Lionel White
Die Nacht der Gewalt
Aus dem Amerikanischen von Helmut Anders
FISCHER Digital
Lionel White (1905–1985) war ein US-amerikanischer Journalist und Autor. Er arbeitete auch unter dem Pseudonym L. W. Blanco. White war zunächst Polizeireporter, bis er sich erfolgreich dem Verfassen von Kriminalgeschichten widmete. Einige seiner Werke wurden verfilmt, darunter ›The Snatchers‹, das unter dem Titel ›The Night of the Following Day‹ mit Marlon Brando in der Hauptrolle in die Kinos kam.
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Nach einem abendlichen Kinobesuch hat Gail Ferris mit dem Wagen eine Panne und steigt aus, um Hilfe zu holen. Am nächsten Tag findet man sie vergewaltigt und halb totgeschlagen in einem leeren Haus.
Bei seinen Ermittlungen rechnet Polizeichef Cummins fest mit der Hilfe seiner Mitbürger — und muß fassungslos erkennen, daß er sich geirrt hat. Überall in der Stadt stößt er auf eine Mauer aus Mißtrauen und Schweigen …
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561905-6
Es war merkwürdig, doch im ersten Moment stieg nicht Ärger in ihr hoch, sondern ein Gefühl der Erleichterung. David hatte den neuen Wagen genommen, oder besser, den neueren. Den Chevrolet, der zwar schon drei Jahre alt war, aber noch ganz gute Reifen hatte.
Als sie aus dem acht Jahre alten Cadillac stieg, rechnete sie rasch nach. Er war kurz nach sechs in Athenia losgefahren und mußte jetzt, vier Stunden später, auf der Jersey-Autobahn sein, in der Nähe von New York. Dort eine Reifenpanne zu haben, konnte lebensgefährlich sein. Wenn es schon sein mußte, dann war es wesentlich besser, es passierte ihr hier, wo sicher ein Telefon in der Nähe war und sie Hilfe holen konnte.
Gail Ferris lächelte, als sie den Strahl der Taschenlampe auf den rechten Hinterreifen richtete, der platt auf dem Straßenpflaster stand.
Sie mußte immer lächeln, wenn sie daran dachte, wie absolut hilflos David allen technischen Dingen gegenüberstand, obwohl er Diplomingenieur war. Etwas so Einfaches wie das Auswechseln einer Zündkerze stürzte ihn in Panik; und bei einem Radwechsel würde er sich zweifellos den Anzug schmutzig machen, die Knöchel zerschrammen und ein paar Schraubenmuttern verlieren – ein Mann, der so begabt war, daß ihn die International Nuclear Power mit nur zweiunddreißig Jahren zum stellvertretenden Abteilungsleiter gemacht hatte.
Ja, es war ein wahres Glück, daß sie ihn überredet hatte, den Chevie zu nehmen. Wenn er morgen früh um neun zu der Konferenz erschien, würde er auch ohne zerrissenen Anzug und Ölflecken im Gesicht unordentlich genug aussehen.
Seufzend und kopfschüttelnd machte sie die Taschenlampe aus, um die Batterie zu schonen. David konnte einen frischgebügelten und gereinigten Anzug anziehen und zwei Stunden später so aussehen, als hätte er eine Woche damit geschlafen. Doch das war jetzt nicht wichtig.
Sie öffnete den Kofferraum und entdeckte beim Schein der Taschenlampe, daß das Reserverad fehlte. Plötzlich fiel ihr ein, daß David ihr vor ein paar Wochen gesagt hatte, daß er ein Loch darin entdeckt und es in Schockleys Tankstelle zur Reparatur gegeben hatte. David fuhr jeden Tag mit dem Caddie die neun Kilometer von ihrem Haus am Nordrand der Stadt zur Fabrik. Vermutlich hatte er das Rad völlig vergessen.
»Verdammt«, sagte Gail und schüttelte den Kopf. Sie schlug den Kofferraumdeckel zu.
Die Tankstelle war jetzt bestimmt schon zu, und es hatte keinen Sinn, dort anzurufen. Wahrscheinlich war es am besten, ein Taxi zu bestellen, nach Hause zu fahren und den Wagen morgen früh zu holen.
Sie wollte daheim sein, wenn David anrief. Er hatte ihr versprochen anzurufen, wenn er gegen ein Uhr morgens in Massachusetts ankam.
