run­zel­ter Stirn blick­te Ha­gen­berg auf.

Es war Fried­rich Hen­zen, der das ei­gen­tüm­li­che La­chen aus­ge­sto­ßen hat­te. Jetzt stand er wie­der mit un­be­weg­li­chem Ge­sicht an der Wand.

»Wol­len Sie mir er­klä­ren«, frag­te Ha­gen­berg streng, »wes­halb Sie lach­ten?«

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