David machte sich immer Sorgen um sie, wenn er geschäftlich verreiste, obwohl sie ihm immer wieder beteuerte, daß es ihr nichts ausmachte, die Nacht über allein im Haus zu sein.
Großer Gott, was konnte ihr denn in Athenia schon passieren? Dachte David, sie könnte mit ihren vierundzwanzig Jahren nicht selbst auf sich aufpassen? Angst, allein zu Hause zu sein, kannte sie nicht – sie kannte überhaupt keine Angst.
Doch sie war ja noch nicht zu Hause. Sie wohnte ein paar Kilometer weit weg, in der neuen Siedlung oben im Norden, die die International Nuclear errichtet hatte, als sie vor einigen Jahren beschloß, die Fabrik an den unteren Delaware zu verlegen. Man hatte die Siedlung seltsamerweise Pinehurst genannt, obwohl es in der Gegend überhaupt keine Kiefern und auch nur sehr wenig andere Bäume gab. Ihr Haus war ein moderner, fast neuer Ziegelbau. Es hatte drei Schlafzimmer, eine mit allen elektrischen Finessen eingerichtete Küche, ein Spielzimmer und einen Swimming-pool. Die Zwanzigjahreshypothek von achtzehntausend Dollar zahlte David monatlich mit einhundertachtundfünfzig Dollar und dreiundsiebzig Cent ab – bei einem Gehalt von tausend Dollar eine Menge Geld.
In dieses Haus würde in fünf Monaten David junior – Gail war fest überzeugt, daß ihr erstes Kind ein Junge sein würde – einziehen. Doch sie war ja nicht zu Hause. Sie war …
Sie wußte es nicht genau, glaubte jedoch, daß sie sich innerhalb der Stadtgrenze von Athenia befand, wahrscheinlich im Farbigenviertel am Südrand der Stadt, eine Gegend, die sie nicht kannte.
Es war dumm von ihr gewesen, die ganze Strecke hinüber nach Gambinia zu fahren. Nur um sich einen Film anzusehen, der so schlecht gewesen war, daß sie fast schon vor dem Ende gegangen wäre. Ausgesprochen blöd aber war es, daß sie vor sechs oder acht Kilometern die Abzweigung übersehen hatte. Sie und David waren schon ein dutzendmal nach Gambinia gefahren und hatten noch nie auf dem Rückweg die Abzweigung verfehlt; wahrscheinlich lag es daran, daß bei Nacht alles ein wenig anders aussah.
Die Straßen waren sehr schlecht beleuchtet, und die Häuser schienen weit auseinander zu stehen. Gail Ferris machte sich auf den Weg. Sie ging in die Richtung, in der sie das Zentrum vermutete. Es konnte nicht schwer zu finden sein. Städte mit siebentausend Einwohnern haben keine allzu große Ausdehnung.
Es war wirklich eine Schande, unter welchen Bedingungen die Farbigen in Athenia leben mußten.
Als David von seinem ersten Besuch in der Fabrik zurückgekommen war und ihr die Stadt, in die er versetzt worden war, geschildert hatte, hatte sie ihm nicht recht geglaubt.
»Wenn es dir nicht gefällt, Liebling«, hatte er gesagt, »dann müssen wir wirklich nicht hinziehen. Ich kann immer noch …«
»Warum sollte es mir nicht gefallen?«
»Na ja«, er zögerte einen Moment, »du wirst es wahrscheinlich nicht glauben … Athenia liegt zwar in Delaware, aber es ist eine typische südliche Stadt. Die Leute sprechen mit einem ganz komischen Akzent. Im Ernst – in den zwei Tagen, die ich dort war, habe ich die Hälfte von dem, was sie sprachen, überhaupt nicht verstanden.«
»Das klingt ja fast, als ob du was gegen den Süden hast«, sagte Gail. »Bist du nicht ein bißchen voreingenommen? Hier in New York oder in Detroit oder Los Angeles oder Chicago gibt’s bestimmt ebensoviel Negatives wie in deinem sogenannten Süden.«
»Na ja, ich dachte bloß – eine Kleinstadt, andere Bräuche und Sitten, andere Menschen …«
»Ich mag Kleinstädte.«
»Ich hab’ ja auch gar nichts gegen Kleinstädte, Liebling. Es ist nur … du hast noch nie in einer Stadt wie Athenia gelebt, und ich möchte nicht, daß du dich einsam oder unglücklich fühlst …«
»Solange ich dich habe, werde ich nie unglücklich sein«, unterbrach ihn Gail. »Außerdem haben wir noch eine Menge Freunde: Die Leute von der International Nuclear werden sicher genug kulturelle und intellektuelle Atmosphäre haben, daß das Leben erträglich ist. Jedenfalls bin ich bereit, mich in Athenia und seine Bürger zu verlieben. Wenn du also meinst, daß es gut für deine Karriere ist, Chefingenieur der International-Nuclear-Niederlassung in Athenia zu werden, dann auf nach Athenia!«
Es waren tapfere Worte gewesen, und sie hatte in den eineinhalb Jahren, die sie nun in Athenia waren, mehr als einmal an sie denken müssen – mit einem etwas gequälten Lächeln, wenn sie ganz ehrlich war.
Zuerst war sie in das nagelneue Haus natürlich ganz verliebt gewesen. Es war ihr erstes richtiges Heim, und sie war ungeheuer stolz darauf. David freute sich über die Begeisterung, mit der sie Einkäufe machte, Blumen und Sträucher pflanzte und den Bau des Grills neben dem Swimming-pool überwachte.
Mit der Stadt ging es ihr wie mit dem Haus. Die neue Umgebung, das gänzlich andere Leben reizten sie, und sie hatte sofort eine Reihe kleiner Aufgaben übernommen. Sie erbot sich freiwillig, einen Nachmittag in der Woche in der Stadtbücherei zu arbeiten und einen zweiten Nachmittag in dem Geschäft, das der Bezirksorganisation des Roten Kreuzes gehörte. Sie traten dem Country Club bei, damit sie die wöchentlichen Tanzabende besuchen konnten. Die Mitglieder des Country Clubs von Athenia waren fast ausschließlich Geschäftsleute und Akademiker; nur sehr wenige Leute von der International Nuclear gehörten ihm an, doch Gail fand, daß die Tanzabende eine gute Möglichkeit boten, mit Einheimischen Bekanntschaft zu schließen.
Nach einer Weile verlor das neue Haus ein wenig an Reiz, und Gail fand es plötzlich merkwürdig steril. Außerdem sah es den Häusern anderer junger Angestellter und Techniker deprimierend ähnlich. Der Boden war schlecht, Blumen und Sträucher wollten nicht gedeihen.
Nachdem sie ein paar Nachmittage in der Bücherei verbracht hatte und nur ein paar Leute erschienen waren, um sich von den kläglich bestückten Regalen ein Buch auszusuchen, hatte sie das Gefühl, ihre Zeit zu verschwenden. Trotzdem erschien sie weiter jeden Mittwoch.
Der Rotekreuzladen war auf die Spenden gemeinnützig eingestellter Bürger angewiesen. Die Kunden waren fast durchwegs Farbige, und Gail war es peinlich, ihnen die schrecklich schäbigen Sachen zu verkaufen, auch wenn sie natürlich sehr wenig kosteten.
Es gab aber noch andere Dinge, die sie störten. Zu ihrem Entsetzen hatte sie erfahren, daß der Ku-Klux-Klan in der Stadt Mitglieder hatte. Und noch entsetzter war sie, als sie dahinterkam, daß einige dem Country Club angehörten.
»Daß es hier Anhänger der ultrarechten John Birch Society gibt«, sagte sie zu David, als sie davon hörte, »hatte ich erwartet. Aber Mitglieder des Ku-Klux-Klan! Ich dachte, die gibt’s bloß noch unten in Louisiana.«
»Du solltest öfter die Zeitung lesen, Kleines«, sagte David.
»Was für eine Zeitung? In Paleys Schreibwarengeschäft hat man mir letzte Woche gesagt, daß sie die New York Times nicht mehr halten können. Und an Zeitschriften gibt’s nichts außer Comic-Heften, Filmzeitschriften und Aktmagazinen …«
Er hatte ihre Hand genommen, einen Kuß darauf gedrückt und gesagt: »Liebling, wenn du diese Stadt satt hast, wenn du dich nicht wohl fühlst …«
Sie hatte ihren Zeigefinger auf seinen Mund gelegt und den Kopf geschüttelt.
»Nimm mein Gerede nicht ernst«, sagte sie. »Es ist bloß – mir fehlt eben New York ein bißchen, und außerdem weißt du doch, was der Doktor vergangene Woche gesagt hat. Du hast es einfach mit einer schwangeren Frau zu tun, mein Lieber, und schwangere Frauen sind nun mal quengelig und launisch. Mach dir bitte keine Gedanken. Dies ist unser Zuhause, hier wird unser Sohn zur Welt kommen, und hier werden wir leben, bis die International Nuclear dein Genie entdeckt, dich zum Vizepräsidenten macht und wieder in die Zentrale versetzt.«
Es war nicht zu fassen. Einen Moment stand sie wie erstarrt und traute ihren Augen nicht. Doch es gab nicht den geringsten Zweifel. Es war ihr Cadillac.
Sie war mindestens eine halbe Stunde lang gegangen, und sie hätte schwören können, daß sie immer geradeaus gelaufen war. Sie richtete die Taschenlampe auf ihre Armbanduhr und hob die Hand, um das winzige Zifferblatt in dem schlechten Licht erkennen zu können. Genau vierzig Minuten.
Nun stand sie wieder an der gleichen Stelle wie am Anfang. Sicher, sie hatte es schon oft gelesen, doch nie glauben können, daß so etwas tatsächlich passieren konnte. Doch nicht am Rand einer Stadt, in den Straßen einer Stadt! Einfach unfaßbar, daß sie im Kreis gelaufen war!
Merkwürdig, an wie wenig Häusern sie vorbeigekommen war. Und fast nirgends hatte Licht gebrannt. Sie hatte überhaupt keine Geschäfte gesehen, kein Lokal mit einem Telefon. Wenn sie zu Hause sein wollte, wenn David anrief, dann war es höchste Zeit, daß sie ein Telefon fand und ein Taxi bestellte.
Plötzlich stieg leise Angst in ihr auf.
Sie ging wieder los, und als sie an die erste Straßenkreuzung kam, bog sie nicht nach rechts, sondern nach links ab. An der Ecke war ein Pfosten im Dunkeln zu erkennen. Sie hob die Taschenlampe, doch kaum hatte sie gesehen, daß kein Straßenschild daran war, da ging sie aus.
Ärgerlich schüttelte sie sie ein paarmal, aber die Batterie war leer. Wütend warf sie die Taschenlampe weg. Sie schlug klirrend aufs Pflaster.
Im gleichen Moment blitzten die Scheinwerfer eines auf sie zukommenden Autos auf. Es war der erste Wagen, der ihr begegnete, seit sie ihren eigenen stehengelassen hatte.
Sie unterdrückte das würgende Gefühl, das in ihr hochstieg, trat vom Gehsteig und winkte.
Der Wagen verlangsamte die Geschwindigkeit und fuhr leicht zur Seite, so daß die Scheinwerfer sie voll erfaßten.
Einen Moment war sie überzeugt, daß er halten würde. Doch dann, kurz vor ihr, trat der Fahrer aufs Gaspedal, der Motor heulte auf.
Sie sah gerade noch, daß ein Mann hinter dem Lenkrad saß; dann fuhr der Wagen vorbei und raste die Straße hinunter.
»Oh! So ein gemeiner Kerl!« Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf.
Er hatte nicht angehalten. Keiner würde anhalten. Nicht in dieser elenden widerlichen Stadt.
Sie mußte unbedingt telefonieren.
»David«, sagte sie laut, »warum bist du bloß immer so gedankenlos? Wenn du schon den guten Wagen genommen und mir den alten dagelassen hast, hättest du wenigstens vorher das Reserverad abholen können.«
Dann sah sie, etwa einen halben Block weiter auf ihrer Straßenseite, ein Haus, in dem Licht brannte.
Als sie wieder auf den Gehsteig trat, hörte sie hinter sich erneut den Motor eines Autos. Doch als sie sich umdrehte, sah sie keine Scheinwerfer.
Sie lief auf das beleuchtete Haus zu. Eine panische Angst erfüllte sie jetzt. Als sie in den Hof einbog, stolperte sie und wäre fast gestürzt. Sie rannte die Verandatreppe hinauf. Ein kaputtes Brett krachte laut, als sie darauftrat.
Mein Gott, in was für Häusern mußten die Leute hier wohnen! Da regte man sich über die New Yorker Slums auf! Ihre Bekannten dort sollten mal sehen, was für Häuser hier an die Farbigen vermietet werden.
Sie klopfte mit den Knöcheln heftig an die Haustür.
Nichts. Keine Schritte, kein Geräusch.
Sie wartete einen Moment, dann klopfte sie noch einmal, doch im Haus blieb alles still.
Das beleuchtete Fenster war ein paar Meter neben ihr. Sie ging hin und blickte durch einen Spalt der schäbigen grünen Jalousie.
Das Licht kam von einer altmodischen Petroleumlampe auf einem Küchentisch. In einer Ecke stand ein uralter Kühlschrank, auf dem Boden lag ein Stück schmutziges Linoleum. Neben dem Kühlschrank war ein Ausguß.
Am Tisch saß ein schlankes, kaffeebraunes Mädchen. Sie hatte die Ellbogen aufgestützt und starrte auf die Haustür. Ihre Augen waren ohne jeden Ausdruck. Vor ihr stand ein halbvolles Glas Bier, von dem sie ein wenig auf ihr einfaches, gelbund blaugemustertes Kleid verschüttet hatte.
Neben ihr stand ein untersetzter, kahlköpfiger Neger. Die eine Hand hatte er unter den Gürtel seiner Segeltuchhose gesteckt, mit der anderen rieb er sich das Kinn. Er trug ein dreckiges Unterhemd und war barfuß. Auch er starrte auf die Tür.
Sie trat zurück, ging zur Haustür und klopfte wieder. Zugleich rief sie: »Bitte, machen Sie doch auf!«
Sie hörte keine Schritte, doch gleich darauf wurde ein Riegel zurückgeschoben. Die Tür ging auf, und ein schwacher Lichtschein fiel auf die Veranda.
Sie schluchzte fast vor Erleichterung.
»Mein Auto«, stieß sie hervor. »Mein Auto hat eine Panne. Ich muß telefonieren.«
Der Mann vor ihr glotzte sie mit halb offenem Mund an.
»Wir haben kein Telefon«, sagte er schließlich und wollte die Tür schließen.
Panik stieg in ihr auf, doch sie nahm sich zusammen und sagte rasch: »Können Sie mir denn nicht helfen? Ich habe mich verfahren und möchte ein Taxi rufen. Ich muß nach Hause …«
»Wir haben kein Telefon.«
Wieder wollte er die Tür schließen, aber sie streckte instinktiv die Hand aus und hielt sie fest. Sie blickte an dem Mann vorbei auf das Mädchen.
»Ich brauche Hilfe«, sagte sie. »Ich habe eine Panne, und ich …«
Die Tür war jetzt fast zu, und vor Angst überschlug sich ihre Stimme. »Ein Auto«, sagte sie schrill. »Wenn Sie mich nur irgendwohin fahren würden, von wo ich ein Taxi bestellen kann. Ich bezahl’s Ihnen …«
»Wir haben kein Telefon, und wir haben kein Auto«, sagte das Mädchen. »Wir wollen keinen Ärger. Wir können Ihnen nicht helfen. Wir können nicht mal uns selbst helfen. Joey, mach die Tür zu.«
Gail schrie jetzt fast und sprach so schnell, daß sie kaum zu verstehen war. »Aber ich bezahl’s Ihnen – ich hab’ doch gesagt, ich bezahl’s Ihnen. Ich will ja nur, daß Sie mich zu einem …«
Da drückte der Mann die Tür zu, und sie hörte, wie der Riegel vorgeschoben wurde.
Sie trat zurück ins Dunkel und starrte auf die Tür.
»Oh, ihr blöden Hunde! Ihr blöden, schwarzen …« Sie schlug sich auf den Mund und ihre Augen weiteten sich. »Mein Gott!« flüsterte sie. »Mein Gott, was ist denn nur mit mir los? Was ist denn bloß über mich gekommen?«
Während sie die Treppe hinunterging, sagte sie mit lauter, ruhiger Stimme: »David, mein lieber David. Was würdest du von mir denken? Ich dreh’ vor Angst durch wie ein kleines Schulmädchen und beschimpfe zwei arme Neger, nur weil sie keinen Ärger wollen und mir nicht helfen können. Ich muß wirklich verrückt sein.«
Ein paar Minuten später ging sie entschlossen und mit zusammengebissenen Zähnen die Straße entlang. Man mußte sich nur zusammenreißen und die Ruhe bewahren.
Ein paar Sterne glitzerten am Himmel, und sie glaubte deutlich den Nordstern zu erkennen.
Die Stadt lag im Norden, und ihr Haus lag im Norden. Das wußte sie ganz genau. Es konnte nicht allzuweit sein. Sie brauchte nur dem Nordstern zu folgen, wie es in den Pfadfinderbüchern stand, dann mußte sie früher oder später … Wieder hörte sie den Motor eines Autos. Sie wandte den Kopf und blickte über ihre linke Schulter. Zwei Scheinwerfer durchbrachen hinter ihr das Dunkel und kamen schnell näher.
Als sie diesmal auf die Straße trat, spürte sie keine Angst. Sie brauchte sich nur so hinzustellen, daß die Scheinwerferstrahlen auf sie fielen; dann mußte der Fahrer sie sehen. Er würde anhalten; er mußte anhalten!
Der erste hatte Gas gegeben und war davongerast – der war wie der Neger in dem Haus. Wie der Neger mit den nackten Füßen, der keinen Ärger wollte. Doch es konnten nicht alle so sein. Dieser würde anhalten, ganz bestimmt.
Der Wagen bremste.
Um fünf vor sechs schlief Matt Carroll endlich ein. Das alte Playboy-Heft, das er vor zwei Tagen in Pastoris Friseurladen mitgenommen hatte, fiel ihm aus der Hand auf den Boden. Matt Carroll saß auf dem uralten hölzernen Drehsessel hinter dem Schreibtisch seines Chefs. Die Beine mit den Cowboystiefeln hatte er gespreizt, seine Arme hingen schlaff herab, so daß die großen, rot behaarten Hände fast den Boden berührten. Sein Kopf lag auf der mit Kaffeeflecken übersäten grünen Schreibunterlage. Sein Gesicht war auf die Seite gedreht, und er schnarchte mit weit offenem Mund, so daß man seine spitzen Zähne sah. Er atmete durch den Mund ein und durch die gebrochene, verbogene Nase aus. Jeder Schnarcher begann mit einem leisen Grunzen und endete mit einem Schnaufen.
Um zehn nach sechs schrillte das Telefon auf dem Schreibtisch.
Es klingelte viermal; erst dann streckte Matt, ohne die Augen aufzumachen oder mit dem Schnarchen aufzuhören, die Hand aus, tastete einen Moment herum und fand endlich den Hörer. Er nahm ihn ab, legte ihn neben das Telefon und ließ die Hand wieder herabbaumeln.
Als Polizeichef Walt Cummins ein paar Minuten später in sein Büro trat, drang ein seltsames, klickendes Geräusch aus dem Hörer. Er ging zum Schreibtisch, schob mit der einen Hand seinen Hut ins Genick und zog mit der andern seinen breiten braunen Ledergürtel hoch. Der Gürtel hing locker um seinen dicken Bauch, denn er diente nur zur Befestigung seines Pistolenhalfters. Die Hose wurde von einem altmodischen Träger gehalten.
Einen Moment starrte er auf Matt nieder, dann nahm er den Telefonhörer auf. Er legte ihn ans Ohr und brummte etwas Unverständliches in die Muschel.
Als er nichts als das Klicken hörte, legte er auf und stieß zugleich die Füße seines Assistenten weg.
Matt fiel auf die Seite und öffnete langsam die Augen. Er blickte zuerst auf seinen Chef und dann auf die große alte Uhr, die gegenüber dem Schreibtisch über den gekreuzten amerikanischen Fahnen an der Wand hing.
»Sie sind ja heute mächtig früh dran, Chef«, sagte er mit verschlafener Stimme. »Irgendwas los?«
»Machen Sie, daß Sie von meinem Sessel runterkommen, Mensch«, sagte Cummins.
Carroll stand langsam auf, ging ein paar Schritte zu einem Stuhl, setzte sich und rückte seinen Hüfthalter zurecht. Der Polizeichef ließ sich nicht auf den Drehsessel nieder, sondern lehnte sich an den Schreibtisch.
»Ich konnte nicht schlafen«, sagte er. »Die ganze Nacht Bauchschmerzen gehabt. Gibt’s was Neues?« fügte er hinzu.
»Nicht das geringste«, sagte Matt. »Bloß das Telefon hat drei Stunden lang fast dauernd geklingelt. Wie man da schlafen soll, wenn das verdammte Ding dauernd klingelt …«
»Wenn Sie den Hörer abgenommen haben, dann kann Sie’s doch nicht gestört haben. Wer war’s denn?«
»Ein Irrer«, sagte Matt. »Irgendein gottverdammter Irrer. Die halbe Nacht hat er immer wieder angerufen.«
»Weshalb?«
Matt schüttelte traurig seinen langen Kopf. »Wegen seiner Frau.«
»Was ist mit seiner Frau?«
»Genau das frag’ ich mich auch, Chef. Was ist mit seiner Frau? Dieser Bursche – Farrell oder Ferry oder wie er heißt – hat von Boston oder irgendwo angerufen und wollte von mir wissen, wo seine Frau ist. Woher, verdammt nochmal, soll ich …«
»Das versteh’ ich nicht. Wieso ruft ein Kerl aus Boston hier bei uns in Athenia an und fragt, wo seine Frau ist? Los, Matt, drücken Sie sich ein bißchen deutlicher aus.«
»Der Kerl wohnt hier. Er arbeitet bei der International Nuclear und wohnt in Pinehurst. Anscheinend wollte er gegen Mitternacht oder ein Uhr morgens seine Frau anrufen, und sie hat sich nicht gemeldet. Daraufhin rief er bei der Störungsstelle an, und die sagte ihm, daß der Anschluß in Ordnung ist. Dann hat er’s noch ein paarmal versucht, und als sie sich wieder nicht meldete, rief er hier an und sagte, wir sollten feststellen, was mit ihr los ist.«
»Woher, zum Teufel, sollen wir wissen, was mit ihr los ist? Mein Gott, ich bin doch bloß Polizeichef von dieser verdammten Stadt. Ich bin nicht dazu da, hinter jeder jungen Frau herzurennen, die sich nachts rumtreibt, wenn ihr Alter verreist ist.«
Plötzlich sah Walt Cummins seinen Stellvertreter nachdenklich an; dann sagte er in scharfem Ton: »Haben Sie im Memorial-Krankenhaus und bei der Staatspolizei nachgefragt?«
»Das brauchte ich nicht«, sagte Matt. »Das hatte dieser Ferral oder Ferris oder wie er heißt, schon getan. Man wußte dort nichts. Ich hab’ ihm gesagt, er soll’s doch bei ein paar Freunden und Bekannten versuchen. Könnte ja sein, daß sie mit einem von ihnen ausgegangen ist.«
»Und?«
»Gegen fünf oder halb sechs rief er nochmal an und sagte, er hätte nichts rausgekriegt. Er war schrecklich aufgeregt, aber Sie wissen ja, wie das in solchen Fällen ist, Chef. Wenn sie keinen Unfall gehabt hat, nicht im Krankenhaus ist und nicht bei Freunden, dann kann ich mir nur vorstellen …«
Der Polizeichef nickte mürrisch. »Wissen Sie seine Adresse?«
Matt Carroll nickte. »Draußen in Pinehurst. Ich hab’ sie aufgeschrieben.«
»Aber Sie waren nicht draußen und haben nachgesehen?«
Matt schüttelte den Kopf und steckte einen Kaugummi in den Mund »Nein. Ich soll doch den Schreibtisch nur verlassen, wenn es sich um einen wirklichen Notfall handelt. Und das Verschwinden einer Frau kann man doch wohl nicht als Notfall bezeichnen. Im Gegenteil, in manchen Fällen ist’s ein Segen.«
»Hat der Mann gesagt, ob seine Frau allein im Haus ist? Haben sie Kinder oder Dienstboten?«
»Er sagte nur, daß seine Frau schwanger ist. Und daß sie eine Farbige als Dienstmädchen haben. Tulla Jones. Kennen Sie sie nicht? So ein hellbraunes, hübsches, kleines Ding. Etwa siebzehn oder achtzehn. Wir haben sie vor ein paar Monaten mal festgenommen. Bei der Schlägerei draußen in Three Mile House. Sie wurde freigesprochen.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Der Mann sagte, sie wohnt bei ihnen, aber gestern hätte sie ihren freien Abend gehabt. Also war seine Frau vermutlich allein.«
Der Polizeichef setzte sich hinter den Schreibtisch und drehte sich mit dem Sessel herum.
»Fahren Sie mal zu dem Haus raus, Matt«, sagte er. »Wenn die Frau schwanger ist, sieht die Sache doch ein bißchen anders aus. Vielleicht ist sie ohnmächtig geworden oder gestürzt. Wenn niemand aufmacht, versuchen Sie die Tür mit einem Dietrich aufzusperren. Wenn’s sein muß, schlagen Sie ein Fenster ein. Es wäre ja möglich, daß sie sich verletzt hat und nicht ans Telefon kann. Rufen Sie mich an und sagen Sie mir Bescheid.«
Er bückte sich und hob das Playboy-Heft auf.
»Herrgott nochmal, Matt«, sagte er. »Müssen Sie sie denn immer so dreckig machen?«
»Ausgesprochen unanständig, was sie heutzutage nicht anhaben«, sagte Carroll und ging hinaus.
Gleich darauf hörte Walt Cummins, wie Matt Carroll mit heulender Sirene losfuhr.
»Mein Gott, dieser Idiot«, murmelte er. »Er wird die halbe Stadt aufwecken.«
Seit Sarahs Tod vor etwa acht Jahren schlief Abe Marcus schlecht. Ganz gleich, wann er zu Bett ging – er wachte jeden Morgen gegen fünf Uhr auf. Doch er blieb nie im Bett liegen. Er stand auf, duschte und rasierte sich, ging dann wieder ins Schlafzimmer, das er so viele Jahre mit seiner Frau geteilt hatte, und nahm seine Sachen aus dem Schrank. Er wechselte seine Kleidung jeden Tag: frische Unterwäsche und Socken, ein frischgebügeltes Hemd und eine passende Krawatte, einen anderen Anzug und sogar ein anderes Paar Schuhe.
Abe war der am elegantesten gekleidete Mann von Athenia. Seine Anzüge waren aus den besten und teuersten Stoffen. Er konnte sich das leisten, denn er war Alleininhaber des Athenia Emporium, des größten Kaufhauses im Distrikt.
Viele Kaufleute in der Stadt beneideten Abe, doch fast ohne Ausnahme mochten und bewunderten sie ihn. Sie hatten ihn nicht aufgefordert, dem Country Club beizutreten, und nur wenige von ihnen pflegten ihn zu sich nach Hause zum Essen einzuladen. Doch sie hatten ihn dreimal hintereinander zum Präsidenten der Handelskammer gewählt, und er war Vorstandsmitglied des Rotary Clubs.
Abe Marcus war vierundsechzig Jahre alt. Dreiundvierzig davon hatte er in Athenia verbracht, und man sah in ihm einen der ersten Bürger, klugen Geschäftsmann und guten Nachbarn. Außerdem war er einer der reichsten Männer der Stadt, dem eine Menge Geschäftshäuser in der City und die erste Hypothek auf zwanzig oder mehr elegante Häuser gehörten. Überdies besaß er einige Häuser im Farbigenviertel, und es war durchaus möglich, daß ihn einige der Bürger deshalb nicht mochten, weil er sich ehrlich bemühte, diese Häuser einigermaßen instand zu halten, und nicht zu hohe Mieten dafür verlangte.
Abe Marcus hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Morgen, bevor er um neun Uhr in sein Kaufhaus ging, einige Grundstücke und Häuser zu besuchen.
An diesem Montagmorgen beschloß er, bei den zwei Häusern vorbeizuschauen, die er in der Magnolia Avenue im südlichen Teil der Stadt baute. Es waren unbestreitbar die zwei schönsten und luxuriösesten Häuser im Farbigenviertel. Abe hatte sie selbst entworfen. Sie waren beide noch nicht fertig, doch bereits vermietet. In das eine würde der farbige Arzt ziehen, in das andere der farbige Bestattungsunternehmer. Abe war der Ansicht, daß gebildeten Leuten, ganz gleich welcher Hautfarbe, das Beste zustand.
Er stieg in seinen Cadillac und fuhr durch die City von Athenia hinaus zum Farbigenviertel. Abe fuhr Cadillacs, solange er zurückdenken konnte, und er schaffte sich jedes Jahr das neue Modell an. Es war der einzige Luxus, den er sich leistete, seine einzige Extravaganz.